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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion: Dr. Regina Oehler
Wissenswert
Sind wir alle psychisch krank?
Der Streit um die umstrittenen Diagnose-Richtlinien des neuen
DSM-5
von
Jochen Paulus
Sendung: 29.04.2013,08:40 Uhr, hr2-kultur
Regie: Marlene Breuer
Sprecher: Ilona Fritsch-Stauß
13-052
Copyright
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Sprecher:
Als er 14 war, begann es: Wenn Michael von der Schule heimkam,
setzte er sich an den Rechner und spielte am Computer. So ging das bis
in den Abend, viel anderes tat er zwischendurch nicht. Weil er schlechte
Noten bekam, verließ er die Schule vorzeitig und hatte nun noch mehr
Zeit zum Spielen. Gegen Mittag stand Michael, der eigentlich anders
heißt, auf und bekämpfte bis gegen Morgen im Internet virtuelle Gegner.
O-Ton Michael 1: Probleme durchs Spielen würde ich sagen, zuhause. Weil ich
dann doch eher so alltägliche Dinge wie Duschen oder Zähneputzen oder
sonst was komplett vernachlässigt. Oder auch essen oder trinken,
unregelmäßig dann halt gewaschen oder gegessen, und dadurch gerne mal
den ganzen Tag lang mal ein Schwächegefühl, über Wochen hin und
dementsprechend auch anfälliger für Krankheiten.
Sprecher:
Hatte Michael eine psychische Störung, bevor er mithilfe einer
Therapeutin loskam vom Spielen bis zur Erschöpfung? Bis jetzt ist es
keine anerkannte Krankheit, wenn jemand praktisch nur noch am
Computer sitzt. Doch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung würde
„Online-/Mediensucht“ gerne als offizielle Störung anerkannt sehen,
viele Experten auch. In Deutschland regelt ein Verzeichnis der
Weltgesundheitsorganisation, was eine Krankheit ist und was nicht. Aber
bei psychischen Störungen folgen seine Autoren meist dem
umfangreichen Handbuch der amerikanischen psychiatrischen
Vereinigung. Übersetzt heißt es „Diagnostisches und Statistisches
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Manual Psychischer Störungen“, abgekürzt DSM. Es gilt als die Bibel der
Psychiatrie. Gerade wurde es überarbeitet. Im Mai erscheint die neue
Fassung, die fünfte. Die Verantwortlichen mussten auch entscheiden, ob
ständiges Spielen und Surfen im Netz fortan als psychische Krankheit
gelten sollen. Im Fall von Michael scheint das nahe zu liegen. Weil er nie
Zeit hatte, verlor er seine Freunde und nicht nur sie.
O-Ton Michael 2: Freundinnen waren schon da, nur, war halt wieder
überschattet vom Computerspielen. Ich habe mir dann immer mal wieder so
nebenbei Zeit für die Freundin genommen, aber das Spielen stand doch gerne
eher im Vordergrund. Woran letztlich auch einige Beziehungen gescheitert
sind.
Sprecher:
Trotz solcher dramatischen Folgen konnte Michael sein Extrem-Hobby
einfach nicht aufgeben. Das klingt schon sehr nach einer Krankheit. Aber
wenn exzessives Online-Spielen als Sucht anerkannt wird, kann dann
nicht jede übertrieben ausgelebte Vorliebe zur Störung erklärt werden?
Gibt es dann bald Sexsucht, Sport-Abhängigkeit und Autofahr-Syndrom?
Ein US-Psychiater schlug bereits eine „krankhafte Modell-EisenbahnerStörung“ vor. Als praktisch lebenslanger Fan der kleinen Züge kennt er
die Symptome: Die Opfer erleben ein High, wenn sie das Objekt ihrer
Begierde erblicken. Sie können dem Kauf einer weiteren Lokomotive
nicht widerstehen, auch wenn sie das Budget sprengt. In schweren
Fällen zerbricht die Ehe, die Karriere stockt und die Kranken fangen an,
für ihr Hobby zu stehlen. Solche Fälle gibt es tatsächlich und deshalb ist
der Vorschlag nur halb als Satire gemeint. Er soll veranschaulichen, wie
schwer sich normales Verhalten oft von krankhaftem unterscheiden
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lässt. Die Grenzen ziehen Experten wie Hans-Ulrich Wittchen, Professor
für Klinische Psychologie an der Universität Dresden und Mitautor des
neuen DSM. Sie haben fast alle neu vorgeschlagenen Süchte abgelehnt,
darunter auch die Kaufsucht und die Arbeitssucht, obwohl die in der
Öffentlichkeit längst etabliert sind.
O-Ton 3: Wittchen Nun, weil diese Diagnosen noch nicht mal im minimalsten
Ansatz die Kriterien für eine Diagnose erfüllen. Das heißt, dass sie eine
einheitliche Symptomatik haben, dass Grundlagenforschung die
neurobiologischen, die kognitiven und die psychobiogischen Grundlagen
entschlüsselt hat. Dass es dafür spezifische eigenständige Therapie- und
Versorgungsansätze gibt.
Sprecher:
Es reicht also nicht, dass Menschen ein psychisches Problem haben –
viele haben extreme Probleme, weil sie beispielsweise immer wieder
Kleider und Geschenke kaufen, die sie nicht bezahlen können. Eine
diagnostizierbare Störung wird daraus erst, wenn die Wissenschaft das
Problem sinnvoll eingrenzen kann und schon eine Menge darüber weiß.
Die einzige neue Sucht, für die das halbwegs gilt, ist die „InternetSpielsucht“. Auch sie wird noch nicht anerkannt, kommt aber zur
weiteren Erforschung in einen Anhang des DSM. Bei anderen Kandidaten
wie der Kaufsucht sind die Experten unsicher, ob sich dahinter nicht
meist doch eine andere Störung verbirgt.
O-Ton 4: Wittchen Kaufsucht ist etwas, was immer wieder, ich sag' das mal,
ins Spiel kommt, aber wegen der Überschneidung des impulsiven Kaufverhaltens zum Beispiel bei bipolaren, manisch-depressiven Erkrankungen,
ein Riesenproblem ist. Es könnte eine Fehldiagnostik-Gefahr erhöhen.
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Sprecher:
Psychiater haben es schwerer als andere Mediziner. Was Tuberkulose
ist und wer sie hat, lässt sich vergleichsweise leicht bestimmen: Doch
selbst in der Organmedizin geht es nicht immer so elegant zu. Ab wann
der Blutdruck zu hoch ist oder der Bauch zu dick, lässt sich nur schwer
feststellen. Erst aufwendige Statistiken zeigen, ab welchen Werten die
Leute früher sterben. Psychische Störungen aber lassen sich nicht an
der Lebenserwartung eichen. Die Experten müssen vielmehr überprüfen: Ab wann verursachen beispielsweise Ängste so viel Kummer,
dass sie nicht mehr normal sind? Welche Symptome treten oft
zusammen auf und lassen sich daher zu einer Krankheit zusammenfassen? Gibt es für eine angedachte Krankheit eine einheitliche
Therapie? Oder hat man es mit mehreren, sich ähnelnden Krankheiten
zu tun, die man unterschiedlich behandeln sollte und daher auch
unterschiedlich benennen? Solche Fragen lassen sich nicht schnell
klären. Die Vorarbeiten für das neue DSM haben daher ein Jahrzehnt
gedauert, mehr als 1500 Experten waren irgendwie beteiligt. Wittchen
saß in einer der 13 Kerngruppen, die in der Endphase die Hauptarbeit
machten.
O-Ton 5: Wittchen Im Mai sind es fast fünf Jahre. In diesen fünf Jahren, in
denen ich in diesem Prozess mit drin stecke, habe ich vier Bücher, ungefähr
100 Artikel zu diesem Thema geschrieben, verfasst, Untersuchungen zu
diesem Thema gemacht. Zweimal in der Woche ein bis zwei Stunden
Telefonkonferenzen immer nachts, weil die Telefonkonferenzen umspannen
die ganze Welt. Die Amerikaner machen es in der Arbeitszeit, wir spät abends,
die Australier und die Asiaten dann eher in der Frühe, das ist schon eine harte
und sehr viel Durchhaltekraft erfordernde Tätigkeit.
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Sprecher:
Trotz aller Mühe gibt es viel Kritik am neuen DSM. Hauptvorwurf: Es
schaffe auf dem Papier viele neue psychisch Kranke, weil Alltagsprobleme zu Störungen erklärt würden. Kinder mit altersüblichen
Launen und Wutanfällen bekämen nun eine neu eingeführte Gefühlsregulationsstörung bescheinigt, Alte mit normalen Gedächtnis eine
leichte neurokognitive Störung. Für den heftigsten Streit sorgte aber die
Frage, was nach einem Todesfall noch eine normale Trauerreaktion ist
und was schon eine Depression. Jürgen Margraf, Professor für klinische
Psychologie an der Universität Bochum, warnt davor, allzu schnell eine
Depression zu diagnostizieren.
O-Ton 6:Margraf: Ich habe gerade von einem Kollegen gehört, der innerhalb
einer Woche seine Frau und seine Tochter verloren hat. Also die Frau hatte
eine degenerative Krankheit und ist nach einer längeren Leidensgeschichte
gestorben. Und die Tochter war an den Rollstuhl gebunden nach einem Unfall.
Als die Mutter starb, hat sie sich in der darauf folgenden Woche das Leben
genommen. Das ist ein riesiger Schicksalsschlag. Normalerweise sind Sie
dann traurig. Und das ist nichts, was man behandeln müsste. In der Regel
werden Menschen damit fertig und kommen darüber hinweg.
Sprecher:
Deshalb war es nach dem DSM bisher im Normalfall verboten, eine
Depression zu diagnostizieren, wenn der Betroffene kurz zuvor den Tod
eines nahestehenden Menschen erlebt hatte. Doch was heißt kurz? Ein
Jahr wie in der dritten Version des DSM von 1980? Zwei Monate wie in
der jetzt auslaufenden?
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O-Ton 7: Margraf: Vielleicht muss man für die Zwecke der gesetzlichen
Krankenversicherung solche Zeiten festschreiben, sechs Monate oder so
etwas, vielleicht aber auch nicht. Ich persönlich würde jetzt mal sagen, nein,
man muss nicht. Man sollte es dem Urteil einer kompetent ausgebildeten
Fachperson überlassen, ob das jetzt sinnvoll ist oder nicht.
Sprecher:
Das tut das neue DSM: Eine Depression kann nun ohne Weiteres auch in
der Trauerphase diagnostiziert werden. Denn auch ein Trauerfall, so die
Überlegung, kann eine echte Depression auslösen. Die soll behandelt
werden können, ohne dass eine Krankenversicherung sagt: Das kann
nach dem Diagnosehandbuch aber gar keine Depression sein, wir
bezahlen nicht. Und was war mit der Befürchtung, dass normale Trauer
zu einer Krankheit erklärt werden könnte? Zwei Fußnoten erklären den
Psychiatern und Psychologen nun, wie sich beides unterscheiden lässt –
ein Zugeständnis an die Kritiker, die damit freilich nicht wirklich
zufrieden sind. Es gibt aber auch eine spiegelbildliche Kritik. Hier lautet
der Vorwurf, dass Menschen mit extrem schweren Depressionen die
gleiche Diagnose bekommen wie leichte Fälle. Zu diesen Skeptikern
zählt der Diagnose-Spezialist Markus Jäger, Privatdozent an der
Universität Ulm und Oberarzt am zugehörigen Bezirkskrankenhaus
Günzburg.
O-Ton 8:Jäger: Depression ist ein ganz großer Begriff geworden, jeder hat
eine Depression. Und dadurch, dass das alles jetzt eine Majore Depression ist,
also eine Einheitsdepression, ist für mich letztendlich auch der
Depressionsbegriff beliebig geworden. Und ich als Kliniker sehe ganz klar, ob
jemand eine so genannte endogene Depression hat, Melancholie hat man
auch gesagt, oder ob jemand nur eine flüchtige Depression hatte aufgrund
einer Reaktion. Diese Unterscheidung kennt jeder Kliniker. Und diese
Unterscheidung ist im klinischen Alltag handlungsanweisend.
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Sprecher:
Wer mit einer vergleichsweise leichten, gewissermaßen normalen
Depression in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wird, darf meist
bald wieder gehen. Wer an der schweren Form mit Melancholie leidet,
muss dagegen bleiben, weil die Suizidgefahr als hoch gilt. Die
Melancholie ist ein altes Konzept. Williams James, einer der Gründer der
Psychologie, nannte sie „eine schwelende Qual, wie sie ein gesundes
Leben nicht kennt“. Doch seit 1980 gibt es die Melancholie offiziell gar
nicht mehr. Sie wurde mit der dritten Version des DSM abgeschafft.
Denn obwohl viele Psychiater bis heute überzeugt sind, dass sie einen
melancholischen Patienten sofort erkennen, blieb immer unklar: woran
eigentlich? Wie lassen sich die vielen Symptome, die Depressive haben
können, so sortieren, dass sich am Schluss alle einig sind, wer eine eher
leichte Depression hat und wer eine melancholische? Auch Jäger sieht
das Problem:
O-Ton 9: Jäger: Diese klinische Erfahrung, so was anzuordnen, das braucht
viel Erfahrung. Das kann auch kein Assistent im ersten Jahr lernen, sondern
das ist dann wieder, da hat man glaube ich erst nach fünf, sechs Jahren. Und
dann hat man ein Expertenwissen. Aber dieses Expertenwissen wieder zu
operationalisieren, das ist die Schwierigkeit. Da bewegen wir uns in diesem
Bereich. Ja, wo wir bis jetzt auch keinen Konsens gefunden haben.
Sprecher:
Auch in die neue Fassung des DSM hat die Melancholie es nicht
geschafft. Denn seit der dritten Version verlangt das DSM genaue Listen
von Symptomen. Wenn die sich nicht erstellen lassen, gibt es eine
Störung eben nicht. Möglicherweise fällt dabei Wissen unter den Tisch,
das erfahrene Psychiater besitzen, aber nicht recht formulieren können.
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Bevor diese Regel eingeführt wurde, diagnostizierte jeder Psychiater
zwar voller Vertrauen in die eigene Erfahrung, kam aber oft zu einem
ganz anderen Schluss als der nächste Kollege. Seit der dritten Version
des DSM stimmen die Diagnosen nachweislich viel besser überein. Nun
erst weiß beispielsweise ein Psychologe, was der Psychiater eigentlich
gemeint hat, als er „Schizophrenie“ oder „Soziale Phobie“ auf die
Überweisung geschrieben hat. Und erst seit es klare Kriterien gibt, lässt
sich überhaupt sinnvoll darüber streiten, was noch als normal gelten
soll und was schon als krank. Das tun die Befürworter und Gegner des
neuen DSM auch ausgiebig im Fall der AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Sie wird bei immer mehr Kindern
diagnostiziert. In Würzburg, wo besonders viele Spezialisten sitzen, hat
fast jeder fünfte Junge und fast jedes zehnte Mädchen die Diagnose.
Auch Jäger sieht den Trend mit Sorge.
O-Ton 10: Jäger: Es gibt natürlich Kinder, die ADHS haben, und die natürlich
von der Behandlung mit Ritalin hervorragend profitieren. Möchte ich
überhaupt nicht in Abrede stellen. Aber man muss vorsichtig sein, dieses
Konzept viel zu weit zu haben und jedem gleich die Diagnose zu geben.
Sprecher:
Kritiker fürchten nun noch mehr ADHS-Kinder, weil die Kriterien des
DSM geändert werden. So konnten Kinder nur als hyperaktiv
diagnostiziert werden, wenn sie schon vor dem siebten Lebensjahr
Symptome zeigten. Die Grenze wird auf zwölf angehoben, womit
natürlich mehr Kinder infrage kommen. Ob aber Änderungen an den
Diagnose-Kriterien tatsächlich an der scheinbaren ADHS-Epidemie
schuld sind, ist nicht sicher. Denn viele Hausärzte und Psychiater halten
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sich in ihren Praxen überhaupt nicht an die offiziellen DiagnoseKriterien. Das zeigt sich, wenn sie angebliche ADHS-Kinder
beispielsweise an eine Uni-Klinik schicken und die erst einmal die
Diagnose überprüft. Silvia Schneider, Professorin für Klinische Kinderund Jugendpsychologie sieht das in ihrer eigenen Ambulanz an der
Universität Bochum.
O-Ton 11: Schneider Je nach Studie sind dann von den Kindern, die eigentlich
mit einer ADHS-Diagnose kommen, nachher nur 23 Prozent, die wirklich eine
ADHS haben. In anderen Studien sind es dann auch mal bis zu 80 Prozent,
aber es ist auf jeden Fall nicht so, dass es 100 Prozent, also dass es
übereinstimmt. Und das weist schon darauf hin, dass möglicherweise in der
Praxis dann häufig Diagnosen so ein bisschen nach dem Daumen gepeilt dann
auch erhoben werden. Und nicht systematisch anhand der bestehenden
Kriterien.
Sprecher:
Praktiker können oft selbst dann mit ADHS-Verdachtsfällen nicht richtig
umgehen, wenn sie die nötigen Informationen auf dem Tablett serviert
bekommen. In einer Studie schickte Silvia Schneiders Team kurze
Fallbeschreibungen an Psychologen und Psychiater, die auf Kinder
spezialisiert waren.
O-Ton 12: Schneider Also was wir finden, ist, dass es in der Tat so war, dass
die Fallgeschichten, wo das Störungsbild nicht vollständig beschrieben war
und wo eigentlich, wenn man sich streng an die Kriterien hält, eindeutig die
Diagnose nicht vergeben werden darf, doch eine erhebliche Anzahl von
Fehldiagnosen dann auch gestellt wurden. Das waren cirka 18 Prozent, die
dann falsch diagnostiziert wurden. Also Fälle, wo nicht das Störungsbild
vorlag und dennoch wurde diese Diagnose gegeben.
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Sprecher:
Wenn immer mehr Kinder Tabletten schlucken müssen, nur weil sie
Eltern und Lehrern auf die Nerven gehen, sind daran also nicht die
Diagnosesysteme schuld. Mit ihnen lässt sich vielmehr erst belegen,
dass oft die falschen Kinder eine Diagnose bekommen und andere
übersehen werden. So ist es auch bei anderen Störungen und in anderen
Altersgruppen. Nach den Zahlen einer großen deutschen Krankenkasse
wurden 2010 zwar gut doppelt so viele ihrer Mitglieder wegen
psychischer Störungen stationär behandelt wie zwei Jahrzehnte früher.
Das liegt aber vor allem daran, dass solche Probleme heute öfter
erkannt und therapiert werden. Wären die offiziellen Diagnose-Kriterien
in der Vergangenheit konsequent verwendet worden, wären auch früher
schon mehr Kranke gefunden worden. Sie hätten behandelt werden
können, statt weiter zu leiden. Das heißt andererseits natürlich nicht,
dass sämtliche psychischen Probleme schon richtig in Krankheiten
eingeteilt und beschrieben wären.
O-Ton: 13: Schneider: Klassifikationssysteme sind immer in Entwicklung und
sind sicher immer auch noch nicht so, dass wir sagen würden, das ist alles
super, hundert Prozent. Aber ich denke, es ist die Basis auf der wir arbeiten
müssen. Und das wäre auch mein Appell. Man kann Diagnosekriterien kritisch
sehen und ich sehe einige kritisch, aber das können wir nur verändern, indem
wir möglichst systematisch die auch anwenden und hinterfragen können.
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