Darf man ein Kind benützen, um einem anderen das

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Le b e n
13. Januar 2012
Leben
Als Spender-Baby
geboren
Darf man ein Kind benützen,
um einem anderen das Leben
zu retten? Ethiker wehren sich
vehement gegen die Erzeugung
von Retterbabys zur Heilung
kranker Geschwister.
Von Beate Kittl
K
aum etwas erweckt unser Mitleid so sehr wie ein todkrankes Kind.
Eines, das wegen eines angeborenen
Immundefekts in einem Plastikzelt im
Spital hausen muss. Oder eines, das
wegen einer ererbten Blutarmut blass,
müde und klein ist und voraussichtlich
sein Erwachsenenalter nicht erleben
wird. Da muss man doch alles Menschenmögliche tun, um zu helfen.
Wirklich alles?
Die Fortschritte der Medizin rücken
Heilung für manche erbkranken Kinder in greifbare Nähe. Etwa durch die
Transplantation von Stammzellen.
Dies sind Körperzellen, die in ihrer
Spezialisierung noch nicht festgelegt
sind und somit Blut-, Immun- oder andere kranke Zellen ersetzen können.
Sie sind im Embryo, im Knochenmark
und im Nabelschnurblut zu finden, das
bei der Geburt aus der durchgetrennten Nabelschnur abgezapft wird.
Der Knackpunkt liegt darin,
Stammzellen zu erhalten, die kompatibel sind mit dem Immunsystem des
kranken Kindes. Niemand hat ähnlicheres Erbmaterial als ein Geschwister. Doch was, wenn es keine Schwester
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gibt oder der Bruder zufällig keine passenden Zellen hat? Warum nicht die
Familienplanung leicht abändern, von
der natürlichen auf die künstliche Befruchtung wechseln, einen Embryo mit
passendem Erbgut auswählen und diesen der Mutter einpflanzen?
Zeugung nach Mass
So entsteht ein Baby nach Mass, auch
Retterbaby genannt. Möglich ist dies
dank der Methode der Präimplanta­
tionsdiagnostik (PID), bei der Em­bry­o­
nen im Rahmen einer künstlichen
­Befruchtung genetisch untersucht wer­
den. Die PID soll demnächst in der
Schweiz erlaubt werden, jedoch nur, um
schwere Erbkrankheiten beim werdenden Kind selbst zu verhindern. Ein passendes Spendergeschwister zu kreieren, was in manchen europäischen
Ländern gestattet ist, bleibt verboten.
Viele Ärzte sind mit dieser strikten
Regelung nicht einverstanden: «Ich
finde, diese Entscheidung gehört in die
Hand der Eltern, der Ärzte, eventuell
einer beratenden ethischen Kommission – aber nicht in die Hand des Gesetz-
gebers», sagt Jakob Passweg. Der Chefarzt der Hämatologieklinik am
Universitätsspital Basel nahm diese
Woche im Café Scientifique der Universität Basel Stellung zu Retterbabys
als Stammzellenspender. Passweg ist
verantwortlich für die Stammzellentransplantation am Unispital. Sie bietet gute Heilungschancen bei Blutkrebs, aber auch bei gewissen
Erbkrankheiten des Blutes oder des
Immunsystems, für die ein Spenderbaby eine Option wäre.
Zuerst werden passende Zellen in
öffentlichen Blutstammzellbanken gesucht, von denen es in der Schweiz zwei
gibt. Schon heute spenden viele Eltern
das Nabelschnurblut bei der Geburt ihres Kindes, um fremden immun- oder
leukämiekranken Kindern zu helfen.
«Retterbabys kämen jedoch nur infrage, wenn sonst kein guter Spender zur
Verfügung steht», sagt Passweg. Das
Sterberisiko ist bei einer Transplantation mit einem nicht verwandten Nabelschnurblutspender wesentlich höher als bei einem voll passenden
Familienspender.
Trotzdem sprechen sich manche
Ethiker vehement gegen die Erzeugung
von Retterbabys aus. «Auf individueller Ebene verstehe ich, dass Eltern zu
solchen Mitteln greifen», sagt die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle, Mitglied
der Nationalen Ethikkommission im
Bereich der Humanmedizin (NEK), die
neue Errungenschaften in Wissenschaft und Medizin ethisch diskutiert.
Doch das dürfe nicht verallgemeinert
werden. «Einen Menschen ungefragt
Niemand hat
ähnlicheres
Erbmaterial als ein
Geschwister.
zur Lebensrettung zu instrumentalisieren, greift den Kern der Menschenwürde an.» Damit stehe eines unserer
höchsten Güter auf dem Spiel, so die
Ethikerin.
Der Verfassungsgrundsatz der Menschenwürde garantiert jeder Person
Achtung als Mensch und ist das Fundament der Menschenrechte. Sie bedeutet in unserem Rechtssystem, dass
jeder Mensch nach seinen eigenen
Wertvorstellungen leben und entscheiden darf. «Wir beginnen dieses Grundrecht aufzuweichen», sagt BaumannHölzle.
Wenn die PID zu fremdnützigen
Zwecken einmal zugelassen sei, werde
es schwierig, zwischen zulässigen und
unzulässigen Eingriffen zu unterscheiden, gibt auch der Ethiker Christoph
Rehmann-Sutter zu bedenken, der viele Jahre Präsident der NEK war. Entnimmt man nur Nabelschnurblut, oder
darf man dem Kleinkind eine Knochenmarkentnahme unter Vollnarkose
zumuten, falls die Nabelschnur nicht
genug Zellen enthält? Muss es bei Bedarf auch eine Niere spenden? Dem Vater oder Onkel helfen?
Für die behandelnden Ärzte hingegen geht es direkt um Leben und Tod.
«Für mich als Mediziner ist es ein höheres Gut, Leben zu retten, als den abstrakten Begriff der Menschenwürde
zu schützen», sagt Christian De Geyter,
Chefarzt für Reproduktionsmedizin an
der Universitäts-Frauenklinik Basel.
Eltern tragen die Verantwortung für
ihre Kinder. In der Praxis kommt es
bereits jetzt vor, dass ein natürlich gezeugtes Kind Nabelschnur- oder auch
Knochenmarkstammzellen für ein
krankes Geschwister spendet. «Wenn
es für ein todkrankes Kind keine Alternative gibt, würde sich jedes Elternpaar für ein Retterbaby entscheiden»,
sagt De Geyter.
So funktioniert die
Präimplantationsdiagnostik
Ersatzteillager für die Familie?
Mehr als einmal haben Schweizer Kollegen schon Paaren geraten, die Prozedur in Belgien zu machen; zwei so entstandene Retterbabys sind in der
Schweiz heute bekannt. «Ins Ausland
gehen aber nur diejenigen, die sich das
leisten können», sagt De Geyter. «Ich
finde das ungerecht.»
Auch wenn dies in der Schweiz legal
würde, bliebe der Eingriff höchst selten: In der Schweiz gäbe es vielleicht
ein Retterbaby alle zwei bis drei Jahre,
schätzt De Geyter. Die Krankheiten
sind selten, und die Prozedur kommt
nur infrage, falls die Eltern noch ein
Kind wollen und das Empfängerkind
noch nicht zu alt ist. Das entkräftet
auch das Argument, dass das Retterbaby bald zum Ersatzteillager für die
ganze Familie würde. «Das Gesetz darf
nicht so streng sein, dass es die Rettung dieser Kinder verbietet», fordert
De Geyter.
Die Diskrepanz zwischen dem individuellen Fall und der gesellschaftlichen Verallgemeinerung schafft ein
fast unlösbares Dilemma. Was gewichtet man stärker – dass Menschen nicht
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Das Retterbaby, geprüft und für gut befunden: Es kann ersetzen, was das andere Kind krank macht. Illustration: Michael Birchmeier
Mittel zum Zweck sein dürfen oder das
Schicksal eines einzelnen Kindes, dem
geholfen werden könnte? «Die entscheidende Frage ist, ob diese Praxis
zwingend als Instrumentalisierung
aufgefasst werden muss», sagt JeanDaniel Strub, Leiter der Geschäftsstelle der NEK. Wenn sich die Eltern sowieso noch ein Baby wünschen, ist
auch das ein gültiger Beweggrund für
die Erzeugung eines Embryos, den der
Gesetzgeber zu Recht nicht bewerten
dürfe, finden die Befürworter. Nach
dieser Auffassung läge höchstens eine
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teilweise Instrumentalisierung vor.
Nach gründlichem Abwägen kommt
etwa die Hälfte der Kommissionsmitglieder zum Schluss, dass ein Verbot
der Retterbaby-Praxis nicht länger zu
rechtfertigen ist – im Gegensatz zum
Bundesrat und zum anderen Teil der
Kommission, die sie weiterhin verbieten wollen. «Erkennt man darin keine
Instrumentalisierung, so sprechen am
ehesten die sehr hohen Belastungen,
denen das Retterbaby bei späteren Eingriffen ausgesetzt wird, gegen die Praxis», sagt Strub.
Die Medizin macht Fortschritte, die
Gesellschaft wandelt sich. Was gestern
undenkbar gewesen wäre und an
­Gräuel wie die Eugenik der Nationalsozialisten erinnert – nämlich die Auswahl eines passenden Kindes – erhält
durch Einzelfälle ein individuelles Gesicht und wird allmählich moralisch
akzeptabel. Oder wie es die belgische
Genetikerin ausdrückt, die eines der
Schweizer Retterbabys im Reagenzglas
ausgewählt hatte: «Ein Kind retten zu
wollen ist doch ein edler Grund, um ein
Baby zu zeugen.» Webcode: @apten
Die Präimplatationsdiagnostik (PID) ist
eine Technik, um einen Embryo im Rahmen einer künstlichen Befruchtung genetisch zu untersuchen. Dazu werden
der Frau mehrere Eier entnommen, ein
gesunder Embryo ausgewählt und in die
Gebärmutter eingepflanzt. Dies soll
«Schwangerschaften auf Probe» verhindern, da viele Frauen nach vorgeburtlichen Tests beschliessen, kranke
Föten abzutreiben. Heute lassen sich
zahlreiche Genveränderungen feststellen, etwa für das Risiko, an gewissen
Krebsarten oder Alzheimer zu erkranken. Auch Geschlecht oder Augenfarbe
können ausgewählt werden.
Die PID ist seit 2001 in der Schweiz verboten. Derzeit wird eine Gesetzesänderung erarbeitet, um die PID in gewissen
Fällen zuzulassen, nämlich wenn die Eltern dem Kind eine schwere Erbkrankheit wie Zystische Fibrose vererben
würden. Retter­babys, Tests für Chromosomenstörungen wie das DownSyndrom und für nicht gesundheitsrelevante Kriterien wie das Geschlecht
sollen verboten bleiben.
Die PID ist in fast allen europäischen
Ländern und den USA gesetzlich erlaubt. V
­ erboten ist sie ausser in der
Schweiz auch in Italien und Österreich.
In Luxemburg, Irland und Deutschland
fehlt eine klare Regelung zur PID, doch
die beiden letzteren Länder diskutieren
derzeit eine eingeschränkte Zulassung.
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