SWR2 OPER Moderationsmanuskript von Katharina Eickhoff Jean Baptiste Lully: Phaëton Sonntag, 29.12.2013, 20.03 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. 1 Jean- Baptiste Lullys Erfolgsstück „Phaëton“ steht auf dem Theaterzettel heute Abend – und wenn wir uns jetzt nach kurzem Ritt mit der Zeitmaschine am 6. Januar 1683 ausspucken lassen und unter das Publikum der Uraufführung in Versailles mischen, dann heißt das zuallererst mal: Willkommen auf der Baustelle! Sechs Jahre ist es her, dass seine Majestät der Sonnenkönig beschlossen hat, den gesamten Hofstaat von Paris nach Versailles zu verlegen, und seitdem wurde hier unter Hochdruck ein Anbau nach dem anderen gemörtelt. Das ist nötig, denn der Hofstaat braucht Platz – jetzt, ein Jahr nach dem offiziellen Umzug, quellen die Repräsentationsräume schon schier über vor Leuten, die alle nur da sind, um beim König irgendwie angenehm aufzufallen – tagsüber durfte jeder, der einen Degen und einen Hut besaß, dort herumlungern, und zusammen mit dem Hofstaat und den Bediensteten ergab das regelmäßig ein derartiges Menschenknäuel, dass der Sonnenkönig vermutlich eher selten auch nur die gegenüberliegende Wand gesehen hat. 1683, im Uraufführungsjahr von Phaëton, arbeiten weit über 20 000 Menschen in und an Versailles, und mehrere Tausend wohnen auch dort. Neben der Königsfamilie und ihren ungezählten Angestellten logieren da eben auch die adligen Höflinge, denen man mit einem raffinierten Wohn-Ranking ihren Platz zuweist: je wichtiger einer ist, desto besser beheizbar ist sein Appartement – ein bedeutendes Privileg in diesem zugigsten aller Schlösser...In diesen Appartements also versammelt der König die Aristokratie Frankreichs um sich – nicht, weil er sie so liebt, sondern weil er ihr misstraut. Er hat seine Ducs und Vicomtes und Marquis’ aus ihren Provinzen geholt, damit sie dort keine Revolten anzetteln, hier in Versailles kann er sie besser beaufsichtigen. Louis Quatorze ist ein kluger Mann, er hat aus Versailles eine Art Club Méditerranée gemacht, wo er alle, die seiner Macht gefährlich werden könnten, ablenkt: mit Geschenken und Lotterien, Pferdeballetten und Wasserspielen, und vor allem mit grandioser künstlerischer Animation, die bombastischen musiktheatralischen Festlichkeiten des Sonnenkönigs sind schon Legende, als Versailles noch das Wochenend-Schloss ist, und inzwischen hat man europaweit einen zu Recht märchenhaften Ruf zu verteidigen. Nicht nur in Sachen Amusement übrigens: Ludwig, und mit ihm Frankreich, denn der Staat, das ist ja er, Ludwig und Frankreich sind auf dem Höhepunkt ihrer Macht, alle angezettelten Kriege und Annexions-Unternehmungen sind siegreich ausgegangen, das Land ist ökonomisch und geistig produktiv und kulturell stilbildend für ganz Europa, ja, Versailles ist das eigentliche Herz Europas... Aber, wie gesagt: Im Winter 1683 herrscht Baustellen-Alarm, Jules Hardouin-Mansart, des Königs genialer Leibarchitekt, ist noch nicht ganz fertig mit dem später so berühmten Spiegelsaal, sein Promi-Gärtner Le Notre ist noch mit dem Zurechtstutzen der Bosketten beschäftigt, hier wird noch schnell ein Wohntrakt hochgezogen und dort sind die Wasserwege noch nicht ausgehoben – ein großes, technisch aufgerüstetes Theater wie in Paris gibt es auch noch nicht, und so wird Jean-Baptiste Lullys neuestes Opernwerk zwar mit schönen Kostümen, aber auf einer provisorischen Bühne ohne Kulissenzauber und Bühnenmaschinerie uraufgeführt. „Phaëton“ wird dann mit der gebührenden Anerkennung aufgenommen – Jean-Baptiste Lully kann zu dem Zeitpunkt eigentlich gar nichts falsch machen, er hat alle Intrigen ausgesessen, und wenn hier einer intrigiert, dann ist das inzwischen er selber...Aber „Phaëton“ wird trotzdem nicht zu den Lieblingsstücken des Königs und seines Hochadels zählen. Vielmehr wird er, als er dann auch an der Pariser Opéra gezeigt wird, einen so enormen Erfolg beim ganz normalen Opernpublikum haben, dass man das Stück inoffiziell „L’Opéra du peuple“ tauft – Volkes Lieblingsoper. Die Geschichte ist bei näherer Betrachtung auch tatsächlich bemerkenswert: In „Phaëton“ scheitern die Auserwählten und Privilegierten am Ende an Selbstüberschätzung und Ruhmsucht, und die Schwachen bleiben ziemlich ungetröstet auf der Strecke, ohne dass 2 eine allegorische Königsgestalt alle wieder froh und glücklich machen würde. Auch wenn, wie in Versailles üblich, im Libretto des Hofdichters Philippe Quinault jede Menge Götter und Halbgötter mitmischen – es geht in „Phaëton“ vor allem um urmenschliche Gefühle, um Liebe und Enttäuschung, Rache und Eitelkeit und: um eine klassisch verkorkste MutterSohn-Beziehung. Mehr dazu nachher, wenn wir in die tatsächliche Handlung einsteigen – vor diese haben die Theatergötter allerdings den Prolog gesetzt, jenes aus der Antike überkommene allegorische Vorspiel, das mehr oder weniger fokussiert die Thematik des Stückes vorwegnimmt. Im Fall von „Phaëton“ eher weniger: Wir treffen Saturn und Astrée samt Gefolge im Dialog, Astrée, Göttin der Gerechtigkeit, hat schlechte Erfahrungen mit den Menschen gemacht, sie haben sie von der Erde vertrieben und seitdem, wie eben menschenüblich, Dummheiten gemacht, aber sie, nicht nachtragend, wünscht den Erdbewohnern trotz allem das Beste, also die Rückkunft des Goldenen Zeitalters, und bricht schließlich, ermutigt durch Saturn, unter Tanz und Gesang ihrer Anhängerschaft auf, um das zu befördern: „Jeux innocents, rassemblez vous – unschuldige Spiele, sammelt Euch... O glückliche Zeit, in der alle Herzen zufrieden sein werden!“ Ein erstaunlicher Anfang, wenn man bedenkt, wie unversöhnlich diese Oper enden wird... „Phaëton“ – Der Prolog, mit Virginie Pochon als Astrée und Laurent Naouri als Saturne, dazu das Ensemble Vocal Sagittarius und Les Musiciens du Louvre unter Leitung von Marc Minkowski. „Phaëton“, Prolog = 21’ Der Prolog zu „Phaëton“, dem Trauerspiel in Musik von Jean-Baptiste Lully nach einem Libretto von Philippe Quinault. ... Und damit ist dem höfischen Ritual der Lobpreisung aber auch Genüge getan – es scheint fast ein bisschen, als habe Lully den plakativen Allegorienteil in diesem Fall eher pflichtschuldig abgehakt, denn wenn sich jetzt die eigentliche Geschichte entrollt, ist sein musikalischer Tonfall sofort sehr viel weniger unverbindlich. Wärme und authentisches Gefühl sind ja im Versailles des Sonnenkönigs weder in der Oper noch in der Wirklichkeit besonders angesagt, alle sind so sehr mit der Wahrung irgend einer Form oder Konvention beschäftigt, dass sie von heute aus betrachtet ein bisschen jenen damals vermehrt aufkommenden Automaten ähneln: Starre, mit Draht in Form gehaltene Gewänder, riesige Perücken aus totem Haar, Puder, das puppenhafte Blässe suggeriert, abgezirkelte Bewegungen – das alles scheint die Behauptung des damals gerngelesenen Philosophen René Descartes zu bestätigen, dass der menschliche Körper doch nichts anderes oder Besseres sei als eine Maschine. Diese Ästhetik bestimmt natürlich auch die oft so pompöse Musik Jean Baptiste Lullys, des großen Musikzampano bei Hofe. 3 Aber dann hört man den Ersten Akt von „Phaëton“ und stellt fest: Der Zampano konnte auch anders. Zusammen mit seinem Librettisten Philippe Quinault, mit dem er erst seit Mitte der siebziger Jahre zusammenarbeitet, hat Lully eine neue Opernform entwickelt, die „Tragédie Lyrique“ – keine plakativen Mythenspiele ohne Handlung mehr, in denen alle im Kreis tanzen und zwischendurch mal ein Gewitter, ein Ungeheuer oder sonst eine Unbill vorbeikommt, worauf ein Sonnenkönig ex machina am Ende alles gutwerden lässt. Stattdessen viel hochemotionaler Dialog und Beziehungsverwicklungen, wie sie uns bis heute vertraut sind: Zwei liebende Frauen treten auf, Libye, die Tochter des ägyptischen Königs Mérops, und Théone, die Tochter des Meeresgottes Protée. Libye liebt Epaphus, den Sohn des Jupiter, aber sie hat so eine Ahnung, dass daraus nichts werden wird, weil ihr Vater, der König, sie an jemand Wichtigeren verheiraten wird. Théone wiederum liebt Phaëton, der exquisiterweise der Sohn des Sonnengottes und der Clymène ist, einer Tochter des Okeanos, die inzwischen, o dynastische Verwirrung, wiederum mit dem Ägypterkönig Mérops verheiratet ist. Phaëton ist auch gleich zur Stelle und singt von seiner Liebe zu Théone, aber Théone fremdelt und beklagt eine ewiggültige Regel: Ah! Qu’il est difficile de bien aimer sans s’allarmer! – Ach wie schwierig ist es, zu lieben, ohne sich zu ängstigen. Théone argwöhnt übrigens völlig zu Recht, denn Phaëton ist überhaupt nicht ihretwegen gekommen, sondern, Ödipus lässt grüßen, um seine Mutter Clymène zu sehen. Und aus den vorwurfsvollen Rezitativen, mit denen Théone ihn, begleitet von einem zornigen Continuo, überhäuft, und aus Phaëtons halbherzigen Beteuerungen schließen wir, dass er das Mädchen zwar wirklich gern hat, aber im Grunde als Ballast auf seinem Weg zum Ruhm empfindet. Seine Sorge: Wenn dieser dahergelaufene Epaphus Libye, die Tochter des Königs, kriegt, dann steht Epaphus in der Rangfolge über ihm. Das will Phaëton nicht ertragen müssen, da heiratet er die Königstochter lieber selber, Théone hin oder her. Das strategische Gespräch, das er in diesem Sinn mit seiner Mutter Clymène führt, ist dann tatsächlich ein freud’sches Lehrstück in Sachen ungesunde Mutter-Sohn-Beziehung: Clymène ist die klassische „Wir-halten-uns-für-was-Besseres“-Celebrity-Mum, die sich nach ihrer Affäre mit dem Sonnengott persönlich nur ungern zu der Ehe mit Mérops, dem Ägypterkönig, herabgelassen hat. Aber für die Karriere und den Ruhm ihres abgöttisch geliebten Sohnes wird sie alles tun. Sie sagt ihm voraus, dass der König ihn mit seiner Tochter verheiraten, ja, dass Phaëton selbst König werden wird, nur muss er dafür natürlich Théone opfern: „Il faut que l’amour soit prêt à s’immoler si tôt que la Gloire l’ordonne“ – Die Liebe muss sich opfern, sobald der Ruhm es befiehlt. Phaëton sieht das voll und ganz ein: Théone ist schön, singt er, aber die Macht ist schöner. Übermutter Clymène beschließt, Protée, der die Zukunft vorhersehen kann, Aussagen über das glorreiche Schicksal ihres Sohnes zu entlocken – Protée steigt auch tatsächlich gerade gemütlich als Hirte von allerhand neptunischem Meeresgetier aus dem Wasser, will aber mit dem ganzen Gefühls- und Dynastiekram nichts zu tun haben und legt sich zu einer wunderschön wiegenden Musik – eine der musikalisch schönsten Stellen der Oper - gleich erst mal wieder schlafen. Drauf aktiviert Clymène, die Okeanide, ihren Bruder Triton, der gehorsam mit einem Trupp musizierender und tanzender Meeresgötter daherkommt, Protée aufweckt und ihm unter verführerischem Spiel und Tanz eine Weissagung abpressen will. Protée entzieht sich – die 4 Musik erzählt von seiner Flucht, während der er sich nacheinander in einen Löwen, einen Baum, ein Seeungeheuer, einen Brunnen und eine Flamme verwandelt, aber er wird seine hartnäckigen Verfolger nicht los: N’espérez pas nous échapper, hofft nicht, uns zu entkommen, singt Triton in piesackendem Ton – und dann ergibt sich Protée zuguterletzt, die Musik bremst ab, wird pompös ernst und düster, und der Seher weissagt Schreckliches: Tu vas tomber, du wirst fallen, sagt er dem glorreichen Phaëton voraus, und der Mutter empfiehlt er: Tremblez pour votre fils, zittert um euren Sohn! Aber zu Beginn des Ersten Aufzugs treffen sich jetzt erst mal die beiden jungen Frauen Libye und Théone im Garten und klagen über ihr jeweiliges Liebeschaos - Vorhang auf für Véronique Gens und Jennifer Smith... „Phaëton“, 1. Akt 32’30“ „Zittert um euren Sohn, denn er wird tief fallen“ – das ist die düstere Prophezeihung, die der weissagende Meeresgott Protée für Phaëtons Mutter Clymène hat – so unheilverkündend endet der erste Akt von Jean Baptiste Lullys musikalischer Tragödie „Phaëton“, uraufgeführt im Januar 1683 in Versailles. Zu hören sind hier heute Abend Howard Crook als Phaëton, Rachel Yakar als seine Mutter Clymène, Jennifer Smith in der Rolle der Théone und Véronique Gens als Königstochter Libye. Triton war Jean-Paul Fouchécourt, und den Seher Protée gab Laurent Naouri, Marc Minkowski leitete das Ensemble Vocal Sagittarius und die Musiciens du Louvre. Bevor wir uns zur Pause ein bisschen unter die Premierengäste mischen, folgt jetzt aber erst mal noch auf dem Fuße der zweite Akt, der ganz direkt an das Geschehen am Ende des Ersten Akts anschließt. Clymène mag zwar von Ehrgeiz für ihren Sohn zerfressen sein – vor allem anderen ist sie aber doch eine liebende Mutter, und nach den drohenden Visionen des Protée, ihren Sohn Phaëton betreffend, macht sie nun also eine strategische Kehrtwende um 180 Grad: Um nicht in Gefahr zu geraten, soll Phaëton alle ehrgeizigen Pläne fahren lassen und am besten fortan hübsch bescheiden nur für die Liebe zu Théone leben, die sie dem Sohn ja eben noch wortreich ausgeredet hat. Der, Phaëton, lässt sich denn auch kein bisschen von Mutterns Gejammere beeindrucken – er ist auf dem direkten Weg zu Ruhm und Königsthron und soeben – bildlich gesprochen – über die Leiche seiner Verlobten gestiegen, da wird ihn seine hysterische Mutter nicht aufhalten. Ich will mir einen ewig berühmten Namen machen, verkündet er, und belächelt Clymènes Ahnungen: Lass die eifersüchtigen Götter ruhig donnern, singt er, und selbst wenn es tatsächlich gefährlich wird: „Le fils du dieu du jour doit être plus content D’un trépas éclatant que d’une vie obscure.“ – Dem Sohn des Sonnengotts gebührt eher ein glanzvoller Tod als ein Leben ohne Ruhm. Abgang Phaëton, Théone, seine abgelegte Geliebte, tritt auf und klagt zu schmerzvollschöner Musik ihr Liebesleid. Phaëton hat sie für den Ruhm geopfert, und sie liebt ihn immer noch – dem Mädchen ist einfach nicht zu helfen. 5 Auch nicht zu helfen ist Libye, der Tochter des Königs, die dann, die Musik nimmt nervös Fahrt auf, die Szene betritt und Angst vor der Entscheidung ihres Vaters hat darüber, wen sie nun heiraten muss. Und da kommt auch schon Epaphus, ihr Geliebter, und hat die schreckliche Neuigkeit dabei: Libye soll Phaëton heiraten, - das stürzt die beiden in tiefste Verzweiflung, zeitigt aber eine der musikalisch anziehendsten Szenen dieser Oper, das traurig- zärtliche Duett des jungen Liebespaars, das diese Entscheidung wie ein Todesurteil empfindet : Quel malheur! Quel supplice! – welches Unglück, welche Qual, und darauf folgt dann jene Passage, die Lully persönlich in der ganzen Oper erklärtermaßen die allerliebste war: Que mon sort serait doux, si je vivaix pour vous! – Was für ein süßes Schicksal wäre es, nur für Euch zu leben. Dass davon aber keine Rede sein kann, beweist die letzte Szene des zweiten Akts: Der König, mit Phaëton und der unglücklichen Libye im Schlepptau, hat die Anführer aller ihm untergebenen Reiche um sich versammelt und verkündet aus Altersschwäche seinen Rücktritt – Phaëton, der Held, der Sohn der Sonne, werde nicht nur sein Schwiegersohn, sondern auch gleich der neue König. Die Untertanen brechen pflichtschuldigst in Jubel aus, und das Orchester in eine kunstvolle, seinerzeit von aller Welt gerühmte Chaconne. Der zweite Akt von Jean Baptiste Lullys Operntragödie „Phaëton“ Howard Crook ist in unserer Aufnahme der Möchtegern-Held, dem hier jetzt seine Mutter Clymène alias Rachel Yakar seinen übermäßigen Ehrgeiz wieder auszureden versucht... „Phaëton“, 2. Akt „Le sang des dieux s’unit au sang des rois!“ - Das Blut der Götter vereint sich mit dem Blut der Könige!, jubelt die Menschenmenge in jenem Fantasie-Ägypten, das Jean Baptiste Lully und sein Librettist Quinault zum Schauplatz für Aufstieg und Fall des Halbgottes Phaëton machen – und vielleicht sind ein paar der älteren Premierengäste beim Beinevertreten in der jetzt anstehenden Pause dann ins Tuscheln gekommen...hinter vorgehaltenem Fächer, versteht sich. Denn soviel ist jetzt schon klar: Phaëtons Geschichte wird nicht gut ausgehen, und die Moral von der Geschicht wird sein, dass die Menschen gut daran tun werden, sich nicht für Götter zu halten. Nun hat ja aber Lully sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem damit ins Herz des 14. Ludwig komponiert, dass er unzählige festliche Tanzpantomimen verfasste, in denen der König als gottgleiche Gestalt, gar als Apollon persönlich verehrt wurde. Insofern ist die Lehre, die man da jetzt aus dieser neuen Oper ziehen soll, bemerkenswert...Man kann sich richtig vorstellen, dass beim Flanieren über die Baustelle Versailles der ein oder die andere schon mal vorwegnehmend schadenfroh gekichert hat, weil der Maître Lully sich da womöglich in seiner Siegesgewissheit gar zu sorglos von der Konvention entfernt - zumal man munkelt, dass des Königs neue Favoritin den Obermusikus überhaupt nicht leiden kann... 6 Jean Baptiste Lully und der König kennen sich schon seit Kindertagen – damals hat irgend ein französischer Adliger auf Italienreise den offensichtlich begabten Knaben Giovanni Battista Lulli in Florenz buchstäblich von der Straße aufgelesen und ihn zur Unterhaltung für seine Nichte mit nach Frankreich genommen. Beim Spielen vor den Mauern des Louvre soll Klein-Giovanni auf den damals etwas verwahrlosten und unbeaufsichtigten Klein-Louis getroffen sein. Die beiden waren bald unzertrennlich, der Italiener konnte wunderbar Musik machen, spielte Geige und Gitarre, und der junge Dauphin war schon als Kind süchtig nach Musik. Beide waren sie fanatisch begeisterte Tänzer, und so, tanzend, sind sie zusammen erwachsen geworden, Louis wurde der Sonnenkönig, und Lully sein Sonnenkönig der Musik – er hat der italienischen Oper den Krieg erklärt und für seinen Freund und Herren konsequent einen eigenständig französischen Musiktheaterstil entwickelt, und mit dem - und einer Begabung für Intrigen - hat Lully an Ludwigs feierfreudigem Hof einen beispiellosen Aufstieg hingelegt. Seinen alten Freund, den genialen Dichter und Dramatiker Molière, mit dem er zwischendurch ein Erfolgsballett nach dem anderen auf die Bühne stellte, hat er im Lauf der Jahre erfolgreich ausgebootet, indem er sich vom König die alleinigen Rechte an den gemeinsam erarbeiteten Stücken geben ließ – Molière hat sich dann entsetzt und enttäuscht von ihm abgewandt. Andere Komponisten, die mit neuen Opernideen kamen, hat Lully erst in den Ruin getrieben, um ihnen dann ihre Ideen abzukaufen. Und als „Surintendant de la Musique du Roi“, zu dem ihn Ludwig ernannt hat, bestimmte er ganz allein, welche Musik wann bei Hofe aufgeführt wurde – ungenehmigte Alleingänge wurden mit sofortiger Konfiszierung der Instrumente und Konzerteinnahmen bestraft. Es gibt einen alten Stich aus jenen Jahren des Erfolgs, da steht der Meister auf hohen Absätzen und mit turmhoher Allongeperücke – er war ja ein eher kleingewachsener Italiener – steht also Lully aufgeputzt in Gala an einem Tisch mit Noten, über die er gebieterisch die Hand hält, während im Hintergrund ein paar Orchestersklaven sich emsig über die Instrumente beugen. Aber eben zu der Zeit, als der „Phaëton“ herauskommt, machen sich dunkle Wolken über seiner strahlenden Karriere breit: Der König unterhält nämlich seit Längerem eine große Zuneigung zur ehemaligen Erzieherin seiner Kinder – auch dies ein Beziehungsklassiker, Vater heiratet Kindermädchen -, und diese übrigens gar nicht besonders hübsche Madame de Maintenon bestimmt nun zunehmend sein Denken und seinen Geschmack. Und so hat Louis XIV nicht nur vor Kurzem seine schöne, aber unglaublich kapriziöse Maitresse-en-Titre, die Marquise de Montespan, in die Wüste geschickt, er beginnt auch langsam, sich von seinem allmächtigen Hofkapellmeister zu distanzieren. Lully nämlich ist der streng religiösen Maintenon ein Dorn im Auge, nicht so sehr wegen seiner unchristlichen Unbescheidenheit, sondern, weil er sich allzu sehr für die hübschen Pagen im Palast interessiert und auch gern an den in diesem Sinne verruchten Parties des königlichen Bruders teilnimmt. Es wird nach dem „Phaëton“ noch zwei Jahre dauern bis zum konkreten Absturz, aber 1685 wird Lully vom König fallengelassen wie eine heiße Kartoffel, ein Schlag, von dem er sich bis zu seinem Tod nicht mehr erholen wird. Insofern ist es ja genaugenommen ironischerweise seine eigene Geschichte, die da mit dem „Phaëton“ aufgeführt wird: einer, der sich für unbesiegbar und göttergleich hält, fällt tief... Und damit wieder zurück zum Geschehen auf der Bühne, Phaëton, 3. Aufzug: 7 Hier kommt es zum Showdown zwischen den Rivalen Phaëton und Epaphus – der König hat ja verkündet, dass Phaëton die Hand seiner Tochter Libye und gleich auch noch den Königsthron bekommt, und Epaphus ist verzweifelt ob dieser Zurücksetzung, vor allem, weil er seine große Liebe Libye verliert. In seiner Wut bezweifelt er öffentlich, dass Phaëton tatsächlich der Sohn des Sonnengottes ist. Vor dem Tempel der Isis sprengt Epaphus den Aufmarsch der Königsfamilie – zur Feier von Phaëtons Inthronisation will man der Isis opfern, aber die war nun just die Mutter des armen Epaphus, und der beschwört die göttliche Mutter jetzt, die Opfer nicht anzunehmen. Tatsächlich schließen sich wie von Geisterhand die Türen des Tempels – Phaëton lässt sich nicht einschüchtern und meint, nun ja, manchmal müsse man die Götter eben zwingen, Geschenke anzunehmen. Aber da gehen die Pforten des Tempels plötzlich wieder auf, und was man sieht, ist kein göttlich mildes, dankbares Leuchten, sondern ein Höllenschlund, der Feuer und Furien ausspuckt, Ungeheuer, die die Opfergaben zerstören und die Festgemeinschaft angreifen. Für diese wortlose Chaos-Szene hat Lully natürlich eine extrem wirkungsvolle Musik komponiert, die die Gewalt und das gehetzte Umherjagen in Töne setzt, und die so giftig klappert wie ein ganzes Heer höllischer Klapperschlangen. Von diesem kurzen Höllenschreck will sich aber Phaëton nicht ins Bockshorn jagen lassen, man ist ja schließlich als Held angetreten. Und so zwingt er seine vor Angst gelähmte Mutter Clymène, öffentlich zu beschwören, dass sie ein Verhältnis mit dem Sonnengott persönlich gehabt hat, aus dem dann ihr Sohn Phaëton entsprungen ist. Clymène schwört, und wie zur Bestätigung kommt ein Wind daher und nimmt Phaëton mit sich himmelwärts zum Palast der Sonne – „Je vole!“, singt er: Ich fliege! So endet der dritte Akt, der hier jetzt mit einem letzten traurigen Disput zwischen Phaëton und seiner abgelegten Geliebten Théone beginnt: „Phaëton“, 3. Akt „Je vole – Ich fliege!“, ruft Phaëton begeistert, als ihn der Windstoß aufnimmt, um ihn hinauf, zum himmlischen Palast seines Vaters, des Sonnengotts, zu lupfen. An dieser Stelle hätte Jean Baptiste Lullys Oper „Phaëton“ auch enden können, wäre sie eine der üblichen Allegorien auf den gottgleichen König Ludwig. Ist sie aber nicht – dafür ist das Libretto des obersten Hofdichters Philippe Quinault zu vielschichtig. Quinault, Mann des Sprechtheaters, hat hier immer wieder kammerspielartige Szenen eingebaut, in denen sich die dialogische Dramatik zwischen zwei Personen verdichtet, dazu Monologe der einzelnen Charaktere, in denen die ihr Herz ausschütten – und durch diese Konzentration auf den ganz privaten, menschlichen Gefühlsgehalt hat er auch Lully gezwungen, intimere, weniger formelhafte Musik zu schreiben. Nur so hat sie in diesen Jahren entstehen können, die damals ganz neue Form der Tragédie Lyrique, die dann später von Gluck so grandios weitergesponnen worden ist. Quinault hätte Lully allerdings vermutlich trotzdem gern ermordet während der Produktion von „Phaëton“ – an die zwanzig mal soll ihm der kleine Diktator das Libretto mit Änderungswünschen zurückgeschickt haben. Was sollte Quinault tun als ändern - Lully war nun mal der beste und älteste Freund des Sonnenkönigs. Allerdings nicht mehr lange – im 8 Sommer 1683, nur wenige Monate nach der Uraufführung des „Phaëton“ in Versailles, stirbt die Königin, Louis heiratet umgehend in heimlicher Zeremonie Madame de Maintenon, bereut sein ausschweifendes Leben und wird fromm, und zwei Jahre später hat Madame eins ihrer wichtigsten Ziele erreicht: Lully ist endgültig in Ungnade gefallen. Und bevor er sich noch wieder hocharbeiten kann, hat er sich dann schon beim Proben irgend einer Wiedergutmachungs-Komposition jenen verhängnisvollen Dirigierstab in den Fuß gerammt und stirbt im Frühling 1687 an Wundbrand. Nach seinem Tod ist Lullys Musik dann übrigens wieder sehr wohl gelitten – seine Opern, Ballette und Arien werden in Versailles hartnäckig aufgeführt bis zu jenem 6. Oktober des Jahres 1789, als Ludwig des 14. Ururenkel von ein paar Fischweibern in eine Kutsche gesetzt und aus Versailles vertrieben wurde. Und wenn man heute das Schloss Versailles besucht und mit Audioguide bewaffnet durch die endlosen Zimmerfluchten wandert, dann hat man natürlich auch Lullys Musik im Ohr, weil sie das Ancien Régime zu seinen Glanzzeiten spiegelt, wie kein ausladendes allegorisches Gemälde das kann. Der vierte und fünfte Aufzug der Tragödie „Phaëton“ bewegen sich dann mit zunehmender Geschwindigkeit auf das Unglück zu: Phaëton ist im Himmelspalast seines Vaters angekommen, der in der Oper kurz und bündig einfach „Le Soleil“ heißt, und der Vater, vermutlich aus schlechtem Gewissen, weil er sich nie um den fernen Sohn gekümmert hat, verspricht, seinem Sohn jeden nur möglichen Wunsch zu erfüllen: „Tous mes trésors vous sont ouverts“, alle meine Schätze stehen dir offen, singt er, und der törichte und ruhmsüchtige Phaëton lässt sich das nicht zweimal sagen: Den Sonnenwagen seines Vaters will er über den Himmel lenken, der der Welt morgens das Licht bringt – die ultimative Machtdemonstration. Offenbar ist das so, als ob einer ohne Führerschein von seinem Vater die Schlüssel zum Lamborghini fordert, Vater Sonne jedenfalls versucht ganz entsetzt, den Sohn von seiner Idee abzubringen, aber Phaëton hört ihn gar nicht, sondern ist schon ganz mit seinem triumphalen Auftritt beschäftigt. Das tragische Ende vom Lied erleben wir dann im 5. Akt wieder vom Erdboden aus, aus dem Blickwinkel der Menschen, die Phaëton zurückgelassen hat. Clymène tritt im Morgengrauen auf und jauchzt dem Sohn zu, den man von fern am Himmel kommen sieht. Dann treffen die Liebenden Epaphus und Libye aufeinander und klagen über ihren Schmerz, auseinandergerissen worden zu sein. Epaphus kann den sich abzeichnenden Triumph des Phaëton nicht ertragen und beschwört im Namen der Gerechtigkeit seinen Vater Jupiter, Phaëton zu stoppen. Das muss Jupiter aber gar nicht, denn der geltungssüchtige Bub hat sich sowieso gnadenlos überschätzt, wie sich jetzt zeigt – Phaëton verliert die Kontrolle über den Sonnenwagen und bringt so die ganze Welt in Gefahr, denn die droht jetzt in Brand zu geraten. Als alles in Panik auf die Katastrophe starrt und dann, kopflos nach den Göttern rufend, in alle Richtungen rennt, erscheint zu einem wütend rumpelnden Continuobass die schon um Atem ringende Göttin der Erde, seltsamerweise ein Tenor, und fleht um Hilfe. Und daraufhin greift zuguterletzt doch noch Jupiter ein und schleudert ein paar Blitze gegen den Sonnenwagen – „Tombe avec ton orgeuil, trébuche, téméraire, laisse en paix la terre et les cieux“: Stürze mit deinem Hochmut, strauchle, Vermessener, lass Erde und Himmel in Frieden!“ - Der Wagen wird zerschmettert, Phaëton stürzt in den Tod, und die Oper ist aus. Diese Szene war natürlich dann bei den Aufführungen an der Pariser Opéra der ganze Stolz der Bühnenmaschinerie...und vielleicht hat Lully sich beim Komponieren schon so sehr auf die Special Effects seiner Techniker gefreut, dass er vergessen hat, die dramatische Szene 9 auch musikalisch noch ordentlich auszuschlachten – in jedem Fall nimmt die Oper dann etwas unvermittelt ein eher unauffälliges Ende. Dafür ist allerdings nun der Beginn des 4. Aktes ein ganz besonders charmantes Stückchen Musik: Kammermusikalisch intim und zu possierlichem Uhrengeklingel treffen wir da im himmlischen Sonnenpalast die Stunden des Tages, die im Wechselgesang ihren Gott, die Sonne, preisen, dekorativ umlagert von den vier Jahreszeiten und ihrem Gefolge...Marc Minkowski leitet die Solisten, das Ensemble Vocal Sagittarius und die Musiciens du Louvre. „Phaëton“, 4. & 5. Akt Die Geschichte von Aufstieg und Fall eines ruhmsüchtigen Halbgottes – Jean-Baptiste Lullys Tragédie en musique „Phaëton“, nach einem Libretto von Philippe Quinault. Mitwirkende... STOLPERSTEIN LILLY JANK 3’06“ Jean-Baptiste Lullys „Phaëton“ war zu hören heute Abend in SWR2 Oper, Lully und sein versierter Pomp, seine festlichen und im großen Stil tragischen Opern sind es vor allem, die mit der Herrschaft von Ludwig dem XIV. assoziiert werden… aber über die Menschen am Hof, die Charaktere, die damals hinter den uhrwerkartigen Ritualen und den kontrollierten Mienen steckten, verrät Lullys Musik uns wenig. François Couperin, der eigentlich Kirchenmusiker war und der die private Zurückgezogenheit so sehr schätzte, dass es für einen Hofmusiker damals geradezu ungehörig war, Couperin scheint von den ihm bei Hofe begegnenden Menschen eher die Aura wahrgenommen zu haben, jenes Fluidum, das sich hinter allen strengen Choreographien und Regeln verströmte wie ein kaum wahrnehmbarer Geruch. Seine Cembalostücke füllen vier große Bände, und es sind kleine Porträts, Skizzen von Stimmungen und Figuren, gesammelt über ein ganzes Hofleben hinweg, viele von ihnen mit rätselhaften, phantastisch seltsamen Titeln versehen, die so originell sind, dass man manchmal fast meint, solche Titel zu erfinden, war der eigentliche Antrieb für Couperins Komponieren: „Le Dodo où l’amour au Berceau“ heißt da ein Stück, ein anderes „Les barricades mystérieuses“. Und keiner hat wie Couperin die flirrenden Schönheiten bei Hofe, ihre Unbestimmtheit, ihre Vorliebe für Andeutungen und Verständigung durch Blicke und ihre bisweilen auch vor einem kleinen Giftmord nicht zurückschreckende Grazie in Musik umgesetzt. Was sich hinter dem Titel „Les Fauvettes plaintives“, die klagenden Grasmücken, verbirgt, kann man also nur raten – und genau das: eine ratlose Nachwelt hat Couperin vielleicht auch im Sinn gehabt…. Niemand spielt diesen leicht foppenden Unterton in Couperins Stücken so wunderbar wie Marcelle Meyer. 10