__________________________________________________________________________ 2 SWR2 • Musikstunde DEUTSCHE SCHULE UND ITALIENISCHE LEICHTIGKEIT Otto Nicolai, 2. Folge Dienstag, 8. Februar 2011, 9.05 – 10.00 Uhr Karl Dietrich Gräwe Versehen mit einem Stipendium und einem Brillantring aus der Hand des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III., hatte Otto Nicolai seine verheißungsvolle Berliner Frühkarriere umgelenkt und war mit 23 Jahren nach Rom gezogen, um die Stelle eines Organisten der preußischen Gesandtschaftskapelle anzutreten. Für seinen Vorgesetzten und Förderer, den kunstsinnigen Freiherrn von Bunsen, komponierte er ein Musterbeispiel geistlicher Musik nach dem anderen und half ihm nach Kräften bei der Popularisierung einer evangelischen Liturgie. Gleichzeitig versäumte Nicolai nicht, sich die ehrwürdigen Traditionen der katholischen Kirchenmusik zu Eigen zu machen. Eine Neigung zur Oper war an ihm bisher nicht auffällig geworden. Doch auch wenn die Zeitgenossen Rossini, Donizetti und Bellini öfter im Ausland als in der Heimat weilten und der Stern Giuseppe Verdis erst am fernen Horizont aufleuchtete – Nicolai fühlte sein Herz plötzlich für das italienische Melodramma schlagen, dieser neuen Faszination konnte er sich nicht entziehen. 4’17“ Musik 1 Maria Callas als Norma und Chor und Orchester der Scala di Milano unter Tullio Serafin in einer Aufnahme von 1954. In ihrer Auftrittsarie Casta Diva ruft die Priesterin den als „keusche Gottheit“ verehrten Mond um Hilfe an. Die kriegerischen Gallier erwarten von ihr die orakelhafte Aufforderung zum Befreiungskampf gegen die verhasste römische Besatzung. Aber Norma zögert, das ersehnte Zeichen zu geben, sie ist im Konflikt zwischen verbotener Liebe, religiösem Gelübde und vaterländischer Pflicht, sie liebt heimlich den römischen Prokonsul, mit dem sie – Gipfel des Landesverrats und der Blasphemie – auch noch zwei Kinder hat, die sie in einem Versteck den Augen der Welt entzogen hat. Mit der Uraufführung seiner lyrischen Tragödie, am 2.Weihnachtstag 1831 in der Mailänder Scala, hatte Bellini ein unerwartetes Fiasko erlebt, obwohl mit Giuditta Pasta in der Titelpartie und Giulia Grisi als Adalgisa zwei der angesehensten Primadonnen ihrer Zeit aufgeboten waren. Doch das Blatt wendete sich bald, bei der europaweiten Präsenz der Giuditta Pasta und erst recht, als Maria Malibran und Jenny Lind ihre triumphalen Auftritte feierten. „Die Malibran ist ein geniales Weib!“, bekundete Nicolai sein Entzücken, bemächtigte sich eines von ihr improvisierten Themas und verarbeitete es prompt zu einem Rondo ostinato für Klavier 4händig, das er der Sängerin zueignete. Er war gerade rechtzeitig nach Italien gekommen, um sich dem melodischen Zauber Bellinis, seinen wehmütigen harmonischen Licht- und Schattenspielen und den überlang gesponnenen Kantilenen bereitwillig hinzugeben. Alles Eigenschaften, die Richard Wagner zu ungewohnter Bewunderung und zur Komposition einer zusätzlichen Arie im Bellini-Stil bewegen sollten. Merkwürdig aber: Obwohl Nicolai ein exzellenter Klavierspieler war und den Feinschliff der Orchestrierung bereits gut beherrschte, hat er sich der Gattung des Klavierkonzerts hartnäckig verweigert. Eine Klaviersonate: ja. Ein Streichquartett: ja. Mehrstimmige Vokalsätze: auch. Aber keine Auseinandersetzung zwischen Soloinstrument und Orchesterkollektiv. Um allerdings dem Komponisten Bellini mit den Melodien Bellinis antworten zu können, brachte er Klavier und Orchester in weniger gebundener und erzählfreudiger Form auf Dialoghaltung und auf gemeinsame Nenner. 3’48“ Musik 2 -2Otto Nicolai, 2. Folge 3 Fantaisie avec variations brillantes sur Norma, op. 25, das war der französisch formulierte Titel, den Nicolai über seine Norma-Variationen für Klavier und Orchester stellte. Der Pianist Claudius Tanski und die Südwestfälische Philharmonie unter David Stern spielten die Introduktion des dreiteiligen Werkes, die nach ein paar obligaten Eröffnungsfloskeln ihr Hauptgewicht auf die Auftrittsarie der Norma legt: Casta Diva, ohne Worte. Nach aller bisherigen Schulung und allen ästhetischen Überzeugungen hatte Nicolai ein für ihn verbotenes Gelände betreten. In seiner Imagination glaubte er dafür sich selbst und seinen an deutschen Maßstäben ausgerichteten Freunden oder Kritikern eine Erklärung schuldig zu sein: „Die Bellinischen Melodien sind doch herrlich!“, vertraute er seinem Tagebuch an. Ein herzhaftes Bekenntnis, das er sogleich pflichtschuldig relativierte: „Wenn auch vieles Charakterlose in seinen Opern ist“. Im selben Atemzug wertet er das eigene Unterfangen dann wieder auf: „Für Orchester arrangiert, ohne Handlung, ist es wirklich was sehr Schönes.“ Den ersten Anlass, durch eigene Arbeit in unmittelbaren Kontakt mit dem Theater zu treten, führte ausgerechnet der Tod Bellinis herbei. Dem „leider zu früh verstorbenen“ Musiker widmete er einen Trauermarsch für Orchester, dessen erste Skizze er dem Impresario des Teatro della Valle vorlegte. Der akzeptierte das Angebot, Nicolai schrieb binnen weniger Stunden die Orchesterstimmen aus, und noch in derselben Nacht wurde eine erste Probe mit den ermüdeten Musikern abgehalten. Bei einer Vorstellung der Sonnambula von Bellini wurde Nicolais Trauermarsch zwischen zwei Akten eingeschoben. Mit den Leistungen der Sänger war das Publikum zwar unzufrieden, aber der Marcia funebre des „Signore Ottone“ zollte es bereitwillig Beifall. 7’36“ Musik 3 Eine Kreuzung zwischen dem Trauermarsch aus Beethovens Eroica und dem Kondukt, der Bellinis Norma und Pollione in den Tod geleitet. Das WDR-Rundfunkorchester unter Michail Jurowski spielte diese Musik: Vincenzo Bellini in memoriam - mit dem Trauermarsch von Otto Nicolai wurde Mitte Oktober 1835 zwischen zwei Akten der Sonnambula, der „Nachtwandlerin“, das Andenken des Komponisten geehrt, der in Paris kurz nach der Premiere von I Puritani gestorben war. Bellini – gerade 34 Jahre alt, auch er zu früh der Sterblichkeit geweiht. Bei einem Besuch in Bologna folgte Nicolai den Spuren Mozarts, der hier zwei Generationen vorher als Jugendlicher unter den unbestechlichen Augen und Ohren des illustren Padre Martini die erstaunlichsten Beweise seines Genies abgelegt hatte und feierlich in die Accademia Filarmonica aufgenommen wurde – eine ungewöhnliche Auszeichnung. Die legendäre Musikbibliothek des Padre Martini fand Nicolai zwar in heilloser Unordnung vor, die einst Mozart widerfahrene Ehre, zum Mitglied der Accademia berufen zu werden, wurde jetzt aber auch ihm zuteil. In der Bibliothek des Padre Martini, beim Stöbern in den Drucken alter Meisterwerke, überkam Nicolai trotz seiner inzwischen erwachten Opernlust das Verlangen, wieder etwas Eigenes im „alten Stil“ zu schreiben, in strenger Linienführung nach dem Vorbild Palestrinas, in den Harmoniefolgen der römischen Kirchenmusik, die er aber zugleich um die dynamischen Kontraste und schwelgerischen Farben seines romantischen Empfindens bereichern wollte. Wieder folgte Nicolai seiner heimlichen Vorliebe für die scheinbar anachronistische Montage, als er ein achtstimmiges, auf zwei Chöre verteiltes Pater noster -3Otto Nicolai, 2. Folge 4 a cappella komponierte. Später hat er es dem König von Preußen gewidmet und als op. 33 auch im Druck erscheinen lassen. Musik 4 4’51“ Ein achtstimmiges Pater Noster im streng linear geführten Palestrina-Stil und zugleich mit romantischen Ausdrucksnuancen abgestuft – Nicolai komponierte es 1836 bei einem Besuch in Bologna und sozusagen unter der imaginären Aufsicht des gelehrten Padre Martini. Die Aufzeichnung von Deutschlandradio Kultur entstand bei einem Festkonzert zum 200. Geburtstag des Komponisten, am 9. Juni 2010, an einer seiner ehemaligen Wirkungsstätten, im Berliner Dom, mit der Singakademie zu Berlin, Dirigent: Lucas Pohle. Bei seinem siebenjährigen Aufenthalt in Italien komponierte Nicolai auf breiter Ebene all’italiana und griff auch Anregungen aus dem Liedgut des Landes auf. Eine Canzonetta auf italienische Verse – es wäre unpassend, da von einem Stilbruch zu reden zwischen italienischem Melos und deutschem Sprachduktus. Angemessener wäre vielleicht, sich eine Kommunikation auf zwei Ebenen vorzustellen. Das italienische Melos folgt dem Prinzip eines Versbaus, der sich allein an der Zählung und Reihung von Silben orientiert. Das gibt der Vertonung italienischer Verse den schwerelosen, schwebenden Charakter. Die deutsche Melodie hingegen gliedert sich nach der Verteilung der sinntragenden Wortakzente, auch dort, wo die Betonung unregelmäßig wird und bewusst die Reibung mit dem vorgegebenen Versmaß sucht. Der deutsche gesungene Vers wirkt wuchtiger, unterscheidet eindeutiger zwischen leichtem und schwerem Nachdruck. Otto Nicolai stellt so etwas wie die geheime Wahlverwandtschaft zweier von Haus aus gegensätzlicher Sprachhaltungen her. Scarco d’affani il core, beginnt eine Romanze, und erwartungsgemäß gesellt sich zu core das Reimwort amore. „Wenn das Herz befreit von Kummer ist, bin ich glücklich“, seufzt da ein Liebhaber, „aber nur wenn du zu mir zurückkehrst, kann ich glücklich sein“, beschwört er die ferne Geliebte. Musik 5 2’28“ Eine italienische Romanze in der Vertonung von Otto Nicolai, Scarco d’affanni il core, gesungen von Olaf Bär zur Klavierbegleitung von Helmut Deutsch. In einem Pariser Salon hat Heinrich Heine eingehend einen anderen Gast beobachtet. Ironisch und maliziös wie er sein konnte, hat Heine das blässliche, kränkliche Gefühlsgenie Vincenzo Bellini als einen „Seufzer in Schnallenschuhen“ bezeichnet. Doch damit ist nur eine Seite des Gemütes erfasst. Norma ist eine Oper des Jahres 1831. Verdis Nabucco, ob seiner martialischen Schlagkraft berühmt und berüchtigt, kam mehr als ein Jahrzehnt später heraus, übrigens ebenfalls in Mailand. Da leuchtete die Flamme des Risorgimento, der Erhebung Italiens gegen die habsburgische Vorherrschaft, wesentlich heller, und Verdis peitschender Appell in Operngestalt traf genauer den Zentralnerv einer gedemütigten Nation. Aber gelegentlich kann auch Bellini, wenngleich weniger ausdauernd, solche Töne anschlagen, der Aufruf der Gallier zum Krieg gegen die römischen Soldaten, auch er eine Metapher für Risorgimento, geht der Musik Verdis zwar um 10 Jahre voran, steht ihr aber an Eindringlichkeit keineswegs nach. Guerra! Guerra! -4Otto Nicolai, 2. Folge Musik 6 3’28“ Galliens Krieger greifen zum Schwert, um die römische Besatzung aus dem Lande zu jagen – Eine Szene aus Bellinis Norma mit dem London Symphony Orchestra and Chorus unter Richard Bonynge. 5 Nicolai hätte Gelegenheit gehabt, an Stelle von Verdi den Nabucco zu komponieren. Voreilig hatte er beim Anhören der ersten Verdi-Oper Oberto geurteilt: „Dieser Mann muss ein Herz wie ein Esel haben.“ Kritisch ging er auch mit dem Libretto um, das ihm Bartolomeo Merelli, der Impresario der Mailänder Scala, anbot. Doch der Text von Temistocle Solera schien ihm für eine Komposition völlig untauglich: „Dieses ewige Wüten, Blutvergießen, Schimpfen, Schlagen und Morden ist für mich kein Stoff“, beschied er dem allmächtigen Theaterdirektor. Er meinte das Libretto zu Nabucco und verlangte nach einer Alternative. Was dann folgte, hat Verdi aus seiner Sicht dargestellt: Merelli soll ihn beschworen haben: „Stell dir vor, ein Text von Solera, herrlich, wundervoll, ausgezeichnet! Die dramatischen Situationen großartig, dabei sehr spannend und wunderschöne Verse! Aber dieser Dickschädel von Nicolai lässt nicht mit sich reden, er sagt einfach, der Text ist unmöglich. Wenn ich nur wüsste, wo ich so schnell einen anderen hernehmen soll.“ Verdi wusste Abhilfe. Merelli hatte ihm einen Text angeboten: Il Proscritto, „der Verbannte“, Verdi hatte noch keine Note dazu geschrieben. Er gab Merelli das Libretto zurück, zur Weitergabe an Nicolai, und nahm im Austausch das Libretto zu Nabucco entgegen. Aber auch der Proscritto erschien Nicolai untauglich, und wie zutreffend seine Vorahnung war, sollte ich bald erweisen. Die Gründe des Scheiterns lagen allerdings ebenso im amourösen Privatbereich. Am Abend vor der Uraufführung des Proscritto löste der manchmal zu überstürzten Entscheidungen neigende Nicolai die Verlobung mit der Primadonna, mit Erminia Frezzolini, die die Partie der Leonora zu kreieren hatte. Aus welchen Gründen auch immer, aus Erschütterung oder Rachsucht, sie bekam bei der Premiere den Mund nicht auf, und das Publikum bereitete der Opernnovität eine Katastrophe. Verdi seinerseits hatte den Nabucco mit nach Hause genommen. Noch hatte er die Schläge nicht verwunden, die ihm das Schicksal gerade zugefügt hatte: in kurzer Zeit waren ihm die Frau und die beiden Kinder gestorben, und er wollte nie wieder eine Oper schreiben. Womöglich hat der geborene Dramatiker die anschließende Geschichte erfunden, vielleicht ausgeschmückt, vielleicht ist sie auch wahr: zufällig soll sein Blick auf eine aufgeschlagene Seite des Textbuches gefallen sein, auf die Sehnsuchtsverse, die die in Knechtschaft darbenden Hebräer an den Flüssen Babylons anstimmen: Va pensiero. Bald würde Italien seine heimliche Nationalhymne haben, und Verdi selbst würde sich über den Heidenlärm mokieren, den sein Nabucco-Orchester veranstalten musste. „Nabucco-donos’or“ leistete er sich ein Wortspiel, was sinngemäß bedeutet: „Ein Nabucco aus Blech“. 3’55“ Musik 7 Noch sind die Babylonier triumphierende Sieger, die Hebräer schmachten in Knechtschaft. Das ist die Ausgangssituation in Verdis dritter Oper Nabucco, hier zu erleben in einer Aufnahme mit Piero Cappucilli, Ewgeny Nesterenko, Plácido Domingo und Lucia Valentini Terrani, mit dem Chor und dem Orchester der Deutschen Oper Berlin, am Pult Giuseppe Sinopoli. -5Otto Nicolai, 2. Folge Dem Proscritto von Nicolai haftete das Pech an den Füßen.Wo auch immer eine Aufführung versucht wurde, er erntete nur Niederlagen. Totzdem war der Komponist von den unentdeckten Werten seiner Musik überzeugt. Er arbeitete die Partitur um, schrieb sie zur Hälfte neu und ließ sie ein weiteres Mal erscheinen, diesmal unter dem deutschen Titel Die Heimkehr des Verbannten und mit besserer Fortüne. Zumindest avancierte die Oper jetzt zu einem Geheimtipp für Kenner. 6 Musik 8 7’43“