Forcierte Normalisierung: Was ist alt, was ist neu? Landolt hatte erwartet, dass sich das EEG parallel zu dem Auftreten einer psychischen Störung verschlechtert und sich nach deren Remission wieder bessert. Solche Verläufe kamen durchaus vor; daneben registrierte Landolt aber auch andere, unerwartete Veränderungen des EEG. Aufgrund seiner Beobachtungen definierte Landolt vier Beziehungsmuster zwischen einer Psychose oder einer andersartigen psychiatrischen Komplikation bei Epilepsie und dem dazugehörigen EEG: 1. Der postparoxysmale Dämmerzustand: ein typischer postiktaler Zustand begleitet von einer diffusen Delta-Theta-Dysrhythmie über beiden Hemisphären. 2. Der Petit-mal-Status: ein durch eine Bewusstseinsverschiebung? charakterisierter Zustand mit kontinuierlicher Spikewave-Aktivität im EEG. 3. Psychoorganische Episoden: Zustände mentaler Abstumpfung, die mit einer diffusen, langsamen Dysrhythmie im EEG einhergingen. Mit dem 4. Beziehungsmuster beschrieb Landolt die forcierte Normalisierung. Darunter verstand Landolt primär ein EEG-Phänomen: Mit dem Auftreten einer Psychose oder einer Verschlechterung des psychischen Zustands kommt es zu einer Verbesserung oder Normalisierung des EEG (insbesondere hinsichtlich der epileptischen Aktivität) im Vergleich zu EEG, die vor Auf- treten oder nach Abklingen der psychiatrischen Störung abgeleitet werden. Was ist alt? Landolt u. Tellenbach [3], aber auch Janz [4], machten in den 50er und 60er Jahren? die wichtige Beobachtung, dass die Psychosen mit forcierter Normalisierung des EEG sowohl bei generalisierten als auch bei fokalen Epilepsien auftreten können. Die Psychose dauert in der Regel nur kurz. Doch wenn sie nicht rechtzeitig erkannt und behandelt wird, kann sie über mehrere Wochen anhalten. Das klinische Bild entspricht häufig einer paranoiden Psychose. Landolt und Tellenbach beschrieben aber auch katatone Erscheinungsbilder, Psychosen mit typischen Schneiderschen Symptomen 1. Ranges und Episoden mit dominierenden Zwangssymptomen. Der klinische Zustand kann durch eine Reduktion bzw. ein Absetzen der Antiepileptika (selten durch eine EKT) revidiert werden. In den originalen Beschreibungen von Patienten mit forcierter Normalisierung finden sich einige interessante Beobachtungen. Zum Beispiel entwickelten Patienten mit forcierter Normalisierung, bei denen zuerst eine generalisierte Epilepsie, z. B. eine Aufwachepilepsie, diagnostiziert worden war, später häufig psychomotorische Anfälle. Neimanis nannte dieses Phänomen ¹sekundäre psychomotorische Epilepsieª [5]. In vielen Fällen kündigte sich die Psychose durch eine Schlaflosigkeit als Frühsymptom an. Bei einigen Patienten waren Psychosen durch Konflikte und Lebensereignisse ausgelöst worden. Solche Beobachtungen führten zu einer Diskussion über die Rolle einer prädisponierenden zugrunde liegenden Persönlichkeit. Antiepileptika spielten schon für Landolt die zentrale Rolle in seinem pathogenetischen Konzept der forcierten Normalisie- Institutsangaben Institute of Neurology, National Hospital for Neurology, London Korrespondenzadresse Prof. Michael Trimble ´ Institute of Neurology ´ London ´ WC1N3BG ´ England Bibliografie Akt Neurol 2002; 29, Supplement 1: S12 ± S14 Georg Thieme Verlag Stuttgart ´ New York ´ ISSN 0302-4350 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Übersicht Forced Normalisation: What is Old, What is New? Die ¹forcierte Normalisierungª beschreibt ein seit Mitte des letzten Jahrhunderts bekanntes Phänomen. Der Begriff wurde 1953 von Heinrich Landolt geprägt [1, 2], der zu jener Zeit als leitender Arzt in der Schweizer Epilepsie-Klinik in Zürich tätig war. Landolt hatte mit der damals noch jungen Methode des EEG serielle Untersuchungen bei seinen Epilepsiepatienten durchgeführt, insbesondere bei solchen Patienten mit rezidivierenden psychischen Störungen. Dazu gehörten auch Patienten mit schizophreniformen Psychosen. S12 Michael Trimble rung. Viele von Landolts Fällen traten nach der Einführung von Ethosuximid auf, mit dem viele seiner bisher nicht behandelbaren Patienten anfallsfrei wurden. Die psychotischen Episoden wurden als alternative Ausdrucksform einer zugrunde liegenden Störung interpretiert, die sich als Epilepsie aber auch als Psychose präsentieren kann. Einige Autoren sprachen deshalb von einem ¹Feldwechselª. mit der Entwicklung eines paranoiden Wahns und Schneiderschen Symptomen 1. Ranges. Levetiracetam wurde abgesetzt und sie wurde mit neuroleptisch mit Haloperidol behandelt. Ihre Anfälle kehrten zurück, wie auch ihre EEG-Abnormalitäten. Nach den originalen Beobachtungen wurde Landolts Konzept rasch vergessen. In den 70er und 80er Jahren gab es nur sehr wenige Veröffentlichungen zu diesem Thema. Das lag zum Teil daran, dass Landolt und seine Zeitgenossen überwiegend in der deutschsprachigen Literatur publizierten. Ein weiterer Grund ist die seit damals wachsende Trennung zwischen den Disziplinen Neurologie und Psychiatrie. Das EEG trug dazu bei, dass man epileptische Anfälle als ausschlieûliche Manifestation einer Epilepsie ansah; die essenziellen neuropsychiatrischen Aspekte der Epilepsien wurden nicht mehr beachtet. Es gibt auch einige Fälle, die eine Psychose nach erfolgreicher Implantation eines Vagusnervstimulators (VNS) entwickelten. Ich persönlich habe von über neun solcher Patienten gelesen oder gehört. Alle Patienten hatten hinsichtlich ihrer Anfälle von der VNS profitiert, einige waren anfallsfrei. Ein Patient war zum ersten Mal seit Jahren anfallsfrei und, nachdem er für einige Zeit anfallsfrei gewesen war, tötete er sich und seine Frau. Zuerst wurden Patienten mit komplizierten fokalen Epilepsien mit einem der neuen, potenten Antiepileptika behandelt. Einige dieser, zuvor pharmakoresistenten Patienten wurden anfallsfrei. Bereits in einer frühen Studie stellten wir fest, dass ein besonders hoher Anteil der Patienten, die eine Psychose unter Vigabatrin entwickelten, anfallsfrei geworden war (60 %). Einige dieser Patienten entwickelten eine Psychose nachdem sie anfallsfrei wurden, andere Patienten wurden erstmals postiktal psychotisch nachdem sie, nach einer vorübergehenden Anfallsfreiheit, einen Cluster von Anfällen entwickelten [6]. Trimble M. Forcierte Normalisierung ¼ Akt Neurol 2002; 29, Supplement 1: S12 ± S14 Alternative Psychosen sind nicht nur nach Vigabatrin beschrieben worden, sondern auch unter einigen anderen ¹neuenª Antiepileptika insbesondere im Zusammenhang mit Topiramat, Tiagabin und Zonisamide. Neben schizophreniformen Psychosen können auch primär affektive Störungen auftreten. Wir haben auch beobachtet, dass betroffene Patienten häufig bereits früher Psychosen oder affektive Störungen hatten. In neueren Studien wurde die Rolle der Persönlichkeit als weniger relevant als die psychiatrische Vorgeschichte angesehen. Wir haben drei Patienten, die das klinische Bild einer forcierten Normalisierung nach dem zuletzt zugelassenen Antiepileptikum Levetiracetam entwickelt haben: Darunter ist eine 34-jährige Frau, die nach einer Enzephalitis im 27. Lebensjahr eine Epilepsie entwickelt hatte. Sie hatte komplex-fokale sowie sekundär generalisierte Anfälle, und anamnestisch bekannte Verhaltensprobleme mit Aggressivität und Halluzinationen. Unter Levetiracetam sistierten ihre Anfälle; sie war jedoch agitiert und entwickelte akustische Halluzinationen. Sie war orientiert zu allen Qualitäten und ihr EEG war normal. Die Psychose verschlimmerte sich Die meisten der Medikamente, die in letzter Zeit bei Beschreibungen einer forcierten Normalisierung involviert waren, haben einen GABAergen Wirkmechanismus. Diese Gemeinsamkeit führte zu einer Hypothese, nach der GABAerge Medikamente zu einer exzessiven inhibitorischen Aktivität führen, zusätzlich zu der ohnehin erhöhten inhibitorischen Aktivität des Gehirns, das versucht, die pathologische Anfallsaktivität zu kompensieren. Alle Beobachtungen mit neuen Medikamenten weisen in diese Richtung, mit der Ausnahme der Fälle unter Levetiracetam, welches keine GABAerge Wirkung hat. Psychiatrische Nebenwirkungen mit Levetiracetam sind allerdings seltener als mit Vigabatrin, Tiagabin und Topiramat. Die VNS, deren Wirkmechanismus weitgehend ungeklärt ist, bildet eine weitere Ausnahme. Dies könnte bedeuten, dass die Unterdrückung von Anfällen und der Verlust der Spitzenaktivität im EEG entscheidend für die Entwicklung einer alternativen Psychose sind. Andere Gruppen haben forcierte Normalisierungen auch bei Kindern mit Epilepsie beschrieben. Es ist jetzt auch klar, dass das klinische Bild breiter gefächert ist als in den Originalbeschreibungen. Wolf u. Schmitz haben gezeigt, dass andere psychiatrische Probleme wie z. B. dissoziative Anfälle und manische Episoden in demselben Kontext auftreten können [7, 8]. Von einem anderen Blickwinkel, von einem primär psychiatrischen Standpunkt, gibt es ebenfalls einige interessante Beobachtungen. Die Tatsache, dass die EKT eine effektive Behandlungsmethode für eine affektive Psychose ist, kann fast als ein Spiegelbild von Landolts Konzept gesehen werden. Es ist weiterhin bemerkenswert, dass Clozapin, das effektivste antipsychotische Medikament, mit einem vielfach erhöhten Risiko für die Entwicklung von Anfällen bei Patienten mit Schizophrenie assoziiert ist. Man kann der zentralen Rolle von epileptischen Anfällen für das Verständnis von neuropsychiatrischen Zusammenhängen nicht entkommen. S13 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Was ist neu? Diese neuen Beobachtungen werfen interessante Fragen nach dem biologischen Mechanismus der forcierten Normalisierung auf. Landolt et al. interpretierten das Phänomen als Ausdruck einer exzessiven inhibitorischen Aktivität des Zentralnervensystems. Es war damals allerdings nicht möglich, diese Hypothese neurochemisch zu erklären. Übersicht Doch in den letzten zehn Jahren kam es zu einem Wiederaufleben des Interesses an Landolts Beschreibungen. Dies wurde angestoûen durch die Beobachtung von psychiatrischen Komplikationen nach der Einführung von neuen Antiepileptika in der Behandlung von Patienten mit Epilepsie. Die beiden anderen Patienten entwickelten eine Psychose mit religiösem Wahn unter der Behandlung mit Levetiracetam. Nach Jahren der Vernachlässigung ist Landolts Konzept der forcierten Normalisierung jetzt wieder in das Blickfeld von Neurologen gerückt. Über Jahre hat es sich als ein gültiges klinisches Konzept bewährt; wegen der Fülle effektiver Behandlungsmethoden in der Epileptologie ist es heute wahrscheinlich noch wichtiger als in der Zeit von Landolt. Es handelt sich um eine distinkte neuropsychiatrische Störung. Klinische Neurologen mit einem Interesse an der Epilepsie werden es bereuen, wenn sie die forcierte Normalisierung und ihre klinischen Korrelate ignorieren. Übersicht Die forcierte Normalisierung kommt vermutlich häufiger vor als mehrfach angenommen. Deshalb sollten Neurologen, die Patienten mit Epilepsie behandeln, ihre Augen für dieses Phänomen offen halten. Nur durch eine Sensibilisierung für dieses Phänomen und durch sorgfältige klinische Beobachtungen wird es möglich sein, ein besseres Verständnis für dieses faszinierende neuropsychiatrische Konzept zu entwickeln. Literatur 1 Landolt H. Some clinical electroencephalographical correlations in epileptic psychoses (twilight states). Electroenceph Clin Neurophysiol 1953; 5: 121 2 Landolt H. Serial electroencephalographic investigations during psychotic episodes in epileptic patients and during schizophrenic attacks. In: Lorentz de Haas AM (eds): Lectures on epilepsy. Amsterdam: Elsevier, 1958: 91 ± 133 3 Tellenbach H. Epilepsie als Anfallsleiden und als Psychose. Über alternative Psychosen paranoider Prägung bei ¹forcierter Normalisierungª (Landolt) des Elektroenzephalogramms Epileptischer. Nervenarzt 1965; 36: 190 ± 202 4 Janz D. Die Epilepsien. Spezielle Pathologie und Therapie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 1969; 2. Aufl. 1997 5 Neimanis G. Klinische und morphologische Befunde bei vier Fällen von psychomotorischer Epilepsie. Dtsch Z Nervenheilkd 1962; 193: 528 6 Thomas L, Trimble MR, Schmitz B, Ring HA. Vigabatrin and behaviour disorders: A retrospective study. Epilepsy Research 1996; 25: 21 ± 27 7 Schmitz B, Wolf P. Psychosis with epilepsy: Frequency and risk factors. J Epilepsy 1995; 8: 295 ± 305 8 Wolf P. The clinical syndromes of forced normalisation. Fol Psychiat Neurol Jpn 1984; 38: 187 ± 192 S14 Trimble M. Forcierte Normalisierung ¼ Akt Neurol 2002; 29, Supplement 1: S12 ± S14 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Abschlieûender Kommentar