8:34 Uhr Seite 1 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% Dieses Studienbuch stellt zum einen die wichtigsten historischen Umbrüche der deutschen Sprache bis in die heutige Zeit dar, zum anderen liefert es auch Begründungen des Sprachwandels, theoretische Fundierungen und typologische Einordnungen. Es geht daher zentral darum, Warum-Fragen zu stellen und zu beantworten. So hat sich das Deutsche im Laufe seiner Geschichte von einer Silben- zu einer ausgeprägten Wortsprache entwickelt, was sich auf mehreren Ebenen (z.B. Phonologie, Orthographie, Morphologie) niederschlägt. In der Syntax wird auf das bis heute zunehmende Klammerprinzip abgehoben. Diesen und weiteren Prinzipien gehen die Autorinnen anhand zahlreicher Beispiele nach und ermöglichen so ein tieferes Verständnis der deutschen Sprachgeschichte. Die hier vorliegende 2., überarbeitete Auflage enthält neben Korrekturen auch inhaltliche Präzisierungen, Vertiefungen und Aktualisierungen. Insgesamt haben Damaris Nübling und ihre Mitarbeiterinnen mit dem vorliegenden Werk eine ebenso informative und anspruchsvolle wie originelle und zukunftsweisende Sicht der deutschen Sprachgeschichte vorgelegt. Torsten Leuschner in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Als eine zu den einschlägigen Sprachgeschichten komplementäre Einführung in die Sprachwandelforschung ist das vorliegende Buch geeignet, eine echte Marktlücke zu schließen. Nanna Fuhrhop / Helmut Langner in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft ISBN 978-3-8233-6375-0 Nübling Historische Sprachwissenschaft des Deutschen 22.10.2007 narr studienbücher 006606 Stud. Nübling Damaris Nübling Antje Dammel/Janet Duke/Renata Szczepaniak Historische Sprachwissenschaft des Deutschen Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels 2. Auflage narr studienbücher INHALTSVERZEICHNIS 1 1.1 1.2 Einleitung: Sprachwandel und Sprachgeschichte ........................... 1 Sprachwandel .......................................................................................... 1 Von der mehrschichtigen Struktur der Sprache ................................. 2 1.3 Zur Periodisierung der deutschen Sprache......................................... 4 1.4 Wie man dieses Buch benutzt................................................................ 7 1.5 Empfohlene Literatur ............................................................................. 7 TEIL I: EBENEN DES SPRACHWANDELS 2 2.1 Phonologischer Wandel ...................................................................... 11 Was ist historische Phonologie?.......................................................... 11 2.2 Silbenphonologischer Wandel im Deutschen – Verschlechterung der Silbenstruktur ................................................. 22 Das Althochdeutsche war eine Silbensprache .................................. 22 Der althochdeutsche i-Umlaut ............................................................ 24 Die zweite Lautverschiebung .............................................................. 26 Die mittelhochdeutsche Vokalreduktion in unbetonten Silben ..... 29 Apokopen und Synkopen in der Geschichte des Deutschen.......... 30 Wortphonologischer Wandel im Deutschen – Optimierung des phonologischen Wortes......................................... 32 Das Neuhochdeutsche ist eine Wortsprache..................................... 32 Stabilisierung der Wortgröße durch die mhd. Vokaltilgung.......... 32 Phonologisierung der i-Umlaut-Produkte......................................... 34 Entstehung ambisilbischer Konsonanten .......................................... 35 Die frühneuhochdeutsche Dehnung in offener Silbe....................... 37 Die frühneuhochdeutsche Konsonantenepenthese.......................... 38 Entstehung der Fugenelemente .......................................................... 40 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 3 3.1 3.1.1 Morphologischer Wandel ................................................................... 43 Flexionsmorphologischer Wandel...................................................... 44 Flexivischen Wandel untersuchen: Theoretisches und methodisches Handwerkszeug ........................................................... 44 3.1.1.1 Analogie – ein Mechanismus morphologischen Wandels .............. 44 3.1.1.2 Ein Muss: Flexionskategorien und ihre Hierarchisierung ............... 46 3.1.1.3 Verpackung flexionsmorphologischer Information: Verhältnis von Form und Funktion.................................................... 50 3.1.1.4 Einfluss der Gebrauchsfrequenz auf Ausdrucksverfahren............. 55 3.1.2 Fallbeispiele: Wandel in der Substantiv- und Verbflexion ............. 58 3.1.2.1 Substantiv: Schwächung von Kasus und Stärkung von Numerus ......................................................................................... 58 3.1.2.2 Verb: Schwächung von Numerus und Person und Stärkung von Tempus ........................................................................................... 63 3.1.2.3 Entstehung von flexivischer Irregularität: haben .............................. 66 3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.1.3 3.2.1.4 3.2.1.5 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 Wortbildungswandel............................................................................ 68 Entstehung und Wandel von Derivationsaffixen ............................. 69 Das Affixoid als Brücke zwischen Wort und Affix .......................... 70 Entstehung des Suffixes -bar................................................................ 73 Ist Laubwerk ein Werk? – Zum Wandel im Bereich der Kollektivaffixe........................................................................................ 77 Konkurrenz zwischen Derivationsaffixen ......................................... 79 Die Karriere des -er-Suffixes: Produktivitätswandel........................ 82 Die deutsche Kompositionsfreudigkeit ............................................. 84 N+N-Komposita in der deutschen Sprachgeschichte ...................... 84 Fugenelemente....................................................................................... 85 Mehrgliedrige Komposita .................................................................... 88 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 Syntaktischer Wandel ......................................................................... 91 Ausbau der Klammer und Fixierung der Verbstellung .................. 91 Definition der Klammer ....................................................................... 92 Klammerausbau und Verb-Zweit-Stellung ....................................... 94 Die Klammer heute ............................................................................... 97 Funktion der Klammer ......................................................................... 98 VO versus OV: Das Deutsche als syntaxtypologischer Mischtyp 99 4.2 Auf gut Glück – Fixierung der Adjektivstellung und Abbau unflektierter Attribute ........................................................................ 100 4.3 Des Rätsels Lösung: Vom prä- zum postnominalen Genitiv........... 102 4.4 Abbau des Genitivs als Objektkasus (Valenzwandel) ................... 103 4.5 Negationswandel ................................................................................ 104 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 Semantischer Wandel........................................................................ 108 Typen semantischen Wandels........................................................... 110 Bedeutungserweiterung..................................................................... 110 Bedeutungsverengung ....................................................................... 113 Bedeutungsverschiebung................................................................... 114 Bedeutungsübertragung .................................................................... 115 Bedeutungsverschlechterung (Pejorisierung) ................................. 116 5.1.6 Bedeutungsverbesserung (Meliorisierung) ..................................... 117 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 Verfahren semantischer Neuerungen .............................................. 117 Metapher .............................................................................................. 118 Metonymie ........................................................................................... 120 Implikatur............................................................................................. 122 Euphemismus ...................................................................................... 124 Ellipse.................................................................................................... 125 Erklärungen der unsichtbaren Hand................................................ 126 5.3 5.3.1 5.3.2 Fallstudie eines Wortfeldwandels: Die Verwandtschaftsbezeichnungen................................................ 128 Stabilität der Bezeichnungen für die Kernfamilie .......................... 129 Umschichtungen bei der weiteren Verwandtschaft....................... 130 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.2.1 6.1.2.2 6.1.2.3 6.1.2.4 6.1.2.5 6.1.3 Lexikalischer Wandel ........................................................................ 135 Auf gut Deutsch – Entlehnungen ins Deutsche ................................ 137 Tisch vs. Computer – Lehnwort oder Fremdwort?........................... 139 Das Deutsche – eine Mischsprache................................................... 140 Phonologische Transferenz vs. Integration ..................................... 141 Graphische Transferenz vs. Integration........................................... 141 Morphologische Transferenz vs. Integration .................................. 143 Semantische Integration ..................................................................... 144 Lexikalische Transferenzen und die Wortschatzstruktur ............. 145 Lehnprägungen ................................................................................... 146 6.2 Lexikalisierung – oder: Wie aus alten Wörtern neue entstehen ... 147 7 7.1 Pragmatischer Wandel ...................................................................... 152 Was ist (historische) Pragmatik?....................................................... 152 7.2 Perspektiven auf pragmatischen Wandel........................................ 154 7.3 Konversationelle Implikaturen – ein Katalysator für Sprachwandel ...................................................................................... 156 Anredewandel ..................................................................................... 159 Einordnung in die Pragmatik, terminologisches Werkzeug......... 159 Immer indirekter: Die Entwicklung der höflichen Anredepronomen im Deutschen....................................................... 161 7.4 7.4.1 7.4.2 7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.3 Diskurs- und Modalpartikeln diachron ........................................... 166 Einordnung in die Pragmatik, terminologisches Werkzeug......... 166 … weil – viele Wege führen zur Diskurspartikel, gell?................... 168 Wie entstehen bloß Modalpartikeln?................................................. 170 8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.1.7 Graphematischer Wandel ................................................................. 174 Verschriftungsprinzipien und ihre Geschichte............................... 176 Das phonologische Prinzip ................................................................ 178 Das silbische Prinzip........................................................................... 184 Das morphologische Prinzip ............................................................. 186 Das lexikalische Prinzip ..................................................................... 190 Das syntaktische Prinzip.................................................................... 191 Das textuale Prinzip............................................................................ 193 Das pragmatische Prinzip .................................................................. 194 8.2 Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung ........................... 195 8.3 Die Normierung .................................................................................. 199 TEIL II: EBENENÜBERGREIFENDER SPRACHWANDEL 9 9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 Von der Phonologie in die Morphologie: Ablaut und Umlaut 204 Ablaut: Fossil ebenenübergreifenden Wandels .............................. 204 Entstehung: Von der Phonologie in die Morphologie ................... 204 Fallbeispiel Flexion: Starke Verben................................................... 206 Fallbeispiel Wortbildung: Kausativderivation................................ 213 Jetzt kommt der Bi-Ba-Butzemann: Ist der Ablaut noch produktiv?............................................................................................ 214 9.2 9.2.1 9.2.2.4 9.2.3 Umlaut .................................................................................................. 215 Der Ursprung: Vom phonetischen zum phonologischen Umlaut .................................................................................................. 215 Die Nutzbarmachung: Der morphologische Umlaut .................... 216 Krumm – krümmer – am krümmsten? – Steigerungsumlaut bei Adjektiven...................................................................................... 216 Wenn die Vöglein nur sängen: Konjunktivumlaut bei starken Verben..................................................................................... 219 Exkurs: Eskapaden des Umlauts im Luxemburgischen am Beispiel des Pluralumlauts .......................................................... 221 Täubchen im Gebüsch hören: Umlaut in Wortbildung und Lexik ... 222 Dölf und Mäx: Umlaut in der Pragmatik.......................................... 223 10 10.1 10.1.1 10.1.2 Grammatikalisierung: Wie entsteht Grammatik? ....................... 226 Die Einbahnstraße ins Zentrum der Sprache .................................. 226 Phasen der Grammatikalisierung ..................................................... 227 Die Entstehung der schwachen Verben ........................................... 230 10.2 Das werden-Futur................................................................................. 231 9.2.2 9.2.2.1 9.2.2.2 9.2.2.3 10.3 10.3.1 10.3.2 10.4 Fallbeispiel Konjunktionen ................................................................ 236 Konzessive Konjunktionen: Die Entstehung von obwohl............... 236 Kausale Konjunktionen: weil ............................................................. 238 Probleme der Grammatikalisierungsforschung ............................. 239 11 11.1 Im Spannungsfeld zwischen Analyse und Synthese.................. 243 Was bedeutet Analyse und Synthese? ............................................. 243 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 Von der Synthese zur Analyse: Periphrasen................................... 245 Neuer Pflichtbegleiter für das Verb: Das Subjektspronomen....... 245 Neuer Pflichtbegleiter für das Substantiv: Der Artikel.................. 247 Von sie sang zu sie hat gesungen: Entstehung des Perfekts und Schwund des Präteritums .................................................................. 251 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 Von der Syntax in die Morphologie: Verschmelzungen ............... 256 Stadien der Verschmelzung............................................................... 258 Einfache Klitika: Die nachgestellten Personalpronomen .............. 259 Spezielle Klitika: Verschmelzung von Präposition und Artikel... 260 Exkurs – wennsd mogsd: Flektierende Konjunktionen im Bairischen?...................................................................................... 262 12 12.1 Typologischer Wandel: Wohin geht das Deutsche?.................... 264 Das Deutsche als typologische Mischsprache................................. 265 12.2 Das Deutsche als grenzmarkierende Sprache ................................. 267 12.3 Wo soll das alles hinführen?.............................................................. 269 13 Sachverzeichnis .................................................................................. 271 14 Abkürzungsverzeichnis.................................................................... 275 15 Literaturverzeichnis........................................................................... 277 1 Einleitung: Sprachwandel und Sprachgeschichte In diesem Kapitel werden als Basis zur weiteren Lektüre einige allgemeine Informationen zum Sprachwandel und zur deutschen Sprachgeschichte geliefert. Dabei wird besonderer Wert auf die verschiedenen Teilsysteme der Sprache gelegt. Die Einleitung schließt mit praktischen Hinweisen zur Benutzung dieses Buches ab. 1.1 Sprachwandel Alle natürlichen Sprachen befinden sich in ständigem Wandel. Diese Tatsache gehört zu den Universalien der Sprache. Die meisten Menschen assoziieren jedoch mit Sprachwandel merkwürdige Dinge: Erstens halten sie Sprachwandel durchweg für etwas Verwerfliches, für Sprachverfall, für den Niedergang der deutschen (Sprach-)Kultur u.ä. Zweitens setzen sie ihn in aller Regel mit lexikalischem Wandel gleich, und zwar meistens mit der Entlehnung von Anglizismen, die (siehe oben) auch ausschließlich negativ bewertet wird. Eventuell kommt der "Verlust" des Genitivs hinzu (von das Ende der Geschichte zu das Ende von der Geschichte) und der Wandel vom Genitiv zum Dativ nach Präpositionen wie während oder wegen (während des Gesprächs zu während dem Gespräch). Manchmal folgt noch die Hauptsatzstellung nach weil (weil sie hat keine Zeit), die als Indikator für den Verlust des deutschen Nebensatzes gedeutet wird. Leider werden solche so unberechtigten wie unwissenschaftlichen Bewertungen durch eine schlechte Populärliteratur zu fast allen Themen der Sprache genährt – eine umso bedauerlichere Tatsache, als das Interesse vieler Menschen an sprachlichen, gerade auch sprachgeschichtlichen Themen groß ist. Die seltene fundierte Populärliteratur wird in dieser Einführung ausdrücklich empfohlen. Zunächst ist es wichtig, zu erkennen, dass es keinen "Sprachwandel an sich" gibt, sondern dass man von Anfang an die verschiedenen Ebenen der Sprache (ihre sog. Teil- oder Subsysteme) unterscheiden muss. In diesen Subsystemen verläuft Sprachwandel nach jeweils eigenen Prinzipien. So verfolgt der Lautwandel ganz andere "Interessen" (z.B. eine sparsame Artikulation) als etwa der morphologische Wandel (wo und wie werden die Informationen im Wort ausgedrückt?) oder gar der Bedeutungswandel, der mit der materiellen Seite der Sprache gar nichts zu tun hat. Dieser ebenenspezifische Wandel wird im ersten Teil des Buches ("Ebenenspezifischer Sprachwandel") behandelt, der die Kapitel 2 bis 8 umfasst: Phonologie (Kap. 2), Morphologie (Kap. 3), Syntax (Kap. 4), Semantik (Kap. 5), Lexik (Kap. 6), Pragmatik (Kap. 7), Graphematik (Kap. 8). Aus Platzgründen mussten wir auf ein Kapitel zur Textebene verzichten. Der zweite Teil 2 Einleitung: Sprachwandel und Sprachgeschichte (Kap. 9 bis 12) beleuchtet dann einige Beispiele für sog. ebenenübergreifenden Wandel, denn Sprachwandel auf der einen Ebene stößt oft Wandel auf einer anderen Ebene an. Hier bieten die Phänomene des Ablauts und vor allem des Umlauts Paradebeispiele dafür, wie einstmals phonologisch-prosodischer Wandel von der Grammatik aufgegriffen und genutzt wird und sich dort nach ganz anderen Prinzipien weiterentwickelt (Kap. 9). Auch die sog. Grammatikalisierung, die der Frage nach der Entstehung von Grammatik nachgeht und die die letzten beiden Jahrzehnte der linguistischen Forschung dominiert hat, liefert viele Beispiele für ebenenübergreifenden Wandel (Kap. 10). Kap. 11, "Im Spannungsfeld zwischen Analyse und Synthese", beleuchtet sowohl die Tendenz des Deutschen zu umschreibenden (periphrastischen) als auch stärker verdichtenden Strukturen. Ein kurzes abschließendes Kapitel geht der Frage nach dem typologischen Wandel des Deutschen nach (Kap. 12). 1.2 Von der mehrschichtigen Struktur der Sprache Wie eben schon angesprochen, setzen sich alle natürlichen Sprachen aus verschiedenen Teil- oder Subsystemen zusammen. Betrachtet man die Sprache als eine Einheit, die intern gegliedert ist, so ergibt sich eine Art Zwiebel. Manche sprachliche Teilsysteme sind eher in den äußeren Zonen zu platzieren, andere im Zentrum. Diese unterschiedliche Schichtung zeigt Abb. 1 (modifiziert nach DEBUS ²1980:188). Abb. 1: Das "Zwiebelmodell" der sprachlichen Ebenen P: Phonologie M: Morphologie S: Syntax Von der mehrschichtigen Struktur der Sprache 3 Die Darstellung der Teilsysteme in Schichten ist so zu verstehen, dass die äußeren Schichten für außersprachliche Einflüsse wie z.B. Sprachkontakt, Sprachplanung, kulturhistorische Veränderungen etc. anfälliger sind. Die Pragmatik als die Schnittstelle zum Sprachgebrauch bzw. zum außersprachlichen Kontext bildet dabei die äußerste (nur gestrichelte) Schicht. Darauf folgt die Lexik (und innerhalb dieser zuerst die hier nicht behandelten Namen, deren Position DEBUS eigentlich aufzeigen wollte), die sehr empfänglich ist für die Aufnahme, aber auch für den Verlust sprachlicher Zeichen. Hier spricht man von offenen Klassen, das sind v.a. die Substantive, Verben und Adjektive. Ihre Bedeutung (Semantik) wird stark geformt durch die menschliche Wahrnehmung der Wirklichkeit, auch durch soziale, politische und kulturelle Gegebenheiten. Dagegen besteht der innere Kern aus Subsystemen, die weniger anfällig für äußere Einflüsse sind: Phonologie, Morphologie und Syntax, auch als "Grammatik" zusammenfassbar. Zwischen diesen Teilbereichen bestehen durchaus Übergänge, d.h. dieses "Zwiebelmodell", das scharfe Grenzen suggeriert, darf nicht überstrapaziert werden. So sind Umschreibungen (Periphrasen) zum Ausdruck des Perfekts oder des Passivs zwischen der Morphologie und der Syntax anzusiedeln (Morphosyntax). Völlig stabil sind diese Kernbereiche jedoch nicht, denn auch sie können Mitglieder verlieren und neue aufnehmen. So wurde die Derivationsmorphologie im Laufe der Sprachgeschichte durch das Suffix -lich (ordentlich, reichlich, länglich) bereichert. Dieses Suffix geht auf ein selbstständiges Wort zurück, das früher 'Körper, Gestalt' bedeutete und das heute als Leiche fortgesetzt wird. Eine lexikalische Einheit benötigt aber wesentlich mehr Zeit, um ins "grammatische Innere" der Sprache zu gelangen als z.B. ein Fremdwort, das über sog. Entlehnung schnell von außen in die äußere lexikalische Schicht gelangt. Die Bewegung eines sprachlichen Zeichens vom Lexikon in die Kernbereiche der Sprache bezeichnet man als Grammatikalisierung. Dieser Prozess wird ausführlich in Kap. 10 dargestellt. Auch die relative Größe der innersten Schicht, des Kerns, ist bezeichnend. Die drei Bereiche setzen sich aus einer begrenzten Anzahl von Mitgliedern zusammen, die, obwohl erweiterbar, viel kleiner ist als die Zahl der Einheiten in der lexikalischen Schicht. Dieser Kern, die Grammatik, bildet das stärkste Identitätsmerkmal einer Sprache. Die Schreibung (Graphie) haben wir zwischen dem inneren grammatischen Kern und der Lexik platziert. Dies ist einerseits dadurch gerechtfertigt, dass die Schreibung von außen veränderbar ist (Sprachpolitik), wie wir dies bei der jüngsten Orthographiereform gesehen haben. Andererseits kann die Schreibung all diejenigen Teilsysteme, die sie berührt, repräsentieren. In Sprachen mit sog. Alphabetschriften bildet zwar die Phonologie die wichtigste Grundlage der Verschriftung. Doch die heutige Schreibung des Deutschen repräsentiert in hohem Maße auch die Morphologie, die Syntax, die Lexik und selbst die Pragmatik. Kap. 8 handelt von der Entwicklung dieses Systems. Tab. 1 enthält zunächst einfache Beispiele für Wandelphänomene auf den einzelnen Ebenen. Die gesamte Struktur des ersten Teils dieses Buches folgt diesem "Zwiebelmodell". Während herkömmliche Sprachgeschichten des Deutschen chronologisch aufgebaut sind, geht dieses Buch nach den sprachlichen Ebenen vor. Im zweiten 4 Einleitung: Sprachwandel und Sprachgeschichte Teil wird gezeigt, dass diese Ebenen sich nicht isoliert verändern müssen, sondern stark ineinander greifen können. Hier geht es um sprachliche "Kettenreaktionen" wie Ablaut, Umlaut und Grammatikalisierung. Tab. 1: Beispiele für Sprachwandel in einzelnen Subsystemen sprachliche Ebene phonologisch prosodisch (suprasegmental) segmental morphologisch Flexion Wortbildung syntaktisch semantisch lexikalisch pragmatisch graphematisch Beispiele Wandel vom freien idg. Akzent zum festen germ. Initialakzent Veränderungen von Vokalen und Konsonanten, z.B. mhd. /u:/ > fnhd. /au/ mûs > Maus Übergang starker zu schwachen Verben, z.B. bellen – ball – bullen – gebollen > bellen – bellte – gebellt Entstehung neuer Affixe aus Lexemen, z.B. das Adjektivsuffix -lich, das dem gleichen Ursprungswort wie Leiche, damals 'Körper, Gestalt' bedeutend, entstammt Wortstellungswandel, z.B. des Teufels Sohn > der Sohn des Teufels Bedeutungswandel, z.B. von billig 'angemessen' > 'preiswert' > 'wertlos' z.B. Entlehnungen wie Cousin, Kusine z.B. Wandel der Höflichkeitsformen wie Ihr > Sie z.B. Entwicklung der Substantivgroßschreibung Schließlich: Wenn in dieser Einführung davon die Rede ist, dass sich "die Sprache", "die Syntax" oder "die Phonologie" etc. wandelt, so handelt es sich hier um eine verkürzende Sprechweise. Selbstverständlich sind wir, die wir Sprache verwenden, diejenigen, die die Sprache verändern, indem wir sie unseren Bedürfnissen anpassen. Da wir an einer funktionierenden Kommunikation interessiert sind, bedeutet Sprachwandel keineswegs Sprachverschlechterung. Dass Sprachwandel nie zum Stillstand kommt, liegt zum größten Teil daran, dass jedes der oben beschriebenen Subsysteme sein Optimum anstrebt und dabei andere Subsysteme bei ihrer Optimierung behindert. So "konfligieren" besonders oft die phonologische und die morphologische Ebene. Für solche Mechanismen werden wir noch zahlreiche Beispiele kennen lernen. 1.3 Zur Periodisierung der deutschen Sprache Sprachwandel erstreckt sich oft über so lange Zeit, dass ihn die Sprecher kaum wahrnehmen. Dennoch unterscheidet man sprachliche Perioden, deren Übergänge fließend sind und die wissenschaftliche Konstrukte bilden. Die Periodisierungen der deutschen Sprachgeschichte basieren in der Regel sowohl auf innersprachlichen (sprachinternen) als auch auf außersprachlichen Zur Periodisierung der deutschen Sprache 5 (sprachexternen) Kriterien. Als innersprachliche Kriterien gelten Veränderungen auf allen sprachlichen Ebenen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Lexik, Pragmatik, Graphie), wobei diese Ebenen unterschiedlich stark gewichtet sein können. Als außersprachliche Kriterien können kulturhistorische Ereignisse jeglicher Art herangezogen werden, wie gesellschaftliche Entwicklungen, bestimmte Erfindungen, das Wirken wichtiger Personen, z.B. Martin Luther. Manche Periodisierungen setzen z.B. den Beginn der frühneuhochdeutschen Periode in die Mitte des 15. Jahrhunderts, was mit dem wichtigen medienhistorischen Ereignis der Erfindung und der Ausbreitung des Buchdrucks ab 1450 korreliert. In der folgenden Periodisierung des Deutschen liegt jedoch der Schwerpunkt auf innersprachlichen Kriterien. Außersprachliche Faktoren rücken in diesem Buch so weit ins Blickfeld, wie sie innersprachlichen Wandel nachweislich beeinflusst haben. So ist es wenig einsichtig, weshalb z.B. das Ende des 30jährigen Krieges eine sprachgeschichtliche Grenze markieren soll. Hierfür ziehen wir sprachliche Fakten vor (zu verschiedenen Periodisierungen s. ROELCKE 1998). Die Bezeichnung Althochdeutsch (Ahd.) enthält – wie alle Periodenbezeichnungen – drei Informationen: Mit Alt- wird die zeitliche Einordnung angezeigt. Hier handelt es sich um die früheste schriftlich belegte Sprachstufe des Deutschen (750-1050). Das zweite Element, -hoch-, bezeichnet eine räumliche Dimension: Die hochdeutschen Dialekte liegen im höhergelegenen Teil Deutschlands, also im Zentrum und v.a. im südlichen Gebiet (etwa von Köln bis Oberitalien), die nieder- (oder platt-)deutschen Dialekte dagegen in Norddeutschland. Die Grenze zwischen Hoch- und Niederdeutsch, die sog. Benrather Linie, basiert auf phonologischen, also innersprachlichen Kriterien, die durch die sog. zweite Lautverschiebung entstanden sind (s. Kap. 2.2.3). Wichtig ist also, dass der Terminus Hochdeutsch in diesem Kontext eine ganz andere Bedeutung hat als heute, wo er die überregionale Standardsprache bezeichnet. Das dritte Element, -deutsch, bezeichnet schließlich die Sprache, die sich jedoch bis heute aus zahlreichen Dialekten zusammensetzt. Eine überregionale Standardsprache bildet sich erst langsam in der frühneuhochdeutschen Periode heraus. Von dieser wichtigen Tatsache, dass wir es bis weit ins Frühneuhochdeutsche (fnhd.) hinein ausschließlich mit Dialekten zu tun haben, müssen wir hier weitgehend absehen. Hinweise auf dialektale Entwicklungen werden zwar hie und da geliefert, doch bleibt das komplexe Zusammenspiel dieser (und weiterer) Varietäten und ihr Einfluss auf den Sprachwandel eher im Hintergrund. Hierzu s. insbesondere die Rubrik "Regionalsprachgeschichte" im Handbuch "Sprachgeschichte" (BESCH u.a. 2003) . Die in Tab. 2 aufgelisteten Perioden werden jeweils durch die wichtigsten innersprachlichen Abgrenzungskriterien für die Epoche ergänzt, geordnet nach sprachlichen Ebenen: a) Phonologie; b) Morphologie/Syntax, c) Schreibung. Obwohl diese Periodisierung mit dem Indogermanischen (idg.) beginnt, handelt diese Einführung nur von der deutschen Sprachgeschichte, d.h. sie beginnt erst mit dem seit dem 8. Jh. schriftlich belegten Ahd. Entwicklungen aus diesen früheren Epochen, die zum Verständnis mancher Wandelerscheinungen bekannt sein sollten, werden nachgeliefert oder es wird auf Literatur dazu verwiesen.