M e d i e n e t h i k / F ra g e n a n P ro f. N i ko l a B i l l e r- A n d o r n o «Der Anspruch auf Selbstkontrolle ist ein ganz wichtiges Element eines professio­nellen Ethos» Synapse: Wie beurteilen Sie die Qualität des Journalismus heute in der Schweiz? Nikola Biller-Andorno: Häufig geht es halt schon um das Reisserische, den Prof. Dr. Skandalwert. Mit Nikola Biller-Andorno nuancierten ethischen Erwägungen etwa hat man da oft schlechte Karten. Das ist dann schade, wenn man eigentlich eine wichtige Botschaft hätte, die aber in Zuspitzungen von inhaltlichen Nebenschauplätzen ­untergeht. Abgesehen von dieser grundlegenden Problematik aber kenne ich viele höchst engagierte Journalisten mit einem sehr hohen Anspruch ans eigene Berufsethos. Was ist für Sie guter Journalismus? Guter Journalismus wählt Themen aus, mit denen sich eine Auseinandersetzung lohnt. Er präsentiert sie auf ansprechende, durchaus auch unterhaltsame Weise und weist Evidenzen und Meinungen klar aus. Sind für Sie journalistische Qualität und ethische Verantwortung (des Journalisten) identisch bzw. inhaltlich deckungsgleich? Ich denke schon, dass das auseinanderlaufen kann. Man kann einen brillanten Artikel schreiben und darin Leute zum Massenmord aufrufen. Dieser Artikel mag dann im technischen Sinne gut oder gar hervorragend sein, aber der Journalist wird seiner gesellschaftlichen Verantwortung trotzdem nicht gerecht. Die Ethik ist Teilbereich der Philo­sophie und stellt grundsätzlich die Frage nach dem richtigen Handeln. Ist für Sie richtiges Handeln automatisch auch richtiges Schreiben? Es gibt ja den Spruch: «Es gibt nichts ­Gutes, ausser man tut es.» Man kann lang richtige Einsichten verkünden, sie umzusetzen ist noch einmal etwas ganz anderes. 8 I Welches ist aus Ihrer (ethischen) Sicht die Hauptaufgabe der Medien in unserer Gesellschaft? Ich denke, die Medien sollten uns seriös informieren. Ein wenig Komplexität darf man dem Leser schon zumuten, auch wenn es vielleicht anstrengend ist oder erst einmal irritiert. Wenn zu stark vereinfacht wird, entsteht oft ein Zerrbild des Sachverhalts. Vor allem sollten Un­ sicherheiten, zum Beispiel hinsichtlich empirischer Fakten, auch so dargestellt werden und nicht so, als ob sie offensichtlich wahr oder falsch wären. In der Medizin ist das besonders wichtig. ist viel verloren. Zugleich müssen wir uns auch als Leser einen kritischen Blick bewahren. Welchen Einfluss haben Ihrer Meinung nach die sozialen Netzwerke auf den Journalismus? Ehrlich gesagt nutze ich virtuelle soziale Netzwerke selbst nur wenig, weil das dazu führen würde, dass ich meine realen sozialen Netzwerke noch stärker ­vernachlässigen würde, als ich das zu meinem Bedauern schon heute manchmal tue. Einerseits können soziale Netzwerke dem Pu­blikationsgeschäft eine bemerkenswerte Dynamik verleihen, und man hat ein frappierendes Potential, innerhalb kürzester Zeit eine grosse Zahl an Leuten zu erreichen. Auf der anderen Seite können soziale Netzwerke mit all ihren negativen Begleiterscheinungen – shitstorms und dergleichen – auch die Medien vor sich her treiben. Machen publizistische Selbstkontrollen (z.B. durch den «Presserat» in der Schweiz) einen Sinn, wenn sie rechtlich keine Folgen haben und nicht verbindlich sind? Der Anspruch auf Selbstkontrolle ist ein ganz wichtiges Element für ein profes­ sionelles Ethos. Das heisst nicht, dass ­dieser Mechanismus gegebenenfalls durch weitere ergänzt werden kann. Fast jeder Journalist steht im Clinch zwischen Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und der Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber. In der Erklärung der «Pflichten und Rechte der Journalisten» (vom Presserat als «Guidelines» veröffentlicht) heisst es u.a.: «Die Verantwortlichkeit der Journalistinnen und Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit hat den Vorrang vor jeder anderen, insbesondere vor ihrer Verantwortlichkeit gegenüber ihren Arbeitgebern und gegenüber staatlichen Organen.» Wie beurteilen Sie das? Ist das realistisch? Schön, dass das immerhin so in den ­Guidelines steht. Im Alltag ist das sicher bisweilen schwierig. Doch wenn wir den Anspruch an eine freie Presse aufgeben, Wird die Arbeit von Journalisten Ihrer Meinung nach durch die zunehmende «Gratiskultur» in der Schweizer Medienlandschaft entwertet? Die Gratisblätter sind eine Facette. Ich glaube nicht, dass dadurch das Interesse an anderen Publikationen zurückgeht. Anders herum sollten wir Chancen nutzen, seriöse Themen jenseits des Boulevard auch in diesen Blättern mit ihren hohen Auflagen zu platzieren. Das Wort des Jahres 2016 ist «post­ faktisch» und meint das Überhand­ nehmen des Nichtfaktischen («Fakes», Lügen) gegenüber einer faktenorientierten Publizistik. Wie interpretieren Sie diese Entwicklung? Schlimm, vor allem, wenn sogenannte postfaktische Darstellungen zur Bemäntelung von Interessenkonflikten benutzt werden. Eine interessante Interpretation von «postfaktisch» wäre hingegen, dass wir über die Herkunft und Hintergründe vermeintlicher Fakten und die Sicherheit dieses Wissens erfahren, so dass wir nicht alles für bare Münze nehmen, sondern Aussagen besser einordnen können. Die Fragen stellte Bernhard Stricker Prof. Dr. Nikola Biller-Andorno hat Medizin und Philosophie studiert. Sie ist Professorin für Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich, Fellow am Collegium Helveticum und Mitglied der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften.