Karl Haas

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Council of Europe´s In-service Training Programme for Educational Staff
Österreichisches Seminar im Lehrer/innenfortbildungsprogramm
des Europarates
Education for Democratic Citizenship
Von der NS-Ostpolitik zur Europäischen Integration
Beiträge anlässlich der Tagung der Zeitzeug/innen 2002
Council of Europe´s In-service Training Programme for Educational Staff
Österreichisches Seminar im Lehrer/innenfortbildungsprogramm
des Europarates
Education for Democratic Citizenship
Von der NS-Ostpolitik zur Europäischen Integration
Beiträge anlässlich der Tagung der Zeitzeug/innen 2002
Herausgeber, Medieninhaber, Vervielfältigung:
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur
Abteilung Politische Bildung, Minoritenplatz 5, 1014 Wien
Fax: 01/531 20-25 49, e-mail: [email protected]
Redaktion: Mag. Daniela Stefanits
Layout: Eva Weingartner
© bei den Autor/innen
März 2003
Der gesamte Text kann auch von der Schulplattform http://www.schule.at/politische-bildung
(Downloads) geladen werden.
Inhalt
Vorwort
5
Karl Haas
Zur Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland
und deren kriegsvorbereitenden Funktion
7
Wolfgang Neugebauer
(Teilaspekte zu) Verfolgung und Widerstand in Ostmittel- und Osteuropa
25
Barbara Distel
Zur Rolle und Struktur der nationalsozialistischen Konzentrationslager
39
Gabriella Hauch
Nationalsozialismus-Zwangsarbeit-Weiblich: NS-Bevölkerungs- und Sexualpolitik
gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen
49
Szabolcs Szita
Antisemitismus und jüdische Emigration in Osteuropa nach 1945
59
Manfred Rotter
Die EU: Weg oder Ziel? Ansätze einer europäischen Konzeptdiskussion
75
Autor/innen
105
Vorwort
Der vorliegende Band der Dokumentationen beinhaltet die Vorträge des von der Abteilung
Politische Bildung im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur veranstalteten Zeitzeug/innen-Seminars zum Thema „Von der NS-Ostpolitik zur europäischen Integration“ vom 28.-30.April 2002 in Salzburg. Die Tagung wurde 2002 als „Council of Europe`s
In-service Training for Educational Staff“ – Österreichisches Seminar im Lehrer/innenfortbildungprogramm des Europarat, Education for Democratic Citizenship – geführt.
In einem Einführungsreferat skizziert Karl Haas die Grundzüge der Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland und deren kriegsvorbereitenden Funktion.
Wolfgang Neugebauer stellt am Beispiel von Polen und Tschechien die Verfolgung und den
Widerstand in Osteuropa dar und zeigt an Hand der Diskussion um die Beneš-Dekrete,
welche bis heute gespannten Bezüge zwischen den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg, der
Nachkriegsordnung und den heutigen politischen Problemen bestehen, wie konfliktgeladen
europäische Zeitgeschichte sein kann und wie sie in Gegenwart und Zukunft hineinwirkt.
Barbara Distel gibt einen Überblick über Rolle und Struktur der nationalsozialistischen Konzentrationslager und deren Häftlingsgesellschaften und stellt den aktuellen Forschungsstand
sowie die vorhandene Literatur dazu vor.
Gabriella Hauch behandelt die NS-Bevölkerungs- und Sexualpolitik gegen Ostarbeiterinnen
und Polinnen und leistet damit einen wertvollen Beitrag zu einem Forschungsdesiderat.
Szabolcs Szita zeigt auf, wie der Antisemitismus in den osteuropäischen Gesellschaften fortbestand und auch nach 1945 die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu jüdischer
Emigration führten.
Manfred Rotter schließlich stellt die verschiedenen Konzeptionen auf dem Weg zur europäischen Integration vor, analysiert die politischen Verhältnisse, die Entscheidungsstrukturen
und Zielvorstellungen in diesem schwierigen Prozess.
Abschließend möchten wir den Autor/innen dafür danken, dass Sie uns Ihre Beiträge für diese
Dokumentation zur Verfügung gestellt haben.
Manfred Wirtitsch
Daniela Stefanits
5
6
Karl Haas
Zur Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland und deren
kriegsvorbereitenden Funktion
Der out-put an wissenschaftlicher Literatur zum Nationalsozialismus ist so beträchtlich, dass
Arbeiten darüber oft mit dem Hinweis auf die kaum noch überschaubare Literatur beginnen.
Auch die Außenpolitik Nazideutschlands ist gut erforscht. Die 1995 erschienene
Bibliographie zum Nationalsozialismus von Michael Ruck,1 die an die 1.500 Seiten stark ist
und über 20.000 Literaturtitel verzeichnet und die zu Recht als das zurzeit „umfassendste“
bibliographische Kompendium zum Thema Nationalsozialismus bezeichnet werden kann,2
weist allein zur speziellen Thematik der auswärtigen Beziehungen mehr als 700 Einträge auf.
Was hier nun versucht werden soll, ist – anhand der zu entwickelnden zentralen These, dass
die Außenpolitik NS-Deutschlands von Anfang an im Dienst der Kriegsvorbereitung
gestanden ist – wichtige Ergebnisse und Erkenntnisse einiger dieser Forschungsarbeiten in
zusammenfassender Weise vorzustellen. Angesichts der schon angesprochenen enormen
Menge an Literatur sei zur ersten Orientierung auf die Arbeiten von Ian Kershaw,3 BerndJürgen
Wendt4
und
Forschungstendenzen
Marie-Luise
und
Recker5
verwiesen,
Forschungskontroversen
die
informieren
über
Grundprobleme,
bzw.
auch
einen
enzyklopädischen Überblick geben und auf die ich mich hier u.a. ebenfalls stützen werde.
Von den zahlreichen Quelleneditionen sei hier die nunmehr als überarbeitete einbändige
Neuausgabe vorliegende Dokumentenedition von Wolfgang Michalka zur Innen- und
Außenpolitik Nazideutschlands6 genannt; schließlich auch noch die von Wolfgang Benz,
Hermann Graml und Hermann Weiß herausgegebene Enzyklopädie des Nationalsozialismus7.
Alle diese Publikationen liegen als Taschenbücher vor und sind somit leicht zugänglich.
Die angesprochenen Kontroversen und Debatten drehen bzw. drehten sich u.a. um die Frage
nach Kontinuitäten in der Außenpolitik Nazideutschlands, nach der Rolle und dem
Stellenwert Hitlers in den außenpolitischen Entscheidungsprozessen und Zielsetzungen, um
Ruck, Michael: Bibliographie zum Nationalsozialismus, Köln 1995.
So Norbert Frei in einer Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung.
3 Kershaw, Ian: Der NS Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbeck b. Hamburg 1994. Hier
insbesondere S. 195-233.
4 Wendt, Bernd-Jürgen: Großdeutschland. Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des Hitler-Regimes, München 1987. Hier
insbesondere S. 212-235.
5 Recker, Marie-Luise: Außenpolitik des Dritten Reichs, München 1990. Hier insbesondere S. 51-110.
6 Michalka, Wolfgang (Hg.): Deutsche Geschichte 1933-1945. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Frankfurt a. M.
1996.
7 Benz, Wolfgang, Hermann Graml, Hermann Weiß (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 3. Aufl. München 1998.
1
2
7
die Frage, ob Intentionen oder Strukturen für die NS-Außenpolitik bestimmend waren,
weiters, ob Hitler ein „Programm“ hatte oder schlichtweg ein opportunistischer
Machtpolitiker war, ob Hitlers Ziel die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten oder
langfristig die Weltherrschaft war. Ein knapper Befund kann Folgendes festhalten: Die
Forschung ist sich weitgehend einig, dass Hitler in für ihn wichtigen außenpolitischen Fragen
das Entscheidungsmonopol hatte. Neben einem bald dominanten Hitler und dem offiziellen
Behördenapparat des Auswärtigen Amtes8 (AA), der zunehmend an Einfluss verlieren sollte,
operierten im außenpolitischen Bereich aber noch eine Reihe von Institutionen und Personen
mit divergierenden Interessen und Konzepten und oft in Konkurrenz miteinander, wie etwa
das Militär, Parteiinstitutionen oder Parteifunktionäre. Als Beispiele seien hier genannt: Das
Büro des späteren Botschafters und Außenministers Ribbentrop und dessen England- und
Asienpolitik;9 die Auslandsorganisation der NSDAP und deren Politik in Nord- und
Südamerika; das Außenpolitische Amt der Partei,10 das am 1. April 1933 als eine Art
Innerparteiliches für den als außenpolitischen Experten und Ideologen der Partei geltenden
Alfred Rosenberg geschaffen wurde, und das in den Staatsstreich Quislings in Norwegen
sowie bei der Vorbereitung der Aggression gegen die Sowjetunion involviert war. Die
Wehrmachtsspitze und das Auswärtige Amt betrieben in China durch ihre materielle und
personelle Hilfestellung im Konflikt mit Japan bis 1937 eine eigene Politik, die dann
allerdings abgebrochen werden musste; die Sondermissionen und die Politik einzelner
Parteiführer, wie etwa Görings außenpolitische Aktion im Frühjahr 1933 in Italien
(Viermächtepakt), dessen Reisediplomatie 1934 in Südosteuropa oder dessen spätere Rolle im
März 1938 in der Österreichfrage oder bei der vermittelnden Sondierung in London
unmittelbar
vor
Kriegsausbruch;11
oder
das
Beispiel
der
national-konservativen
Regimekritiker im Auswärtigen Amt und an der Heeresspitze, wie der Staatssekretär von
Weizsäcker oder der Generalstabschef Halder, die einen großen europäischen Krieg, wie er
sich in den späten 1930er Jahren abzeichnete, vermeiden und entsprechend ihrer
Großmachtvorstellungen Österreich, das Sudetenland, Danzig und den polnischen Korridor
dazu: Döscher, Hans-Jürgen: SS und Auswärtiges Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“, 2. Aufl.
Frankfurt, Berlin 1991. Früher u. d. T.: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich, Berlin 1987. Vgl. dazu auch die Rezension
von Theodor Eschenburg: Diplomaten unter Hitler, in: Die Zeit v. 5. Juni 1987, S. 35f.
9 Vgl. dazu Michalka, Wolfgang: Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik 1933-1940, München 1980; und Kley, Stefan:
Hitler, Ribbentrop und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, Paderborn 1996.
10 Vgl. dazu Bollmus, Rainer: Das Amt Rosenberg und seine Gegner, Stuttgart 1970.
11 Martens, Stefan: Die Rolle Hermann Görings in der deutschen Außenpolitik 1937/38, in: Knipping, Franz, Klaus-Jürgen
Müller (Hg.): Machtbewusstsein in Deutschland am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Paderborn 1984, S. 75-92; Kube,
Alfred: Pour le mérite und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich, München 1986.
8
8
gegen den Frieden mit den Westmächten eintauschen wollten.12 Es ist wichtig festzuhalten,
dass
trotz
dieses
Ämter-
und
Personenwirrwarrs,
Hitlers
außenpolitische
Entscheidungsinstanz nicht in Frage gestellt war.
Für Hitlers Außenpolitik waren aber auch gewisse „Strukturen“ bestimmend, etwa soziale
Krisenlagen oder wirtschaftliche Zwänge oder internationale Konstellationen und Situationen,
die zum Teil wiederum durch ihn bzw. die nazistische Rüstungs- und Außenpolitik
herbeigeführt worden waren, und bei Hitler, weil Frieden keine Alternative für ihn war,
Zeitdruck hervorriefen und seine Aktionen beschleunigten. Für die Zielsetzung, die Funktion
und auch das Tempo der Außenpolitik Nazideutschlands war Hitlers ideologische Fixiertheit
bestimmend und entscheidend.
Die Kontinuitäten in der Außenpolitik zeigten sich im personellen Bereich des offiziellen
Amtes (Neurath als Außenminister, Bülow und Weizsäcker als Staatssekretäre, die
Botschafterriege), und in einer weit reichenden Interessenkongruenz der konservativen
politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten13 und auch der Öffentlichkeit. Der Kitt
für die Übereinstimmung war machtpolitisches, imperialistisches Denken, war der
Revisionismus, war die positive Besetztheit, die Militär und letztlich auch Krieg hatten,14
waren ökonomische Interessen.
Als die Nazi 1933 im Bündnis mit der alten nationalistischen Rechten und Teilen der
konservativ reaktionären Eliten in der Wirtschaft, der Bürokratie und dem Militär an die
Macht gekommen waren, knüpfte ihre Außenpolitik zunächst an den seit Beginn der
Dreißigerjahre
zunehmend
vorangegangenen
aggressiver
Präsidialkabinette
und
auftretenden
deren
deutschen
macht-
und
Revisionismus
der
hegemonialpolitischen
Perspektiven an. Außenpolitisch bedeutete der Machtantritt der Nazi zunächst also keine
sichtbare Zäsur, die personellen Kontinuitäten im Auswärtigen Amt verstärkten diesen
Eindruck.15
In der gewaltigen ökonomisch-politischen Doppelkrise, in der die Welt damals steckte, und in
der die Weltwirtschaftsordnung zusammengebrochen und die internationale Nachkriegs-
Blasius, Rainer A.: Weizsäcker kontra Ribbentrop: «München» statt des großen Krieges, in: Knipping, Franz, Klaus-Jürgen
Müller (Hg.): Machtbewußtsein in Deutschland am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Paderborn 1984, S. 93-118.
13 Siehe dazu: Dülffer, Jost: Der Einfluß des Auslandes auf die nationalsozialistische Politik, in: Forndran, Erhard, Frank
Golczewski, Dieter Riesenberger (Hg.): Innen- und Außenpolitik unter nationalsozialistischer Bedrohung, Opladen 1977,
S. 297f., Broszat, Martin, Klaus Schwabe (Hg.): Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg, München
1989; Nestler, Ludwig (Hg.): Der Weg deutscher Eliten in den zweiten Weltkrieg. Berlin 1990.
14 Dazu: Wette, Wolfram: Ideologien, Propaganda und Innenpolitik als Voraussetzungen der Kriegspolitik des Dritten
Reiches, in: Deist, Wilhelm u.a. (Hg.): Ursachen und Voraussetzungen des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1991,
S. 25-208.
15 Siehe Bernd-Jürgen Wendt: Außenpolitik, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 67.
12
9
ordnung erschüttert war, hatte der Revisionismus der Präsidialkabinette in einem allgemeinen
Klima nationalistischer Krisenlösungsversuche günstige Konstellationen vorgefunden und im
reparations- und rüstungspolitischen Bereich Erfolge sowie in der Außenwirtschaft Teilerfolge erzielt. Dieser Revisionskurs, der nun auch vor Konfrontationen nicht zurückschreckte, und dessen macht- und hegemonialpolitische Perspektiven gefährdeten die
Versailler Nachkriegsordnung und trugen zur Destabilisierung des kollektiven Sicherheitssystems bei.16
Die Intensivierung der schrittweisen Revision von Versailles und die traditionellen machtpolitischen Ambitionen, wie sie die Vertreter der alten Eliten im Auswärtigen Amt und die
Militärs nach der nationalsozialistischen Machtübernahme weiter betreiben und verfolgen
wollten, lagen zwar durchaus im Interesse der Nazi und ihres Führers, Hitlers eigentliches
Ziel hatte aber ein ganz anderes Ausmaß. Hitlers Ziel war „die Eroberung von neuem Lebensraum im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung“, wie er am 3. Februar 1933 vor
den Befehlshabern des Heeres und der Marine unmissverständlich geäußert hatte.17 Funktion
und Ziel der Außenpolitik, die Hitler lediglich als eine „Vorform kriegerisch auszutragender
Machtkämpfe“18 verstand, oder als nichts anderes „als die Kunst, einem Volke den jeweils
notwendigen Lebensraum in Größe und Güte zu sichern“, wie er in seinem zweiten Buch
1928 schrieb,19 waren demnach von Anfang an klar: Die Schaffung der entsprechenden
machtpolitischen Voraussetzungen für diesen rassistischen Vernichtungskrieg. In dieser
Funktion und mit dieser Zielsetzung bereiteten sie auf den Zeitpunkt der Krieges vor und ging
auf dem Weg dorthin wiederholt das Risiko eines Krieges ein.20
Die Eroberung von „Lebensraum im Osten“, dieser „schrankenlose Raumerwerb“ 21 und die
damit verbundene gewaltsame, kriegerische Perspektive, waren neben dem Rassismus, dem
„radikalen universalen Antisemitismus“22 und Antibolschewismus die konstanten, bestimmenden Faktoren nationalsozialistischer Politik bzw. Außenpolitik,23 in der Hitler sehr rasch
zur Entscheidungsinstanz werden sollte. Dies alles und Hitlers sozialdarwinistische und
Vgl. dazu Knipping, Franz: Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928-1931, München 1987. Zur
Außenpolitik der Präsidialkabinette siehe auch: Graml, Hermann: Zwischen Stresemann und Hitler. Die Außenpolitik der
Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher, München 2001.
17 Die sogenannte „Liebmann-Aufzeichnung“ vom 3.2.1933 ist abgedruckt bei Michalka, Deutsche Geschichte, S. 17f.
18 Dülffer, in Forndran, S. 300.
19 Weinberg, Gerhard L. (Hg.): Hitlers zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahre 1928, Stuttgart 1961, S. 62.
20 Wendt, Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 70.
21 Jost Dülffer: Politik zum Kriege. Das Deutsche Reich und die Mächte auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg, in Neue
Politische Literatur (1981), S. 48.
22 Siehe Hillgruber, Andreas: Die „Endlösung“ und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen
Programms des Nationalsozialismus, in: Derselbe: Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert,
2. Aufl. Düsseldorf 1979, S. 254f.
16
10
rassistische Denkweise waren seit den Zwanzigerjahren in Hitlers programmatischen
Schriften fixiert und zeigten, dass der rassistische Krieg und die Vernichtung das eigentliche
„Bewegungsgesetz“ des Nationalsozialismus waren.24 Aus diesen Schriften lässt sich zudem,
wenn wissenschaftlich auch umstritten, ein „Programm“ und „Stufenplan“,25 der letztlich den
Kampf um die Weltherrschaft vorsah, ableiten. Sosehr Hitler in seiner Außenpolitik auch
pragmatisch agieren, opportunistische Anpassungen, Änderungen und Terminverschiebungen
vornehmen sollte, so sehr war seine Politik von besagtem „festen Kalkül“ 26 bestimmt, das er
unbeirrt verfolgte.
Die forcierte Macht- und Revisionspolitik, die in Nazideutschland über die politischen und
wirtschaftlichen Eliten hinaus breite Zustimmung fand und deren rasche Erfolge Hitlers
Prestige bei den Massen weiter vergrößerten, waren für Hitler lediglich ein Instrument, um die
machtpolitischen Voraussetzungen für die Verfolgung seines eigentlichen Zieles zu schaffen.
Die revisionspolitischen Erfolge waren lediglich ein Zwischenschritt auf dem Weg dorthin.27
Gleiches gilt auch für die Außenwirtschaftspolitik, in der Hitler, der von Ökonomie nichts
verstand und nur in seinen rüstungspolitischen Vorgaben dominant war. In einer mehr und
mehr durch Protektionismus und Währungsblöcke fragmentierten Weltwirtschaft verfolgte die
Außenwirtschaftspolitik Nazideutschlands zwar auch klassische handelspolitische Ziele, wie
die Verbesserung der Handels- bzw. der Zahlungsbilanz, oder wurde das außenwirtschaftliche
Instrument für machtpolitische Zwecke eingesetzt, ihre tatsächliche, von Hitler zugedachte
und auch wahrgenommene Funktion war aber die der ökonomischen Kriegsvorbereitung. Das
hieß die Beschaffung der entsprechenden Rohstoff- und Devisenressourcen für die sofort mit
höchster Priorität von Hitler begonnene und rücksichtslos forcierte Aufrüstung. Es ging in
weiterer Folge also um die Formierung eines Mittel- und Südosteuropa umfassenden Großwirtschaftsraumes, als blockadesichere ökonomische Basis für Hitlers „Lebensraumkrieg“.
Vgl. dazu Wendt, Großdeutschland, S. 63ff.
Dülffer, Politik zum Kriege, in: Neue Politische Literatur(1981), S. 42.
25 Diese Position wurde von Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand vertreten. Zur Diskussion vgl. Wendt,
Großdeutschland S. 222; und Recker, Außenpolitik, S. 62 und S. 70.
26 Dülffer in: Forndran, S. 304.
27 Wendt, Großdeutschland, S. 68.
23
24
11
Ebenso wie die Finanz- und Währungspolitik Nazideutschlands stand auch die Außenwirtschaftspolitik im Dienst der Kriegsvorbereitung.28
Die Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland29 agierte zunächst vorsichtig und
mit Friedensbeteuerungen, um ihre anfänglich wichtigste Aufgabe, die Abschirmung der
geheim laufenden Aufrüstung, erfüllen zu können; kalmierend und propagandistisch, um die
negativen Eindrücke, die der nazistische Terror und die Verfolgung der Juden in Deutschland
im internationalen Umfeld hervorgerufen hatten, zu minimieren; zielstrebig und bald mit der
Methode des überraschenden fait accompli operierend die Revisionspolitik, welche 1933 als
ersten Schritt die internationale Abrüstungskonferenz zum Scheitern brachte und
Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund vollzog und solcherart einer kollektiven
Konfliktregelung eine Absage erteilte und zur Vergrößerung der allgemeinen Unsicherheit
wesentlich beitrug; opportunistisch bei der Verlängerung des Freundschafts- und
Nichtangriffsvertrages mit Sowjetrussland, dem Konkordat mit dem Vatikan und 1934 beim
Abschluss eines deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes, der gegen die bisherige Polenpolitik
der nationalistisch rechtskonservativen Führung im Auswärtigen Amt von Hitler durchgesetzt
wurde und dem rasch eine Verschlechterung des deutsch-russischen Verhältnisses folgen
sollte. Ihr ideologisches, subversives und gewalttätiges Profil zeigten die Nazi in der
Außenpolitik von Anfang an in der so genannten „Volkstumspolitik“ und in ihrer Politik
gegenüber Österreich.
Aggressiv auch die Außenwirtschaftspolitik Nazideutschlands. Mittels einer umfassenden
Devisen-,
einer
rigorosen
Einfuhrkontrolle
und
eines
Clearingabkommens,
einer
Bilateralisierung und Umorientierung der deutschen Handelsbeziehungen mit der Tendenz zu
einem deutschen „informal Empire“ in Südosteuropa, gelang dieser die vorübergehende
Überwindung der Ausfuhrkrise 1934, und zwar in der Weise, als die Handelsbilanz kurzzeitig
aktiv gehalten werden konnte und die für die Rüstungswirtschaft notwendigen Importe
gegenüber von Fertigprodukten und Konsumgütern beträchtlich erhöht wurden. Diese im
Rahmen von Schachts „Neuem Plan“ verfolgte Politik der zentralen Devisenbewirtschaftung
Wendt, Großdeutschland, S. 125ff. Siehe weiters: Teichert, Eckart: Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland
1930-1939. Außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Weltwirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München
1984; Volkmann, Hans-Erich: Die NS Wirtschaft in Vorbereitung des Krieges, in: Wilhelm Deist u.a. (Hg.): Ursachen und
Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, Frankfurt/M 1989; Boelcke, Willi: Deutschland als Welthandelsmacht 19301945, Stuttgart-Berlin-Köln 1994.
29 Siehe dazu Wendt, Großdeutschland; Recker, Außenpolitik; und Ludolf Herbst: Das nationalsozialistische Deutschland
1933-1945, Frankfurt a. M. 1996, S. 99 passim.
28
12
und Außenhandelssteuerung, wurde in dem seit 1936 anlaufenden „Vierjahresplan“
beibehalten. Der „Vierjahresplan“ sollte der Rüstung weitere Impulse geben, die
Importabhängigkeit Nazideutschlands massiv reduzieren und nach der Forderung Hitlers, die
deutsche Wirtschaft und das deutsche Heer in vier Jahren kriegsbereit machen.
Bis Ende 1936 hatte die Außenpolitik, in der neben einem dominierenden Hitler und neben
dem Auswärtigen Amt auch das Militär, Parteistellen und Personen, mit oft divergierenden
Interessen und Konzepten operierten, Nazideutschland einen beträchtlichen Machtgewinn und
Spielraum für die weitere Expansionspolitik geschaffen.30
Der beträchtliche Gewinn an Macht und außenpolitischem Handlungsspielraum war durch
Veränderungen im internationalen Beziehungsgefüge, dessen System der kollektiven
Sicherheit zu dieser Zeit bereits ruiniert war, begünstigt worden, aber auch durch den
Umstand, dass aus divergierenden innen-, macht-, sicherheitspolitischen und ökonomischen
Interessen und wohl auch aus ideologischen Gründen eine internationale Abwehrfront gegen
die Rüstungseskalation und den Expansionismus Nazideutschlands nicht zu Stande kam.31
Allgemein lässt sich sagen, dass die Politik der Großmächte zwischen Versuchen einer
Isolierung, einer partiellen Kooperation und den Bemühungen einer Reintegration
Nazideutschlands in eine internationale Friedensordnung schwankte. Das negative
Deutschlandbild, das durch den Terror gegen politische Gegner, vor allem die Linke, durch
die beginnende Judenverfolgung, durch die Militarisierung in der internationalen
Öffentlichkeit entstanden war, schlug nicht unbedingt auf die Regierungspolitik der Mächte
durch. Die französische Politik und deren starkes Interesse an der Aufrechterhaltung der
Versailler Nachkriegsordnung versuchte mittels einer komplizierten Bündnispolitik
(Ostlocarno) ihre traditionellen Bündnisbeziehungen in Südost- und Osteuropa zu
intensivieren und den französischen Einfluss dort zu verstärken. 1934 begann sie die
Beziehungen Frankreichs zur Sowjetunion zu verbessern, was im folgenden Jahr zu einem
Beistandspakt führte (2. Mai 1935), dem sich auch die Tschechoslowakei anschloss.
Angesichts der Spannungen in Europa hatte die Sowjetunion eine Kursumkehr ihrer
bisherigen Politik vorgenommen und mit dem Beitritt zum Völkerbund 1934 eine kollektive
Sicherheitspolitik zu verfolgen begonnen, an der sie bis 1939 festhalten sollte. Neben der
Annäherung an die SU hatte Frankreich auch eine an das faschistische Italien begonnen.
Wendt, Großdeutschland, S. 106.
Zur internationalen Politik der Dreißigerjahre vgl. Niedhart, Gottfried: Internationale Beziehungen 1917-1947, Paderborn
usw. 1989; und Werner Link: Der Ost-West-Konflikt. Die Organisierung der internationalen Beziehungen im 20.
Jahrhundert, Stuttgart usw. 1980, S. 75-86.
30
31
13
Insgesamt war die französische Bündnispolitik wenig erfolgreich und wenn überhaupt, dann
nur temporär und partiell. Dem französisch-sowjetischen Beistandspakt folgte kein Militärabkommen, das diesem Gewicht gegeben hätte. Abgesehen davon, dass sich aufgrund des
Antikommunismus und anderer Erwägungen der für die britische Außenpolitik verantwortlichen konservativen Eliten der Beistandspakt nicht um England erweitern ließ, präferierten
die französischen Militärs Absprachen mit dem faschistischen Italien und das rechte Frankreich lehnte den Pakt ab. Die Interessenabstimmung mit dem faschistischen Italien, die in
Bezug auf dessen koloniale Expansionsabsichten in Afrika zudem (und wohl auch) bewusst
vage war, war nur temporär haltbar. Das Italien Mussolinis hatte seit dem Machtantritt der
Nazi in Deutschland in der internationalen Politik zunehmend Gewicht bekommen. Die
Politik Mussolinis, die seit den Zwanzigerjahren sowohl ein antirevisionistisches wie auch ein
revisionistisches Profil zeigte, versuchte vor der 1936 begonnenen Hinwendung zu Deutschland mindestens zwei Dinge gleichzeitig: Durch eine vor allem im Verein mit Frankreich
betriebene Politik der Erhaltung des Status quo in Europa die Billigung seiner kolonialen
Expansion in Afrika durch die westeuropäischen Großmächte zu bekommen und, unter dieser
Mächtekonstellation, die seit 1932 von Mussolini vorbereitete Aggression gegen das Völkerbundmitglied Abessinien zu verwirklichen. Die so genannte „Stresafront“ (11.-14. April
1935) zu dem sich das faschistische Italien, Frankreich und Großbritannien, in Reaktion auf
den Österreichkonflikt und die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland zusammengefunden hatten und mit dem neben den italienischen Intentionen auch weiter
gehende, diese Abwehrfront verbreiternde französische Intentionen verknüpft wurden, war
von Anfang an brüchig und sollte das Jahr 1935 nicht überleben.
Die britische Politik hatte auf die sich in den 1930er Jahren verschärfende globale Konfliktsituation, entsprechend ihrer weltweiten, imperialen Interessen, ihrer beschränkten
Ressourcen, aber auch aufgrund der Furcht der konservativen Eliten vor tief greifenden durch
einen Krieg bewirkte Veränderungen in der englischen Gesellschaft mit einer Politik des
Appeasement reagiert, die in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre unter dem Premier Neville
Chamberlain und unter Zustimmung der Dominions und einer breiten Öffentlichkeit ihre
besondere Ausprägung erfuhr. Appeasementpolitik hieß, kurz gesagt, den japanischen und
den nazistischen Herausforderungen weitgehend entgegenkommen und Nazideutschland
durch ein „general settlement“ in eine Friedensordnung zu integrieren, selbst unter Preisgabe
von Staaten und Gesellschaften. Mittels dieser Beschwichtigungs- und Friedenspolitik, die
auch eine ökonomische Komponente hatte, sollte aber auch Zeit für eine britische Aufrüstung
14
gewonnen werden. Die irrige Wahrnehmung von einer nazistischen Führung, in der um den
jeweiligen Einfluss von Radikalen und Gemäßigten um den dazwischenstehenden kompromissbereiten Hitler gerungen wurde, begünstigte diesen Appeasementkurs, der seinen Höhepunkt im Münchener Abkommen 1938 haben sollte und selbst nach dem Aggressionsakt
gegen Polen noch nicht tot war. Auf diese Appeasementpolitik schwenkte in den späteren
Dreißigerjahren auch der Quai d’Orsay ein.
1936 waren die Beschränkungen, die der Versailler Friedensvertrag einer deutschen Aufrüstung entgegengesetzt hatte, beseitigt.32 Unter Bruch des Vertrages war 1935 der Aufbau
einer deutschen Luftwaffe öffentlich gemacht, unmittelbar danach die Wiedereinführung der
allgemeinen Wehrpflicht verkündet worden und unter neuerlichem Bruch und mit einseitiger
Aufkündigung des Vertrages von Locarno im März 1936 der Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland erfolgt und die seit 1925 bestehende regionale Friedensordnung zerstört
worden. Wie groß dabei Hitlers Furcht vor Gegenmaßnahmen war, zeigte das kleine
Truppenkontingent und seine dem Militärcoup folgenden bombastischen Verständigungsangebote.
Neben diesen fait accomplies und den ausgebliebenen Sanktionen auf die Vertragsbrüche
trugen aber auch noch andere Ereignisse und Entwicklungen zur Erweiterung der deutschen
Machtstellung bei: Der Abschluss des Aufsehen erregenden deutsch-britischen Flottenabkommens von 1935, das nicht nur eine indirekte Anerkennung der deutschen Wiederaufrüstung bedeutete, sondern auch der grundsätzlichen Orientierung der nationalsozialistischen Außenpolitik an bilateralen Abmachungen entgegenkam; die seit Beginn des Jahres
1936 von Mussolini begonnene Annäherung des faschistischen Italien, die noch im selben
Jahr zum Abschluss eines Kooperationsabkommens der beiden Faschismen führen sollte; die
Regelung des Konfliktes mit Österreich, der zu einer zeitweiligen Isolierung Nazideutschlands geführt hatte, im „Juliabkommen“, das die Interventionsmöglichkeiten erweiterte und
den subversiven österreichischen „Betont-Nationalen“ und illegalen Nazi einen größeren
Aktionsradius verschaffte; der Antikominternpakt mit Japan.
Das deutsch-britische Flottenabkommen, das von Hitlers späterem Außenminister Ribbentrop
am Auswärtigem Amt vorbei verhandelt worden war, sollte nur ein erster Schritt zu einem
umfassenden Bündnis mit Großbritannien sein. Dieses Bündnis mit Großbritannien war eine
fixe Idee in Hitlers außenpolitischem Denken, wobei auch rassenideologische Motive eine
Siehe dazu: Wendt, Großdeutschland; Recker, Außenpolitik; Herbst, Ludolf: Das nationalsozialistische Deutschland 19331945, Frankfurt a. M. 1996.
32
15
Rolle spielten. Grundlage dieses Bündnisses sollte die Aufteilung von Interessen- und
Machtsphären zwischen der See- und Kolonialmacht Großbritannien und der Kontinentalmacht Nazideutschland sein. Hitler wollte auf diese Weise von Großbritannien freie Hand für
seinen kriegerischen Expansionismus auf dem Kontinent erhalten. Um dieses Bündnis mit
Großbritannien, dessen Realisierung im Auswärtigen Amt für illusorisch gehalten wurde,
dessen Chef Neurath sprach von Dilettantismus, hatte sich seit etwa 1934 Ribbentrop als
Sonderbeauftragter Hitlers bemüht, wenn auch ohne Erfolg. Die britische Politik war wohl zu
einer Revision der Versailler Nachkriegsordnung bereit und wollte Nazideutschland einen
weit gehenden Machtzuwachs zugestehen, bei Integrierung in eine neue europäische
Friedensordnung. Sie war aber nicht bereit die gewaltsame Realisierung von Hitlers „Lebensraumplan“ zu dulden. In der Folge versuchte Hitler durch Demonstration von militärischer
und bündnispolitischer Stärke diesen Interessenausgleich durchzusetzen. Die Annäherung an
das faschistische Italien und an das militaristische Japan bzw. die mit beiden Staaten abgeschlossenen Vereinbarungen sollten dafür instrumentalisiert werden.
Die italienisch-deutsche Annäherung, die im Schatten der Abessinienkrise begonnen hatte und
die während des spanischen Bürgerkriegs, in dem beide Mächte intervenierten, vertieft
werden sollte, war von Mussolini Anfang November 1936 propagandistisch zur Achse BerlinRom stilisiert worden. Die fast drei Jahre andauernde Intervention zu Gunsten der spanischen
Nationalisten unter Franco, zu der sich Hitler ohne Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt
im Juli 1936 entschlossen hatte, geschah nicht aufgrund wehrwirtschaftlicher Überlegungen,
wiewohl diese im Laufe der Intervention sehr wohl eine Rolle spielten, sondern aus dem
Kalkül heraus, dass ein befürchteter kommunistischer Block aus Spanien und Frankreich, wo
gerade eine Volksfrontregierung gebildet worden war, Nazideutschland zwischen diesem und
der Sowjetunion „einkeilen“ und Hitlers Expansion im Osten dadurch aufs Spiel setzten
würde.33 Eine Vermittlungsaktion der französischen Politik Ende 1936, welche die drohende
allgemeine Kriegsgefahr in Europa verringern wollte und die mit einem weit gehenden Verständigungsangebot (Rohstoffe, Kolonien, Anleihen) an Deutschland verbunden war, wurde
umgehend abgelehnt. Der deutsche Außenminister erklärte in diesem Zusammenhang, dass
die deutsche Seite „auf keinen Fall die Festsetzung einer sowjetisch-kommunistischen
Abendroth, Hans-Henning: Deutschland, Frankreich und der Spanische Bürgerkrieg 1936-1939, in: Hildebrand, Klaus,
Karl Ferdinand Werner (Hg.) Deutschland und Frankreich 1936-1939, München 1981, S. 461-463.
33
16
Regierung in Spanien dulden würde(n). Wir würden dies unter Umständen sogar mit Gewalt
verhindern.“34
Die Annäherung an Japan, das 1931 mit seiner Aggression in der Mandschurei die in den
Washingtoner Verträgen 1921/22 vereinbarte Nachkriegsordnung in Fernost zu zerstören
begonnen hatte und 1933 durch seinen Austritt aus dem Völkerbund aus dem kollektiven
Sicherheitssystem ausgeschieden war, begann 1935.35 Sie wurde erneut unter Umgehung des
Auswärtigen Amtes und im Gegensatz zur bisherigen, chinafreundlichen deutschen Fernostpolitik und gegen die pro-chinesische Reichswehrführung und die deutsche Rüstungsindustrie von Ribbentrop vorbereitet. Nach einigen Verzögerungen kam es schließlich am 25.
November 1936 zur Unterzeichnung des Antikominternpaktes. Der Pakt sah eine Kooperation
gegen die Kommunistische Internationale vor, lud Drittstaaten zum Mittun ein und sah in
einem geheimen Zusatzabkommen die jeweilige wohlwollende Neutralität bei einem nichtprovozierten Angriff Sowjetrusslands auf einen der Vertragspartner und eine durch einen
weiteren Notenwechsel ziemlich verwässerte Koordination der Russlandpolitik der beiden
Staaten vor. Das Antikominternabkommen hatte mehr propagandistischen Wert, als dass es
eine wirkliche Allianz war, wenn auch der Beitritt Italiens zum Antikominternabkommen ein
Jahr später (6. November 1937) bei den westlichen Großmächten und der Sowjetunion
beträchtliche Unruhe hervorrief, weil sich hier die drei, den Status quo und den Frieden
gefährdenden Mächte zu einem Bündnis zu formieren schienen, das die Konfliktbereiche in
Europa, im Mittelmeerraum und in Fernost miteinander verschränkte.
Mochte Hitler das Antikominternabkommen als einen Baustein für eine globale Allianz gegen
die Sowjetunion sehen und als einen Schritt zu einem späteren gegen die Sowjetunion
gerichteten Militärbündnis mit Japan36, zu dem es nicht kommen sollte, und mochte er
anfänglich noch glauben, Großbritannien zum Eintritt in den Antikominternpakt und in die
globale antisowjetische Allianz bewegen zu können, so musste er sehr rasch erfahren, dass
sich auch mit einer in der Folge antibritischen Instrumentierung des Antikominternpaktes
Großbritannien nicht in ein Bündnis zwingen ließ.
34
Ebenda, S. 467.
Siehe dazu: Martin, Bernd: Die deutsch-japanischen Beziehungen während des Dritten Reiches, in: Manfred Funke (Hg.):
Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches. Düsseldorf 1976. S. 454-470;
Derselbe: Aggressionspolitik als Mobilisierungsfaktor. Der militärische und wirtschaftliche Imperialismus Japans 1931 bis
1941, in: Forstmeier, Friedrich, Hans-Erich Volkmann (Hg.): Wirtschaft und Rüstung am Vorabend des Zweiten
Weltkrieges, 2. Aufl. Düsseldorf 1981, S. 222-244; und Krebs, Gerhard: Japans Deutschlandpolitik 1935-1941, Bd. 1, 2.
Hamburg 1984.
36
Wendt, Großdeutschland, S. 114.
35
17
Interessant ist in diesem Zusammenhang die antibritische bündnispolitische Alternative, die
der weniger ideologisch als traditionell machtpolitisch orientierte Ribbentrop, nachdem er in
London gescheitert war, zu verfolgen begann. In Anknüpfung an Vorstellungen eines antibritischen Kontinentalblocks, wie sie im kaiserlichen Deutschland von einem Großadmiral
Tirpitz entwickelt worden waren, wollte Ribbentrop in völliger Umkehrung der Funktion des
Antikominternpaktes das „weltpolitische Dreieck Berlin-Rom-Tokio“ unter Einbeziehung der
Sowjetunion zu einer umfassenden antibritischen Allianz fortentwickeln, die 1940 von
„Madrid bis Yokohama“ reichen sollte. In der Literatur ist diese bündnispolitische
Konzeption als außenpolitische Alternative zu Hitlers „Programm“ gesehen worden, allerdings als eine Alternative, die Hitler, solange sie funktional für sein völlig anderes
„Programm“ zu gebrauchen war, in den Jahren 1936 bis 1940 duldete, die aber „weder vor
dem Krieg noch nach Kriegsbeginn eine wirkliche Chance“ hatte „den Diktator langfristig
von seinem Lebensraumkrieg abzubringen“.37 Der Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes am 23.
August 1939, an dem Ribbentrop maßgeblich mitwirken sollte, gehörte zu den Versatzstücken
dieser Ribbentrop’schen Bündnisarchitektur.
Die drohende Krise, auf welche die deutsche Wirtschaft infolge der von Hitler und auch den
Militärs verlangten Beschleunigung und Ausweitung der Rüstung zusteuerte, veranlasste
einen sich in Zeitnot wähnenden Hitler am 5. November 1937 vor seinen Wehrmachtsführern,
dem Kriegs- und dem Außenminister die nächsten Schritte der gewaltsamen Expansion Nazideutschlands zu konkretisieren und zu terminieren. Hitler wollte dabei auch das Risiko eines
großen europäischen Krieges, den er damals noch gerne vermieden hätte, eingehen. Mit der in
der Zwischenzeit gemachten Erfahrung, dass er ein Bündnis mit England ebenso nicht
bekommen würde, wie die britische Zustimmung für sein kontinentales Eroberungsprogramm, war er auch zu einem Krieg gegen Großbritannien und Frankreich bereit.
Die von Hitler am 5. November 1937 angekündigte Politik, die mit Ausnahme Görings bei
den anderen Anwesenden massiven Widerspruch hervorrief, sollte in den Jahren 1938 und
1939, wenn auch unter anderen Voraussetzungen und in anderer Abfolge, ihre Durchführung
erfahren.
Den Anschluss Österreichs wollte Hitler noch vierzehn Tage vor dem Ereignis auf evolutionärem Weg realisieren, wie er die österreichischen Nazi wissen ließ.38 Letztere und das unter
massivem Druck dem Kanzler des austrofaschistischen Österreichs abgepresste Abkommen
37
38
Wendt, Außenpolitik, in: Enzyklopädie S. 76f.
Herbst, S. 187.
18
von Berchtesgaden, das eine völlige Ausrichtung der österreichischen Außenpolitik nach jener
der deutschen verlangte, ferner einen nazistischen Innenminister, die Aufhebung des Betätigungsverbotes für die illegale NSDAP, beiderseitige Generalstabsbesprechungen, eine Intensivierung des Wirtschaftsverkehrs u.a. boten dafür eine gute Handhabe. Die Sache „ins
Rutschen“, so Göring, der nun, anders als Hitler, zur treibenden Kraft wurde, brachte die vom
österreichischen Kanzler für den 14. März vorgesehene Volksbefragung über den Status der
Republik. Schuschnigg wollte dabei nicht nur über den internationalen, sondern auch über den
„inneren“ Status der Republik („deutsches“, „christliches“ Österreich) abstimmen lassen.
Diese Volksbefragung hatte eine ultimative Forderung Berlins nach Rücknahme und die
Forderung nach einem nazistischen Bundeskanzler und den militärischen Einmarsch zur
Folge. Letzterer sollte nach einer Weisung Hitlers „in Form eines von der Bevölkerung
begrüßten friedlichen Einmarsches“ ablaufen.39 Der Anschluss Österreichs, der militärstrategisch und auch wehrwirtschaftlich einen erheblichen Gewinn für Nazideutschland bedeutete,
hatte nur schwache internationale Reaktionen hervorgerufen, was Hitler bestärkte, seine
Expansionspolitik zu forcieren.40
Nach dem Anschluss Österreichs begann Hitler seine nächsten Aggressionsschritte gegen die
Tschechoslowakei zu setzen. Als subversives Instrument diente ihm dabei, ähnlich wie in
Österreich die Nazi, die Sudetendeutsche Partei. Deren Führer war von Hitler am 29.März
1938 instruiert worden, von der tschechoslowakischen Regierung „immer soviel zu fordern,
daß wir nicht zufriedengestellt werden können.“41 Kurz darauf (24. April 1938) ergingen die
Anweisungen für den Angriff auf die ČSR und am 30. Mai verkündete Hitler seinen „unabänderlichen Entschluß“ zur militärischen Zerschlagung der ČSR.42 „Den politisch und
militärisch geeigneten Zeitpunkt abzuwarten oder herbeizuführen“ sollte „Sache der politischen Führung“ sein.43 Mittels der Sudetendeutschen Partei begann Hitler die so genannte
„Sudetenkrise“ zu inszenieren, die hart an den Rand eines europäischen Konflikts führte, mit
deren Risiko Hitler, unterstützt von seinem nunmehrigen Außenminister Ribbentrop, Politik
machte.
Wie allgemein bekannt, wurde erst im letzten Moment eine Verhandlungslösung auf der
Münchner Konferenz (29./30. September 1938) erreicht. Aus tschechoslowakischer Sicht
39
Herbst, S. 190.
Recker, S. 21.
41 Michalka, Deutsche Geschichte, S. 151.
42 Ebenda, S. 154.
43 Ebenda, S. 154.
40
19
kann man auch von einem Diktat der europäischen Großmächte sprechen. Vorausgegangen
waren zwei Deutschlandbesuche des britischen Premiers, bei dessen Ersten er von sich aus
Hitler die Abtretung der Sudetendeutschen Gebiete offerierte, um das nächste Mal mit
weiteren Forderungen und Gewaltdrohungen Hitlers konfrontiert zu werden, vorausgegangen
war ein massiver britischer und französischer Druck auf die ČSR und, nachdem Hitler seine
ultimativen Forderungen erhöht und mit Gewalt gedroht hatte, die Mobilmachung der CS
Armee ebenso wie der französischen und der britischen Flotte. Die Münchner Konferenz war
über einen Vermittlungsvorschlag Mussolinis zu Stande gekommen, deren Grundlage im AA
kooperativ von Weizsäcker, Neurath und Göring, die ebenso wie einige Spitzenmilitärs zu
diesem Zeitpunkt einen Krieg vermeiden wollten, ausgearbeitet und Rom zugeleitet worden
war.44 Möglich ist allerdings auch, dass die Mobilisierung der britischen Flotte Hitler mehr
beeindruckt hat, als das Vermittlungsangebot des Duce.
„München“ wurde von Hitler als Niederlage empfunden, wie sehr die Ergebnisse auch in der
deutschen Öffentlichkeit bejubelt werden mochten. Hitler war es nicht um die Sudetendeutschen gegangen, sondern um die diplomatische Isolierung und anschließende Zerstörung
der ČSR, um sich günstige strategische und wehrwirtschaftliche Ausgangspositionen für
seinen „Lebensraumkrieg“ zu schaffen. Kurz nach „München“, und das damit im Zusammenhang mit Großbritannien abgeschlossene Konsultativabkommen und seine Beteuerungen der
territorialen Saturiertheit Lügen strafend, hatte er der Wehrmacht befohlen Vorbereitungen für
die „Erledigung der Rest-Tschechei“ und die „Inbesitznahme des Memelandes“ (21. Oktober
1938) zu treffen. An der Zerstörung der ČSR arbeitete die Hitler’sche Politik auch mit der
Methode der „chemischen Auflösung“. Die Annexion von tschechischem bzw. slowakischem
Staatsgebiet durch Polen und Ungarn leistete dazu ihren Beitrag. Mittels der slowakischen
Nationalisten und mit Drohungen und Druck wurde u.a. auf die slowakische Regierung und
den Landtag eingewirkt, sich als unabhängiger Staat zu erklären, um unmittelbar nach der von
Berlin diktierten Proklamation einer selbstständigen Slowakei das restliche Staatsgebiet der
Tschechoslowakischen Republik Mitte März 1939 militärisch zu besetzen und zu einem
Annex Nazideutschlands zu machen. Die Slowakei wurde noch im März zu einem Satelliten
Hitlerdeutschlands.
Die gewaltsamen Veränderungen im Frühjahr 1939 und ein deutsch-rumänischer Wirtschaftsvertrag hatten Nazideutschland eine hegemoniale Position im mittel- und auch osteuropäi-
Blasius, Weizsäcker, S. 111. Siehe auch Michalka, Wolfgang: Machtpolitik und Machtbewusstsein politischer
Entscheidungsträger in Deutschland 1938, in: Knipping, Machtbewusstsein, S. 86f.
44
20
schem Raum verschaffen. Die gewaltsamen Veränderungen hatten aber nun auch deutlich
gemacht, dass es Hitler nicht um „Revision“ oder um „Selbstbestimmungsrecht“ ging, dass
seine „Friedensversicherungen“ Propaganda waren. Die Zerstörung der Tschechoslowakei
hatte nun auch Auswirkungen auf die Politik der westeuropäischen Mächte, und zwar
insofern, als diese jetzt Garantieerklärungen für Polen (31. März), Rumänien und
Griechenland (13. April) und eine Beistandserklärung für die Türkei abgaben, die als ein
„Haltesignal“ für den Expansionismus Hitlers gedacht waren.45 Trotzdem der „Weg des
Appeasement“ weiter offen blieb – die englisch-französische Garantieerklärung für Polen
schloss eine Revision der deutsch-polnischen Grenze nicht aus – hatte sich der Aktionsraum
für Hitler verengt.46
Nach München hatte Nazideutschland aber auch nach einer bündnispolitischen Absicherung
bzw. Bündniskonstellation für die von Hitler anvisierte kriegerische Expansion gesucht. Bis
zum März 1939 bemühte sich Ribbentrop um eine enge Anbindung Polens, das im Kalkül
Hitlers bei einem Krieg gegen den Westen als Rückendeckung, oder bei einem Konflikt mit
der Sowjetunion als Aufmarschgebiet und Partner fungieren und in den zu dieser Zeit von
Ribbentrop lancierten Kontinentalblock einbezogen werden sollte.
Als es nicht gelang Polen zum Juniorpartner Nazideutschlands zu machen und in einen von
Nazideutschland dominierten Machtblock einzubeziehen, machte Hitler eine radikale Wende
in seiner Polenpolitik und wandte sich nun gegen Polen. Am 11. April 1939 gab Hitler die
Weisung für die Angriffsvorbereitungen gegen Polen. In den bekannten Äußerungen Hitlers
vor führenden Militärs am 23. Mai 193947 erklärte er, Polen bei günstiger Gelegenheit angreifen zu wollen und meinte: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für
uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung“.
Verhandlungslösungen mit den westeuropäischen Großmächten schlug Hitler aus.
Um die Gefahr auszuschalten mit der Aggression gegen Polen in einen Zweifrontenkrieg zu
geraten und dessen militärischen und ökonomischen Konsequenzen zu entgehen, begannen
nach anfänglichen Sondierungen, dann aber aufgrund des von Hitler fixierten Angrifftermins
(26. August) sehr rasch kurze Verhandlungen mit der Sowjetunion über einen Nichtangriffs
45
Niedhart, Internationale Beziehungen, S. 140.
Recker, Außenpolitik, S. 22ff.
47 Der sogenannte Schmundt-Bericht über die Besprechung Hitlers mit den Befehlshabern und führenden Offizieren
auszugsweise bei Michalka, Deutsche Geschichte, S. 165f.
46
21
pakt.48 Dieser wurde samt einem für Polen und das übrige Osteuropa folgenreichen geheimen
Zusatzprotokoll unter maßgeblicher Mitwirkung von Ribbentrop am 23. August 1939 abgeschlossen. Mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und seinem geheimen Zusatzabkommen und den folgenden Wirtschaftsabkommen, konnte Hitler seinen „Lebensraumkrieg“ am 1. September 1939 beginnen und führen, wenn auch vorerst noch mit verkehrten
Fronten.
Damit begann ein „struktureller Weltkonflikt“49, der sich seit den späten 1930er Jahren abzuzeichnen begann. „Strukturell“ deswegen, weil die Positionen der Konfliktparteien in Bezug
auf die Organisation und die Struktur des internationalen Staatensystems bzw. der internationalen Beziehungen letztlich unvereinbar waren. Die Position der Nazi war eine rassistische,
ihre „Welt“ sollte nach dem rassistischen Prinzip strukturiert und organisiert sein und war es
in ihrem Herrschaftsbereich auch tatsächlich. Ihre Methoden der strukturellen Änderungen
und Konfliktlösungen waren die der Gewalt und Vernichtung. Solchermaßen waren die
Position Nazideutschlands bzw. Hitlers und jener vielen, die diese Politik bis weit in den
Krieg hinein akzeptierten und unterstützten,50 letztlich unvereinbar mit jener der liberal
kapitalistischen Weltmächte und auch jener der Sowjetunion.
Bliebe zum Schluss noch der Hinweis auf den Bedeutungs- und Funktionsverlust der NSAußenpolitik während des Krieges. Bernd-Jürgen Wendt sieht den ursächlichen Zusammenhang dieses Funktionsverlustes im NS-Herrschaftssystem und seinem „völkisch“-rassistischem Programm. „Gegenüber dem als absolut gesetzten Krieg, so Wendt, strebte die nationalsozialistische Führung, je weiter der Krieg fortschritt und je geringer seine militärischen
Chancen wurden, keine politische Alternative mehr an. Die vom NS-Regime konzipierte
„neue Ordnung“ in Europa war auf deutsche Hegemonie, auf Unterwerfung, Beherrschung
und Ausplünderung, auf „rassische Flurbereinigung“ und Vernichtung angelegt. Sie entbehrte
jeder konstruktiven und werbenden Idee und ließ keinen außenpolitischen Gestaltungsspielraum zu.“51 Schon im Laufe der Dreißigerjahre war das Auswärtige Amt mehr und mehr von
wichtigen Entscheidungen ausgeschaltet worden,52 „seit dem Überfall auf die Sowjetunion
Dazu siehe: Rolf Ahmann: Der Hitler-Stalin-Pakt. Eine Bewertung der Interpretationen sowjetischer Außenpolitik mit
neuen Fragen und neuen Forschungen, in: Michalka, Wolfgang (Hg.) Der zweite Weltkrieg, 2. Aufl. München-Zürich 1990,
S. 93-107; und Ueberschär, Gerd: „Der Pakt mit dem Satan, um den Teufel auszutreiben“. Der deutsch-sowjetische
Nichtangriffsvertrag und Hitlers Kriegsabsicht gegen die UdSSR, in: Ebenda, S. 568-585.
49 Link, Werner, Ost-West-Konflikt, S. 76f.
50 Dülffer in Forndran, S. 289. Zur Rolle der „Zuarbeiter“ Hitlers und den vorauseilenden Eifer bei Diplomaten, Bürokraten,
Militärs und Wirtschaftsmanager vgl. die entsprechenden Abschnitte in Ian Kershaw: Hitler 1936-1945, Stuttgart-München
2000.
51 Wendt, Außenpolitik, in Enzyklopädie, S. 82f.
52 Ebenda, S. 77.
48
22
(war es) nur noch ein Sekretariat Hitlers zur Erledigung von Routineangelegenheiten. Man
kann auch von einer Attrappe sprechen.“53
Die neue Funktion, die das Auswärtige Amt während des rassistischen Vernichtungskrieges
bekam, war die Mitwirkung an der Deportierung und Vernichtung der europäischen Juden.54
Das Auswärtige Amt geriet zunehmend unter die Kontrolle von SS und SD und unter den
Einfluss Himmlers. Ribbentrop, selbst ein Exponent der SS hatte dem vorgearbeitet und als er
1938 Außenminister geworden war, eine Reihe von Schlüsselfunktionen im AA mit SSLeuten aus seiner Dienststelle besetzt.
Im Juni 1940 entstand im Referat D III des AA, das zuvor für „jüdische Angelegenheiten“
eingerichtet worden war, der so genannte „Madagaskarplan“, der die Deportation von vier
Millionen Juden auf die Insel Madagaskar, die damals zum französischen Kolonialreich
gehörte, vorsah und im Herbst 1940 fallen gelassen wurde. Im Oktober/November 1941 war
das AA auch mitverantwortlich am Massenmord an serbischen Juden involviert. Im November 1941 wurde Unterstaatssekretär Luther, Ribbentrops zeitweiliger Vertrauensmann mit
großem Einfluss im AA, von Heydrich, dem Chef des für die Judenverfolgung zentralen
Reichssicherheitshauptamtes zu einer Aussprache über die „Judenfrage“ eingeladen, die dann
am 20. Jänner 1942 auf der berüchtigten Wannseekonferenz stattfinden sollte. In einem von
Luther an Heydrich übermittelten Acht-Punkteprogramm, das die „Wünsche und Ideen des
Auswärtigen Amtes zu der vorgesehenen Gesamtlösung der Judenfrage in Europa“, so der
Titel, zum Inhalt hatte, war das AA für die Abschiebung der Juden aus dem deutschen
Herrschafts- und Machtbereich nach dem Osten und „für Einwirkungen auf die übrigen
Länder Europas zur Einführung von Judengesetzen“. Die Durchführung wollte das
Auswärtige Amt, „wie bisher, im guten Einvernehmen mit dem Geheimen Staatspolizeiamt“
vornehmen.55 In der Folge gab es eine enge Kooperation des AA mit der SS bei der Deportation von Juden aus den besetzten Gebieten in die Vernichtungslager. Es wurde über die
jeweiligen Gesandtschaften in Rumänien und der Slowakei Einfluss auf die dortigen Regierungen und deren Politik gegen die Juden genommen und die verbündeten Staaten zur
Deportation der dort lebenden Juden gedrängt. Bei steigendem Einfluss der SS auf das AA
verstärkte sich diese Kooperation mit dem Reichssicherheitshauptamt weiter. Zur Kriegs-
53
Eschenburg Theodor: Diplomaten unter Hitler, in: Die Zeit v. 5. Juni 1987, S. 36.
Dazu: Browning, Christopher: The final Solution and the German Foreign Office. New York, London 1978. Derselbe: Der
Weg zur “Endlösung”. Entscheidungen und Täter, Bonn 1998; und Hans-Jürgen Döscher: SS und Auswärtiges Amt im
Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“, 2. Aufl. Frankfurt-Berlin 1991.
55 Döscher, S. 223.
54
23
politik war als weitere Funktion des Auswärtigen Amtes die „diplomatische“ Vorbereitung,
die Abschirmung und Mitwirkung an der Vernichtung der europäischen Juden gekommen.
24
Wolfgang Neugebauer
(Teilaspekte zu) Verfolgung und Widerstand in Ostmittel- und Osteuropa
Ich gestehe, dass mir dieses Referat einiges Kopfzerbrechen bereitet hat. Zum einen
beschäftige ich mich zwar schon lange mit österreichischem und deutschem Widerstand und
dessen Einbettung in den europäischen Widerstand und habe an einem von Ger van Roon
herausgegebenen Sammelband „Europäischer Widerstand im Vergleich“ (Berlin 1985)
mitgewirkt, bin aber kein Experte für die einzelnen Länder Ost- und Ostmitteleuropas, zum
anderen ist die wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema fast unüberschaubar. Angesichts
der Zahl der staatlichen Gebilde und Territorien, der Vielschichtigkeit und Komplexität der
Geschichte der einzelnen Länder und Völker kann ich nicht auf alle eingehen, sondern habe
zwei mir wichtig erscheinende Staaten, nämlich Tschechien und Polen, herausgegriffen.
Die von der FPÖ vom Zaun gebrochene Diskussion um Beneš- und AVNOJ-Dekrete und die
Auseinandersetzungen um die Wehrmachtsausstellung haben uns wieder vor Augen geführt,
welche bis heute spannenden Bezüge zwischen den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg, der
Nachkriegsordnung und den heutigen politischen Problemen bestehen, wie konfliktgeladen
die europäische Zeitgeschichte ist und wie sie – ungeachtet von Verdrängung, Vergessen und
Schlussstrichziehen – in Gegenwart und Zukunft hineinwirkt. Ich möchte daher auf die in den
Jahren 1944/45 vor sich gehende, die Nachkriegsverhältnisse bestimmende Entwicklung
besonders eingehen.
Zunächst versuche ich, in aller Kürze Charakter und Ziele der deutschen Außenpolitik sowie
die NS-Herrschaftssysteme im Osten zu skizzieren.
Deutsche Außenpolitik / NS-Herrschaftssystem
Schon bei der Lektüre von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ wird klar, dass es den
Nationalsozialisten nicht nur um die Revision der im Versailler Vertrag festgesetzten Grenzen
und um die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker ging. Vielmehr
erachtete Hitler die Gewinnung des Lebensraumes im Osten als unabdingbar, damit sich das
deutsche Volk im Kampf der Völker und Rassen behaupten könne. Sein außenpolitisches
Programm zielte unverhüllt und mit gewaltsamen Methoden auf territoriale Eroberungen ab,
auf
Ausplünderung
und
Unterjochung
fremder
Völker
bzw.
deren
partielle
Germanisierung/Eindeutschung, auf die Zerschlagung des „jüdisch-bolschewistischen“
Systems der Sowjetunion sowie auf die Vernichtung der Juden und Dezimierung der
25
slawischen Völker, um schließlich die Vorherrschaft in Europa und letztlich die
Weltherrschaft zu erringen.
Im Zuge der Eroberungen im Zweiten Weltkrieg wurden diese rassistischen Vorstellungen mit
barbarischen Methoden umgesetzt. Die Ermordung der im deutschen Herrschaftsbereich
befindlichen europäischen Juden war keineswegs der Abschluss dieser genozidalen Politik.
Reichsführer SS Heinrich Himmler gab als Reichskommissar für die Festigung des deutschen
Volkstums den Befehl zur Ausarbeitung einer Gesamtkonzeption zur Germanisierungspolitik
in den besetzten und noch zu erobernden Gebieten, der im Mai 1942 vorgelegt und als
Generalplan Ost bekannt wurde (Dietrich Eichholtz, Der „Generalplan Ost“ und seine Opfer,
in: Werner Röhr [Hg.], Faschismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer,
Berlin 1992, S. 291-299; Wolfgang Benz, Der Generalplan Ost. Zur Germanisierungspolitik
des NS-Regimes in den besetzten Ostgebieten 1939-1945, in: ders. [Hg.], Die Vertreibung der
Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt/Main 1995, S. 45-57;
Rolf-Dieter Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit
von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt/Main 1991). Vier Millionen Germanen, vor
allem SS-Angehörige als Wehrbauern, sollten die Hegemonie über die zu dezimierende und
zu Arbeitssklaven degradierte slawische Bevölkerung ausüben. Dass eine solche mörderische
Politik, die nicht einmal mehr wie in den besetzten westeuropäischen Ländern Satelliten- oder
Kolloborateurregimes zuließ, auf den erbitterten Widerstand der betroffenen Völker stoßen
musste, lag auf der Hand. Der Widerstand im Osten hatte daher nicht nur den Charakter eines
nationalen Befreiungskampfes, es war ein Existenzkampf im wahrsten Sinn des Wortes.
Tschechien / ČSR
Wie aus dem so genannten Hossbach-Protokoll vom November 1937 hervorgeht, war die
Zerschlagung der Tschechoslowakei – gemeinsam mit Österreich – das vorrangigste
außenpolitische Ziel Hitlers. Die 1918 von Thomas G. Masaryk gegründete ČSR war zwar
wirtschaftlich und militärisch stark, außenpolitisch durch Pakte mit Frankreich und der
Sowjetunion abgesichert, stabil demokratisch, aber die ungelösten Nationalitätenkonflikte mit
den so genannten Sudetendeutschen und Ungarn schwächten ihre Stellung und begünstigten
die NS-Propaganda. Die von Konrad Henlein geführte Sudetendeutsche Partei, die zwei
Drittel der deutschen Wähler gewann und von Hitler unterstützt und instruiert wurde,
unterminierte zielbewusst den eigenen Staat. Diese Haltung eines großen Teils der
Sudetendeutschen und deren nachfolgende Kooperation mit den deutschen Besatzern war mit
26
ein Grund für die Vertreibung 1945. Die verhängnisvolle Appeasement-Politik der
Westmächte zwang die ČSR im Münchener Abkommen vom September 1938 zur Abtretung
der sudetendeutschen Gebiete. Die so genannte Rest-Tschechei wurde im März 1939 als
Reichsprotektorat Böhmen und Mähren dem Dritten Reich einverleibt (Detlef Brandes, Die
Tschechen unter deutschem Protektorat, Teil I und II, München-Wien 1969 bzw. 1975),
während die Slowakei zum Satellitenstaat wurde. Spätestens mit diesem offenen
Aggressionsakt wurde sichtbar, dass es Hitler nicht um die Vereinigung aller Deutschen ging,
sondern um die Unterjochung fremder Staaten und Völker, um eine imperialistische
Expansionspolitik.
Dem Protektorat wurde eine Scheinautonomie mit – machtlosen – Präsidenten und
Premierminister gewährt. Die Politik wurde von Hitlers Statthalter, dem Reichsprotektor,
gemacht, Deutsche besetzten die Schlüsselstellen. Fernziel war die „Endlösung der
Tschechenfrage“, d.h. eine totale Germanisierung des strategisch wichtigen Raumes und eine
Vernichtung der tschechischen Nation, auch eine zahlenmäßige Reduzierung der
Bevölkerung. Aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen – es ging um die Ausnützung
des tschechischen Menschen- und Produktionspotenzials für die Kriegsführung – wurden
diese tendenziell genozidalen Absichten nicht unmittelbar verwirklicht. Diese taktische
Mäßigung bewirkte, dass das deutsche Besatzungssystem (ich zitiere Radomir Luža, S. 372)
ein „Mittelding“ zwischen den Besatzungsregimen in Westeuropa und Osteuropa war.
In der aktuellen Diskussion um die Beneš-Dekrete werden zwar gelegentlich einzelne
Ereignisse wie das Massaker von Lidice erwähnt, aber nicht das volle Ausmaß der
verbrecherischen Politik Hitlerdeutschlands und die damit zusammenhängende Verbitterung
der Tschechen dargestellt. Gegen jeden Widerstand wurde mit äußerster Brutalität
vorgegangen, und die „Endlösung der Judenfrage“ wurde konsequent durchgeführt. Reinhard
Heydrich, der im September 1941 den als zu schwach angesehenen von Neurath als
Reichsprotektor ablöste, begann noch im selben Jahr mit der Ausrottungspolitik durch die
Errichtung des Lagers Theresienstadt, verharmlosend „Altersghetto“ genannt. In diesem
Lager starben 33.000 meist deutschsprachige Juden, 88.000 wurden in Vernichtungslager wie
Auschwitz weiter deportiert. Insgesamt kamen mehr als 80.000 Juden des Protektorats ums
Leben. Nach dem Attentat auf Heydrich am 27. Mai 1942 (Alan Burgess, Sieben Mann im
Morgengrauen. Das Attentat auf Heydrich, Gütersloh 1960; Hellmut G. Haasis, Tod in Prag.
Das Attentat auf Reinhard Heydrich, Reinbek bei Hamburg 2002) erfolgte nochmals eine
27
Steigerung des Terrors, die in der Auslöschung des Dorfes Lidice seinen grausamen
Höhepunkt erreichte.
Die Terrormaßnahmen gegen Tschechen nahmen jedoch nicht jenes Ausmaß wie gegen Polen
oder in Weißrussland an. In dem Standardwerk von Mamatey/Luža (Victor S. Mamatey /
Radomir Luža [Hg], Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918-1948, Wien-KölnGraz 1980, S. 338f.) werden die Bevölkerungsverluste durch politische Verfolgung und KZHaft mit mindestens 36.700 bis höchstens 55.000 angegeben (im Vergleich: im Ersten
Weltkrieg starben 180.000). Die Bevölkerungszahl nahm sogar um 180.000 zu.
Für den tschechischen Widerstand und überhaupt für die Entwicklung des Landes war die
Existenz einer Exilregierung von überragender Bedeutung. Staatspräsident Edvard Beneš war
im Oktober 1938 nach London gegangen, hatte die Zerschlagung seines Landes nicht
anerkannt und bemühte sich bei den Alliierten hartnäckig um die Anerkennung als
Exilregierung. Erst im Juli 1940 erkannte Großbritannien das Nationalkomitee Beneš als
provisorische tschechoslowakische Regierung an. Im Juli 1941 erfolgte die de jure
Anerkennung durch Großbritannien, USA und UdSSR.
Die Ziele der Exilregierung, die auch für weite Teile des Widerstands im Lande maßgeblich
waren, bestanden in Folgendem:
-
Rückgängigmachung des Münchner Abkommens, Wiederherstellung der ČSR in den alten
Grenzen, Sicherheitsgarantien durch die Alliierten,
-
Erreichung eines Modus vivendi mit der Kommunistischen Partei (später wurde Beneš zu
große Nachgiebigkeit in der Zusammenarbeit mit der KP vorgeworfen),
-
Lösung
der
sudetendeutschen
Frage,
d.h.
einschneidende
Reduzierung
des
deutschsprachigen Bevölkerungsanteils.
In diesem bis heute wichtigen Punkt erreichte Beneš noch während des Krieges die
Zustimmung der Alliierten zur Aussiedlung der Deutschen.
Von Anfang an unterstützte die Exilregierung den tschechischen Widerstand. Die ersten
Widerstandsgruppen hatten sich im Frühjahr und Sommer 1939 formiert. Nach Radomir Luža
unterschieden sich diese deutlich von den traditionellen Parteien, es waren jüngere,
aktivistische Kräfte und es fand ein Linksruck statt. Er unterscheidet vier Hauptgruppen:
-
die Armee (ON, Verteidigung der Nation),
-
die ehemaligen Mitarbeiter Beneš (PU, Politisches Zentrum),
-
sozialdemokratische und linke Intellektuelle (PVZZZ, Petitionskomitee Wir bleiben treu).
Diese Gruppe entwickelte ein demokratisch-sozialistisches Programm, das von ON und
28
PU übernommen und zum Programm der ersten Regierung der befreiten ČSR wurde.
Darin war die Wiederherstellung der ČSR und die Entfernung der Sudetendeutschen
enthalten. Diese Gruppierung schlossen sich zum Zentralkomitee des Widerstands
(UVOD) zusammen.
-
Die vierte Richtung bildete die KSČ, die Kommunistische Partei, die als einzige
traditionelle Partei weiterbestehen blieb. Sie vertrat wie alle KP´s die Volksfront-Linie,
ausgenommen allerdings die Zeit des Hitler-Stalin-Pakts 1939-1941, als sie gegen den
imperialistischen Krieg, gegen die Regierung Beneš und gegen die Wiederherstellung der
ČSR auftrat.
Zu erwähnen ist auch, dass sowohl Präsident Hacha als auch der Premierminister General
Eliasch die Regierung Beneš insgeheim anerkannten. Eliasch wurde wegen dieser
Zusammenarbeit zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Die Tätigkeit des Widerstands bestand
-
in der Informationsbeschaffung für die Exilregierung und für Alliierte,
-
in der Organisierung von Streiks, Langsamarbeiten, allerdings gab es nur wenig
Sabotageakte,
-
in Propaganda und Untergrundpublikationen;
-
am Anfang gab es auch verlustreiche öffentliche Manifestationen, z.B. am
Unabhängigkeitstag, dem 28. Oktober 1939. Die brutalen Vergeltungsmaßnahmen – 9
Studenten wurden erschossen, andere kamen ins KZ, die Universitäten wurden
geschlossen – erwiesen solche Demonstrationen als nicht zielführend.
Es ist bezeichnend, dass in dem seriösen und profunden Werk von Mamatey/Luža der von
Sudetendeutschen geleistete Widerstand nicht vorkommt. Ich kann hier aus Zeitgründen
darauf ebenso wenig wie auf den Widerstand in der Slowakei eingehen. Ich kann nur auf die
fundierten Arbeiten von Leopold Grünwald über den sudetendeutschen Widerstand verweisen
(Leopold Grünwald, Im Kampf für Frieden und Freiheit. Sudetendeutscher Widerstand gegen
Hitler, 2 Bde., Veröffentlichung des Sudetendeutschen Archivs in München 12 und 13,
München 1978 bzw. 1979; ders., [Hg.] Sudetendeutsche – Opfer und Täter. Verletzungen des
Selbstbestimmungsrechtes und ihre Folgen 1918-1982, Wien 1983). Er kommt zu dem
Ergebnis, dass die Zahl der Opfer – mehr als 1.000 Hingerichtete, über 4.000 in KZ gebrachte
Häftlinge – im Verhältnis zur Einwohnerzahl größer war als in Deutschland oder Österreich.
In diesem Licht, meint Grünwald, erscheint das Unrecht der Vertreibung der
Sudetendeutschen „besonders krass“.
29
Mit der Exilregierung und den Alliierten hatten die tschechischen Widerstandsgruppen eine
enge Kooperation, insbesondere beim Transport von Fallschirmspringer-Agenten. Im Oktober
1941 ordnete Beneš die Tötung Heydrichs durch ein Spezialkommando an. Das gelungene
Attentat am 27. Mai 1942 hatte brutale Vergeltungsmaßnahmen zur Folge: Die Attentäter
wurden im Juni in einer Prager Kirche gestellt und fielen; die orthodoxe Kirche wurde
aufgelöst, ein Bischof, drei Kleriker und zahlreiche Unterstützer ermordet. Das Netz der
Widerstandsbewegung wurde weitgehend zerschlagen und musste mühsam wieder aufgebaut
werden. Hunderte Todesurteile wurden monatlich gefällt.
Nach den Siegen der Alliierten, insbesondere bei Stalingrad 1942/43, nahm der Widerstand
einen starken Aufschwung. 1944 vereinigten sich mehrere Gruppen im Rat der Drei/R3. Diese
Organisation trat für soziale und wirtschaftliche Reformen, für eine Annäherung an die
Kommunisten und eine enge Bindung an die SU ein und bereitete einen bewaffneten Aufstand
vor. Es kam zur Bildung von Partisanengruppen, in denen geflohene sowjetische
Kriegsgefangene sowie sowjetische Fallschirmspringer eine führende Rolle einnahmen. Sie
kooperierten mit dem tschechischen Widerstand, standen aber unter dem Kommando der
Roten Armee. Im Winter 1944/45 kam es zu heftigen Kämpfen zwischen diesen
Partisaneneinheiten und den Deutschen in Westmähren und Ostböhmen.
Auf den slowakischen Aufstand vom Sommer 1944 kann ich hier nicht eingehen.
1945 wurde als Dachorganisation der Tschechische Nationalrat (CNR) gegründet, das Luža
als farbloses und uneinheitliches Zentralorgan negativ bewertet.
Im April 1945 spitzte sich die Lage zu. Der revolutionäre Schwung kam vor allem den
Kommunisten zugute, die in der am 4. April 1945 im befreiten Kosice gebildeten
Koalitionsregierung starken Einfluss (vor allem im Sicherheitsapparat und in der Armee)
erhielten. Im Mai kam es vielerorts zu Befreiungsaktionen bzw. zu Wiedereroberungen durch
die Deutschen, in deren Gefolge es zu brutalen Repressalien kam. Am 5. Mai 1945 erfolgte
der Aufstand in Prag, der nach dreitägigem Kampf mit der Kapitulation Deutschlands am 8.
Mai endete. Am 9. Mai zog die siegreiche Rote Armee, von der Bevölkerung begeistert
begrüßt, in Prag ein, einen Tag später die Exilregierung. Der CNR trat zurück, seine
Mitglieder kamen nicht in die Regierung, die Führer der Widerstandsbewegung spielten nur
eine untergeordnete Rolle in der neuen ČSR.
Die nach der Befreiung erfolgten Ausschreitungen gegen die Deutschen hatten – was keine
Rechtfertigung für Massenmorde sein soll – ihre Ursache in dem durch sechsjährige
Unterdrückung und massenhafte Verbrechen aufgestauten Hass in der tschechischen
30
Bevölkerung. Die Vertreibung der Sudetendeutschen hatte tiefere Ursachen, sie resultierte aus
der Einsicht praktisch aller politischer Kräfte der Tschechoslowakei, dass das friedliche
Zusammenleben mit den Deutschen in einem Staat nicht möglich und daher eine Trennung
mittels Aussiedlung erforderlich sei. Diese Vorstellung fand schon während des Krieges die
Zustimmung der Alliierten, wurde auf der Konferenz in Potsdam am 2. August 1945 formell
beschlossen und zum Bestandteil der europäischen Nachkriegsordnung. Die Ergebnisse des
Zweiten Weltkriegs, auch wenn sie heutigen Menschenrechtsmaßstäben zuwiderlaufen,
können nicht nachträglich umgestürzt werden, will man nicht die gesamte europäische
Ordnung bis hin nach Russland destabilisieren. Es ist jedoch legitim und notwendig, diese
bislang verdrängen Aspekte historisch aufzuarbeiten und unter Berücksichtigung der
gesamten Vorgeschichte politische und moralische Bewertungen vorzunehmen. Inwieweit die
Gültigkeit/Wirksamkeit für Gegenwart und Zukunft eingeschränkt oder aufgehoben werden
soll, ist eine offene, in gegenseitigem Einvernehmen zu klärende Frage.
Polen
Wie Sie wissen, ist Polen nach Teilungen, Fremdherrschaften und Freiheitskämpfen am Ende
des Ersten Weltkriegs, 1918, als souveräner Staat, aber mit beträchtlichen nationalen und
religiösen Minderheiten, wieder erstanden und musste sich stets gegen Ansprüche und
Infragestellungen seitens übermächtiger Nachbarn – Deutschland und Russland – behaupten.
Für Hitler und das NS-Regime gehörte Polen zu jenen Staaten, die den zu erobernden
Lebensraum im Osten darstellten und gegen die sich die aggressive Außenpolitik richtete,
wobei auch hier die Diskriminierung der deutschen Minderheit durch das autoritäre Regime
propagandistisch ausgenutzt wurde. Dass die Polen als Erste militärischen Widerstand gegen
den am 1. September 1939 erfolgten deutschen Angriff leisteten, war kein Zufall. Es hängt
mit der Tradition der polnischen Freiheitskämpfe und auch mit dem Wissen um das vom
deutschen Faschismus drohende Schicksal zusammen.
Während die Sowjetunion durch den Nichtangriffs- und Freundschaftspakt vom 22. August
1939 Hitlerdeutschland den Rücken frei machte, am 17. September selbst in Ostpolen
einmarschierte und – aufgrund des geheimen Zusatzabkommens – große Gebiete annektierte,
hatten die Westmächte zwar den Krieg erklärt, waren aber Polen militärisch nicht zu Hilfe
gekommen.
Nach heldenhaftem Kampf mit 100.000 Gefallenen musste Polen am 27. September
kapitulieren. Der polnische Staat wurde zerschlagen und an Deutschland grenzende Gebiete
31
dem Deutschen Reich einverleibt, während das zentralpolnische Gebiet als „Heimstätte der
Polen“ zum „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiet“ erklärt wurde.
Weitere territoriale Veränderungen ergaben sich nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941,
als u.a. die früher zu Polen gehörenden weißrussischen und ukrainischen Gebiete den
„Reichskommissariaten“ Ostland und Ukraine zugeschlagen wurden.
Polen war das erste Land, wo die rassenideologischen Vorstellungen des Nationalsozialismus
verwirklicht wurden. Ziel der Besatzungspolitik war die schnelle Germanisierung, die mit
unerhörtem Terror sowohl gegen Juden als auch gegen nichtjüdische Polen durchgeführt
wurde.
So
wurden
aufgrund
rassenbiologischer
Untersuchungen
tausende
Kinder
„germanischen Typs“ ihren Eltern weggenommen und deutschen Familien oder der
„Lebensborn“-Organisation übergeben. Viele tausende polnische Bürger, vor allem
Intellektuelle, Geistliche, Gewerkschafter, Linke, wurden von Einsatzgruppen des SD
ermordet. Am bekanntesten war die Verhaftung und KZ-Einweisung von 183 Krakauer
Universitätsprofessoren im November 1939. Über eine Million Polen wurden als entrechtete
Zwangsarbeiter in das Deutsche Reich gebracht. Im Zuge von groß angelegten
Umsiedlungsmaßnahmen
wurden
im
Warthegau
brutale
Enteignungs-
und
Aussiedlungsaktionen vorgenommen. Im Dezember 1939 fand die erste planmäßige
Massendeportation von Juden und Polen im Reichsgau Wartheland statt und setzte sich in den
eingegliederten Ostgebieten bis 1941 fort. 365.000 Juden und Polen wurden in das
Generalgouvernement deportiert. Bald setzten auch dort massive Terroraktionen insbesondere
gegen Juden ein, die systematisch unter lebensunwürdigen Umständen in Ghettos konzentriert
und mittels Zwangsarbeit ausgebeutet wurden. Ende 1941 begann mit der Errichtung der
Vernichtungslager Chelmno die „Endlösung der Judenfrage“, die Shoa. Der „Aktion
Reinhard“, der Ermordung der Juden des Generalgouvernements, fielen ca. zwei Millionen
Menschen zum Opfer, insgesamt waren es 2,7 Millionen.
Die im September 1939 geflüchtete polnische Regierung formierte sich zuerst in Paris, dann
in London unter dem General Sikorski als Exilregierung und wurde von Frankreich,
Großbritannien und den USA anerkannt. Eine polnische Exilarmee kämpfte auf Seiten der
Anti-Hitler-Koalition. Das am 30. Juli 1941 mit der Sowjetunion geschlossene Abkommen
zur Unterstützung im Kampf gegen Hitlerdeutschland und zur Aufstellung einer polnischen
Armee in der SU, der so genannten Anders-Armee, hielt nur bis April 1943, als die
Leichenfunde von Katyn bekannt wurden und Stalin die diplomatischen Beziehungen
abbrach. Wie wir heute wissen, hatte das Politbüro der KPdSU am 5. März 1940 die
32
Ermordung von mehr als 20.000 polnischen Gefangenen, zum Großteil Offiziere,
beschlossen, die im April und Mai 1940 vollzogen wurde. Dieser stets geleugnete
Massenmord belastete bis in die Neunzigerjahre die polnisch-russischen Beziehungen.
Noch im Jahr 1939 setzte der polnische Widerstand in Form von Untergrundorganisationen
ein (Wolfgang Jacobmeyer, Henryk Dobrzanski [„Hubal“] – Ein biographischer Beitrag zu
den Anfängen der polnischen Résistance im Zweiten Weltkrieg, in: Vierteljahrshefte für
Zeitgeschichte, 20. Jg., H. 1, Stuttgart 1972, S. 65-74) und wuchs bis Winter 1941/42 auf
100.000 Mann an. Am 14. Februar 1942 wurde die Armee im Lande, die Armia Krajowa/AK,
gebildet, der sich die meisten militärischen Widerstandsgruppen anschlossen. Der polnische
militärische Untergrund wurde – neben Jugoslawien – der größte in Europa und genoss vollen
Rückhalt in der polnischen Bevölkerung. Die AK war wie die Regierungsdelegatur im Lande,
an die Exilregierung und deren Programm gebunden und operierte in allen Gebieten, die vor
dem Krieg zu Polen gehörten (Hermann-J. Mallmann, Die Armia Krajowa und die alliierten
Mächte. Zum polnischen Widerstand, in: Gerhard Schulz [Hg.], Geheimdienste und
Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1982, S. 188-222; Michael Unger,
Armija Krajova. Die polnische Heimatarmee, Seminararbeit, Seminar Wolfgang Neugebauer,
SS 1999).
Im Hinblick auf das allgemeine Seminarthema wäre es angebracht, auf die Bedeutung des
europäischen Widerstandes für die Entwicklung der Idee eines vereinten Europa einzugehen,
die meines Erachtens viel zu wenig beachtet wird. Ich kann hier nur auf die grundlegenden
umfangreichen Publikationen von Walter Lipgens hinweisen, u.a. auf „Documents on the
History of European Integration“ (4 Bde., Berlin-New York 1984-1990; EuropaFöderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-1945. Eine Dokumentation, gesammelt
und eingeleitet von Walter Lipgens, München 1968; 45 Jahre Ringen um die Europäische
Verfassung. Dokumente 1939-1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum
Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, herausgegeben und kommentiert von Walter
Lipgens, Bonn 1986; ders., European Federation in the Political Thought of Resistance
Movements during World War II, in: Central European History, vol. 1, no. 1, March 1968,
pp. 5-19; ders., Das Konzept regionaler Friedensorganisation. Resistance und europäische
Einigungsbewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 14. Jg., H. 2, Stuttgart 1968, S.
150-164) bzw. auf einen bescheidenen Aufsatz von mir im DÖW-Jahrbuch 1998 (Wolfgang
Neugebauer, Vom europäischen Widerstand zur Europäischen Union, in: DÖW Jahrbuch
1998, S. 46-57, insbes. S. 53).
33
Im polnischen Widerstand haben die polnische Sozialistische Partei PPS und die Bauernpartei
im August 1941 die gemeinsame Erklärung „Programm Volkspolens“ vorgeschlagen, deren
einziger außenpolitischer Punkt eine „Föderation freier europäischer Völker“ forderte. Die
rechtsgerichteten Polnischen Nationaldemokraten lehnten im Polnischen Verständigungskomitee diese Forderung ab.
Entschiedener Gegner europäischer Einigungsvorstellungen war die den außenpolitischen
Interessen der Sowjetunion vollständig untergeordnete kommunistische Bewegung, die den
Widerstand als nationalen Befreiungskampf verstand und im Sinne der schon 1935
eingeleiteten Volksfront-Politik – unter Zurücksetzung sozialistischer Ziele – alle politischen
Kräfte zum Kampf um die Wiederherstellung der Souveränität und Demokratie vereinen
wollte. Das kommunistische Konzept des nationalen Befreiungskampfes erwies sich im
europäischen Widerstand als äußerst attraktiv und ließ die Kommunisten vielfach zur
stärksten, in einigen Ländern zur führenden Kraft im Widerstand werden. Wenn wir an
Jugoslawien und an China, Vietnam und andere im Kampf gegen Besatzungsregimes und im
Bürgerkrieg entstandene Systeme denken, wurde ein neues Modell einer gesellschaftlichen
Umgestaltung, einer sozialistischen Revolution entwickelt.
In Polen war diese Dominanz der Kommunisten angesichts der Rolle der AK vorerst nicht
gegeben. Im Frühjahr 1942 entstand als eigene militärische Formation der Kommunisten die
Volksgarde, die Gwardia Ludowa/GL, die Anfang 1944 in eine Volksarmee, die Armia
Ludowa/AL, übergeführt wurde.
Trotz der katastrophalen Bedingungen in den Ghettos und Lagern, trotz schierer
Aussichtslosigkeit bildete sich auch ein beträchtlicher jüdischer Widerstand. Zurecht nannte
Hermann Langbein sein Buch über den Widerstand in den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern „...nicht wie die Schafe zur Schlachtbank“ (Frankfurt/Main 1980), um
das weit verbreitete Klischee von den sich in ihr Schicksal ergebenden Juden zu widerlegen.
Die Vielfalt des jüdischen Widerstands wird in dem eindrucksvollen Werk von Arno Lustiger
„Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945" (Köln
1994) sichtbar. In den Ghettos, in den KZ, Arbeits- und Vernichtungslagern, in den Wäldern
formierte sich ein militanter jüdischer Widerstand, der bis zum bewaffneten Aufstand reichte.
Inbegriff dieses heroischen Verzweiflungskampfes war der Aufstand im Warschauer Ghetto
im April und Mai 1943. Die Jüdische Kampforganisation unter dem Haschomer HazairFührer Mordechai Anielewycz, vornehmlich aus linken zionistischen und nichtzionistischen
Jugendlichen zusammengesetzt, leistete wochenlang Haus um Haus kämpfend den
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übermächtigen SS-Truppen Widerstand. (Ich möchte in diesem Zusammenhang auf den Film
„Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" von Claude Lanzmann hinweisen, in dem ein
Überlebender des Aufstands im Vernichtungslager berichtet.) Die Ghettokämpfer erhielten
nur bescheidene Unterstützung vom polnischen Widerstand – Wladyslaw Bartoszewsky, einer
der damaligen Helfer, hat darüber ein Buch verfasst. Weit verbreiteter Antisemitismus, aber
auch die Angst vor deutschen Repressalien verhinderten weitreichendere Hilfe für Juden.
Im Winter 1943/44 ging die AK zum offenen Guerillakrieg über, wobei die Befreiung
polnischer Gebiete noch vor den sowjetischen Truppen intendiert wurde. Als die Rote Armee
im Zuge der Sommeroffensive 1944 in Warschau das rechte Weichselufer erreicht hatte, löste
General Graf Bor-Komorowski am 1. August den Warschauer Aufstand aus (Gernot Albrecht,
Der Warschauer Aufstand 1944, Seminararbeit, Seminar Wolfgang Neugebauer, SS 1999).
Da die Rote Armee zuerst nicht helfen konnte, dann nicht wollte oder durfte, und auch die
Westalliierten aus der Luft dazu nicht in der Lage bzw. willens waren, mussten die
Aufständischen am 2. Oktober 1944 kapitulieren. Auf Weisung Hitlers wurde nach den
Kämpfen die ohnehin schon 1939 und 1943 schwer beschädigte Stadt Warschau Haus für
Haus zerstört. (An dieser Stelle darf ich nochmals einen Hinweis auf Filme geben: nämlich
Meisterwerke von Andrzej Wajda, „Der Kanal“ und „Asche und Diamant“.)
Der Aufstand forderte nicht nur große Opfer – 15.000 Gefallene, 150.000 tote Zivilisten,
50.000 KZ-Deportationen, 150.000 Menschen zur Zwangsarbeit verschleppt - nach Meinung
vieler Historiker war er politisch und militärisch verfehlt. Auf alle Fälle schwächte er den
nichtkommunistischen Widerstand entscheidend. Die AK büßte ihre Bedeutung ein und
wurde am 19. Jänner 1945 offiziell aufgelöst.
Mit der am 12. Jänner 1945 begonnenen Offensive der Roten Armee wurde Polen innerhalb
weniger Wochen befreit. Es war offenkundig, dass die Sowjetunion die ihr nahe stehenden
politischen Kräfte und Widerstandsgruppen an die Macht bringen wollte und der Rückhalt der
Exilregierung und der mit ihr verbundenen Kräfte bei den Westalliierten, die damals keinen
Konflikt mit Stalin wollten, zunehmend geringer wurde. Die Kommunistische Partei Polens
war 1938 von der Komintern aufgelöst worden und zahlreiche Funktionäre fielen dem
Stalinterror zum Opfer. Schon 1941 hatte die Sowjetregierung ein „Polnisches Komitee“ in
Saratow und 1943 einen Bund polnischer Patrioten ins Lebens gerufen sowie sowjetpolnische
Divisionen aufgestellt. Das am 25. Juli 1944 entstandene „Polnische Komitee der nationalen
Befreiung“
(Lubliner
Komitee)
unter
Boleslav
Bierut,
ein
Zusammenschluss
kommunistischer, linkssozialistischer und „fortschrittlicher“ Kräfte der alten Opposition,
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wurde als alleinige Vertretung des polnischen Volkes anerkannt. Es erklärte sich am 1. Jänner
1945 zur „provisorischen Regierung“ Polens und zog noch im selben Monat in Warschau ein.
Mit dieser Regierung schloss die Sowjetunion am 21. April 1945 einen Freundschafts- und
Beistandspakt, der zur Grundlage des von ihr abhängigen Nachkriegsstaates wurde. Weder die
Westmächte noch die Exilregierung und die antikommunistischen Kräfte im Land waren im
Stande, diese zur so genannten „Volksdemokratie“ und zum Satellitendasein Polens führende
Entwicklung aufzuhalten. Darauf und auf die territorialen Veränderungen Polens kann ich
hier nicht mehr eingehen.
Die letztlich auf den Bajonetten der Roten Armee aufgerichtete kommunistische Diktatur
wurde als antifaschistische-demokratische Umwälzung bzw. Ordnung interpretiert. Der
politisch breite nationale Widerstand der Polen wurde von den kommunistischen
Machthabern zum reinen antifaschistischen Widerstand unter der Führung der Kommunisten
uminterpretiert. Juden verschwanden als Opfer, z.B. waren auf Gedenktafeln im
Vernichtungslager Sobibor nur „Staatsbürger“ Polens, der SU u.a. Länder angeführt.
Insgesamt waren fast 6 Millionen polnische Staatsbürger, darunter mindestens 2,7 Millionen
Juden und die Hälfte der nichtjüdischen Intelligenz, der deutschen Besatzungspolitik im
Generalgouvernement und den eingegliederten Gebieten zum Opfer gefallen.
Schlussbemerkungen
Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass die von rassistischen Vorstellungen
geleitete nationalsozialistische Herrschaftspolitik in Osteuropa, die sich von der
Besatzungspolitik im Westen grundlegend unterschied, auf den entschiedenen Widerstand der
Völker stieß, dass sich ein breiter, alle politischen Gruppen umfassender Widerstand
formierte, der auch zu beachtlichen militärischen Aktionen führte und viele Opfer forderte.
Die Eroberung dieser Länder durch die sowjetischen Streitkräfte und die von der Sowjetunion
kommende Unterstützung und Anleitung ermöglichten den aus dem kommunistischen
Widerstand und Exilgruppen kommenden Kräften die Machtergreifung nach der Befreiung,
wodurch diese Länder kommunistisch und in den sowjetischen Herrschaftsbereich einverleibt
wurden. Diese aus Widerstand und Verfolgung resultierende Nachkriegsordnung Ostmittelund Osteuropas dauerte bis 1989.
Zuletzt noch eine Bemerkung zu den aktuellen Bezügen: Friedrich Heer hat den Ausdruck
„Jahrhundert der Entwurzelung“ geprägt; Aussiedlung, Umsiedlung, Vertreibung, Deportation
und Genozid waren – nicht nur für faschistische und nationalistische Diktaturen – die
36
Instrumente zur „Lösung“ ethnischer Probleme. Nicht die Rückgängigmachung, gegenseitige
Aufrechnung oder die Prolongation von negativen Emotionen und Hass, sondern die
gemeinsame Auseinandersetzung, kritische Aufarbeitung, Gespräche und Dialog scheinen mir
der einzige Weg, um aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Nichts ist zielführender auf
diesem Weg als die Erweiterung der Europäischen Union zu dem, was Michail Gorbatschow
das gemeinsame Haus Europa genannt hat.
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38
Barbara Distel
Zur Rolle und Struktur der nationalsozialistischen Konzentrationslager
Die Befreiung der Konzentrationslager durch alliierte Truppenverbände ab Herbst 1944
offenbarte Zustände, die jede Fantasie überstiegen. Die Konfrontation mit der Realität nationalsozialistischer Verfolgung, gerichtet gegen politische Gegner, Opfer der Rassenideologie,
gesellschaftliche Randgruppen, unangepasste Minderheiten, Widerstandskämpfer und Eliten
der unterworfenen Völker vieler Nationen Europas, Kriegsgefangene der Roten Armee und
Arbeitssklaven, löste Entsetzen und Abscheu aus und erklärt drastische Reaktionen der Alliierten bei der Besetzung Deutschlands. Die Namen mancher Konzentrationslager wurden zum
Synonym des Staatsterrors, viele sind aber vergessen und mit der Beseitigung ihrer Spuren in
der Nachkriegszeit sind diese Schreckensorte auch aus dem allgemeinen Gedächtnis verschwunden.
1944 existierten im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich mindestens 25 Konzentrationslager mit rund 1.600 Außenlagern, wenn man die formal korrekte Definition – Unterstellung unter den Reichsführer-SS, zentrale Administration durch die Inspektion der Konzentrationslager und durch das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt – zu Grunde legt, wenn
man die reinen Mordstätten und Vernichtungslager wie Chelmno (Kulmhof), Belzec, Sobibor,
Treblinka (deren Spuren teilweise schon 1943 verwischt wurden) nicht mitrechnet und wenn
man die zahllosen Haft- und Terrororte außer Acht lässt, die nicht als Konzentrationslager
definiert waren, die unter verschiedener Hoheit als Zwangsarbeitslager für Juden, als Arbeitserziehungslager, als Polizeihaftlager in den besetzten Gebieten, als „Sonderlager“ mit wechselnder Funktion wie der Komplex der 15 Lager im Emsland an der niederländischen Grenze,
als „Jugendschutzlager“, als Ghetto, als „Zigeuner-Lager“ oder als mobile SS-Bau oder
Eisenbahnbaueinheit firmierten. Diese Haftstätten, in denen weitgehend die gleichen Bedingungen herrschten wie in den offiziellen Konzentrationslagern, gehörten nicht zum System
der Konzentrationslager, das mit der Errichtung von Dachau im März 1933 begründet wurde
und mit der Befreiung von Mauthausen am 5. Mai 1945 und dessen Nebenlager Ebensee am
Nachmittag des folgenden Tages zu bestehen aufhörte.
39
1. Entstehung und Bedeutung der Konzentrationslager
Die Verordnung des Reichspräsidenten zum „Schutze von Volk und Staat“ suspendierte am
28. Februar 1933 das Grundrecht der persönlichen Freiheit und ermöglichte die Verfolgung
politischer Gegner des Regimes außerhalb der Justiz. Die Errichtung von „Konzentrationslagern“ (von der NSDAP schon vor 1933 propagiert) zur Vollstreckung der „Schutzhaft“ an
geeigneten Orten (stillgelegten Fabriken, Gefängnissen, aufgelassenen Zuchthäusern, Kasernen, Arbeitshäusern, auch SA- und SS-Sturmlokalen) begann im März 1933 an zahlreichen
Orten des ganzen Reichsgebiets. Die Bewachung der Gefangenen – zunächst vor allem
kommunistische und sozialdemokratische Funktions- und Mandatsträger und andere Oppositionelle – oblag der Polizei, der SA, der SS, dem Stahlhelm als Hilfspolizei. Sie war anfangs
nicht einheitlich geregelt. Die Existenz der meisten KZ dieses Typs endete bereits 1933 und
1934.
Unter ausschließlicher Hoheit der SS entwickelte sich ab Mitte 1934 auf der Grundlage der
„frühen KZ“ das System des Staatsterrors, das sich zum SS-Imperium mit eigenen wirtschaftlichen Interessen und Produktionsbetrieben, zum Arbeitskräftereservoir der Rüstungsindustrie
und zum Vernichtungsapparat der Rassenpolitik perfektionierte. Die Wachmannschaften der
KZ spielten bei der Entstehung der Waffen-SS eine wichtige Rolle. Nach der völlig unkontrollierten Rekrutierung der Gefangenen in der Anfangszeit durch lokale Stellen und Initiativen erfolgte nach der Zentralisierung des KZ-Systems die Einweisung durch die Gestapo. Der
Schutzhafterlass des Reichsministers des Innern vom 12./26. April 1934 schrieb die Rechtlosigkeit der KZ-Gefangenen reichseinheitlich fest.
2. Organisation und Strukturen
Die Konzentrationslager waren seit 10. Dezember 1934 der „Inspektion der Konzentrationslager RFSS (Reichsführer SS)“ unterstellt, die ihren Sitz in Berlin, ab 1938 in Oranienburg,
hatte. Erster „Inspekteur der Konzentrationslager und SS-Wachverbände“ (SS-Totenkopfverbände) wurde Theodor Eicke. Er war seit Sommer 1933 Kommandant des Konzentrationslagers Dachau, das sich unter seiner Leitung zum Modell der Prinzipien der Häftlingsbehandlung, der Organisation und der Kompetenz- und Aufgabenverteilung bei der Leitung
und Verwaltung der Konzentrationslager entwickelte. Die Organisation in fünf Lagerabteilungen galt grundsätzlich seit Mitte 1934 und praktisch seit 1936 für alle Konzentrationslager:
40
I. Kommandatur (Lagerkommandant, Adjutant, Postzensurstelle),
II. Politische Abteilung (Leiter der Politischen Abteilung, Erkennungsdienst),
III. Schutzhaftlager (Schutzhaftlagerführer, Rapportführer, Blockführer, Arbeitsdienstführer,
Kommandoführer),
IV. Verwaltung (Verwaltungsführer, Gefangenen-Eigentumsverwaltung, Lager-Ingenieur)
und
V. Lagerarzt.
Diese Struktur wiederholte sich in größeren Außenlagern, die dem Hauptlager unterstellt
blieben. Das Gleiche gilt für die Hierarchie der Häftlingsgesellschaft mit dem „Lagerältesten“
an der Spitze.
Bei den Lagern waren kasernierte SS-Wachverbände stationiert, die seit Ende 1934 nicht
mehr zur allgemeinen SS zählten, sondern als „SS-Wachverbände“ oder „SS-Totenkopfverbände“ bezeichnet wurden und damit einen Zweig der bewaffneten SS bildeten. Die
„Inspektion der Konzentrationslager“ wurde am 1. Juni 1940 dem SS-Hauptamt/ Kommandoamt der Waffen-SS unterstellt und am 15. August 1940 in Amt VI des SS-Führungshauptamts
umgewandelt. Am 16. März 1942 wurde sie als Amtsgruppe D dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt eingegliedert.
3. Die Entwicklung und Dimension des Konzentrationslagersystems 1933-1945
Die Geschichte der Konzentrationslager lässt sich in sechs Phasen einteilen. In den ersten
Wochen und Monaten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme entstanden in
Deutschland zahlreiche so genannte „frühe oder wilde“ Konzentrationslager. Von SA, SS,
Polizei und Hilfspolizei bewacht und deren Willkür ausgeliefert, wurden dort die Gegner des
NS-Regimes inhaftiert. Im Sommer 1933 waren mehr als 26.000 Menschen inhaftiert. Die
„frühen“ Konzentrationslager wurden mit Ausnahme von Dachau ab 1933 wieder aufgelöst.
Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch die administrative Vereinheitlichung der Konzentrationslager nach dem Modell des von Theodor Eicke seit 1933 geleiteten KZ Dachau. Seit
Dezember 1934 unterstanden ihm als „Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SSTotenkopfverbände“ die Konzentrationslager. Im Sommer 1935 war die Zahl der Häftlinge
mit weniger als 4.000 auf den niedrigsten Stand gefallen.
1936 setzte in der dritten Phase eine gegenläufige Entwicklung ein. Die Verfolgung richtete
sich nun weniger auf die politischen Oppositionellen, als auf unerwünschte Minderheiten und
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„Volksschädlinge“ wie „Asoziale“, „Arbeitsscheue“ und Kriminelle („Berufsverbrecher“).
Bis Kriegsbeginn wurden neben Dachau sechs weitere Konzentrationslager errichtet: Sachsenhausen im Juli 1936, Buchenwald im Juli 1937, Flossenbürg im Mai 1938, Mauthausen im
August 1938, Neuengamme im September 1938 und Ravensbrück im Mai 1939. Seit August
1938 war der „Führer der SS-Totenkopfverbände und Konzentrationslager“, wie die amtliche
Bezeichnung von Eickes Stab nun lautete, in Oranienburg bei Berlin in der Nähe von Sachsenhausen untergebracht. Gleichzeitig begann man die Arbeitskraft der Häftlinge auszubeuten. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurden etwa 25.000 jüdische Männer inhaftiert,
sodass sich Ende 1938 vorübergehend etwa 60.000 Menschen in den Konzentrationslagern
befanden. Bis Kriegsbeginn sank diese Zahl auf etwa 21.000.
Der Kriegsbeginn markiert eine einschneidende Veränderung. Obwohl auch viele deutsche
potenzielle Gegner inhaftiert wurden, bildeten die in den besetzen Ländern festgenommenen
Belgier, Franzosen, Holländer, Polen und Tschechen die Mehrheit in den Konzentrationslagern. Gleichzeitig expandierte das KZ-System. Im September 1939 wurden die ersten Häftlinge in Stutthof eingeliefert, im Juni 1940 in Auschwitz, im August 1940 in Groß-Rosen, im
Mai 1941 in Natzweiler-Struthof, im Juni 1941 in Krakau-Plaszow und im November 1941 in
Lublin-Majdanek. Die Häftlingszahlen in den Konzentrationslagern außerhalb des Reichsgebietes überstiegen bald die der Reichsdeutschen. Die Häftlinge wurden nun in immer
größeren Ausmaß zur Zwangsarbeit herangezogen. In Dachau stieg die Sterblichkeitsrate von
4 % im Jahre 1938 auf 36 % 1942, in Mauthausen von 24 % im Jahr 1939 auf 76 % 1940.
Die fünfte Phase in der Geschichte der Konzentrationslager wurde durch den deutschen
Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 eingeleitet, an den sich der Beginn der systematischen Ermordung der europäischen Juden und die Errichtung von Vernichtungslagern auf
polnischem Boden anschloss. Im April 1943 waren 203.000 Häftlinge in den Konzentrationslagern fest gehalten, bis August 1944 stieg diese Zahl auf 524.000 an.
Die Schlussphase vom Sommer 1944 bis zur Befreiung im Frühjahr 1945 war durch eine
nochmalige drastische Zunahme der Häftlingszahlen bis zu vermutlich 700.000 KZ-Insassen
gekennzeichnet sowie durch den dramatischen Anstieg der Sterblichkeitsrate in allen Lagern.
Seuchen und Epidemien, für die keine Möglichkeit zur Eindämmung und Bekämpfung bereit
gestellt wurden, und schließlich die Evakuierung der Lager durch Transporte in Viehwagons
42
und mit Schiffen sowie auf Fußmärschen kosteten noch unzählige Menschenleben. Die
deutschen Gefangenen waren beim Ende mit weniger als 10 % nur noch eine Minderheit, die
allerdings oftmals zentrale Positionen in der Häftlingsgesellschaft der einzelnen Lager innehatte.
In den Konzentrationslagern waren neben Misshandlung Hunger und Krankheit – oftmals als
Folge der Zwangsarbeit – häufigste Todesursachen. Um die Arbeitskraft der Häftlinge in
stärkerem Maß für die Rüstungsindustrie ausnützen zu können, wurde die Inspektion der
Konzentrationslager im März 1942 dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA) eingegliedert. Auch die zunehmende Einrichtung von Außenlagern und deren Verselbstständigung diente diesem Ziel. Im April 1942 war das Konzentrationslager Arbeitsdorf in Fallersleben als Arbeitskräftereservoir für das Volkswagenwerk eröffnet worden, im Januar 1943
Herzogenbusch in den Niederlanden, im März 1943 Riga-Kaiserwald in Lettland, im April
1943 Bergen-Belsen, im August 1943 Warschau und Mittelbau-Dora, im September 1943
Vaivara in Estland und im November Kaunas in Litauen.
Seit 1942 war die Zahl der Außenlager vor allem an Standorten der Rüstungsindustrie
sprunghaft angestiegen. Sie überzogen Deutschland und das besetzte Europa als flächendeckendes Netz. Die Häftlinge wurden in der Flugzeugindustrie, bei der Montage von Raketen, bei der Verlegung der Produktion in unterirdische Fertigungsstätten, in Waffen- und
Munitionsfabriken und deren Zulieferern, in Ausrüstungsbetrieben, in Uniformschneidereien,
in der Fertigstellung von Soldatenstiefeln und vielen anderen eingesetzt. Dabei verrichteten
sie Zwangsarbeit für die Großindustrie, für den gewerblichen Mittelstand, für Forschungsinstitute, in der Landwirtschaft für kommunale Behörden, staatliche Einrichtungen und in SSeigenen Betrieben. Schätzungen zufolge waren etwa 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen zeitweise in einem Konzentrationslager inhaftiert; ca. 450.000 Menschen überlebten die Haft
nicht.
Die Mordstätten, in denen die europäischen Juden getötet wurden, waren formal keine Konzentrationslager. Die Vernichtungslager Belzec, Chelmno, Sobibor und Treblinka entsprachen
nicht der Definition der Konzentrationslager, weil sie nur den Zweck der Tötung hatten - ohne
vorherigen Aufenthalt. Die Lager Auschwitz und Lublin-Majdanek waren sowohl Konzentrationslager als auch Vernichtungsstätten. Letzteres wurde im Herbst 1941 als Kriegsgefange43
nenlager der Waffen-SS errichtet und im November des Jahres 1942 dem „Inspekteur der
Konzentrationslager“ unterstellt. Erst am 16. Februar 1943 wurde es offiziell in „Konzentrationslager Lublin“ umbenannt. Die Häftlinge – seit 1942 hauptsächlich „umgesiedelte“ oder
„bandenverdächtige“ Polen und aus der Tschechoslowakei, Slowenien und aus den Ghettos
von Warschau und Bialystok deportierte Juden - mussten Zwangsarbeit leisten. Seit November 1942 fungierte Lublin-Majdanek auch als Vernichtungslager. Wegen Arbeitsunfähigkeit
selektierte Häftlinge und jüdische Deportierte wurden in den Gaskammern ermordet. Auch
das größte Konzentrationslager Auschwitz hatte diese Doppelstruktur. Seit seiner Errichtung
im Mai/Juni 1940 erfüllte es im Stammlager (Auschwitz I) und im Lager Monowitz
(Auschwitz III) sowie mit 38 Außenlagern seine Funktionen als Konzentrationslager, seit
Mitte 1942 entwickelte es sich darüber hinaus mit Auschwitz II in Birkenau zum größten
Vernichtungslager für die europäischen Juden.
4. Andere Lager mit ähnlichen Haftbedingungen
Neben den Konzentrations- und Vernichtungslagern existierten noch andere Kategorien von
Lagern, die oft als Konzentrationslager bezeichnet werden, was formal unzutreffend ist, auch
wenn sich die Haftbedingungen nicht von denen im Konzentrationslager unterschieden.
Theresienstadt etwa diente ab November 1941 als Internierungslager für Juden aus Böhmen
und Mähren und war ab Juli 1942 als „Altersghetto“ Ziel der Deportationen deutscher und
österreichischer Juden. Seit Januar 1942 war Theresienstadt Durchgangsstation in die Vernichtungsstätten im Osten. Von Oktober 1942 an gingen die Deportationen von Theresienstadt aus nur noch nach Auschwitz. Als eigener Komplex bestand neben dem Ghetto in der
„Kleinen Festung“ unter dem Kommando der Prager Gestapo in Theresienstadt eine Haftstätte
für politische Gefangene aus dem Protektorat Böhmen und Mähren mit dem Charakter eines
Konzentrationslagers.
Die „Jugendschutzlager“ Moringen und Uckermark waren Konzentrationslager für von den
Behörden als schwer- oder unerziehbar, als „kriminell“ oder „sexuell verwahrlost“ eingestufte
Kinder und Jugendliche. Sie unterstanden dem Amt V (Reichskriminalpolizeiamt) des
Reichssicherheitshauptamtes. Die Haftdauer war unbefristet und die Gefangenen wurden von
dem Rassenhygieniker Robert Ritter „kriminalbiologisch begutachtet“. Volljährig gewordene
Jugendliche wurden in gewöhnliche Konzentrationslager überführt. Das erste Jugendschutzlager für männliche Jugendliche wurde 1940 in Moringen bei Göttingen errichtet. Mädchen
44
wurden seit 1. Juni 1942 in das Jugendschutzlager Uckermark bei Mecklenburg in unmittelbarer Nachbarschaft des Konzentrationslagers Ravensbrück eingewiesen. (Im Lager Uckermark wurde in der letzten Phase vor der Befreiung noch eine Gaskammer eingerichtet, in der
eine große Zahl kranker und arbeitsunfähiger Häftlinge noch mit Giftgas ermordet wurde).
Das „SS-Sonderlager“ Hinzert im Hunsrück war zunächst Haftstätte für die Dauerarbeiter der
Organisation Todt und unterstand bis 1. Juli 1940 dem Inspekteur der Sipo und des SD als
Führer des Sicherungsstabs bei der Organisation Todt. Dann wurde das Lager dem Inspekteur
der Konzentrationslager und im Mai 1942 dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt zugeordnet. Im Januar 1945 wurde es dem KZ Buchenwald unterstellt.
Auch die seit 1939 in Polen und nach dem Überfall auf die Sowjetunion dort eingerichteten
„Ghettos“ zur Konzentrierung der jüdischen Bevölkerung fielen nicht unter die Definition
Konzentrationslager. Sie dienten als Zwangsarbeitslager und als Station für die Todeslager. In
der litauischen Hauptstadt Kaunas wurde das im Juli 1941 errichtete jüdische Ghetto im
Herbst 1943 in ein Konzentrationslager umgewandelt, dessen Organisation jedoch kaum mit
der anderer Konzentrationslager in Deutschland oder Polen verglichen werden kann, da keine
strukturierte Verwaltung aufgebaut wurde; sie ging lediglich auf eine SS-Kommandatur über.
Die Ghettos in Aleksotas, Siauliai und Vilna wurden Außenlager des Hauptlagers Kaunas.
Die mehr als 100 „Arbeitserziehungslager“ waren ebenfalls keine Konzentrationslager. Hier
wurden deutsche und ausländische Arbeiter inhaftiert, denen Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin der Kriegswirtschaft vorgeworfen wurde. Der Übergang zu den Konzentrationslagern war
jedoch fließend. Wer nach acht Wochen den Ansprüchen der NS-Gesellschaftsideologie
immer noch nicht genügte und damit nicht an seinen Arbeitsplatz zurückgebracht wurde,
konnte in ein Konzentrationslager eingewiesen werden. Als separate Lager im Lager wurden
in den fünf Konzentrations-Hauptlagern Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Groß-Rosen und
Stutthof „Arbeitserziehungslager“ eingerichtet.
45
5. Forschungsstand
Die Geschichtswissenschaft überließ die Historiographie der Konzentrationslager und deren
Außenlagern lange Zeit den Opfern. Die ersten Darstellungen verdanken wir den überlebenden Häftlingen, die in autobiografischen Texten Zeugnis ablegten von ihrem Martyrium. Erst
in den Sechzigerjahren (Frankfurter Auschwitz-Prozess) nahm sich die historische Forschung
allmählich des Themas an. Martin Broszats Gutachten (Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933–1945, in: Hans Buchheim/Martin Broszat/Hans-Adolf Jacobsen/Helmut
Krausnick, Anatomie des SS-Staates, München 1967) bietet bis heute eine fundierte Analyse
des Konzentrationslagersystems. Seit den Achtzigerjahren wächst das Interesse der Historiker
an der Geschichte der Konzentrationslager. Dank der Studien von Falk Pingel (Häftlinge
unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager,
Hamburg 1978), Johannes Tuchel (Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934–1938, Boppard 1991) und Klaus
Drobisch/Günther Wieland (System der Konzentrationslager 1933–1939, Berlin 1993) liegen
Forschungsergebnisse zum System und der Struktur der Konzentrationslager vor. Die Arbeit
des Soziologen Wolfgang Sofsky (Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager,
Frankfurt am Main 1993) zeichnet das idealtypische Bild des Konzentrationslagers, neu ist
der ausgezeichnete historische Aufriss von Karin Orth (Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999). Mit
diesen Arbeiten ist die Systematik und die chronologische Entwicklung der Konzentrationslager erstmals grundlegend dargestellt. Was fehlt, ist die Beschreibung der einzelnen Lager im
Zusammenhang einer ordnenden und bewertenden Gesamtdarstellung.
Der Forschungsstand über die einzelnen Lager ist noch sehr unterschiedlich. Der 1998 von
Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann herausgegebene Sammelband „Die
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998“
bietet einen sehr guten Überblick und zeigt Desiderata. Zu einigen Lagern sind in den letzten
Jahren Monographien erschienen, zu Neuengamme (Hermann Kaienburg, „Vernichtung
durch Arbeit“. Der Fall Neuengamme. Die Wirtschaftsbestrebungen der SS und ihre Auswirkungen auf die Existenzbedingungen der KZ-Gefangenen, Bonn 1990; ders., Das KZ Neuengamme 1938-1945, Bonn 1997), zu Groß-Rosen (Isabell Sprenger, Groß-Rosen. Ein Konzentrationslager in Schlesien, Köln 1996), zu Bergen-Belsen (Alexandra-Eileen Wenck, Der
Menschenhandel des Dritten Reiches und die „Endlösung“. Das KZ Bergen-Belsen im Span46
nungsfeld nationalsozialistischer und alliierter Interessen, Diss., Münster 1997) und zu
Mittelbau-Dora (Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ-Mittelbau-Dora,
Göttingen 2001; sowie Angela Fiedermann/Torsten Hess/Markus Jaeger, Das Konzentrationslager Mittelbau-Dora. Ein historischer Abriß, Bad Münstereifel 1993; Manfred
Bornemann, Geheimprojekt Mittelbau: Vom zentralen Öllager des Deutschen Reiches zur
größten Raketenfabrik im Zweiten Weltkrieg, München 1994). Auch über das KZ Niederhagen
bei der Wewelsburg, dem ehemaligen Schloss der Paderborner Fürstbischöfe, das Heinrich
Himmler zu einem „wissenschaftlichen“ und „kultischen“ Zentrum der SS und zu einer
Repräsentationszentrale des SS-Gruppenführerkorps umbauen wollte, liegen Forschungsarbeiten vor (Wulff E. Brebeck/Karl Hüser, Wewelsburg 1933–45. Kultstätte des SS-Ordens,
Münster 1991; Kirsten John, „Mein Vater wird gesucht ...“. Häftlinge des Konzentrationslagers in Wewelsburg, Essen 1996). Marcel Engel und Andre Hohengarten untersuchten das
„SS-Sonderlager“ Hinzert (Hinzert. Das SS-Sonderlager im Hunsrück 1939–1945, Luxemburg 1983). Über andere wichtige Konzentrationslager wie Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Herzogenbusch, Ravensbrück, Sachsenhausen oder das in Estland gelegene Vaivara
hingegen fehlen umfassende Monographien.
Ähnlich verhält es sich mit den Außenlagern. So sind Einzelne der mehr als 80 Außenlager
des KZ Neuengamme Thema mehrerer Untersuchungen geworden (vgl. Detlef Garbe,
Außenlager als Orte der Erinnerung. Das Beispiel Neuengamme, in: Dachauer Hefte 15
[1999], S. 240-253), eine Gesamtdarstellung fehlt jedoch bislang.
Infolge der Initiativen regionaler Geschichtswerkstätten entstanden mit Unterstützung der KZGedenkstätte Neuengamme in den letzten Jahren zahlreiche Broschüren, kleine Einzelstudien
oder Dokumentationen, die allerdings häufig schwer zugänglich sind und deshalb kaum
Eingang in das allgemeine Geschichtsbild fanden. Beispiele hierfür sind etwa die Außenlager
des KZ Natzweiler-Struthof, Walldorf und Wiesengrund (Magistrat der Stadt MörfeldenWalldorf [Hg.], Nichts und niemand wird vergessen. Zur Geschichte des KZ-Außenlagers
Natzweiler-Struthof in Walldorf, Mörfelden-Walldorf 1996; Bernd Martin, Das Konzentrationslager „Wiesengrund“, in: Schriftenreihe der Stadt Vaihingen an der Enz. Beiträge zur
Geschichte, Kultur und Landschaftskunde, Bd. 4, Vaihingen an der Enz 1985) oder das
Außenkommando Kassel des KZ Buchenwald (Alfred F. Groenveld, Im Außenkommando
Kassel des KZ Buchenwald. Ein Bericht, Kassel 1991).
47
Auf Forscherinteresse stießen vor allem Außenlager, die bei Großprojekten der Rüstungsindustrie eingerichtet wurden, so haben etwa Edith Raim die Dachauer Außenlager Kaufering
und Mühldorf (Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg/Lech 1992) sowie Florian
Freund und Bertrand Perz ein Außenlager von Mauthausen (Das KZ in der „Serbenhalle“.
Zur Kriegsindustrie in Wiener Neustadt, Wien 1987) untersucht. In seiner Publikation
„´Projekt Quarz´, Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk“ (Wien 1991)
thematisierte Bertrand Perz nochmals ein Außenlager von Mauthausen, Florian Freund bietet
am Beispiel Mauthausen einen Überblick, wie unterschiedlich der Forschungsstand zu den
Außenlagern eines Konzentrationslagers ist (Mauthausen: Zu Strukturen von Haupt- und
Außenlagern, in: Dachauer Hefte 15 [1999], S. 254-272) und macht dabei deutlich, dass zwar
das System der Konzentrationslager weitgehend erforscht ist, im Einzelfall aber noch große
Lücken bestehen.
Zu einem zentralen Organ der KZ-Forschung entwickelten sich die von Wolfgang Benz und
mir seit 1985 herausgegebenen „Dachauer Hefte“. Sie bieten sowohl den ehemaligen Häftlingen als auch der Wissenschaft ein Forum. Unter thematischen Schwerpunkten wurden in
bisher 17 Ausgaben auch zahlreiche unbekannte Lager und Außenlager behandelt. Seit 1994
gibt außerdem die KZ-Gedenkstätte Neuengamme die „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ heraus. Einzelne KZ-Gedenkstätten wie
Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen entfalten darüber hinaus eine rege Publikationstätigkeit.
Eine systematische Darstellung der Konzentrations- und ihrer Außenlager als Gesamtbeschreibung, eine Bündelung der Ergebnisse, die zu einer zusammenfassenden Übersicht
führt, bleibt jedoch ein Desiderat der NS-Forschung und der politischen Kultur.
Die Konzentrationslager waren das zentrale Terrorinstrument der nationalsozialistischen
Diktatur. Die weitere Erforschung ihrer Rolle und Struktur bleibt weiterhin eine gesellschaftspolitische Aufgabe.
48
Gabriella Hauch
Nationalsozialismus-Zwangsarbeit-Weiblich: NS-Bevölkerungs- und Sexualpolitik gegen
Ostarbeiterinnen und Polinnen*
I.
Untersuchungen zu Zwangsarbeiterinnen und ihren Kindern während des Nationalsozialismus
stellen in der österreichischen Historiographie zur NS-Zeit ein Forschungsdesiderat dar.1
Subsumiert unter das Großprojekt „Ausländereinsatz“, das von männlichen Bedürfnissen,
Eigenschaften und Fähigkeiten geprägt war, verschwanden die frauenspezifischen Lebenswelten.2 Das galt auch für die „Patenstadt des Führers“ Linz und „Oberdonau“. Als Teil des
Rüstungsdreiecks St. Valentin-Steyr-Linz wurden seit 1942 massenhaft Männer und Frauen
aus der ehemaligen Sowjetunion – „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“ genannt – zur
Zwangsarbeit hierher deportiert. Im November 1943 machte der Ausländer/innenanteil an den
Erwerbstätigen im Arbeitsamtsbezirk Linz 42,2 % aus.3 Den größten Anteil machte die
Gruppe der Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen aus, wobei im Mai 1944 von den 34.000 in
„Oberdonau“ Beschäftigten 51 % Frauen waren. Im Konkreten heißt das in diesem Falle,
Geschlecht als zentrale Untersuchungskategorie zu verwenden, bedeutet, nicht nach den
Lebensbedingungen und Handlungsspielräumen von Angehörigen einer Minderheit zu fragen.
Jedoch ist grundlegend festzuhalten: Erst die explizite Thematisierung der Lebensbedingungen von Frauen ermöglicht einen annähernd umfassenden Blick. Unterbleibt dies, dominiert
ein scheinbar androzentrisch, realiter jedoch männlich definiertes und deswegen verzerrtes
und falsches Bild von Allgemeinheit. Das gilt auch für die Geschichte der Zwangsarbeit im
Nationalsozialismus. Soweit die erste These.
Bei diesem Text handelt es sich um eine überarbeitete Version von: Gabriella Hauch, Die Institutionalisierung der NSBevölkerungs- und Sexualpolitik gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen: Modell Oberdonau?, in: Lisa Rettl u. Karl
Stuhlpfarrer: V. Österreichischer Zeitgeschichtetag, 2001 Klagenfurt, Studienverlag, Innsbruck-Wien-Bozen-München 2002.
1 Die beiden Historiker Bertrand Perz und Florian Freund, die in Österreich am intensivsten zu Zwangsarbeit arbeiteten,
forschten vor allem zu Bereichen, in denen keine Frauen beschäftigt waren. Die einzige Publikation, die explizit
Zwangsarbeiterinnen thematisiert, orientiert sich nicht an den geschlechtsspezifischen Leitfragen der ZwangsarbeiterinnenForschung bzw. an Fragestellungen zur Bevölkerungs- und Sexualpolitik: Margarete Ruff, Um ihre Jugend betrogen.
Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg 1942-1945. Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 13,
Bregenz 1996. Als ich 1999 mit den Forschungsarbeiten zum „Geschlecht der Zwangsarbeit“ in den „Hermann Göring
Werken AG, Standort Linz“ begann, konnte ich an keinerlei österreichische Aufarbeitung des Schicksals dieser vergessenen
Frauen und ihrer Kinder anknüpfen.
2 Gabriella Hauch, Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder: Zum Geschlecht der Zwangsarbeit, in: Christian Gonsa u.a.:
Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Bd. 1, NS-Zwangsarbeit: Der Standort
Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin, 1938-1945, hg. v. Oliver Rathkolb, Wien-Köln-Graz 2001, S. 355-448;
Gabriella Hauch, Ostarbeiterinnen. Vergessene Frauen und ihre Kinder, in: Fritz Mayerhofer u. Walter Schuster (Hg.),
Nationalsozialismus in Linz, Bd. 2, S. 1.271-1.310.
3 Zum „Arbeitsamtsbezirk Linz“, zu dem auch das Mühlviertel und Wels gezählt wurden, vgl. Hermann Rafetseder, Der
„Ausländereinsatz“ zur Zeit des NS-Regimes am Beispiel der Stadt Linz, in: Mayerhofer/Schuster, S. 1.107-1.129f.
*
49
Im Nationalsozialismus wirkte „Rasse“ als zentrale Kategorie, mit der vorab über lebenswertes und lebensunwertes Leben entschieden wurde und hinter dessen Wirkungsmacht die
des Geschlechts zu verschwinden drohte. Gisela Bock hat dazu die These von der „Applanation“ der Geschlechterdifferenzen in der Behandlung von „Fremden“ im NS-System formuliert: Je niedriger Angehörige bestimmter Ethnien und Nationalitäten in der Werteskala des
NS-Rassismus eingestuft waren, desto weniger kamen die Geschlechterdifferenzen in den
Handlungsspielräumen zu tragen.4 Die geschlechtsspezifische Analyse der Situation von
Ostarbeiterinnen und Polinnen, die nach Jüdinnen und Romnis bzw. Sintezas an unterster
Stelle dieser Rasseskala standen, führt jedoch zur Differenzierung von Bocks These. Besonders deutlich wird dies beim bevölkerungs- und sexualpolitischen Umgang des NS-Systems
mit der Natalität von Ostarbeiterinnen und Polinnen.
Diese Forschungsergebnisse stellen zwar die Ersten ihrer Art für Österreich dar,5 es muss
jedoch davon ausgegangen werden, dass dieselben Problematiken im gesamten Gebiet der
„Ostmark“ ähnlich gestaltet und behandelt wurden. Eines wurde jedoch in der komparativen
Analyse des Zeitpunktes der Einführung jeweiliger bevölkerungs- und sexualpolitischer Maßnahmen gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen augenscheinlich: Oberdonau erwies sich dem
Altreich immer einen Schritt voraus. Diese dritte These kann hier nur skizzenhaft behandelt
werden und benötigt noch weitere empirische Untersuchungen zur Untermauerung.
Bevor im Sommer 1942 massenhaft auch Ostarbeiterinnen nach Oberdonau deportiert
wurden, waren seit 1939 vor allem Männer zum Aufbau der Rüstungsindustrie hierhergebracht worden. Diese brachten nicht nur die notwendige Arbeitskraft, sondern gerieten,
angesichts der kriegsbedingten Abwesenheit vieler heimischer Männer, zu Konkurrenten und
wurden per se als Bedrohung der ideologisch konstruierten „Reinheit der deutschen Frau“
imaginiert.6 In der sexualpolitischen Begegnung dieses Problems zeigte sich die „Patenstadt
des Führers“ dem Deutschen Reich voraus: Das erste Bordell für ausländische Männer war in
Linz bereits in Betrieb, als Ende 1940 die Gauleiter vom „Stellvertreter des Führers“ mit der
Schaffung solcher Einrichtungen als „mittelbare Polizeikosten“ beauftragt wurden.7 Am 15.
4
Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986,
S. 135ff; zuletzt: Gisela Bock, Ganz normale Frauen. Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus, in:
Kirsten Heinsohn/Barbara Vogel/Ulricke Weckel (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im
nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M.-New York 1997, S. 248-281.
5 Zum Forschungsstand, siehe Hauch, Zwangsarbeiterinnen, S. 358-360.
6 Zu den realitätsmächtigen Folgen, siehe das Kapitel „Der Fall der Eleonore B.“, in: Hauch, Zwangsarbeiterinnen, S. 404408.
7 Andreas Heusler, Ausländereinsatz. Zwangsarbeit für die Münchner Kriegswirtschaft 1939-1945, München 1996, S. 212f.
50
Oktober 1940 wurde der Vorpachtvertrag für das in der Nähe der Zwangsarbeiterlager der
„Hermann Göring Werke, Linz“ gelegene Bordell „Villa Nova“ geschlossen.8
Die zum „Arbeitseinsatz“ ins Land gebrachten Zwangsarbeiterinnen hingegen schienen keine
derlei Problematiken mit sich zu bringen. Erst die einsetzenden Schwangerschaften konterkarierten die asexuellen Fantasmen, mit denen die NS-Bürokratie die (Ost-) Ukrainerinnen,
Russinnen und Polinnen vorab bedacht hatten. Am 15. Juli 1942 alarmierte der Gauleiter von
„Oberdonau“ August Eigruber den Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei: „Ich
habe im Gau Oberdonau tausende von Ausländerinnen und mache die Feststellung, daß die
ausländischen Arbeiterinnen ... schwanger werden und Kinder in die Welt setzen“.9 In
Eigrubers Schreiben wurden die Problemlagen, die mit der Gebärfähigkeit von Frauen für den
NS-Apparat entstanden waren, deutlich: Auf ökonomischer Ebene unterliefen schwangere
und stillende Frauen die Politik des „Arbeitseinsatzes“, die auf maximale Ausbeutung der
Arbeitskraft ausgerichtet war. Geburten und Kleinkinder verursachten zudem zusätzliche
Kosten. Auf der bevölkerungspolitischen Ebene hieß das, dass die deutsche Bevölkerung,
entsprechend der NS-Rassenideologie, vom „Umgang“ nicht nur mit ausländischen Erwachsenen, sondern auch ausländischen Kindern bewahrt werden musste. „Die Situation drängt
nach einer Lösung“, appellierte Eigruber an Himmler.
II.
Dieser Brief aus Linz, das bislang zeitlich erste bekannte Dokument, in dem die NSDAPSpitzen durch die tagespolitische Erfahrung eines Provinzführers mit dem Problemfeld konfrontiert wurden, initiierte die überfällige Diskussion, wie mit den Schwangerschaften dieser
Frauen umzugehen wäre. In anderen Regionen des Deutschen Reiches wurde mehr „naturwüchsig“ damit umgegangen. Die bereits seit 1939 eingesetzten Polinnen wurden nach Hause
geschickt oder es wurden Provisorien eingerichtet, von einer „institutionalisierten“ Regelung
war man weit entfernt. Durch den Eifer Eigrubers über „seine“ schwangeren ausländischen
Arbeiterinnen geriet Oberdonau zum Pilotprojekt für die Institutionalisierung des Umganges
mit den Schwangerschaften von Polinnen und Ostarbeiterinnen sowie die der Verwahrung
ihrer Kinder.
8 Ausführlicher
dazu, vgl. Karl Fallend, Zwangsarbeiter/innen: (Auto)Biographische Einsichten, Bd. 2, NS-Zwangsarbeit:
Der Standort Linz der „Reichswerke Hermann Göring AG Berlin“ 1938-1945, hg. v. Oliver Rathkolb, Wien-Köln-Weimar
2001, S. 103-110; Rafetseder, Ausländereinsatz, S. 1.163-1.167.
9 BA Berlin, NS 19-3596, Eigruber an Himmler, 15. Juli 1942. Dieser Briefwechsel – der Einzige seiner Art – wird in allen
Arbeiten, die sich mit frauen- und geschlechtsspezifischen Fragestellungen dem Thema Zwangsarbeit nähern, ausführlich
zitiert.
51
Drei Monate später erhielt Eigruber ein Antwortschreiben. Innerhalb der NS-Eliten tobte ein
Richtungsstreit: „Rationalisierer“, die die Ausbeutung bzw. Vermehrung der Arbeitskräfte als
prioritär erklärten, standen jenen gegenüber, die eine Vermehrung der als „minderwertig“
kategorisierten Nationalitäten zu verhindern suchten.10 Vor der Niederlage von Stalingrad
Ende Jänner 1943 gab es zwar noch immer keine Entscheidung, die eine einheitliche und
institutionalisierte Behandlung der schwangeren Frauen geregelt hätte, trotzdem wurde die für
schwangere Polinnen erlaubte Heimfahrt im Herbst 1942 eingestellt.11
In der Behandlung der schwangeren Ostarbeiterinnen und Polinnen und ihren Kindern können
drei Phasen festgestellt werden:
Im Falle „Oberdonau“ kann man belegen, dass seit April 1942 Kinder von Polinnen und das
erste so genannte „Russenkind“ im Juli 1942 in der Landesfrauenklinik zur Welt kamen.
Diese erste Phase begann bereits vor dem Brief Eigrubers und war durch Provisorien und
Improvisation geprägt. Die Landesfrauenklinik und das AKH widmeten seit 1942 eines bzw.
mehrere Zimmer als „Ausländerinnen-Abteilung“, da Deutsche und Ostarbeiterinnen nicht in
einem Zimmer liegen durften. Die Niederlage von Stalingrad beendete diese erste Phase. Fritz
Sauckel, Leiter des „Arbeitseinsatzes“ und ein Vertreter der „Rationalisierer“, überzeugte
Hitler, dass der Erhalt aller potenziellen Arbeitskräfte für die Kriegsführung nötig wäre.
Diese zweite Phase markiert die Errichtung der „Ostarbeiterinnen-Baracke“ aus „Reichsmitteln“ mit Zustimmung des Gauleiters und Reichsstatthalters Eigruber sowie des ärztlichen
Dienstes des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz im März 1943 im Anstaltsgarten
der Landesfrauenklinik mit 40 Betten.12 Nach bisherigem Forschungsstand kam Linz in dieser
Frage wiederum eine Vorreiterfunktion zu. Ein Erlass, der die Errichtung spezieller Baracken
für Ostarbeiterinnen und Polinnen für das ganze Deutsche Reich regeln sollte, erschien im Juli
1943, als die Ostarbeiterinnen-Baracke in Linz bereits voll in Betrieb war. Im März 1943
wurden 33 Ostarbeiterinnen und Polinnen zur Geburt in die Landesfrauenklinik eingeliefert,
wobei es sich um ca. ein Viertel der insgesamt 129 zur Geburt Eingelieferten handelte. Im
(Kranken-)Jahr 1944, die Landesfrauenklinik wurde mit der Ostarbeiterinnen-Baracke aufgrund der zunehmenden Bombardierungen des Rüstungsindustriezentrums Linz nach Bad
10
BA Berlin, R 59-48, Chef der Sipo u. d. SD, gez. Baaz und Volksdeutsche Mittelstelle, Berlin, 5. August 1942.
Unterstellt wurde, dass Polinnen schwanger würden, damit sie nach Hause zurückkehren und sich dem Arbeitseinsatz
entziehen könnten. Vgl. zu dem Prozess, Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.275-1.278.
12 Franz X. Bohdanowicz, Ein Jubiläum der Landesfrauenklinik Linz des Reichsgaues Oberdonau, in: Zeitschrift für das
gesamte Krankenhauswesen (1943), S. 21/22. Heide Eiblmayr, Frauen und Kinder – Streiflichter in die 200jährige
Sozialgeschichte der Stadt Linz, in: 200 Jahre Landesfrauenklinik Linz, Wien 1990, S. 36-51, S. 49f.; Hauch,
Ostarbeiterinnen, S. 1.278-1.282.
11
52
Hall evakuiert, wurden monatlich durchschnittlich 49 Ostarbeiterinnen und Polinnen zur
Geburt eingeliefert.13
Die dritte Phase in der institutionalisierten Behandlung der schwangeren Ostarbeiterinnen und
Polinnen begann mit Mai 1944, als die „Ostarbeiterinnen-Baracke“ ihre Tätigkeit in Bad Hall
wieder aufnahm. Die Verwaltung der Landesfrauenklinik führte eine eigene „Ost-Arbeiterinnen“-Kartei, wobei die Krankenblätter in andersfärbigen Umschlägen als die der deutschen
Frauen aufbewahrt wurden. Schließlich wurde mit der Aussonderung der Krankenblätter aus
dem allgemeinen Bestand begonnen und das „Anderssein“ dieser Frauen auch auf dieser
Ebene penibel dokumentiert.
III.
Diesen drei Phasen entspricht auch die Institutionalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung („Interruptio“) bei Ostarbeiterinnen und Polinnen, für deren Unterbringung ebenfalls die „Ostarbeiterinnen-Baracken“ dienten. Wie schon die Geburten erregte auch die Frage
der Abtreibung von „fremdvölkischen“ Ungeborenen die Gemüter der NS-Eliten. Wie viele
der bis März 1942 – hier endet die erste Phase – in Spitäler eingelieferten Fälle eines
„Abortus“ tatsächlich ein willentlich oder wissentlich herbeigeführter Abbruch war, kann
nicht eruiert werden. Mit der Lockerung des geltenden Abtreibungsverbotes im Deutschen
Reich bei Ostarbeiterinnen am 11. März 1943 begann die institutionalisiert abgesicherte Form
der zweiten Phase, am 22. Juni 1943 folgte die Ausweitung der Ausnahmebestimmungen für
Polinnen. Der Diskurs von der „rassischen Minderwertigkeit“ der „Fremdvölkischen“ hatte
den Boden dafür aufbereitet. Zeitgleich führte die „Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie
und Mutterschaft“ vom 9. März 1943 zu einer Strafverschärfung für Abtreibungen bei
deutschen Frauen.14
In Linz wurden von Seiten der Ärztekammer zwei Gutachter als Ärzte bestellt: Dr. Ludwig
Müller, der die meisten der Frauen zur „Interruptio“ einwies und Dr. Hermann Mossböck. In
der Linzer Gaufrauenklinik begannen im Mai 1943 die offiziell als „Interruptio“ bezeichneten
Abtreibungen.
13
Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.281f.
BH-Grieskirchen, Sch. 13/1, „Anordnung 4/43“ Reichsstatthalter OD an den Oberbürgermeister etc., 6. April 1943.
Zu den Diskussionen im Vorfeld, der Frage der „Abortus“ und der sukzessiven weiteren Lockerung vgl. Hauch,
Zwangsarbeiterinnen, S. 422-429; und Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.282-1.287.
14 OÖLA,
53
Intakte Schwangerschaften wurden bis ins 7. Monat abgebrochen. Die Patientinnen aus der
Sowjetunion und Polen dienten dabei quasi als chirurgische Übungsobjekte.15 Eine Ablehnung des Eingriffes von Seiten der Ärzte kam ebenso selten vor,16 wie die Verweigerung einer
Interruptio von Seiten der Frauen. Die handvoll Frauen, die nach den Stationen „Ärztliche
Erstuntersuchung durch Betriebsarzt“ o.ä., Gutachterdiagnose, Eingliederung in das Durchgangslager 3917 und schließlich Einlieferung in die Ostarbeiterinnen-Baracke der Landesfrauenklinik, (während der Evakuierung nach Bad Hall von Dezember 1944 bis Mai 1945 in
das AKH-Linz, anschließend nach Bad Hall), den Eingriff verweigerten, sprachen allesamt
Deutsch. Bei den meisten ihrer Leidensgenossinnen hingegen war am Krankenblatt in der
Rubrik der Krankengeschichte notiert: „Patientin spricht kein Deutsch“.
Im Jänner 1944 kam es zu einer weiteren Lockerung der Abtreibungsbestimmungen. Ab nun
konnten die Anträge für Abtreibungen auch von Ärzt/innen, Betriebsleiter/innen, Arbeitgeber/innen und Arbeitsämtern gestellt werden. Begleitet wurden diese Bestimmungen von
Rundbriefen der Ärztekammer OÖ an die Kreisamtsleiter, allen Ärzten die „Wichtigkeit
dieser Angelegenheit in politisch, biologischer Richtung klarzumachen“.18 Der kontinuierlich
steigende Druck auf die sich in einer fremdbestimmten Zwangssituation befindenden Frauen
lässt jegliche Diskussion über „Selbstbestimmung“ vorab verstummen. Die Zahl der Abtreibungen stieg parallel zur Verschlechterung der Position Deutschlands im Krieg an: Allein im
November 1944 fanden 103 Abtreibungen bei Ostarbeiterinnen und Polinnen in der Gaufrauenklinik in Bad Hall statt. Zu diesem Zeitpunkt wurde, wie bei den Geburten auch bei den
Abtreibungen, bereits eine eigene „Ostarbeiterinnen-Kartei“ geführt und die dritte Phase der
Institutionalisierung erreicht.
Für die Zustände in der Ostarbeiterinnen-Baracke in Bad Hall konnten bereits Zeitzeug/innenberichte eruiert werden:19 „Vier oder fünf Frauen lagen auf provisorischen
Z.B.: OÖLA, Landesfrauenklinik, Gyn. Abt., Krankenblätter 1943, Sch. 90, Zl. 499 u. Zl. 1.209.
OÖLA, Landesfrauenklinik, Gyn. Abt., Krankenblätter 1943?, Sch. 117, Zl. 139. Warum Primar Halter gerade diesen
Abbruch wegen „Übertretung der zweiten Schwangerschaftshälfte“ ablehnte, konnte nicht eruiert werden.
17 Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.276f.
18 OÖLA, BH-Grieskirchen, Abt. Sanität, Sch. 13/4, Reichsärztekammer, Ärztekammer Oberdonau 18.1.1944, Betrifft:
„Schwangerschaftsunterbrechungen bei Ostarbeiterinnen und Polinnen“. OÖLA, BH-Grieskirchen, Abt. Sanität, Sch. 13/3,
Reichsärztekammer, Ärztekammer Oberdonau 25.1.1944, Betrifft: „Schwangerschaftsunterbrechungen bei Ostarbeiterinnen
und Polinnen“.
19 Im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Frauenleben in Oberösterreich einst und jetzt“ des Instituts für Frauen- und
Geschlechterforschung, Johannes Kepler Universität Linz, Projektleitung: Univ. Prof. Mag. Dr. Gabriella Hauch, erhielt Frau
Mag. Katharina Ulbrich, Forum Hall, Handwerk. Heimat. Haustüren im Sommer 2001 Einblick in die Meldedatei von Bad
Hall und interviewte etliche Zeitzeug/innen. Material im Institut für Frauen- und Geschlechterforschung, Universität Linz
und Frau Mag. Katharina Ulbrich, Waldneukirchen. Hier Herr D., in einem Interview vom 17.7.2001.
15
16
54
Krankentragen, völlig nackt und in ihrem Blut. Sie waren noch in der Narkose, sie schwitzten
sehr. Ich erschrak darüber. Es waren schwangere Frauen, denen man die Kinder weggenommen hatte. Ich besorgte Decken für die Frauen ... Es war so ein erschütterndes Bild, das mich
bis in die Gegenwart stark ergriffen hat. Ich ging nie wieder in die Frauenklinik und beendete
auch die Krankentransporte.“
Insgesamt konnten zwischen Mai 1943 und Februar 1945 in Oberdonau 972 Schwangerschaftsabbrüche festgestellt werden. Diese Zahl ist jedoch als die unterste Grenze anzunehmen. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr verschlechterten sich – aufgrund der gegenüber
Ostarbeiterinnen und Polinnen praktizierten Sexual- und Bevölkerungspolitik – die Lebensbedingungen und die Handlungsspielräume für Ostarbeiterinnen und Polinnen als Frauen. Für
diese Frauengruppen kann unter Bedachtnahme auf die Parameter Reproduktionsfähigkeit und
Natalität die Theorie der „geschlechtlichen Applanation“ (Gisela Bock) nicht aufrecht erhalten werden.20
IV.
Die Behandlung der Neugeborenen und Kinder von Ostarbeiterinnen und Polinnen entspricht
den Schemata der Institutionalisierung von Geburten bzw. Schwangerschaftsabbrüchen. Die
erste Zeit war von Improvisation geprägt. In Oberdonau kam es im März 1943 zur Einrichtung des ersten „Fremdvölkischen Säuglingsheimes“ im Deutschen Reich, wie es von
Eigruber in seinem Brief von Juli 1942 bereits avisiert worden war, und damit zur zweiten
Phase, zur Errichtung spezieller Institutionen. Sauckel und Himmler hatten dieses Vorhaben
ausdrücklich begrüßt: „Hier könnten wir die Dinge einmal gleich in der Praxis durchführen
und Erfahrungen sammeln“. Aufgrund des erhaltenen Briefwechsels zwischen Linz und
Berlin über die Zustände im Heim, handelt es sich dabei um das „berühmteste“ Heim seiner
Art und wird in allen einschlägigen Publikationen zitiert.21
Im Juli 1943 machte der Amtsarzt von Kirchdorf auf die katastrophalen Zustände aufmerksam: Angesichts der täglichen Verpflegung von ½ l Milch und 1 Stück Zucker würden die
Kleinen langsam verhungern. Infolge besichtigte der Leiter der NSV Hilgenfeldt das Heim
und berichtete Himmler: „... Bezüglich der Aufzucht der Säuglinge bestehen Meinungs-
Diese These wird durch weitere Indikatoren gestützt, etwa den geschlechtsspezifischen Bestrafungen bei
Arbeitsvertragsbrüchen u.ä. Darauf kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
21 BA, NS 19-3596. Zu anderen Einrichtungen im Deutschen Reich vgl. den Forschungsüberblick in: Hauch,
Zwangsarbeiterinnen, S. 1.290-1.292.
20
55
verschiedenheiten. Zum Teil ist man der Ansicht, die Kinder der Ostarbeiterinnen sollen
sterben – zum anderen der Meinung, sie aufzuziehen“.
Die Entscheidung fiel zu Gunsten der Aufzucht. Trotzdem starben von den insgesamt 97 dort
bis Jänner 1945 untergebrachten Kleinen 38, von 6 weiteren ist das Schicksal unbekannt.22
Der Entscheid, die Kinder als zukünftige Arbeitskräfte aufzuziehen, markiert die dritte Phase.
Spital am Phyrn blieb in Oberdonau nicht lange die einzige „Ausländerkinderpflegestätte“ –
wie die Bezeichnung auf Befehl von Himmler im offiziellen Sprachgebrauch lauten musste.
Bislang konnten zwölf weitere Einrichtungen mit Hunderten dort untergebrachten Kindern
eruiert werden.23 Zum Beispiel „Waldschlössel“ in Gattern Nr. 22 bei Schärding.24 Eine überzeugte Nationalsozialistin stellte der NSV den ersten Stock ihres nicht in Betrieb befindlichen
Gasthauses zur Verfügung und genehmigte dem „Fremdvölkischen Kinderheim“ die Benützung der Küche. Nicht viel später zog sie mit ihrem kleinen Sohn aus. Alle 30-40 in einem
Raum untergebrachten Babys waren krank und sie fürchtete um die Gesundheit ihres Buben.
In einem Brief an die NSV formulierte sie ihr Entsetzten über die im fremdvölkischen
Kinderheim herrschenden Zustände: „so etwas rachitisches und krankes habe ich noch nie
gesehen“. Auch die notwendige Grundausstattung mit Babykleidung, Windeln etc. würde
fehlen.
Was mit den Kindern in den „Fremdvölkischen Kinderheimen“ geschah, wie viele starben,
wie viele überlebten, ist bislang nur punktuell erforscht. Zum Beispiel die Kinderkrippe im
„Lager 57“ der „Hermann Göring Werke Linz“. Von den dort im März 1944 ca. 30 untergebrachten Kleinkindern ist bislang nur ein Todesfall bekannt.25 Diese Zahlen korrespondieren
in etwa mit den Geburten der Ostarbeiterinnen aus den „Hermann Göring Werken“, die in der
Landesfrauenklinik und im AKH registriert wurden (39, davon 5 Totgeburten). Soweit die
Quellenlage
in
den
Akten.
Karl
Fallend,
Psychologe
und
Mitglied
der
Historiker/innenkommission zur Erforschung der Zwangsarbeit in den „Hermann Göring
Werken“, die 1998 von der VA-Stahl eingesetzt wurde, hörte bei seinen Gesprächen mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen jedoch anderes: „Lina Rodgers: Schwangere Frauen und ihre
Kinder wurden normalerweise sofort weggeschickt. So bekam eine Frau bei uns, ..., das Kind
von einem Kroaten und blieb bis nach der Geburt nur einen Tag im Lager. Niemand wusste,
22
Die Meldekarten der dort untergebrachten Kinder befanden sich im Meldearchiv des Standesamtes von Spital am Phyrn.
Zur Aufarbeitung des „Lindenhofes“, so hieß das Heim, siehe Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.292-1.303.
23 Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.303-1.310.
24 OÖLA, NSV, Sch. 19, M. 4. Briefwechsel zwischen Hedwig K. und Dr. Praxmarer, der NSV-Verantwortlichen für diese
Heime.
25 Hauch, Zwangsarbeiterinnen, S. 439-445.
56
wohin man sie brachte. Sonst nahm man die Kinder weg, die dort geboren wurden, vor allem
Buben. ... Im Lager hat es einen Raum gegeben, wo die Kinder in den Betten untergebracht
wurden. ... An einem Tag waren alle Kinder verschwunden, sie sind ohne Kinder geblieben.“26 Mit den vorgefundenen Akten konnte diese Erinnerung von Lina Rodgers nicht bestätigt werden.
Ihre Erzählung verweist jedoch auf den Mantel des Schweigens, der über der Bevölkerungsund Sexualpolitik gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen liegt. Dies gilt nicht nur für die Menschen, die von der Problematik der Hunderten von Säuglingen und Kinder von Ostarbeiterinnen und Polinnen wussten, sondern das Schweigen gilt insbesondere auch für die betroffenen
Frauen selbst.
26
Fallend, (Auto)Biographische Einsichten, S. 160.
57
58
Szabolcs Szita
Antisemitismus und jüdische Emigration in Osteuropa nach 1945
Der historischen Forschung zufolge erlosch der Antisemitismus in Osteuropa nach dem
Zweiten Weltkrieg keineswegs. Sein Fortbestand in den osteuropäischen Gesellschaften, im
Bewusstsein einzelner Bevölkerungsschichten ist zweifelsfrei nachzuweisen: Nachwievor
hegten viele ein mehr oder weniger starkes Misstrauen gegen das Judentum, bauten ihre Vorurteile gegen die Juden trotz Holocaust nicht ab – oder zumindest kaum ab. Zum Nachweis
dieser Behauptung müssen wir die Gründe und Ursachen hinterfragen. Feststeht, dass der
Antisemitismus – zum Teil unter Druck des Dritten Reiches, zum Teil aber auch auf eigenem
Boden – von der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre an, im Vergleich zu den früheren Jahrzehnten konstant zunahm und in den osteuropäischen Ländern immer mehr zum Alltag
gehörte. Zwar zeigte der Judenhass territoriale Unterschiede in seiner Intensität, immerhin
schlug er im gesellschaftlichen wie geistigen Leben so mancher Länder doch recht tiefe
Wurzeln. Dies war allein dadurch möglich, da der ohnehin vorhandene, „volkstümliche Antisemitismus“ staatliche Unterstützung und Anregung erhielt. Hetzpropaganda und Verfolgung
haben dem Judentum unermessliche Schäden zugefügt.
Durch das Zusammenbrechen der hitlertreuen Regimes und die Befreiung von der Besetzung
durch die Nazis wurde in der osteuropäischen Region dem institutionalisierten Judenhass ein
Ende gesetzt. Doch es kamen nach dem Krieg neue Probleme, neue Konfliktsituationen auf.
Die aufbrausenden Emotionen ließen sich zum Teil auch an den allmählich aus der Deportation heimkehrenden Juden abreagieren. Bereits 1945 zeigten sich im Verhältnis zwischen
Juden und Nichtjuden etliche Streitpunkte, die einer raschen Klärung bedurften. Diese
wucherten bald latent, bald traten sie scharf zum Vorschein. Sie drangen in den Alltag des
Einzelnen und waren im gesellschaftlichen Leben anzutreffen.
Vielerorts erschien und verbreitete sich der mal größere Gruppen bewegende spontane Antisemitismus, der wohl auf die allgemeinen Entbehrungen nach dem Krieg, auf die unsichere
Lage zurückzuführen ist und mit den auf diese Probleme erhaltenen – durchaus nicht eindeutigen – Antworten in Verbindung stehen mag. Des Öfteren handelte es sich um einen hysterischen Antisemitismus ohne Juden. Etliche Ortschaften samt Umkreis sind nämlich infolge der
früheren Deportationen ohne jüdische Bevölkerung geblieben – allenfalls versuchten dort
einige Zurückgekehrte wieder Fuß zu fassen –, dennoch erblickte man die Ursache aller Übel
59
in den Juden und gab damit wieder einmal die einfachste – seit Jahrhunderten fleißig angewendete – Erklärung für sämtliche Schwierigkeiten.
Für breite Bevölkerungsschichten – insbesondere in der Slowakei und in Ungarn, aber auch
im ukrainischen Teil der Karpaten – waren die vermögensrechtlichen Fragen von entscheidender Wichtigkeit. Die Besitztümer und Güter der ins Ghetto und in Lager verschleppten
Juden blieben ja zurück und wurden für andere zugänglich. Ob legal oder auf gesetzwidrige
Weise erwarben etliche Menschen kleinere und größere Stücke vom Judenvermögen, und
möglicherweise bangte ihnen 1945/46 auch davor, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden
bzw. sie fürchteten die „jüdische Rachsucht“. Viele, die sich in Geschäften, Häusern und
Wohnungen anderer breit gemacht hatten, begannen sich unheimlich zu fühlen. Wieder
andere gerieten schuldlos, als Ausgebombte und Flüchtlinge, in ähnliche Situationen. Die
meisten von ihnen wollten aber auf die ihnen zugeteilten „herrenlosen Güter“ ebenfalls nicht
verzichten, waren nicht geneigt, Haus und Wohnung zu räumen.
Vielfach waren Erscheinungen des allgemeinen Moralverlustes anzutreffen. So zeigten viele
absolut keine Reue für ihre früheren Taten, vielmehr suchten sie nach irgendeiner Entschuldigung. Sie wiesen jede Schuld von sich und beschuldigten die zurückgekehrten Juden. Sie
warfen ihnen unter anderem maßlose Habgier vor und öfter war der Satz zu hören: „Bei uns
wird nie wieder Judenwelt“.
Nach näherem Betrachten dieser Aussagen müssen wir darauf hinweisen, dass die neuerliche
Begegnung zwischen den aus den Lagern, aus der Deportation, eventuell aus den Verstecken
mit einem schrecklichen Trauma heimgekehrten Juden und der christlichen Gesellschaft nicht
ohne seelische Erschütterungen verlief. Beide Parteien hatten ein gestörtes Verhältnis zu der
jeweils anderen, sie konnten nicht miteinander umgehen. Meist gewannen die puren Emotionen, die Vorurteile und Voreingenommenheiten die Oberhand über die Vernunft. Dabei hätten
die aktuellen Aufgaben des neuerlichen Zusammenlebens und der Integration, wie auch die
Probleme einer eventuellen Trennung in Frieden, von beiden Seiten Nüchternheit, Verständnis, Loyalität und Taktgefühl verlangt. Viele heimgekehrte Juden fühlten sich völlig entwurzelt und litten darunter. Vor allem Vertreter der jüngeren Generation wandten sich daher
massenhaft Palästina zu.
Im Rahmen des Antisemitismus der Nachkriegszeit tauchte wieder einmal die aus dem
Mittelalter bekannte Blutbeschuldigung auf. In der Tschechoslowakei, in Polen und Ungarn
entfachte der Verdacht des Ritualmordes eine wahre Hysteriewelle, die zu Pogromen führte.
60
Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich der Mechanismus der „Sündenbockbildung“ bis zur Perfektion entwickelt und gefestigt. Wir können auch aus den Vierzigerjahren etliche
„prägnante“ Beispiele zitieren. Nach der Niederschlagung des nationalen Aufstandes der
Slowaken im Jahre 1944 verlautete die offizielle Propaganda in Pressburg/Bratislava, dass für
die Kämpfe, für den Angriff auf die Nazis allen voran die Juden verantwortlich seien. Aufgrund dieser Lüge konnten Tiso und Konsorten die Verantwortung auf andere abwälzen,
woraufhin 13.000 – 14.000 bisher verschonte Juden aus den Dörfern bei Bratislava in Eisenbahnwagons getrieben und als „Aufständische“ deportiert wurden. Die neue slowakische
Regierung billigte sogar, deutsch-slowakische Spezialeinheiten aufzustellen, die in den
Bergen die dort untergetauchten jüdischen „Verbrecher“ jagen sollten. Diese so genannten
Edelweiß-Kommandos töteten schließlich 3.722 jüdische Menschen, darunter zahlreiche
Frauen und Kinder.
Während der Kriegsjahre wurden 95 % der jüdischen Bevölkerung der Slowakei umgebracht,
dennoch lebte der Antisemitismus auf slowakischem Boden weiter. Der im Volk und bei den
Bauern sehr verbreitete Aberglaube an Ritualmord blieb konstant, schon deswegen taugte die
Zivilgesellschaft zu keinerlei Solidarität mit den heimgekehrten Juden. Zugegeben, nach April
1945 fand sich in der Tschechoslowakei keine noch so radikale Partei und Bewegung, die
Pogrome gegen die Juden öffentlich auf sich genommen hätte. Die judenfeindliche Gesinnung
offenbarte sich vielmehr im täglichen Leben. Viele bekannten sich mehr oder weniger offen
zu der Auffassung, das Jüdische (der Jude) sei unbegreifbar, bedeute aber eine umso größere
Gefahr für das Individuum und die Familie, für Nation und Vaterland.
All dies hatte dramatische Folgen. Eines der tragischen Ereignisse datiert aus Dezember 1945.
In den Dörfern Kolbaschow und Ulic kam es zu Massentötungen. Die Mörder der elf jüdischen Opfer in Kolbaschow waren ukrainische Nationalisten und ehemalige Hlinka-Gardisten
slowakischer Herkunft. In Sznina (Svinna) bei Homonna brachten die in früheren Judenhäusern einquartierten Gardisten fünfzehn ebenfalls aus Konzentrationslagern Heimgekehrte
um. Der auf slowakischem Territorium aufkommende blinde Glaube an Ritualmord und die
Furcht davor entluden sich in spontanen brutalen Gewalttaten.
Im Frühjahr 1946 erreichten die Blutbeschuldigungen auch Ungarn und Polen. Es kam zu
Ausschreitungen unterschiedlichen Ausmaßes. Juden wurden unter einem beliebigen Vorwand angegriffen, ihre Geschäfte und Magazine geplündert. Es wurde ihnen Warenanhäufung, so genannter Schwarzhandel, vorgeworfen und zum Anlass von Tätlichkeiten
61
genommen. Dass die slowakischen Kommunisten nach 1945 noch lange Zeit keinen Abstand
vom Nationalsozialismus und Antisemitismus genommen haben, sondern sich bis zu einem
bestimmten Grade sogar mit den „volkstümlichen“ Ideen identifiziert haben, kam den
Angreifern zugute.
Die Blutbeschuldigungen nahmen in Ungarn etwas später, im Frühjahr 1946, ihren Anfang.
Hier waren auch politische Beweggründe im Spiel. In der Slowakei gab es am 24. September
1945 in Topolscány ein Pogrom wegen vermuteten Ritualmordes. Ein jüdischer Arzt, ein
gewisser Dr. Berger, impfte zwanzig slowakische Schulkinder. Eines von ihnen bekam hohes
Fieber, abends sprach man schon allgemein über ein Attentat auf Christenkinder. Dabei war
von zehn bis sechzehn Kindern die Rede.
Eine meist aus Frauen bestehende Menschenmenge zerrte den Arzt aus seiner Wohnung und
schlug ihn zusammen. Binnen kurzer Zeit versammelten sich mehrere Tausend aufgebrachter
Menschen, darunter Polizisten, Soldaten und frühere Partisanen – jeweils bewaffnet. Sie überfielen die etwa 300 bis 400 jüdischen Einwohner der Ortschaft und plünderten alle den Juden
zurückerstatteten Wohnungen und Geschäfte. In den schweren Ausschreitungen holten sich
49 jüdische Menschen Verletzungen, zwanzig Oper waren dermaßen schwer verletzt, dass sie
sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Der Raserei setzten die in der Stadt
stationierten russischen Soldaten ein Ende. Doch der Pogrom wurde in den umliegenden
Dörfern fortgesetzt, was von der örtlichen Polizei nicht verhindert wurde. Im Gegenteil:
Einige Polizeiangehörige schürten und verbreiteten sogar weitere Furcht erregende Gerüchte.
Die Prager Regierung verurteilte scharf die slowakischen antisemitischen Ausschreitungen,
die auch im Slowakischen Nationalrat sowie in den kommunistischen und demokratischen
Presseorganen scharfe Kritiken auslösten. Die Behörden führten in der Angelegenheit
Ermittlungen durch, doch anderthalb Jahre später sprach keiner mehr darüber.
Im August 1946 ereigneten sich in mehreren slowakischen Städten heftige Unruhen, die
gegen Juden gerichtet waren. Zu gleicher Zeit fand der Kongress des Partisanenverbandes
statt. Bereits zuvor wurden emsig antisemitisch orientierte Flugblätter verteilt und vielerorts
verunstalteten Schmierereien gleichen Inhalts das Straßenbild. An der judenfeindlichen
Agitation beteiligten sich sogar Polizeibeamte und einstige Partisanen. Nach allgemein
geteilter Ansicht hätten die im Bund eine führende Rolle spielenden Kommunisten mit dieser
Aktion den Slowakischen Nationalrat, wo doch die Demokraten die Mehrheit hatten, unter
Druck stellen und dem Rat dadurch ihren eigenen Willen aufzwingen wollen. Tatsache aber
ist, dass etliche jüdische Einwohner der Stadt Pressburg/Bratislava zwischen dem 3. und 5.
62
August auf offener Straße insultiert und geschlagen wurden. Die aufgehetzten Massen
plünderten zahlreiche Geschäfte, die sich im jüdischen Besitz befanden. Die Pressburger
jüdische Garküche wurde in dieser Zeit gar zweimal durchwühlt und dabei ihre Einrichtung
total verwüstet. In Komárom (Komarno) wiederholte sich der Vorfall, hier wurde außerdem
eine Handgranate auf eines der von Juden bewohnten Wohnhäuser geworfen. In Zsolna
(Zilina) wurden 15 Menschen verletzt, in Érsekújvár (Nové Zamky) gab es sieben Verletzte.
Die slowakischen Behörden sprachen von der „Wühlarbeit reaktionärer Elemente“, während
ihre Prager Kollegen anschließend eine „ungarische Autorenschaft“ feststellten. Ihrer Ansicht
nach lag die Initiative in den Händen der ungarischsprachigen Einwohnerschaft, was die
fehlerhafte slowakische Sprache der illegalen Flugblätter beweisen sollte. Die in Komárom
verwendete Handgranate solle ebenfalls ungarischer Herstellung gewesen sein.
Kurz und gut, es lässt sich eindeutig feststellen, dass sich zu dem slowakischen Antisemitismus nach 1945 noch eine Ungarnfeindlichkeit gesellte. Ziel war es, die Minderheiten einzuschüchtern und zu verdammen. In Eperjes (Preschow) erschienen neue Parolen: Ungarn
jenseits der Donau, Juden in die Donau oder nach Palästina! In Pressburg hieß es: Schlage den
Juden, jage den Ungarn! In Komárom wurde ein Ungar – ohne jeglichen Grund – für die
Unruhen verantwortlich gemacht. In Èrsekújvár wurde die jüdische Bevölkerung zu der Aussage verpflichtet, die Schuld für den Pogrom liege bei den Ungarn. Von den slowakischen
„Lösungen“ verdient auch folgende Angabe unsere Aufmerksamkeit: Ex-Innenminister Sanyo
Mach, Befehlshaber der Hlinka-Garde, wurde nach dem Krieg als Organisator der Judendeportationen für 30 Jahre verurteilt. Der Ungar János Graf Esterházy hingegen, der seinerzeit
als Einziger im slowakischen Parlament gegen die Judengesetze gestimmt hatte, bekam
lebenslänglich. Esterházy starb jung im Gefängnis.
Keine Gewissensbisse trübten 1946 das Nationalbewusstsein der Slowaken trübten. Die
öffentliche Meinung fand den bisherigen Umgang mit Juden, deren Behandlung im Nachhinein berechtigt, bestätigt. Was die Vergangenheitsbewältigung angeht, taten sich die Völker
Ostmitteleuropas, darunter die ungarische Nation, generell nicht besonders hervor. Doch was
die Slowaken in ihrem Nationalbewusstsein hinsichtlich „Vergessen und Entschuldigen“
„geleistet haben“, das steht ohne Beispiel.
63
Der Antisemitismus „blühte“ auch in Polen und hat uneingeschränkt in den Kriegsjahren
gewütet. Als Folgeerscheinung war Erpressung ebenfalls keine Seltenheit. Dies alles hatte
einen gewaltigen Anteil an der beinahe erfolgreichen Ausrottung des Judentums in Polen. An
dieser Stelle soll auf einige Gegebenheiten aus der Zeit vor 1945 hingewiesen werden. So
zögerten viele polnische Menschen, wenn sie auf untergetauchte Juden gestoßen waren oder
ihre Verstecke entdeckt hatten, keinen Augenblick, die Verfolgten – oft ganz offen, ohne
ihren Schritt zu verheimlichen – bei den Behörden anzuzeigen. Die jüdische Bevölkerung
hatte eine einzige Möglichkeit zur Selbstrettung: Um von den Nazis nicht verschleppt zu
werden, mussten sie sich immer wieder freikaufen. Auf der Flucht lauerte dann eine konstant
hohe Gefahr, da die Fliehenden mit der Hilfeleistung ihrer „arischen“ Mitmenschen nur
äußerst selten rechnen konnten.
Im Juli und Oktober 1942 wurden ganze Gruppen untergetauchter Juden von polnischen
Spitzeln angegeben. Bei den Herbstopfern handelte es sich um 900 jüdische Menschen, die
allesamt aus dem Ghetto von Legionów geflohen waren. (Vor der Erschießung mussten sie
sich entblößen, ihre Sachen übergab nachher das deutsche Hinrichtungskommando den
Spitzeln.) Die polnische Widerstandsbewegung nahm erst März 1943 gegen die einheimischen Erpresser der Juden „öffentlich“ – d.h. in illegalen Presseorganen – Stellung. Zitat:
„Ehr- und gewissenlose Elemente der Unterwelt greifen neuerlich zu unlauteren Mitteln, um
sich Geld zu verschaffen, indem sie Polen und Polinnen, die Juden Unterschlupf gewähren,
und die Versteckten ebenfalls erpressen. Der Vorstand des Zivilen Widerstandes macht hiermit darauf aufmerksam, dass derartige Erpressungstaten registriert werden und die Täter nach
Möglichkeit jetzt schon, in Zukunft aber mit absoluter Konsequenz die volle Härte des
Gesetzes zu spüren bekommen werden.“ Zu voller Wahrheit gehört auch, dass der Judenhass
den meisten nationalistischen Organisationen der damaligen Zeit keineswegs fremd war. Laut
einer von kundigen Experten des Themas 1995 gezogenen Bilanz gehen etwa 120 Mordtaten,
die an in Wälder versteckte Juden verübt wurden, auf die Rechnung der polnischen Widerstandsorganisationen. Dies alles spielte eine Rolle dabei, dass nur ein bescheidener, allenfalls
wenige Prozente ausmachender Bruchteil des einst drei Millionen zählenden Judentums von
Polen den Zweiten Weltkrieg überlebte.
1946 ereigneten sich hie und da im Lande weitere Gewalttaten antisemitischen Kolorits. Unter
ihnen gab es politisch orientierte Propagandaaktionen ebenso wie sich aus antisemitischer
Gesinnung herleitende spontane Handlungen. Bei diesen Letzteren spielten meistens die verarmt-zerlumpten Bauern- und Arbeitermassen eine Hauptrolle. Doch in Brutalität und Grau64
samkeit gab es überhaupt keinen Unterschied zwischen einer spontanen und einer organisierten Aktion. In beiden Fällen trifft man auf ähnlich Furchtbares: Raub und Plünderung,
Lynchen und Töten. Während aber die spontanen Aktivitäten jedes Mal von vornherein gegen
die Juden gerichtet waren, hatten die politisch geprägten, organisierten Massenaktionen
ursprünglich andere Zielgruppen (richteten sich etwa gegen Spekulanten und Schwarzhändler)
und schlugen dann aber in judenfeindliche Ausschweifungen um.
In Ungarn kam es im März 1946 in Békéscsaba (Südostungarn) zu einer Massenkundgebung
gegen die „Reaktion und Reaktionäre“. Demonstriert wurde gleichzeitig auch gegen
„Schwarzhändler und sabotierende Fabrikanten“. Auf einmal begann man antisemitische
Losungen auszurufen. Die Demo entartete schließlich zur Judenschlägerei auf offener Straße.
Aus Nordungarn wurden Ende Juli, Anfang August judenfeindliche Ausschreitungen gemeldet. Um die ohnehin gespannte Atmosphäre noch mehr aufzuheizen, veranstaltete die
Kommunistische Partei in Miskolc ein „Volksgericht“. Zwei jüdische Händler wurden so in
das Internierungslager begleitet, dass sie unterwegs von der aufgehetzten Masse getötet
werden konnten. Da die Kommunistische Partei häufig als „Judenpartei“ und deren Generalsekretär Mátyás Rákosi als „Judenkönig“ verunglimpft worden waren, ist wohl anzunehmen,
dass die Parteileitung gerade dadurch das Gegenteil beweisen wollte.
Aufgrund der nordungarischen Ereignisse lassen sich folgende Eigenheiten feststellen:
Während im Arbeitermilieu Plünderungen und Misshandlungen vorherrschten, hielt sich in
den Dörfern eher die Ritualmord-Legende. Diese artete am 21. Mai 1946 in Kunmadaras,
einer Ortschaft der ungarischen Tiefebene, in ein Pogrom mit Lynchjustiz aus. Die Hauptverantwortung trugen Asoziale, doch die Gleichgültigkeit bzw. das Nichteingreifen der Sicherheitsorgane trugen ebenfalls dazu bei, dass die sich vom Marktplatz ausbreitende Hysterie
blutige Folgen hatte. Auf dem Markt ging das Gerücht um, ein Christenkind sei entführt
worden, um „zur Wurst verarbeitet“ zu werden. Die aus der Kontrolle geratenen wilden
Menschenmassen, die sich vorwiegend aus Arbeitslosen rekrutierten, zogen von Haus zu
Haus. Es wurde geplündert und geprügelt. Zwölf jüdische Menschen erlitten grobe Misshandlungen. Je zwei von ihnen wurden schwer bzw. tödlich verletzt. Die Polizei nahm endlich
86 Beteiligte in Haft und stellte fest: „Das Verhalten der Juden hat derartige Geschehnisse
überhaupt nicht auslösen können“. Die Fortsetzung war nicht weniger merkwürdig. Die
lokalen Parteistellen beschlossen, dass die Juden, die ja unfähig waren, sich in die Dorfgemeinschaft einzugliedern, ihr Domizil binnen 24 Stunden verlassen sollten. Mit diesem
65
unerhörten Entscheid fassten die politischen Leiter des Dorfes ein „Volksgerichtsurteil“. Für
die tragischen Ereignisse wurden also nicht die Täter, sondern die Opfer bestraft. Allein aufgrund ihres Daseins.
Die Prozessführung zum Fall Pogrom in Kunmadaras zog sich in die Länge. Dabei konnten
auch politische Bedenken eine Rolle gespielt haben. Das ganze Verfahren ließ darauf
schließen, dass die im Dezember 1974 angelaufenen demokratischen Umwälzungen in
Ungarn ins Schwanken geraten sind. Zum Schluss sprach man kaum mehr über die schweren
Verunglimpfungen und Pogrome gegen die Juden. Wenige Worte fielen auch über das Verurteilen solcher Taten. Vielmehr ging es um die Abrechnung zwischen den einzelnen
Parteien.
Vom Herbst 1946 an konnte man in Ungarn immer weniger über Antisemitismus und den
eigentlichen Volksinteressen dienenden, so genannten Volksgerichtsurteile hören bzw. lesen.
Es wurde allmählich unheimlich, in Ungarn über diese Dinge zu reden. Dabei war es ziemlich
egal, ob man diese Erscheinungen einzeln oder im Zusammenhang brachte. Die Gründe dafür
waren allerdings unterschiedlich. Die Massendemonstrationen wären für die Kommunistische
Partei eine Gefahr gewesen – infolge der dabei eventuell aufkommenden antisemitischen
Handlungen. Hätte man den Antisemitismus als solchen unabhängig von den Volksbewegungen zur Diskussion gestellt, wäre die Aufmerksamkeit unvermeidlich auf die jüdische Herkunft der Parteiführer gelenkt worden. Und gerade das wollten die Kommunisten am liebsten
vermeiden. Von nun an tat Budapest so, als gäbe es überhaupt keinen Antisemitismus mehr.
Das Thema wurde vollkommen verdrängt, verschwiegen, tabuisiert, man setzte alles daran,
die Aussprache über dieses Phänomen zu verhindern. Ende 1946 unterbreitete der ungarische
Justizminister im Parlament einen Gesetzentwurf über die Brandmarkung der Judenverfolgungen. Der Entwurf wurde mit Dringlichkeit eingereicht. Sowohl im Dokument als auch in
der Diskussion darüber ging es ausschließlich um die Verfolgung der Juden vor 1945, insbesondere um den Antisemitismus während der Horthy-Ära. Ein einziger Abgeordneter der
Kommunistischen Partei meldete sich zu Wort und bezog sich in seiner Rede auf das Beispiel
der Sowjetunion. Auf das Beispiel des einzigen Landes, wo – ich zitiere – „das Gesellschaftssystem schon die Möglichkeit der Verfolgung aus rassischen Gründen von vornherein ausschließt“.
In Wirklichkeit erreichte erneut eine starke Internierungswelle die Sowjetunion. Aus der
Karpato-Ukraine wurde die Bevölkerung mit ungarischer und deutscher Zunge ab Herbst
66
1944 massenweise in Lager verschleppt. Von den rund 30.000 Juden, die sich aus der Deportation mühselig heimgeschleppt hatten – die meisten sprachen neben Jiddisch die ungarische
oder die deutsche Sprache –, wurden sehr viele als Spione verdächtigt und verhaftet. Der alte
Fremdenhass wirkte nach wie vor, so landeten viele wieder in Arbeitslagern, und viele andere
kamen ins Gefängnis. (Übrigens wurden selbst jene Juden interniert, die vor dem deutschen
Angriff über die Grenze in die Karpato-Ukraine geflohen sind.) Man konnte gar nicht daran
denken, dass Juden ihr Eigentum, ihre Häuser und Wohnungen zurückbekamen, denn in
denen wohnten längst andere Familien. Die Behörden interessierte eher die Frage, wie war es
möglich, dass der Betreffende das Lager überlebte, wo doch angeblich der Tod waltete. Sollte
er etwa den Nazis gedient haben? Warum er allein, ohne Familie zurückkehrte? So kam es,
dass die kompakten Judengemeinden auch in dieser Region spurlos verschwunden sind. Und
mit ihnen verschwand aus dieser Gegend die jiddische Sprache, die sie noch beherrscht oder
zumindest verstanden haben, verschwand die jüdische Kultur mit all ihren spezifischen
Traditionen und Festen.
Nach dem Holocaust gab es selbst in den ferneren, zentralen ukrainischen Landstrichen keine
einzige Siedlung mit jüdischer Dominanz mehr. In Kijew und Umgebung war vor dem Krieg
noch jeder vierte Einwohner jüdischer Herkunft: Nur ein winziger Teil dieser Bevölkerungsschicht überlebte die Schreckenszeit. Von den einst stolzen 80 % jüdischer Bevölkerung in
Bergitschew blieben nur noch 5 % übrig. Jüdische Verluste gleicher Größenordnung wurden
auch in Tschernovici, einer von Rumänien an die Sowjetunion angegliederten Ortschaft verbucht. Allein in Kischinow gab es mehr Überlebende: 19 % des städtischen Judentums.
Die aus dem Krieg heimkehrenden siegreichen russischen Soldaten und Offiziere jüdischer
Herkunft erwartete eine riesige Enttäuschung: Sie mussten sich mit der bitteren Wahrheit konfrontieren, dass sich so manche Ortsbewohner fast überall begeistert an der Demütigung und
Ausplünderung der Juden, ja selbst an ihrer Vernichtung vor Ort, beteiligten. Und der Rest
sah seelenruhig zu, beobachtete gleichgültig, was geschah. Diese Erfahrung war schwer zu
verarbeiten, denn es handelte sich ja diesmal nicht um auf Hass getrimmte, angreifende
Soldaten aus Hitlers Deutschland, sondern um Sowjetbürger, die doch im Geiste des Internationalismus großgezogen worden sind. Und diese Menschen empfingen in den ersten Monaten
unmittelbar nach der Besetzung die heimkehrenden Juden – anstatt Mitleid, Anteilnahme oder
gar Reue zu zeigen – häufig mit lodernden Hassgefühlen. Einige bangten um ihre Beute,
manche versuchten zu vertuschen, dass sie selber oder ihre Familienangehörigen mit dem
Feind kollaborierten. Wieder andere empfanden: Durch das stete Heraufbeschwören der
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jüdischen Leiden im Holocaust seien ihre eigenen Leiden erniedrigt, ihre unerträglichen
Kriegsverluste, die Trauer um den Tod von Soldatensöhnen, Ehegatten und Gattinnen
entwürdigt.
Das jüdische Gemeindeleben zerfiel. Hinzu kam, dass die sowjetischen Behörden von der
zweiten Hälfte des Jahres 1946 eine heftige Kampagne gegen Kosmopolitismus und Kosmopoliten führten. In deren Rahmen wurden zahlreiche jüdische Intelligenzler verhaftet, gefoltert
und in Straflager, GULags, geschickt. Eine Zeit lang durfte noch das Komitee jüdischer Antifaschisten wirken, dann wurde auch seine Tätigkeit eingestellt.
Die rumänische Lage reell zu beurteilen, ist eine durchaus schwierige Aufgabe. Marschall Ion
Antonescu, Rumäniens „Staatsführer“ bis August 1944, sagte später als Angeklagter vor
Gericht aus, er habe das Leben der rumänischen Juden gerettet, indem er sie Hitlers Deutschland nicht auslieferte. Diese Behauptung wird seither von jedem rumänischen Historiker als
unantastbar übernommen und immer wieder betont. Kurzum: Es soll in Rumänien überhaupt
keinen Holocaust gegeben haben, ausgenommen das nördliche Siebenbürgen, das vor 1944
bekanntlich wieder zu Ungarn gehörte. Die rumänischen Presseorgane und Propagandamittel
beteuern seit Jahrzehnten immerfort nur das eine, und zwar, dass die Ungarn Hunderttausende
von Juden und Jüdinnen vernichten ließen. Die Ungarn seien durch ihre Gene zum Mord
determiniert. Die Rumänen hingegen seien allesamt wahre Verfechter der Menschlichkeit, der
Toleranz und des Philosemitismus, da sie die Gene dazu prädestinieren. An dieser Bastion der
Lüge wird seit einem halben Jahrhundert fleißig gebaut. In diesem Zusammenhang wollen wir
hier auf einige historische Tatsachen hinweisen.
Die 1866 verabschiedete rumänische Verfassung ist ein beispielloses Unikum in der
Geschichte des osteuropäischen Antisemitismus. Gemäß Artikel 7 stand ja die rumänische
Staatsbürgerschaft einzig und allein Christen zu. Zwischen 1866 und 1902 erhielten lediglich
3.469 jüdische Menschen die rumänische Staatsbürgerschaft. Dabei gab es im Land zahlreiche
weitere judenfeindliche Ereignisse. In den knapp vierzig Jahren bis 1913 fasste die rumänische Gesetzgebung insgesamt 196 ausschließende, antisemitisch geprägte An- und Verordnungen, Gesetze. Landesverweisungen standen auf der Tagesordnung.
Das Recht auf rumänische Staatsbürgerschaft erkämpfte sich das dort ansässige Judentum erst
1919. Wenig später – zwischen 1938 und 1944 – suchten in rascher Folge drei Diktaturen
Rumänien heim: Auf die königliche Gewaltherrschaft folgten das Regime der Eisengardisten
und die Antonescu-Ära.
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Die ersten Massenmorde an Juden verübten im Juni 1940 Soldaten der sich aus Bessarabien
zurückziehenden rumänischen Truppen. Nach diesem „Auftakt“ kam es zu mehreren Pogromen. Die mit deutschen Wehrmachtstruppen gemeinsam vorrückende rumänische Armee
tötete in den drei Monaten vom 22. Juni bis 21. September 1941 rund 166.000 jüdische Menschen. Die Rumänen rotteten die jüdische Bevölkerung von Bessarabien und Transnistrien
aus, die Zahl ihrer Opfer ging auch deshalb an die 430.000. Heute gehören diese Gebiete nicht
mehr zu Rumänien, auch deshalb können rumänische Historiker ihre Theorien aufs Leugnen
bauen. Laut ihrer Behauptung soll Antonescu das rumänische Judentum verschont haben. In
Wirklichkeit beläuft sich die Zahl der Verluste in dieser Relation auf über 400.000 Personen.
Darüber darf man bis heute nicht sprechen oder gar schreiben.
Die offizielle rumänische Geschichtsschreibung spricht von ausgiebigen Rettungsaktionen,
schildert Rumänien als ein wahres Asylland verfolgter Juden. Fakt ist, dass einige hundert
Juden 1944 aus Ungarn nach Süd-Transsilvanien, nach Rumänien also, fliehen konnten.
Zionistenvereinigungen organisierten ebenfalls Fluchtwege in diese Richtung und halfen
etlichen, vor allem aus jungen Leuten bestehenden jüdischen Gruppen nach Constanza zu
gelangen, um von dort nach Palästina weiterreisen zu können. Doch die gelungenen Aktionen
und sogar die gescheiterten Versuche waren nur möglich, wenn man für alles und überall,
jedem teures Geld gezahlt hat. Es hieß zahlen und wieder nur zahlen – den rumänischen
Beamten und Polizeistellen, den Verbindungsmännern und den Bauern, die einem mit Brot
und Wasser weiterhalfen.
Die Sachliteratur über den rumänischen Holocaust könnte man als bescheiden bezeichnen.
Der Anfang war allerdings viel versprechend. Matatias Carp veröffentlichte zwischen 1946
und 1948 in vier Bänden sein Werk „Schwarzes Buch. Die Leiden der Juden zwischen 1940
und 1944 in Rumänien“. Die Exemplare des Buches wurden nachher von den kommunistischen Behörden ohne Ausnahme eingesammelt und eingestampft, damit das rumänische Volk
mit diesem schwarzen Kapitel der eigenen Vergangenheit nicht konfrontiert werde. Die
emsigen Beamten gingen aufs Ganze und ließen ihre Agenten die noch vorhandenen Bände
aus allen großen Bibliotheken der Welt entwenden.
In den Achtzigerjahren unternahm ich in Berlin den Versuch, etwas über den Holocaust in
Rumänien zu erfahren, einschlägige Literatur zu studieren. Man bot mir eine Arbeit im
schmucken goldenen Einband an, von der gleich zwei Exemplare vorlagen. Eine Schenkung
aus Rumänien, hieß es. Als ich das Buch in die Hand nahm, wurde mir alles klar. „Die
Greueltaten des Horthy-Faschismus in Nord-Transsilvanien, Rumänien“, verkündete der
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Titel. Folglich war und blieb der Holocaust in Rumänien einzig und allein Schuld der Ungarn.
Die Rumänen hätten nur geholfen und gerettet, sie hätten in den Judenangelegenheiten
keinerlei Schuld auf sich geladen.
Nach dieser kurzen Übersicht können wir uns fragen: Worauf ist das Weiterleben des Antisemitismus in den Ländern Osteuropas nach der Tragödie der Endlösung wohl zurückzuführen?
Wieso kam die Hysterie der Blutbeschuldigung wieder auf und warum griff sie um sich? Wie
waren Pogrome möglich?
Wie kann so etwas in unserer Zeit passieren?
Die Antwort auf die aufkeimenden Fragen finden wir in den festgefahrenen oder ganz ausgebliebenen Modernisierungsprozessen der Region, in der Rückständigkeit im Vergleich zu den
entwickelteren Teilen Europas sowie in der Problematik des Nationalbewusstseins in diesen
mit feudalen Überbleibseln belasteten Gesellschaften.
In diesen Ländern unterhielten die nationalen Bewegungen von Anbeginn (also vom 19. Jahrhundert an) ein negatives Verhältnis zum jeweiligen Judentum. Und die Juden konnten sich
folglich fast nirgends in die Gemeinschaft der führenden Vertreter nationaler Aspirationen
integrieren. Auch durften sie im politischen Leben keine Rolle spielen. Sogar nach 1945 ist
diese Trennung in der Elite zwischen Juden und Nichtjuden zu beobachten, zu politischen
Funktionen kamen allenfalls solche Leute, die ihr Judentum geleugnet bzw. verschwiegen
haben. Viele davon beteuerten, zur kommunistischen Ideologie übertreten zu sein. Sie wurden
tatsächlich zu eifrigen Verfechtern und Verbreitern der kommunistischen Ideen.
In der Slowakei blieb die akademische Elite trotz mehrerer politischer Wenden, trotz mehrfacher umfangreicher Umstrukturierung auf der Basis des aktuellen Gesellschaftssystems
immer unverändert. Ihre Vertreter akzeptierten sowohl den nationalsozialistischen Trend
tschechischer und später deutscher Prägung als auch die angelsächsische und schließlich
sowjetische Orientierung. Die in dieser Hinsicht so „wendige“ Intelligenz blieb nur auf einem
Gebiet bis zuletzt konsequent: Sie respektiere die traditionelle Judenfeindlichkeit der Bauern
und anderer Volksmassen.
Ähnliches zeichnete sich auch in Polen ab. Der uralte „volkstümliche“ Judenhass lebte in den
qualvollen Kriegsjahren, aber auch nach 1945 weiter. Das hat bis heute greifende Probleme
verursacht. Es reicht, wenn wir an dieser Stelle auf die Aktivitäten um die Auschwitzer Mahnund Gedenkstätte verweisen, das erzwungene Aufstellen von Kreuzen und einige Äußerungen
kirchlicher Würdenträger in Erinnerung rufen.
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In beiden erwähnten Ländern – aber in Ungarn nicht anders – bewahrte der Antisemitismus
auch in der Nachkriegszeit sein archäisches Gepräge. Dafür sprechen die wiederholten Ausbrüche der Ritualmord-Hysterie, die bis August 1948 andauerten. (Die letzte Pressburger
Blutbeschuldigung ist schon deshalb beachtenswert, weil sie nach der kommunistischen
Machtübernahme vorgefallen ist.) In der Wiederbelebung der Legende über den Ritualmord
spielte die Slowakei eine Vorreiter-Rolle. Von hier aus griff sie auf die benachbarten Länder
Ungarn und Polen über. Wir müssen allerdings eine Eigenheit des slowakischen Antisemitismus festhalten: Er besaß keinen antikommunistischen Kolorit, höchstens hin und wieder
gewisse ungarnfeindliche Untertöne.
Als ungarische Eigenheit kann man betrachten, dass es vor 1945 in der Horthy-Ära, d.h. zur
Zeit des so genannten christlich-nationalen Kurses, doch nicht gelungen ist, die legale und
illegale Arbeiterbewegung in antisemitische Bahnen zu lenken. Beispiellos war aber auch, wie
der Antisemitismus nach 1945 hier zu Lande wieder Fuß fasste. Die Judenfeindlichkeit
erschien als eine „überparteiliche“ Kraft, zeigte aber auch antikommunistische, antisowjetische Inhalte. Wie in Polen, wurden die Kommunisten und die Russen auch in Ungarn in der
politisch brisanten Nachkriegszeit mit den Juden gleichgesetzt.
Der nach dem Krieg weiterlebende Antisemitismus wirkte freilich auch auf das Leben der
Juden aus, die in ihre osteuropäischen Heimatländer zurückkehrten. Manche versuchten einen
Neuanfang. Sie versuchten erneut sich eine Existenz zu schaffen, sich einzugliedern, sich anzupassen, was nicht selten das Geheimhalten ihrer rassischen Zugehörigkeit bedeutete.
Andere, die nach und nach von dem Tod ihrer Lieben, Familienangehörigen und Verwandten
erfahren und so ihren Halt, ihre Wurzeln verloren haben, wanderten aus.
In der Slowakei beurteilten die meisten zurückgekehrten Juden ihre Zukunft als aussichtslos.
Sie emigrierten massenweise. Während 1939 noch 90.000 slowakische Juden registriert
waren, schätzt man ihre Anzahl heute auf 3.000 – 4.000. Von den einst drei Millionen polnischen Juden leben vielleicht nur noch 10 % in Polen. Es liegen keine zuversichtlichen Angaben vor, denn die Juden befanden sich in steter Emigration – mal innerhalb der Staatsgrenzen,
mal außerhalb.
Einigen Angaben zufolge lebten 1946 50.000 jüdische Menschen in Polen, während das
Zentralkomitee Polnischer Juden Ende 1945 100.000 Überlebende meldete. Dieselbe Organisation wusste im Januar 1946 von 86.000 Landsleuten jüdischer Abstammung, kurz darauf
71
stieg ihre Zahl auf 99.280 und ein halbes Jahr später, im Juli 1946, schon auf 243.000. Die
plötzliche Zunahme war Folge eines Abkommens mit der Sowjetunion über Bevölkerungsaustausch. Ende 1946 wurden 192.000 polnische Juden registriert. Und Tausende lebten als
Flüchtlinge oder Heimatlose in verschiedenen Lagern Deutschlands, Österreichs und Italiens.
Zwischen 1945 und 1947 konnte man aus Polen meistens legal emigrieren. Die überwiegende
Mehrheit wanderte nach Palästina oder zu Verwandten in andere Länder aus. Die genauen
Zahlen sind bis heute nicht bekannt. Offiziell verließen vom Januar 1946 bis zum 15. Mai
1948 rund 17.000 jüdische Menschen das Land, ihr Ziel war in erster Linie Palästina. Es ist
nicht nachweisbar, wie viele bei der Rapatriierung nicht nach Polen heimkehrten, sondern
gleich Palästina oder ein anderes Land als ihre neue Heimat wählten. Mit der zweiten Welle
der polnischen Emigration verließen zwischen 1949 und 1951 insgesamt 27.859 Juden und
Jüdinnen das Land. Um diese Zeit agitierten zionistische Kreise für die Auswanderung der
Juden, es kam öfters zur illegalen Landflucht. Danach verblieben nahezu 60.000 Juden in
Polen.
In der Karpato-Ukraine nahm man Repatriierung und Familienzusammenführung gerne zum
Vorwand, um alle ausreisewilligen Juden loszuwerden. Die Auswanderung war beinahe
kontinuierlich. In jener Region, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg als eine Hochburg jüdischen Lebens in Osteuropa gegolten hat, lebten 1959 insgesamt 12.000 und 1979 nur noch
3.848 jüdische Menschen. Die Zahlen der jüdischen Emigration aus Rumänien sind entweder
nicht zugänglich oder gefälscht. Tatsache ist, dass die Auswanderung zwischen 1945 und
1948 – schon wegen der direkten Seeverbindung – in überwiegender Mehrheit der Fälle nach
Palästina ging. Nach einer Statistik von 1945 fiel etwa die Hälfte des rumänischen Judentums
dem Holocaust zum Opfer. Die Zahl der Überlebenden belief sich auf 380.000 bis 400.000.
Eine aus 1946 datierte Veröffentlichung meldete 300.000 bis 320.000 Juden in Rumänien,
was eindeutig eine Reduzierung zeigt. Wir stießen aber auch auf eine Schätzung von 250.000
Personen. Gemeldet wurde, dass von den 68.405 Juden in Jugoslawien, nur noch 9.000
gezählt werden. In Bulgarien registrierte man 40.000 jüdische Menschen, ihre Kriegsverluste
beliefen sich auf 7.000, was 14 % bedeutet. Hier gab es auf dem Balkan die meisten Überlebenden.
Die nach Ungarn heimgekehrten Juden wurden ab Juli 1945 zusammengeschrieben. Viele
schreckten infolge schlechter Erfahrungen in der Vergangenheit davor zurück. Das Land
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wurde in Registrierungskreise eingeteilt, die Aktion zog sich in die Länge. Bis zum 31. Oktober 1946 zählte man in Budapest 117.363 und in der Provinz 47.967, insgesamt 165.330
Juden. Eine andere Erhebung aus dem gleichen Jahr gibt insgesamt 143.500 Juden an, davon
lebten 96.500 in der Hauptstadt und 47.000 in der Provinz. 1946 verließen viele jüdische
Menschen Ungarn, die sich entweder in den USA oder in Palästina niederlassen wollten. Die
Engländer hielten mehrere Gruppen unterwegs auf und internierten die Auswanderer auf
Zypern. Mittlerweile wurde die Tätigkeit der Zionisten in Ungarn immer verdächtiger, die
Aktivisten wurden polizeilich überwacht. Die Emigrationswelle stieg an, 1947 kam es schon
immer häufiger – nach intensiver Vorbereitung in Lagern – zu illegalen Auswanderungen.
Diese Möglichkeit bestand seit der Existenz des Eisernen Vorhanges nicht mehr, massenhafte
Abwanderungen jüdischer Ungarn gab es erst im Zuge der Revolution von 1956. Ein 1993
publizierter Forschungsbericht schätzt die Zahl der von 1945 bis Ende 1956 ausgewanderten
ungarischen Juden auf 100.000.
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Manfred Rotter
Die EU: Weg oder Ziel? – Ansätze einer europäischen Konzeptdiskussion
1. Standort als thematischer Brückenschlag
Die folgenden Überlegungen sind von der Überzeugung getragen, dass der jeweilige Zustand
der Gesellschaft als Ganzes oder einiger ihrer Teilbereiche das Ergebnis gezielten menschlichen Handelns ist. Sie fallen nicht vom Himmel und sie entspringen nicht der Hölle. Das gilt
für das Grauen, worüber Sie hier in den letzten Tage gearbeitet haben ebenso, wie für die
Entwicklung eines breiten, jeden erfassenden Sozialsystems auf der Basis eines von der Solidarität aller getragenen Umlageverfahrens.
Gesellschaftliches Gestalten beginnt in den Köpfen als Idee, mag sie Ausdruck einer allumfassenden gesellschaftlichen Idealprojektion oder – nicht minder legitim – konkreter Interessen sein. Natürlich entstehen so manche gesellschaftlichen Vorstellungen aus einem konkreten – sei es sicherheitspolitischen oder ökonomischen – Umfeld oder auch Zwängen. Diesen
nachzugeben, sich von ihnen in bestimmte Richtungen treiben zu lassen, erfolgt jedoch nicht
automatisch, sondern in mehr oder weniger aufeinander folgenden Entscheidungsschritten. Es
ist immer wieder der Mensch, der sich entscheidet, Zwängen nachzugeben oder sich ihnen
entgegenzustellen und sich zu verweigern.
Deswegen soll ja der hinter ihnen liegende Rückblick in die Büchse der Pandora des Gewesenen nicht so stehen bleiben. Das unerlässliche Besinnen auf die Entsetzlichkeiten der Verbrechen und Sünden früherer Generationen auch jenseits unseres Kulturbereiches muss in die
Auseinandersetzung, ja das Ringen um das Werdende eingebettet sein, soll es nicht zum
Selbstzweck degenerieren.
Die Anfänge der europäischen Integration sind die Antwort der damals führenden Entscheidungsträger auf eine mindest ebenso drückende Zwangslage nach dem Zweiten Weltkrieg,
wie sie nach dem Ersten Weltkrieg bestanden hat.
Aber welch ein Unterschied im ideologischen Unterbau!? Damals (1918): Autoritäre, kollektivistische, bewusst antidemokratische Staatsvorstellungen in den Nachfolgestaaten der
Achsenmächte als Antwort auf die Katastrophe des Krieges und zögerliche Reaktionen der
Demokratien offenbar vom Zweifel geplagt, ob der Weg der liberalen, pluralistischen Demokratie der Richtige ist.
75
Und jetzt nach 1945 die bedingungslose Abgrenzung gegen das Totalitäre und der Versuch,
künftigen Generationen den Weg aus der Katastrophe heraus in die demokratische Solidarität,
und zwar über die bestehenden Grenzen hinweg, in die Zukunft zu ebnen.
2. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
Am 5. Mai 1950 verkündet der damalige französische Außenminister Robert Schuman im
Uhrensaal des französischen Außenministeriums den nach ihm benannten Plan für die
Zusammenlegung der Gesamtheit der deutsch-französischen Stahlproduktion unter einer
„obersten Aufsichtsbehörde“. Dadurch sollte in aller Zukunft ein Krieg zwischen Deutschland
und Frankreich, von dem, wie man auch damals schon meinte, alles Übel ausgegangen war,
nun nicht nur undenkbar sondern auch „materiell unmöglich“ werden.
Die für die bisherige Geschichte der Internationalen Organisationen sensationelle Neuerung
bestand darin, dass zum ersten Mal bestimmte Staatsaufgaben aus dem Hoheitsbereich
einzelner Staaten gelöst und in die Entscheidungsgewalt einer internationalen Autorität übertragen werden sollten. Dieser enorme Qualitätssprung in der Ideengeschichte der Internationalen Organisationen wird in seiner Bedeutung auch nicht dadurch gemindert, dass es sich bei
den Angelegenheiten der Kohle- und Stahlproduktion (Montanindustrie) um einen vergleichsweise schmalen Ausschnitt aus der breiten Palette staatlicher Aufgaben handelt.
Die mit der Gründung der EGKS verbundenen Ideen und Interessen lassen sich in drei
Gruppierungen zusammenfassen:
2.1. Friedensstiftung
Dem Entwicklungsstand der Technologie der Mitte des vergangenen 20. Jahrhunderts entsprechend, war Rüstungsindustrie gleich Schwerindustrie. Ein Staat, der über autonome Aufrüstungsprogramme verfügen wollte, brauchte dazu unbedingt den unerlässlichen Rückhalt
einer Schwerindustrie. Wenn nun, so der Gedanke der französischen Planer, eben diese
Schwerindustrie der ausschließlichen Verfügungsgewalt einzelner Staaten entzogen und einer
internationalen Autorität unterstellt wird, so verlieren diese Staaten eben die Kapazität autonome Rüstungsprogramme selbstständig durchzuführen, was einen wichtigen Teil der Kriegsgefahr bannen könnte.
Schon nach dem Ersten Weltkrieg hatte man den Versuch gemacht, die deutsche Ruhrindustrie aus der exklusiven Verfügungsgewalt des Deutschen Reiches herauszulösen. Das
war damals ein Alleingang der französischen und der belgischen Regierung, welchen es vor76
geblich darum gegangen war, die Reparationszahlungen des Deutschen Reiches zu erzwingen
bzw. sicherzustellen. So war es 1923 bis 1925 zur so genannten „Ruhrbesetzung“ durch französische und belgische Truppen gekommen, die nach Meinung vieler Analytikerinnen und
Analytiker ein wichtiger Bestimmungsfaktor für die Formierung nationalen deutschen Widerstandes gegen die Nachkriegspolitik der Alliierten (Diktat von Versailles) geworden ist.
Diesen Fehler wollte man nach dem Zweiten Weltkrieg vermeiden, obgleich man dasselbe
Problembewusstsein hatte. So kam es 1949 zu einem Abkommen zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Staaten über die Errichtung der Internationalen RuhrBehörde. Sie hatte die Aufgabe, die internationale Kohle-, Koks- und Stahlproduktion sowohl
auf den deutschen, wie auch auf den internationalen Märkten gleichmäßig zu verteilen und
übermäßige wirtschaftliche Konzentrationen zu verhüten. Diese Ruhr-Behörde war dann das
Vorbild für die Errichtung der Hohen Behörde der EGKS, von der noch zu sprechen sein
wird.
2.2. Gemeinsamer Montanmarkt
Der eigentliche Planer hinter dem Schuman-Plan war Jean Monnet, der seit 1944, also der
Befreiung Frankreichs, für die Wirtschaftsplanung seines Landes verantwortlich war. Aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Daten wurde sehr bald klar, dass der französische
Markt für die mit großen Zuwächsen auszustattende französische Stahlindustrie innerhalb
kürzester Zeit zu klein werden würde. Daneben war von Anfang an klar, dass eine wiederaufgebaute deutsche Montanindustrie wegen ihrer günstigeren Produktionsbedingungen (Kohlebergbau) innerhalb kurzer Zeit eine schwere Konkurrenz für die französische Industrie darstellen werde. Innerhalb dieses gemeinsamen Marktes für die Montanindustrie ohne Zölle und
ähnlichen Beschränkungen sollte es eben Aufgabe der „Hohen Behörde“ sein, für gleichmäßige Wettbewerbsbedingungen und damit für einen gewissen Ausgleich zwischen den
einzelnen Produzenten zu sorgen. Frankreich würde solcherart zum Beispiel der Zugang zur
deutschen Ruhr-Kohle erleichtert werden. Es kam hinzu, dass die Schwerindustrie nicht nur
Grundlage für die Rüstungsindustrie, sondern für alle Arten wirtschaftlicher Tätigkeiten war,
so klarerweise für die anspringende Autoproduktion aber auch für die Bautätigkeit, die im
Zuge des Wiederaufbaus nach den Kriegsschäden von zentraler Bedeutung für alle Wirtschaftssysteme war. Es finden sich daher in den ersten Bestimmungen des EGKSV hauptsächlich Vorschriften über die Sicherstellung der Versorgung mit Produkten der Montanindustrie (Art. 2 bis 4).
77
2.3. Funktionaler Zwang
Die zentrale Bedeutung der Stahlindustrie für die Wirtschaftssysteme der damaligen Zeit war
auch der Ausgangspunkt für die Überlegung, dass für eine Vereinheitlichung des MontanMarktes in der Zeitdimension ein gewisser Zwang auf die Erweiterung des Einsatzbereiches
der Europäischen Integration auch in andere staatliche Aktivitäten ausgeübt werden könnte.
Schon damals hatte man gedacht, dass daraus vielleicht auch einmal der Ansatz zur politischen Einigung erwachsen könnte.
Dank der präzisen Vorbereitung des Schuman-Plans insbesondere durch Jean Monnet und
sein Team ging die Gründung der EGKS relativ schnell über die Bühne. Bereits am 18. April
1951 wurde der Vertrag unterzeichnet und trat kaum mehr als ein Jahr später, am 23. Juli
1952, in Kraft. Die ursprünglichen Mitglieder waren Belgien, Deutschland, Frankreich,
Italien, Luxemburg und die Niederlande. Die Sechsergemeinschaft war entstanden. Der Vertrag war auf 50 Jahre limitiert und ist gemäß Art. 97 mit Wirkung vom 23. Juli 2002, wie vorgesehen, ausgelaufen.
3. Der Status Europas als Hintergrund
In der Regel sind Ideologien und die gesellschaftlichen Prozesse zu ihrer Umsetzung Antwort
und Reaktion auf konkrete gesellschaftliche Zustände zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Es ist
die Konzeption neuer Entwicklungen, die Verbindung zwischen Gestern und Heute herstellt.
So werden Ideologien in der Regel besser verständlich, wenn man sich jenen gesellschaftlichen Entwicklungen und Zuständen zuwendet, von denen sie wegführen sollen.
In diesem Sinne muss man sich kurz die Situation Europas zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts vergegenwärtigen, um die besondere Bedeutung der ersten Ansätze der europäischen
Einigung in Westeuropa besser verstehen zu können. Das Europa der damaligen Zeit war ein
Staatenkonglomerat ruinierter Wirtschafts- und Finanzsysteme. Nicht nur in den so genannten
Verliererstaaten, sondern auch in den Staaten der Siegermächte gab es ernste Versorgungskrisen, was den täglichen Bedarf der Menschen anlangte. Sechs Jahre eines verheerenden
Krieges haben allenthalben dazu geführt, dass die Gesellschaftssysteme auf diesen ausgerichtet waren und mit ihnen auch die gesamte Wirtschaft. Schwierig und gefährlich war auch die
durch die sechs Jahre Krieg in den einzelnen Gesellschaften eingetretenen dramatischen Verformungen, wobei, wie bereits oben angedeutet, in vielen Staaten keine demokratische Tradi78
tion als Rückzug in eine frühere Geborgenheit zur Verfügung stand. So hat es von den Nachfolgestaaten der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie nur die Tschechoslowakei
geschafft, bis zum Jahre 1938 ein funktionierendes pluralistisch-demokratisches System am
Leben zu erhalten. Überall anders kam es entweder gar nicht erst zu demokratischen Regimen
oder sie wurden nach kurzer Zeit – wie etwa in Österreich – von autoritären, um nicht zu
sagen faschistischen Regimen abgelöst. Aber selbst in den traditionsreicheren Demokratien
gab es große Verwerfungen durch das Aufkommen von politischen Bewegungen, die mit den
faschistischen Regimen durchaus sympathisiert haben.
Das Faszinierende an der so genannten „Nachkriegspolitik“ besteht aus meiner Sicht und
nicht zuletzt auch aus der Sicht des Themas dieser Tagung darin, dass man erkannt hat, dass
die Lösung der vielfältigen immer wieder auftretenden und zwar unvermeidlicherweise immer
wieder auftretenden gesellschaftlichen Problemstellungen nur in den Bahnen pluralistischliberaler Demokratie gelöst werden können. In diesem Sinne ist die Gründung des Europarates vom 5. Mai 1949 (eine internationale Organisation) und damit die Schaffung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1950/1953) nicht
laut genug zu berühmen. Damit sollte dem Gedanken der pluralistischen-freiheitlichen,
rechtsstaatlichen Demokratie mit der Gewährleistung der Grund- und Freiheitsrechte des
Einzelnen gegenüber dem Staat gleichsam eine internationale Verankerung und zusätzliche
Sicherung in Form einer internationalen Organisation (Europarat) verliehen werden. Totalitären Ideologien, nicht nur dem Faschismus, sondern auch dem Kommunismus, sollte auf diese
Weise eine Absage erteilt werden.
Wenn wir oben vom ökonomischen Tief der europäischen Staaten nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges gesprochen haben, so sollte bedacht werden, dass jener Staat, der am
meisten – sofern man hier quantitative Vergleiche überhaupt für sinnvoll hält – unter dem
Zweiten Weltkrieg zu leiden hatte, mit Sicherheit die Sowjetunion war. Sie bietet solcherart
den negativen Endpunkt eines Kontinuums von Zerstörungen und Menschenopfer der Staaten
des Zweiten Weltkrieges, an dessem Ende auf der anderen Seite die USA stehen, die zwar
auch 300.000 Soldaten verloren hatten, aber keine Verluste unter der Zivilbevölkerung und
vor allem keine Schädigung der ökonomischen Infrastruktur in ihrem vom Kriegsgeschehen
verschont gebliebenen Territorium zu beklagen hatten. Die USA waren am Ende des Zweiten
Weltkrieges die ökonomische Weltmacht.
Die enormen Schäden, die vom Deutschen Reich der Sowjetunion nicht zuletzt durch die
Strategie der verbrannten Erde zugefügt wurden, führten dazu, dass kaum ein anderer Staat
79
einen derartigen Bedarf an Investitionsgütern zum Wiederaufbau hatte, als eben die Sowjetunion. Es ging aber nicht nur um die ökonomischen Folgen des Zweiten Weltkrieges, sondern
auch darum, dass die sowjetischen Sicherheitsplaner einen strategischen Sicherheitsgürtel
befreundeter Staaten um ihre Westgrenze verlangten. Solcherart sollte ein Überfall, wie er
vom Deutschen Reich am 22. Juni 1941 auf die damals ja verbündete Sowjetunion begangen
wurde, verhindert werden. Die in den europäischen Staaten agierenden kommunistischen
Parteien verstanden sich als Alliierte der sowjetischen Nachkriegspolitik und wurden solcherart immer weniger als Exponenten des linken Flügels des demokratischen Spektrums als
vielmehr als zunehmende Gefährdung der demokratischen Systeme an sich empfunden.
Der sehr bald ausbrechende „Kalte Krieg“ hatte zwei Wurzeln. Zum einen ging es um die
territorialen Fragen, insbesondere die polnische Westgrenze, die auf traditionell deutschem
Gebiet gezogen wurde, sowie das Auseinanderdriften der westlichen Besatzungszonen einerseits und der sowjetischen Besatzungszone andererseits in Deutschland, aber eben auch um
Fragen der Neuordnung Europas, wobei auch die immer wieder wiederholte Forderung der
Sowjetunion nach entsprechendem Anteil an Reparationen für Konflikte sorgte.
Am 5. Juni 1947 hatte der damalige amerikanische Außenminister Marshall in einer denkwürdigen Rede vor der Harvard-Universität den so genannten „Marshall-Plan“ vorgestellt, der
eine substanzielle Subventionierung des Wiederaufbaus der Wirtschaftssysteme der europäischen Staaten vorsah. Allerdings ging es nach der amerikanischen Konzeption hier um ein
Wiederaufbauprogramm. Das war der Grund dafür, dass die Forderungen der osteuropäischen
– zum damaligen Zeitpunkt noch nicht kommunistischen – Staaten sowie die Sowjetunion
von diesem Programm ausgenommen waren, weil sie die Finanzmittel nicht zum Wiederaufbau, sondern für die Industrialisierung ihrer traditionellen Agrarsysteme verwenden
wollten. Nach meiner Einschätzung war es diese Entscheidung der USA, ihre Wirtschaftshilfe
nicht auch für Strukturveränderungen zu leisten, als der letzte Auslöser für jene Entwicklungen, die die Teilung Europas einleiteten. Im September 1947 fand eine „Informationskonferenz“ der Vertreter der kommunistischen Parteien und der Staaten unter sowjetischen
Einfluss statt, in deren Schlussdokument zum ersten Mal die Teilung Europas in zwei Lager
deutlich angesprochen wird. Einem „imperialistischen, antidemokratischen Lager, dessen
Hauptziel darin besteht, die Weltvormachtstellung des amerikanischen Imperialismus zu
erreichen“, steht ein „demokratisches Lager gegenüber, dessen Hauptziel es ist, den Imperialismus zu überwinden.“ (Europa Archiv 1947, S. 935)
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Im Februar 1948 kommt es in der Tschechoslowakei zu einem kommunistischen Staatsstreich, am 25. Juni 1950 bricht der Korea-Krieg aus. Am 20. Juni 1948 tritt in den westlichen
Besatzungszonen Deutschlands die Währungsreform mit der Einführung der DM in Kraft, am
24. Juni 1948 beginnt die berühmte Berliner Blockade, die bis zum 12. Mai 1949 dauern
sollte. Am 24. Mai 1949 tritt das Bonner Grundgesetz in Kraft, wodurch die Bundesrepublik
Deutschland aus der Zusammenfassung der drei westlichen Besatzungszonen entstanden ist
und naturgemäß die Teilung Deutschlands zunächst fixiert wurde. Schon vorher, am 4. April
1949, wurde das westliche Militärsystem NATO gegründet. Nicht nur Europa, sondern man
kann sagen der Globus, wird in zwei miteinander rivalisierende Herrschaftssysteme, unter der
Führung der USA auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite, geteilt.
Damit ist klar, dass die europäische Einigungsbewegung auch als Manifestation der Zuwendung zum pluralistisch-demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaftssystem konzipiert
werden musste. In der Präambel zum Gründungsvertrag für den Europarat (5. Mai 1949) heißt
es daher: siehe Folie 1
4. Europismus
Der Gedanke, die europäischen Staaten aus ihren wiederkehrenden Konflikt- und Kriegsphasen durch ihre Zusammenfassung in einen gesamteuropäischen Verbund herauszuführen,
geht deutlich in das 19. Jahrhundert zurück. Victor Hugo hat nach meiner Einschätzung die
Wünsche und Bestrebungen und Erwartungen, die mit einem solchen Schritt verbunden sind,
am Schönsten zusammengefasst:
Victor Hugo: Ein Tag wird kommen
Ein Tag wird kommen, wo die Waffen auch Euch aus den Händen fallen werden! Ein Tag wird kommen, wo ein
Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin ebenso absurd
erscheinen und unmöglich sein wird, wie er heute absurd schiene zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston
und Philadelphia. Ein Tag wird kommen, wo Ihr, Frankreich, Russland, Ihr, Italien, England, Deutschland, all
Ihr Nationen des Kontinents ohne die besonderen Eigenheiten Eurer ruhmreichen Individualität einzubüßen,
Euch eng zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werdet, genau so wie die Normandie, die Bretagne, Lothringen, Elsaß und alle unsere Provinzen sich zu
Frankreich verschmolzen haben. Ein Tag wird kommen, wo es keine anderen Schlachtfelder mehr geben wird als
die Märkte, die sich dem Handel öffnen, und die Geister, die für die Ideen geöffnet sind. Ein Tag wird kommen,
wo die Kugeln und Granaten von dem Stimmrecht ersetzt werden, von der allgemeinen Abstimmung der Völker,
von dem ehrwürdigen Schiedsgericht eines großen souveränen Senats, der für Europa das sein wird, was das
Parlament für England, was die Nationalversammlung für Deutschland, was die Gesetzgebende Versammlung
81
für Frankreich ist. Ein Tag wird kommen, wo man in den Museen eine Kanone zeigen wird, wie man heute dort
ein Folterwerkzeug zeigt, voll Staunen, dass es so etwas gegeben hat. Ein Tag wird kommen, wo man sehen
wird, wie die beiden ungeheuren Ländergruppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten
Staaten von Europa, Angesicht in Angesicht sich gegenüberstehen, über die Meere sich die Hand reichen, ihre
Produkte, ihren Handel, ihre Industrien, ihre Künste, ihre Genien austauschen, den Erdball urbar machen, die
Einöden kolonisieren, die Schöpfung unter den Augen des Schöpfers verbessern, um aus dem Zusammenwirken
der beiden unendlichen Kräfte, der Brüderlichkeit der Menschen und Allmacht Gottes, für alle das größte Wohlergehen zu ziehen!
Um diesen Tag herbeizuführen, wird es keiner vierhundert Jahre bedürfen, denn wir leben in einer schnellen
Zeit, wir leben in dem heftigsten Strom der Ereignisse, der je die Völker hingerissen hat, und in unserer Epoche
tut ein Jahr oft das Werk eines Jahrhunderts.
Franzosen, Engländer, Belgier, Deutsche, Russen, Slawen, Amerikaner, was haben wir zu tun, um möglichst
bald diesen großen Tag zu erreichen? Uns zu lieben!
Franz. Original in Jacob Ter Meulen (Literaturliste Bd. 2, Erstes Stück, S. 318)
Diese und viele andere ähnliche Gedanken fanden aber in der Neuordnung Europas nach dem
Ersten Weltkrieg keinen Widerhall, im Gegenteil. Das Friedenssystem der so genannten
„Pariser-Vororte-Verträge“ festigte die klassische Vorstellung von Europa als einem System
autonomer Einzelstaaten.
Im Kielwasser dieser Entwicklung entstand gleichsam als Kontrapunkt die so genannte „PanEuropa-Bewegung“. Richard Coudenhove-Kalergi hat mit seinem Buch „Pan-Europa“ gleichsam die ideologische Grundlage dafür geschaffen. Er geht von zwei Prämissen aus: Die eine
ist die ständige Bedrohung durch Russland, wobei er keinen Unterschied zwischen dem so
genannten „weißen“ und der sich damals erst festigenden Sowjetunion machte. Ganz gleich,
welches Regime in Russland an der Macht, Russland sei für Europa die Bedrohung schlechthin. Für ihn sind die Russen von niedriger Zivilisation, von einem unbändigen Expansionsdrang, wobei sie den Vorteil eines relativ geschlossenen Staatsgebietes für sich hätten. Europa
wäre im Verhältnis zu Russland geschwächt, da es in so viele autonome Einheiten zerfällt. Im
Westen sah er Europa vom Wirtschaftsimperialismus der USA bedroht. Er weist darauf hin,
dass die USA in einem mühsamen, aber letzten Endes erfolgreichen Einigungsprozess zu
einem geschlossenen politischen und ökonomischen System zusammengeschweißt wurden
und nunmehr damit befasst seien, den südamerikanischen Kontinent zu einem gesamten panamerikanischen System zusammenzufassen.
82
Europa sei aufgrund seiner kulturellen Tradition immer noch beiden Systemen überlegen,
wobei er darauf hinweist, dass das amerikanische System im Grund genommen europäischen
Charakter habe. Um es kurz zu machen:
Die einzige und plausible Lösung aus dem Dilemma der europäischen Staaten zwischen
diesen beiden großen Machtsystemen sei eben ihre Vereinigung zu einem europäischen Staat.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat dieses Gedankengut eine deutliche Renaissance erlebt, was
wohl mit den entsetzlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang steht.
Wenn wir also die Faktoren, die zu den ersten Anfängen der europäischen Einigung in Form
der EGKS geführt haben, neu gruppieren und zusammenfassen, so können wir gleichsam als
Zwischenergebnis festhalten: Friedensstiftung, Versorgungssicherung und pluralistischdemokratischer, rechtsstaatlicher Europismus.
5. Grundcharakteristik
Der sachliche Geltungsbereich des Vertrages zur EGKS erweist sich bald als zu eng, um die
immer vielfältiger werdenden Regelungsbedürfnisse auf Gemeinschaftsebene befriedigen zu
können. Interessanterweise entscheidet man sich nicht für eine schlichte Änderung des
EGKSV in der Kürzung, sondern es werden 1947 zwei zusätzliche Gemeinschaften, nämlich
die E(W)G und die Europäische Atomgemeinschaft gegründet. Ihre Gründungsverträge treten
1958 in Kraft. Trotz aller Unterschiede wird bei den beiden neuen Organisationen dasselbe
Muster wie schon bei der EGKS, nämlich eine supranationale Struktur, geschaffen. Im Kern
steht das Modell einer Zollunion, das heißt, der Beseitigung der Zölle im Inneren bei gleichzeitiger Errichtung eines gemeinsamen Außenzolles.
Als Organe werden der (Minister-)Rat, die Kommission (bei der EGKS „Hohe Behörde“), das
Parlament und der Europäische Gerichtshof eingesetzt. Durch zwei Fusionsverträge werden
diese Organe, die ursprünglich getrennt für jede der Organisationen eingesetzt worden sind,
zusammengefasst und sind nunmehr für alle drei Organisationen, wenn auch mit deutlicher
Abgrenzung ihrer jeweiligen Rollen, tätig.
Entscheidend ist der so genannte supranationale Charakter, der auf der Ebene der Gemeinschaften geschaffenen Rechtsordnung. Mit dieser Bezeichnung beschreibt man den Umstand,
dass die von den Gemeinschaftsorganen geschaffenen Rechtsnormen in den Rechtsordnungen
der Mitgliedstaaten unmittelbar die Bürgerinnen und Bürger berechtigen und verpflichten,
ohne dass, von den Richtlinien ausgenommen, die einzelstaatlichen Gesetzgeber dazwischen
treten können. Wir sprechen davon, dass das Recht der Gemeinschaften den Souveräni83
tätspanzer der Mitgliedstaaten durchbricht. Zwar sprechen wir immer noch von einer so
genannten „Teilintegration“, dennoch ist unverkennbar, dass weite Teile des seinerzeit
klassischen staatlichen Regelungsbereiches mittlerweile auf der Gemeinschaftsebene geregelt
werden, was zu einem deutlichen Abfluss staatlicher Rechtssetzungsautonomie in Richtung
Gemeinschaft geführt hat.
Das Binnenmarktkonzept hat die wirtschaftliche und sicherheitspolizeiliche Wirkung der
Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten aufgehoben und durch den Wegfall der klassischen
Grenzkontrollen auch das äußere Erscheinungsbild der europäischen Union für die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger dramatisch verändert. Die nunmehr auch durch eine gemeinsame Währung verwirklichte Wirtschafts- und Währungsunion hat, wenn auch noch nicht von
allen Mitgliedstaaten mitgetragen, das Antlitz der Union seit dem 1. Jänner 2002 geradezu
dramatisch verändert.
Die so genannten vier Freiheiten
-
Freiheit des Warenverkehrs,
-
Arbeitnehmerfreizügigkeit,
-
Niederlassungsfreiheit,
-
Dienstleistungsfreiheit und Freiheit des Kapitalverkehrs
nähern die Struktur der Europäischen Union dem geschlossenen Wirtschaftsraum eines
Staates spürbar an, lassen aber die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten in ihrem Kern immer
noch unberührt. Besonders drastisch erscheint die Herauslösung der landwirtschaftlichen
Systeme aus dem einzelstaatlichen Verbund in Form der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik, was, wie den Medien zu entnehmen, nicht zuletzt große Probleme auf der Ebene der
Erweiterung der Gemeinschaften mit sich zieht.
Ideologisch ist die Europäische Gemeinschaft und damit die gesamte Europäische Union
grundsätzlich kapitalistisch-marktwirtschaftlich ausgerichtet, was sich unter den Zielsetzungen der Gemeinschaft in Artikel 4 (EGV) als „Einführung einer Wirtschaftspolitik, die (...)
dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist“ findet.
Vergleicht man Wirtschafts- und Sozialbereich nach Regelungsintensität, so wird man feststellen, dass bis jetzt jedenfalls der Wirtschafts- und Währungsunion deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde, als der immer wieder geforderten Sozialunion, auch wenn gewisse
Ansätze nicht zu übersehen sind.
Dies wird besonders deutlich in der Festschreibung der Ziele und Aufgaben der gemeinschaftlichen Währungspolitik in Form des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZP).
84
In Artikel 105 EGV heißt es: „Das vorrangige Ziel des ESZP ist es, die Preisstabilität zu
gewährleisten. Soweit dies ohne die Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich
ist, unterstützt das ESZP die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaften beizutragen.“ Zu diesen
der „Preisstabilität“ nachzuordnenden sozialen Ziele der Gemeinschaft, werden in Artikel 2
unter anderem „hohes Beschäftigungsmaß“ und ein hohes Maß an sozialem Schutz (...) aufgezählt.
6. Wie weit reicht Europa?
Bis zum Oktober 1989 waren der Erweiterung der Europäischen Union (damals der drei
Gemeinschaften) im Eisernen Vorhang eine deutliche Grenze gezogen. Die wirtschaftlichen
Integrationsbedürfnisse der marktwirtschaftlich-demokratisch orientierten demokratischen
Staaten wurden entweder in den europäischen Gemeinschaften oder in der 1960 gegründeten
Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) befriedigt. Das führte dazu, dass die mit Dänemark, Irland und mit Großbritannien 1973 begonnene und 1981 mit Griechenland und 1986
mit Spanien und Portugal fortgesetzte Erweiterung, die vorerst mit dem Beitritt Finnlands,
Schwedens und Österreichs 1995 ihren Abschluss gefunden hat, zu Lasten der Mitgliederzahl
der EFTA erfolgt ist.
Mit dem Zusammenbruch der staatskommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa im
Gefolge der Auflösung der Sowjetunion stellte sich erstmals die Frage, wie weit eigentlich
Europa nach Osten reicht. Denn gemäß Artikel 49 EUV steht die Mitgliedschaft bei der Europäischen Union nur europäischen Staaten frei. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, die
Argumentation der Kommission zu studieren, mit welcher Malta als europäischer Staat und
somit als Kandidat für die Erweiterung zugelassen wird. Ohne an dieser Stelle auf Details
eingehen zu können, bleibt festzuhalten, dass die Definition des Begriffes und des Phänomens
Europa nicht nur kulturell und geographisch, sondern durchaus auch rechtlich problematisch
erscheint. Man bedenke, dass mit der Assoziierung der Türkei (1964), welche deutlich als
Vorstufe für die Mitgliedschaft konzipiert wurde, die Grenze weit in den kleinasiatischen
Raum verschoben worden ist. Sollte die Türkei dereinst Mitglied der Europäischen Union
werden, so wird sie an Aserbaidschan, den Iran und Syrien grenzen, was die räumlichen Proportionen der Union – gemessen an der Ausgangsposition der „Sechsergemeinschaft“ –
deutlich verschieben wird.
85
Alles in allem lässt die Praxis der Europäischen Kommission, der ja die Beitrittsgesuche zur
Erstbeurteilung vom Rat überwiesen werden, erkennen, dass die Gemeinschaft davon ausgeht,
dass der Begriff Europa die nördlichen Gestade des Mittelmeeres und seine Inseln, nicht aber
dessen östliche und südliche Anrainerstaaten erfasst. Man könnte also von einem „pragmatischen Europabegriff“ sprechen. 1987 wurde Marokko ohne weitere Begründung die Behandlung seines Aufnahmegesuches „aus juristischen Gründen“ verweigert. Im Falle Zyperns hat
man sich ähnlich wie im Falle Maltas große Mühe gegeben und die europäische Identität der
Insel durch ihre geographische Lage, aber auch durch die „tiefen, zweitausendjährigen
Bindungen dieses fruchtbaren Kulturbodens an Europa“ begründet.
Die ungebrochene Dynamik des Erweiterungsprozesses lässt zum einen erkennen, dass
Europa seit dem Ende der staatskommunistischen Regime zum wichtigsten Kristallisationspunkt der Neuordnung der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse in und um und
mit den ehemaligen Mitgliedern des RGW, COMECON und des Warschauer Paktes geworden ist. Insgesamt werden derzeit mit nicht weniger als 10 dieser Staaten und zusätzlich mit
Malta und Zypern Beitrittsverhandlungen, wenn auch mit unterschiedlicher Erfolgsaussicht,
geführt. Zum andern kann man diesem Prozess auch die Tendenz der Organe der Union
ableiten, dass man keinen Gegensatz zwischen den Tendenzen zur Erhöhung der Integrationsdichte und der Erweiterung der Union sieht.
Aufgrund meiner Erfahrungen als Analytiker dieser Prozesse bin ich mir aber nicht sicher,
dass es den seinerzeit in der englischen Formel zusammengefassten Spannungsbogen
zwischen „Widening“ und „Deepning“ nicht doch gibt. Die Organisationsstrukturen der
Union sind die der alten Sechsergemeinschaft. Die Erweiterungsprozesse haben nicht zu
substanziellen Änderungen der Entscheidungsstrukturen geführt, sondern es wurde so recht
und schlecht es eben ging, die entsprechende zahlenmäßige Adaption der bestehenden Strukturen vorgenommen. Zu grundsätzlichen Reformen hat es nie gereicht.
7. Gemeinschaftliche Demokratie jetzt und in der Erweiterungsperspektive
Wie nun schon mehrfach dargelegt, ist die Europäische Union den Grundsätzen der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte verpflichtet. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden. Zum einen bemühten sich die Autorinnen und Autoren der Gründungsverträge in
ihren diversen Ausformungen, den Willensbildungsprozess innerhalb der Gemeinschaften –
so gut das eben im Rahmen einer auf Völkerrecht aufgebauten internationalen Organisation
geht – nach den Grundsätzen demokratischer Legitimität zu organisieren. Das Grundmuster
86
geht davon aus, dass jedenfalls für den Bereich der EG die Hauptkompetenz zur Rechtssetzung beim Rat der Europäischen Union liegt. Im Rat der Europäischen Union sind die Mitgliedstaaten mit Regierungsmitgliedern vertreten, wobei ihre demokratische Legitimation aus
den einzelstaatlichen Verfassungen der Mitgliedstaaten abgeleitet wird. Das heißt, die
Staatenvertreter im Rat sind ihren eigenen Parlamenten nach den Grundsätzen ihrer eigenen
Verfassungen verantwortlich. Sie haben allerdings keine demokratische Legitimierung auf der
Ebene der gemeinschaftlichen Demokratie. Dies ist aber, solange die Grundstrukturen internationaler Organisationen auf der Basis völkerrechtlicher Verträge beibehalten werden, nicht
anders möglich. Erst wenn die Union vom Staatenbund in einen Bundesstaat kippt, besteht die
Möglichkeit, die Legitimation der zentralen Entscheidungsträger zur Gänze auf die Gemeinschaftsebene zu transferieren.
Die Abgeordneten zum Europäischen Parlament werden seit 1979 alle fünf Jahre von den EUBürgerinnen und EU-Bürgern unmittelbar gewählt, allerdings auf der Basis einzelstaatlicher
Wahlverfahren. Es gibt noch kein gemeinschaftliches Wahlverfahren, welches in allen Mitgliedstaaten gilt. Die Zahl der Abgeordneten wird nach einem ausgehandelten Verteilungsschlüssel auf die einzelnen Mitgliedstaaten aufgeteilt. Entscheidend ist aber, dass das Europäische Parlament zwar punktuell die Möglichkeit hat, das Zustandekommen von Rechtsakten
oder beispielsweise auch die Erweiterung der Gemeinschaften um neue Mitglieder zu verhindern, selber aber keine Kompetenz hat, selbstständig – den parlamentarischen Einrichtungen
der Mitgliedsstaaten vergleichbar – Rechtsakte zu initiieren und zu beschließen.
Immerhin ist die Kommission dem Parlament, wenn auch nur als Gesamtkollegium, politisch
verantwortlich und bedarf auch eines Vertrauensbeschlusses des Europäischen Parlamentes
bei ihrer Bestellung.
Die mit unserer Vorstellung von Demokratie untrennbare Rechtsstaatlichkeit wird einerseits
durch das Prinzip der „begrenzten Einzelermächtigung“ für Organhandeln und andererseits
durch die weitgesteckten Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes gewährleistet. Dieser
war es auch, der in ständiger Judikatur den Schutz der individuellen Grund- und Freiheitsrechte als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung etabliert hatte.
Mit dem Vertrag von Maastricht (1992/1993) ist die pluralistische, rechtsstaatliche Demokratie als tragendes Prinzip der Union in Artikel 6 festgeschrieben. Ebenso wurde die Judikatur
des Europäischen Gerichtshofes in Bezug auf individuelle Grund- und Freiheitsrechte in
Absatz 2 gleichsam kodifiziert.
87
Eine dramatische Neuerung brachte diesbezüglich der Vertrag von Amsterdam in Artikel 7
EUV, womit die Zweite der eben genannten Ebenen, nämlich die innerstaatliche, anzusprechen ist. Artikel 6 hat, was die 15 derzeitigen Mitgliedstaaten anlangt, eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen. Er war auch deutlich konzipiert als Barriere für Beitrittswerber
(die diesem Prinzip ja nicht in ausreichendem Maße zu genügen in der Lage sein mögen,
wobei man insgeheim immer an die Türkei gedacht hatte). Mit Artikel 7, dem so genannten
„Sanktionensystem“, soll aber auch eine Gebotsrichtung in die politischen Systeme der
Mitgliedstaaten eröffnet werden. Artikel 7 sieht nämlich vor, dass für den Fall, dass ein
Mitgliedstaat das Demokratiegebot des Artikel 6 Abs. 1 schwer wiegend und anhaltend verletzt, auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Kommission und nach
Zustimmung des Europäischen Parlaments vom Rat Sanktionen erlassen werden können.
Diese können in der Aussetzung bestimmter Mitgliedsrechte, wie Stimmrechte etc. münden.
Bekanntlich war Österreich nach der Amtseinführung der Bundesregierung am 5. Februar
2000 das erste „Opfer“ diese Sanktionsbestimmung, wobei man damals geflissentlich vermieden hat, sich wirklich im Detail an das dort vorgesehene Verfahren zu halten, weil nämlich
sonst Österreich die Möglichkeit gehabt hätte, vor den Europäischen Gerichtshof zu gehen.
Das heißt, das Sanktionsvorgehen gegen Österreich war erstens inhaltlich, aber vor allem
auch verfahrensrechtlich nicht mit dem Artikel 7 in Zusammenhalt mit Artikel 6 wirklich in
Einklang zu bringen. Wie dünn das Eis ist, auf welches sich die Union mit dieser Bestimmung
begeben hat, kann den Diskussionen über die neue italienische Regierung unter Silvio
Berlusconi entnommen werden.
Das Anliegen des Vertrages von Amsterdam ist erkennbar und grundsätzlich zu begrüßen.
Geht es doch auch darum, dass nicht nur die Institutionen der Union und ihrer Gemeinschaften, sondern eben auch die Mitgliedstaaten demokratische Strukturen brauchen, um nicht
wechselseitig die Prinzipien pluralistisch, rechtsstaatlicher Demokratie, sei es vom Mitgliedstaat in der Union oder von der Union in den Mitgliedstaaten, in Frage zu stellen. Der Vertrag
von Nizza erschwert zwar eine außerrechtliche Vorgangsweise wie jene gegen Österreich,
bringt aber keine grundsätzlichen Verbesserungen.
Ein anderer Aspekt des Demokratieproblems ergibt sich aus den Erweiterungsabsichten. Wie
bereits gesagt, sind die formalen Strukturen im Grunde genommen immer noch die der alten
Sechsergemeinschaft. Sie wurden an die gestiegene Zahl der Mitglieder angepasst, aber keiner
prinzipiellen Reform unterzogen.
88
Es geht um die Verteilung der auf die einzelnen Mitgliedstaaten (im Folgenden MS) entfallenden Abgeordnetensitze, die Stimmgewichtung im Rat und die Zusammensetzung der
Kommission.
Am einfachsten scheinen sich die Probleme noch auf der Ebene des Parlamentes zu lösen. Es
hat gegenwärtig insgesamt 626 Abgeordnete. Sie verteilen sich auf die MS wie folgt: Folie 7
Die organisatorischen Probleme im Zuge der Erweiterung sollten durch die Einführung einer
Obergrenze von 700 Abgeordneten und die entsprechende Umverteilung nach unten erreicht
werden. Das ist nicht ganz, aber einigermaßen gelungen. Im Vertrag von Nizza hat man sich
auf die folgende Verteilung der Sitze auf die Mitgliedstaaten geeinigt: Folie 9. 32 Abgeordnete mussten dazukommen, um Deutschland seine angestammte Zahl von Abgeordneten zu
sicheren.
Hinsichtlich der Kommission wurde der Kompromiss erzielt, dass bis zu einer Höchstzahl
von 27 Mitgliedstaaten jeder Staat einen Staatsangehörigen in der Kommission haben soll.
Steigt die Zahl der MS darüber hinaus, fällt die Zahl der Kommissionsmitglieder hinter der
Zahl der MS zurück und es wird ein Rotationsverfahren eingeführt, welches der Rat entwickeln wird.
Die neue Zahl der Kommissionsmitglieder legt der Rat einstimmig fest. Bereits im Protokoll
Nr.7 zum Vertrag von Amsterdam wurde festgelegt, dass ab der nächsten Erweiterungsrunde
der Kommission nur mehr ein Staatsangehöriger pro MS angehören soll, wenn eine befriedigende Regelung für die Stimmenwägung erzielt worden ist.
Die Stimmenwägung im Rat sieht derzeit folgende Stimmverteilung vor: Folie 6
Das ergibt eine Gesamtstimmenzahl von 87, wovon 62 Stimmen für eine Entscheidung notwendig sind.
Nach den Plänen des Vertrages von Nizza sieht die Verteilung folgendermaßen aus: Folie 10.
Das ergibt eine Gesamtsumme von 237 Stimmen. Für einen Beschluss sind 169 Stimmen
notwendig.
Alles in allem ist erkennbar, dass die durchaus überproportionale Berücksichtigung der
kleineren Staaten zurückgenommen werden wird. Dabei ist es wichtig darauf hinzuweisen,
dass es keinen verbindlichen Algorithmus für die diversen Stimmverteilungen und Stimmgewichtungen gibt. Es handelt sich um Verhandlungsergebnisse.
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8. VSE – Europa die 3. Weltmacht?
Der EuGH und zuletzt auch Außenministerin Ferrero-Waldner sprechen von einer Organisation sui generis. Daran ist richtig, dass die EU und ihre Gemeinschaften in der Geschichte der
IO ein singuläres Phänomen sind. Es hat mit Sicherheit noch keine IO eine derartige Kompetenzfülle gegenüber den MS und mehr noch gegenüber den Bürger/innen in den MS gehabt.
In ihrem Kern ist die Union aber nach wie vor vom Willen der Regierungen der MS abhängig.
Sie hat keine Kompetenz-Kompetenz. Oder wie es an anderer Stelle in der Literatur heißt: Die
Staaten sind die Herren der Verträge.
Und doch verwendet der Zielartikel für die GASP Formulierungen, wie sie nur auf Staaten
passen: Folie 8
Im Art. 1 EUV heißt es verheißungsvoll: „Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der
Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden.“
Illusion? Utopie? Realutopie? Demokratisch legitimierter Handlungsauftrag an unsere Regierungen?
9. Zusammenfassung
Längst hat sich die EU von einer wirtschaftlichen Interessens- und Versorgungsgemeinschaft
zu einem veritablen gesamtgesellschaftlich agierenden überstaatlichen Akteur entwickelt, der
bereits viele – aber noch bei weitem nicht alle – Bereiche staatlicher Daseinsvorsorge erfasst.
All dies kann ohne ideologischen Unterbau nicht vor sich gehen, auch wenn insbesondere
von politischer Seite immer wieder der Eindruck erweckt wird, es handle sich um eine
schlechterdings folgerichtige Entwicklung, zu der es keine sinnvolle Alternative und folglich
auch keine Notwendigkeit zu ideologischen Grundsatzentscheidungen gebe. In den politischen Kanzleien wird damit die Sorge verbunden, dass die Wählerinnen und Wähler in den
Mitgliedstaaten von dem hohen Maß an Vergemeinschaftung ihrer Lebensumstände zurückschrecken könnten.
So wird die eigentliche Gretchenfrage nämlich jene nach der Weiterentwicklung der EU verschämt offen gehalten: Soll sie dereinst die Qualitätsmembran zwischen Staatenbund zum
Bundesstaat durchstoßen, oder soll die gegenwärtige Integrationsdichte unter Beibehaltung
der Kernsouveränität der Mitgliedstaaten im Wesentlichen den Plafond der Europäischen
Integration bilden?
90
Die Grundideologie der EGKS war bereits 1951 von 3 Dimensionen geprägt: Friedensstiftung, Versorgungssicherung und Europismus. Unter Europismus verstehe ich hier die
Europäische Einigung als Alternative zur gewachsenen europäischen Staatenpluralität mit
ihren immer wieder zu massiven Kriegen ausartenden Konflikten etwa im Sinne von
Coudenhove Kalergi's „Paneuropa“. (Europa als dritte Weltmacht zwischen USA und Russland). Diese „Wert-und-Ziel“ Trias war schon damals als bewusster Kontrast zu den staatskommunistischen Regimen um die Rechtsstaatlichkeit und die zur „Sozialen Marktwirtschaft“
mutierte grundsätzlich kapitalistische Ausrichtung erweitert.
Wenn auch mit verschobenen Schwerpunkten, so gilt diese ideologische Basis auch für die
EU heutigen Zuschnitts, wobei die kapitalistische Ausrichtung durch die Festschreibung des
Monetarismus als oberstes Handlungsziel für die EZB verstärkt wurde. Weiters wird heute die
ursprünglich unproblematische (alle sechs Gründerstaaten waren NATO-Mitglieder) transatlantische Komponente durch die Verdichtung der Außenpolitiken der Mitgliedstaaten zur
GASP zunehmend thematisiert.
91
Literaturliste:
Brandstetter, Gerfried: Chronologisches Lexikon der europäischen Integration 1945-1995
(Wien, 1996)
Coudenhove-Kalergi: Paneuropa 1922-1966 (Wien, 1966)
Dorner, Klaus/Meyer-Thamer, Gisela/Paape, Björn W./Verny, Arsene: Aspekte der
europäischen Integration (Wiesbaden, 1998)
Fischer, Peter/Köck, Heribert: Europarecht, 3. Auflage (Wien, 1995)
Hrbek, Rudolf: Die Reform der Europäischen Union (Baden-Baden, 1997)
Kirchhof, Paul/Schäfer, Hermann/Tietmeyer, Hans: Europa als politische Idee und als
rechtliche Form, 2. Auflage (Berlin, 1994)
Loth, Wilfried: Der Weg nach Europa, 3. Auflage (Göttingen, 1996)
Mickel, Wolfgang W.: Handlexikon der Europäischen Union, 2. Auflage (Köln, 1998)
Neisser, Heinrich/Verschraegen, Bea: Die Europäische Union – Anspruch und Wirklichkeit
(Wien, 2001)
Rotter, Manfred: Europäische Konzeptionen auf dem Weg zur Europäischen Union, in
Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 5 (Wien, 2000)
Rotter, Manfred: Analyse der „Sanktionen“ der 14, in Europäische Rundschau Nr. 3/2000,
S. 21
Streinz, Rudolf: Europarecht, 5. Auflage (Heidelberg, 2001)
Ter Meulen, Jacob: Der Gedanke der internationalen Organisation in seiner Entwicklung,
2. Band (Den Haag, 1929)
Weidenfeld, Werner/Wessel, Wolfgang: Europa von A-Z, 6.Auflage (Bonn, 1997)
92
FOLIE 1
Satzung des Europarates
(5.5.1949)
Die Regierungen des Königreichs Belgien, des Königreichs Dänemark, der
Französischen Republik, der Republik Irland, der Italienischen Republik, des
Großherzogtums Luxemburg, des Königreichs der Niederlande, des Königreichs
Norwegen, des Königreichs Schweden und des Vereinigten Königreichs von
Großbritannien und Nordirland' haben,
in der Überzeugung, dass die Festigung des Friedens auf den Grundlagen der
Gerechtigkeit und internationalen Zusammenarbeit für die Erhaltung der
menschlichen Gesellschaft und der Zivilisation von lebenswichtigem Interesse
ist;
in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die
das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der
politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen
jede wahre Demokratie beruht; in der Überzeugung, dass zum Schutze und zur
fortschreitenden Verwirklichung dieses Ideals und zur Förderung des sozialen
und wirtschaftlichen Fortschritts zwischen den europäischen Ländern, die von
demselben Geiste beseelt sind, eine engere Verbindung hergestellt werden muss;
in der Erwägung, dass, um diesem Bedürfnis und den offenkundigen
Bestrebungen ihrer Völker Rechnung zu tragen, schon jetzt eine Organisation
errichtet
werden
muss,
in
der
die
europäischen
Staaten
enger
zusammengeschlossen werden,
beschlossen, einen Europarat zu gründen, der aus einem Komitee von Vertretern
der Regierungen und einer Beratenden Versammlung besteht, und zu diesem
Zweck diese Satzung angenommen.
93
FOLIE 2
Europarat
Gründung: 5.5.1949 in London durch
10 Staaten
Ziele: Enger Zusammenschluss zwischen
den MS, um ihr gemeinsames Erbe
zu bewahren und den
wirtschaftlichen und sozialen
Fortschritt zu fördern.
Schutz der Menschenrechte
Mitglieder: 41 Staaten innerhalb und
außerhalb Europas mit zusammen rund 770
Mio. Einwohnern
Bspw. auch Moldawien, Aserbaidschan,
Armenien
94
FOLIE 3
NATO
Gründung: 4.4.1949 in Washington DC
zwischen 12 Staaten Westeuropas und
Nordamerikas als Sicherheitsbündnis
gleichberechtigter Staaten (Ratifizierung
am 24.8.1949)
Ziele: Stärkung der Sicherheit durch
Zusammenarbeit auf politischem,
wirtschaftlichen und militärischem
Gebiet
Mitglieder: Belgien, Dänemark,
Deutschland, Frankreich, Griechenland,
Großbritanien, Island, Italien, Kanada,
Luxemburg, Niederlande Norwegen,
Polen, Portugal, Spanien, Tschechische
Republik, Türkei, Ungarn und die USA
95
FOLIE 4
OSZE
(früher KSZE)
Gründung: 1.8.1975 mit der Schlussakte
der KSZE von Helsinki durch 35
Teilnehmerstaaten
Ziele: Stabilität und Sicherheit in ganz
Europa
Engere Zusammenarbeit in den
Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft,
Kultur und Umweltschutz
Schaffung einer europäischen
„Sicherheitsstruktur für das 21.
Jahrhundert“
Mitglieder: 54 Mitglieder (Jugoslawien ist
seit 8.7.1992 suspendiert!) innerhalb und
außerhalb Europas. Auch die USA oder
bspw. Kirgisistan, Usbekistan, Vatikanstaat
sind Mitglieder.
96
FOLIE 5
Westeuropäische Union
(WEU)
Gründung: 17.3.1948
Revision im Rahmen der Pariser Verträge
als Beistandspakt am 23.10.1954 (auf 50
Jahre)
Ziele: Sicherheit der Partner durch
automatischen Beistand
„Europäischer Pfeiler“ der NATO
Vollmitglieder: Belgien, Deutschland,
Frankreich Griechenland, Großbritanien,
Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal,
Spanien
Assoziierte Mitglieder: Island, Norwegen,
Türkei, Polen, die Tschechische Republik,
Ungarn
Beobachter: Dänemark, Finnland, Irland,
Österreich, Schweden
97
FOLIE 6
Art. 205 EGV
Art. 205 EGV [Beschlussfassung des Rates]
(1) Soweit in diesem Vertrag nichts anders bestimmt ist, beschließt der Rat mit der Mehrheit
seiner Mitglieder.
(2) Ist zu einem Beschluss des Rates die qualifizierte Mehrheit erforderlich, so werden die
Stimmen der Mitglieder wie folgt gewogen:
Belgien
Dänemark
Deutschland
Griechenland
Spanien
Frankreich
Irland
Italien
Luxemburg
Niederlande
Österreich
Portugal
Finnland
Schweden
Vereinigtes Königreich
5
3
10
5
8
10
3
10
2
5
4
5
3
4
10
87
Beschlüsse kommen zustande mit einer Mindeststimmenzahl von
-
zweiundsechzig Stimmen in den Fällen, in denen die Beschlüsse nach diesem Vertrag auf
Vorschlag der Kommission zu fassen sind;
zweiundsechzig Stimmen, welche die Zustimmung von mindestens zehn Mitgliedern
umfassen, in allen anderen Fällen.
(3) Die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht dem
Zustandekommen von Beschlüssen des Rates, zu denen Einstimmigkeit erforderlich ist, nicht
entgegen.
98
FOLIE 7
Art. 190 EGV
Art. 190 [Zusammensetzung; Wahlverfahren]
(1) Die Abgeordneten der Völker der in der Gemeinschaft vereinigten Staaten im
Europäischen Parlament werden in allgemeiner unmittelbarer Wahl gewählt.
(2) Die Zahl der in jedem Mitgliedstaat gewählten Abgeordneten wird wie folgt festgesetzt:
Belgien
Dänemark
Deutschland
Griechenland
Spanien
Frankreich
Irland
Italien
Luxemburg
Niederlande
Österreich
Portugal
Finnland
Schweden
Vereinigtes Königreich
25
16
99
25
64
87
15
87
6
31
21
25
16
22
87
Wird dieser Absatz geändert, so muss durch die Zahl der in jedem Mitgliedstaat gewählten
Abgeordneten eine angemessene Vertretung der Völker der in der Gemeinschaft
zusammengeschlossenen Staaten gewährleistet sein.
(3) Die Abgeordneten werden auf fünf Jahre gewählt.
(4) Das Europäische Parlament arbeitet einen Entwurf für allgemeine unmittelbare Wahlen
nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen
Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen aus.
Der Rat erlässt nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, die mit der Mehrheit seiner
Mitglieder erteilt wird, einstimmig die entsprechenden Bestimmungen und empfiehlt sie den
Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften.
(5) Das Europäische Parlament legt nach Anhörung der Kommission und mit Zustimmung
des Rates, der einstimmig beschließt, die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die
Wahrnehmung der Aufgaben seiner Mitglieder fest.
99
FOLIE 8
NIZZA
C 80149
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
PROTOKOLLE
A. PROTOKOLL ZUM VERTRAG OBER DIE EUROPÄISCHE UNION UND ZU DEN
VERTRÄGEN ZUR GRÜNDUNG DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN
Protokoll über die Erweiterung der Europäischen Union
DIE HOHEN VERTRAGSPARTEIEN
HABEN folgende Bestimmungen ANGENOMMEN, die dem Vertrag über die Europäische Union
und den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften beigefügt werden:
Artikel 1
Aufhebung des Protokolls über die Organe
Das dem Vertrag über die Europäische Union und den Verträgen zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaften beigefügte Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der
Europäischen Union wird aufgehoben.
Artikel 2
Bestimmungen über das Europäische Parlament
1. Artikel 190 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und
Artikel 108 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft
erhalten zum 1. Januar 2004 mit Wirkung ab dem Beginn der Wahlperiode 2004-2009 jeweils
folgende Fassung:
„Die Zahl der in jedem Mitgliedstaat gewählten Abgeordneten wird wie folgt festgesetzt:
Belgien
22
Dänemark
13
Deutschland
99
Griechenland
22
Spanien
50
Frankreich
72
Irland
12
535 + 197 = 732
Italien
72
Luxemburg
6
Niederlande
25
Österreich
17
Portugal
22
Finnland
13
Schweden
18
Vereinigtes Königreich
72“
2. Vorbehaltlich des Absatzes 3 entspricht die Gesamtzahl der Abgeordneten im Europäischen
Parlament für die Wahlperiode 2004-2009 der in Artikel 190 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft und in Artikel 108 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen
Atomgemeinschaft angegebenen Zahl der Abgeordneten zuzüglich der Anzahl der Abgeordneten der
neuen Mitgliedstaaten entsprechend den spätestens am 1. Januar 2004 unterzeichneten
Beitrittsverträgen.
100
FOLIE 9
NIZZA
C 80/50
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
3. Liegt die Gesamtzahl der Mitglieder gemäß Absatz 2 unter 732, so wird die Zahl der in jedem
Mitgliedstaat zu wählenden Abgeordneten anteilig so korrigiert, dass die Gesamtzahl so nah wie
möglich bei 732 liegt, die Korrektur aber nicht zu einer höheren Zahl von in jedem Mitgliedstaat zu
wählenden Abgeordneten führt als in Artikel 190 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft und in Artikel 108 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen
Atomgemeinschaft für die Wahlperiode 1999-2004 vorgesehen.
Der Rat fasst zu diesem Zweck einen Beschluss.
4. Abweichend von Artikel 189 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
und von Artikel 107 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft kann
die Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments während der Geltungsdauer des Ratsbeschlusses
gemäß Absatz 3 Unterabsatz 2 dieses Artikels vorübergehend 732 überschreiten, wenn nach der
Annahme dieses Beschlusses Beitrittsverträge in Kraft treten. Die in Absatz 3 Unterabsatz 1 dieses
Artikels genannte Korrektur findet auch auf die Zahl der in den betreffenden Mitgliedstaaten zu
wählenden Abgeordneten Anwendung.
Artikel 3
Bestimmungen über die Stimmengewichtung im Rat
1. Ab 1. Januar 2005 gilt Folgendes:
a) Artikel 205 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und Artikel 118 des
Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft werden jeweils wie folgt geändert:
i) Absatz 2 erhält folgende Fassung:
2. Ist zu einem Beschluss des Rates die qualifizierte Mehrheit erforderlich, so werden die Stimmen der
Mitglieder wie folgt gewogen:
Belgien
12
Dänemark
7
Deutschland
29
Griechenland
12
Spanien
27
Frankreich
29
Irland
7
Italien
29
Luxemburg
4
Niederlande
13
Österreich
10
Portugal
12
Finnland
7
Schweden
10
Vereinigtes Königreich
29
In den Fällen, in denen die Beschlüsse nach diesem Vertrag auf Vorschlag der Kommission zu fassen
sind, kommen die Beschlüsse mit einer Mindestzahl von 169 Stimmen zustande, welche die
Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder umfassen.
In den anderen Fällen kommen die Beschlüsse mit einer Mindestzahl von 169 Stimmen zustande,
welche die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder umfassen.
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AUTOR/INNENVERZEICHNIS
Dr. h.c. Barbara Distel
geb. 1943; seit 25 Jahren Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau; Verleihung der
Ehrendoktorwürde 2000; Mitglied des Internationalen Beirats der Stiftung Topographie des
Terrors in Berlin; Mitglied des Beirats Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin.
Ao. Univ. Prof. Dr. Karl Haas
geb. 1941; Historiker; 1968-2001 Arbeit am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien.
Forschungsschwerpunkt: Österreichische Republikgeschichte. Schwerpunkte in der Lehre:
politik-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Themen des 20. Jahrhunderts.
Univ. Prof. Mag. Dr. Gabriella Hauch
geb. 1959; Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Salzburg; seit 2002
Universitätsprofessorin für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Linz;
seit 2001 leitet sie als Institutsvorständin das Institut für Frauen- und Geschlechterforschung
an der Universität Linz, das erste Überfakultäre seiner Art.
Hon. Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer
geb. 1944 in Wien; Studium der Geschichte und Geographie; Honorarprofessor für
Zeitgeschichte an der Universität Wien; wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs
des österreichischen Widerstandes.
Forschungsschwerpunkte: NS-Regime, Veröffentlichungen auf den Gebieten Widerstand und
Verfolgung 1933-1945, NS-Medizin, Euthanasie und Justiz, Rechtsextremismus nach 1945.
Univ. Prof. Dr. Manfred Rotter
Dr. jur. 1964; Universitätsprofessor für Völkerrecht Europarecht und Internationale Beziehungen (seit 1983); Vorstand des Instituts für Europarecht (seit 1990); Vorstand des Instituts
für Völkerrecht und Internationale Beziehungen (seit 1996); Direktor des Europäischen
Dokumentationszentrums der Europäischen Kommission an der Universität Linz (seit 1990);
Lehrbeauftragter für Politische Bildung an der Pädagogischen Akademie des Bundes für OÖ
(seit 1970).
Dr. Szabolcs Szita
geb. 1945 in Sopron; Studium in Budapest; bis 1997 Universitätsdozent; seit 1990
wissenschaftlicher Leiter des Holocaust-Dokumentationszentrums in Budapest, zur Zeit Leiter
der wissenschaftlichen Forschungsgruppe an der West-ungarischen Universität.
Forschungsschwerpunkte: das Schicksal der Deportierten während des Zweiten Weltkrieges;
Rettung jüdischer Leben.
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Die Tagung der Referent/innen für Zeitgeschichte 2002 mit Thema „Von der
NS-Ostpolitik zur Europäischen Integration“ fand vom 28. bis 30. April 2002 in
Salzburg als Österreichisches Seminar im Lehrer/innenfortbildungsprogramm
des Europarates, Council of Europe´s In-Service Training for Educational Staff,
Education for Democratic Citizenship, statt.
Diese Dokumentation beinhaltet die Vorträge, die im Rahmen dieser Tagung
gehalten wurden.
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