Council of Europe´s In-service Training Programme for Educational Staff Österreichisches Seminar im Lehrer/innenfortbildungsprogramm des Europarates Education for Democratic Citizenship Von der NS-Ostpolitik zur Europäischen Integration Beiträge anlässlich der Tagung der Zeitzeug/innen 2002 Council of Europe´s In-service Training Programme for Educational Staff Österreichisches Seminar im Lehrer/innenfortbildungsprogramm des Europarates Education for Democratic Citizenship Von der NS-Ostpolitik zur Europäischen Integration Beiträge anlässlich der Tagung der Zeitzeug/innen 2002 Herausgeber, Medieninhaber, Vervielfältigung: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Abteilung Politische Bildung, Minoritenplatz 5, 1014 Wien Fax: 01/531 20-25 49, e-mail: [email protected] Redaktion: Mag. Daniela Stefanits Layout: Eva Weingartner © bei den Autor/innen März 2003 Der gesamte Text kann auch von der Schulplattform http://www.schule.at/politische-bildung (Downloads) geladen werden. Inhalt Vorwort 5 Karl Haas Zur Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland und deren kriegsvorbereitenden Funktion 7 Wolfgang Neugebauer (Teilaspekte zu) Verfolgung und Widerstand in Ostmittel- und Osteuropa 25 Barbara Distel Zur Rolle und Struktur der nationalsozialistischen Konzentrationslager 39 Gabriella Hauch Nationalsozialismus-Zwangsarbeit-Weiblich: NS-Bevölkerungs- und Sexualpolitik gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen 49 Szabolcs Szita Antisemitismus und jüdische Emigration in Osteuropa nach 1945 59 Manfred Rotter Die EU: Weg oder Ziel? Ansätze einer europäischen Konzeptdiskussion 75 Autor/innen 105 Vorwort Der vorliegende Band der Dokumentationen beinhaltet die Vorträge des von der Abteilung Politische Bildung im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur veranstalteten Zeitzeug/innen-Seminars zum Thema „Von der NS-Ostpolitik zur europäischen Integration“ vom 28.-30.April 2002 in Salzburg. Die Tagung wurde 2002 als „Council of Europe`s In-service Training for Educational Staff“ – Österreichisches Seminar im Lehrer/innenfortbildungprogramm des Europarat, Education for Democratic Citizenship – geführt. In einem Einführungsreferat skizziert Karl Haas die Grundzüge der Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland und deren kriegsvorbereitenden Funktion. Wolfgang Neugebauer stellt am Beispiel von Polen und Tschechien die Verfolgung und den Widerstand in Osteuropa dar und zeigt an Hand der Diskussion um die Beneš-Dekrete, welche bis heute gespannten Bezüge zwischen den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg, der Nachkriegsordnung und den heutigen politischen Problemen bestehen, wie konfliktgeladen europäische Zeitgeschichte sein kann und wie sie in Gegenwart und Zukunft hineinwirkt. Barbara Distel gibt einen Überblick über Rolle und Struktur der nationalsozialistischen Konzentrationslager und deren Häftlingsgesellschaften und stellt den aktuellen Forschungsstand sowie die vorhandene Literatur dazu vor. Gabriella Hauch behandelt die NS-Bevölkerungs- und Sexualpolitik gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen und leistet damit einen wertvollen Beitrag zu einem Forschungsdesiderat. Szabolcs Szita zeigt auf, wie der Antisemitismus in den osteuropäischen Gesellschaften fortbestand und auch nach 1945 die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu jüdischer Emigration führten. Manfred Rotter schließlich stellt die verschiedenen Konzeptionen auf dem Weg zur europäischen Integration vor, analysiert die politischen Verhältnisse, die Entscheidungsstrukturen und Zielvorstellungen in diesem schwierigen Prozess. Abschließend möchten wir den Autor/innen dafür danken, dass Sie uns Ihre Beiträge für diese Dokumentation zur Verfügung gestellt haben. Manfred Wirtitsch Daniela Stefanits 5 6 Karl Haas Zur Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland und deren kriegsvorbereitenden Funktion Der out-put an wissenschaftlicher Literatur zum Nationalsozialismus ist so beträchtlich, dass Arbeiten darüber oft mit dem Hinweis auf die kaum noch überschaubare Literatur beginnen. Auch die Außenpolitik Nazideutschlands ist gut erforscht. Die 1995 erschienene Bibliographie zum Nationalsozialismus von Michael Ruck,1 die an die 1.500 Seiten stark ist und über 20.000 Literaturtitel verzeichnet und die zu Recht als das zurzeit „umfassendste“ bibliographische Kompendium zum Thema Nationalsozialismus bezeichnet werden kann,2 weist allein zur speziellen Thematik der auswärtigen Beziehungen mehr als 700 Einträge auf. Was hier nun versucht werden soll, ist – anhand der zu entwickelnden zentralen These, dass die Außenpolitik NS-Deutschlands von Anfang an im Dienst der Kriegsvorbereitung gestanden ist – wichtige Ergebnisse und Erkenntnisse einiger dieser Forschungsarbeiten in zusammenfassender Weise vorzustellen. Angesichts der schon angesprochenen enormen Menge an Literatur sei zur ersten Orientierung auf die Arbeiten von Ian Kershaw,3 BerndJürgen Wendt4 und Forschungstendenzen Marie-Luise und Recker5 verwiesen, Forschungskontroversen die informieren über Grundprobleme, bzw. auch einen enzyklopädischen Überblick geben und auf die ich mich hier u.a. ebenfalls stützen werde. Von den zahlreichen Quelleneditionen sei hier die nunmehr als überarbeitete einbändige Neuausgabe vorliegende Dokumentenedition von Wolfgang Michalka zur Innen- und Außenpolitik Nazideutschlands6 genannt; schließlich auch noch die von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß herausgegebene Enzyklopädie des Nationalsozialismus7. Alle diese Publikationen liegen als Taschenbücher vor und sind somit leicht zugänglich. Die angesprochenen Kontroversen und Debatten drehen bzw. drehten sich u.a. um die Frage nach Kontinuitäten in der Außenpolitik Nazideutschlands, nach der Rolle und dem Stellenwert Hitlers in den außenpolitischen Entscheidungsprozessen und Zielsetzungen, um Ruck, Michael: Bibliographie zum Nationalsozialismus, Köln 1995. So Norbert Frei in einer Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung. 3 Kershaw, Ian: Der NS Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbeck b. Hamburg 1994. Hier insbesondere S. 195-233. 4 Wendt, Bernd-Jürgen: Großdeutschland. Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des Hitler-Regimes, München 1987. Hier insbesondere S. 212-235. 5 Recker, Marie-Luise: Außenpolitik des Dritten Reichs, München 1990. Hier insbesondere S. 51-110. 6 Michalka, Wolfgang (Hg.): Deutsche Geschichte 1933-1945. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Frankfurt a. M. 1996. 7 Benz, Wolfgang, Hermann Graml, Hermann Weiß (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 3. Aufl. München 1998. 1 2 7 die Frage, ob Intentionen oder Strukturen für die NS-Außenpolitik bestimmend waren, weiters, ob Hitler ein „Programm“ hatte oder schlichtweg ein opportunistischer Machtpolitiker war, ob Hitlers Ziel die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten oder langfristig die Weltherrschaft war. Ein knapper Befund kann Folgendes festhalten: Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass Hitler in für ihn wichtigen außenpolitischen Fragen das Entscheidungsmonopol hatte. Neben einem bald dominanten Hitler und dem offiziellen Behördenapparat des Auswärtigen Amtes8 (AA), der zunehmend an Einfluss verlieren sollte, operierten im außenpolitischen Bereich aber noch eine Reihe von Institutionen und Personen mit divergierenden Interessen und Konzepten und oft in Konkurrenz miteinander, wie etwa das Militär, Parteiinstitutionen oder Parteifunktionäre. Als Beispiele seien hier genannt: Das Büro des späteren Botschafters und Außenministers Ribbentrop und dessen England- und Asienpolitik;9 die Auslandsorganisation der NSDAP und deren Politik in Nord- und Südamerika; das Außenpolitische Amt der Partei,10 das am 1. April 1933 als eine Art Innerparteiliches für den als außenpolitischen Experten und Ideologen der Partei geltenden Alfred Rosenberg geschaffen wurde, und das in den Staatsstreich Quislings in Norwegen sowie bei der Vorbereitung der Aggression gegen die Sowjetunion involviert war. Die Wehrmachtsspitze und das Auswärtige Amt betrieben in China durch ihre materielle und personelle Hilfestellung im Konflikt mit Japan bis 1937 eine eigene Politik, die dann allerdings abgebrochen werden musste; die Sondermissionen und die Politik einzelner Parteiführer, wie etwa Görings außenpolitische Aktion im Frühjahr 1933 in Italien (Viermächtepakt), dessen Reisediplomatie 1934 in Südosteuropa oder dessen spätere Rolle im März 1938 in der Österreichfrage oder bei der vermittelnden Sondierung in London unmittelbar vor Kriegsausbruch;11 oder das Beispiel der national-konservativen Regimekritiker im Auswärtigen Amt und an der Heeresspitze, wie der Staatssekretär von Weizsäcker oder der Generalstabschef Halder, die einen großen europäischen Krieg, wie er sich in den späten 1930er Jahren abzeichnete, vermeiden und entsprechend ihrer Großmachtvorstellungen Österreich, das Sudetenland, Danzig und den polnischen Korridor dazu: Döscher, Hans-Jürgen: SS und Auswärtiges Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“, 2. Aufl. Frankfurt, Berlin 1991. Früher u. d. T.: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich, Berlin 1987. Vgl. dazu auch die Rezension von Theodor Eschenburg: Diplomaten unter Hitler, in: Die Zeit v. 5. Juni 1987, S. 35f. 9 Vgl. dazu Michalka, Wolfgang: Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik 1933-1940, München 1980; und Kley, Stefan: Hitler, Ribbentrop und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, Paderborn 1996. 10 Vgl. dazu Bollmus, Rainer: Das Amt Rosenberg und seine Gegner, Stuttgart 1970. 11 Martens, Stefan: Die Rolle Hermann Görings in der deutschen Außenpolitik 1937/38, in: Knipping, Franz, Klaus-Jürgen Müller (Hg.): Machtbewusstsein in Deutschland am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Paderborn 1984, S. 75-92; Kube, Alfred: Pour le mérite und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich, München 1986. 8 8 gegen den Frieden mit den Westmächten eintauschen wollten.12 Es ist wichtig festzuhalten, dass trotz dieses Ämter- und Personenwirrwarrs, Hitlers außenpolitische Entscheidungsinstanz nicht in Frage gestellt war. Für Hitlers Außenpolitik waren aber auch gewisse „Strukturen“ bestimmend, etwa soziale Krisenlagen oder wirtschaftliche Zwänge oder internationale Konstellationen und Situationen, die zum Teil wiederum durch ihn bzw. die nazistische Rüstungs- und Außenpolitik herbeigeführt worden waren, und bei Hitler, weil Frieden keine Alternative für ihn war, Zeitdruck hervorriefen und seine Aktionen beschleunigten. Für die Zielsetzung, die Funktion und auch das Tempo der Außenpolitik Nazideutschlands war Hitlers ideologische Fixiertheit bestimmend und entscheidend. Die Kontinuitäten in der Außenpolitik zeigten sich im personellen Bereich des offiziellen Amtes (Neurath als Außenminister, Bülow und Weizsäcker als Staatssekretäre, die Botschafterriege), und in einer weit reichenden Interessenkongruenz der konservativen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten13 und auch der Öffentlichkeit. Der Kitt für die Übereinstimmung war machtpolitisches, imperialistisches Denken, war der Revisionismus, war die positive Besetztheit, die Militär und letztlich auch Krieg hatten,14 waren ökonomische Interessen. Als die Nazi 1933 im Bündnis mit der alten nationalistischen Rechten und Teilen der konservativ reaktionären Eliten in der Wirtschaft, der Bürokratie und dem Militär an die Macht gekommen waren, knüpfte ihre Außenpolitik zunächst an den seit Beginn der Dreißigerjahre zunehmend vorangegangenen aggressiver Präsidialkabinette und auftretenden deren deutschen macht- und Revisionismus der hegemonialpolitischen Perspektiven an. Außenpolitisch bedeutete der Machtantritt der Nazi zunächst also keine sichtbare Zäsur, die personellen Kontinuitäten im Auswärtigen Amt verstärkten diesen Eindruck.15 In der gewaltigen ökonomisch-politischen Doppelkrise, in der die Welt damals steckte, und in der die Weltwirtschaftsordnung zusammengebrochen und die internationale Nachkriegs- Blasius, Rainer A.: Weizsäcker kontra Ribbentrop: «München» statt des großen Krieges, in: Knipping, Franz, Klaus-Jürgen Müller (Hg.): Machtbewußtsein in Deutschland am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Paderborn 1984, S. 93-118. 13 Siehe dazu: Dülffer, Jost: Der Einfluß des Auslandes auf die nationalsozialistische Politik, in: Forndran, Erhard, Frank Golczewski, Dieter Riesenberger (Hg.): Innen- und Außenpolitik unter nationalsozialistischer Bedrohung, Opladen 1977, S. 297f., Broszat, Martin, Klaus Schwabe (Hg.): Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg, München 1989; Nestler, Ludwig (Hg.): Der Weg deutscher Eliten in den zweiten Weltkrieg. Berlin 1990. 14 Dazu: Wette, Wolfram: Ideologien, Propaganda und Innenpolitik als Voraussetzungen der Kriegspolitik des Dritten Reiches, in: Deist, Wilhelm u.a. (Hg.): Ursachen und Voraussetzungen des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1991, S. 25-208. 15 Siehe Bernd-Jürgen Wendt: Außenpolitik, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 67. 12 9 ordnung erschüttert war, hatte der Revisionismus der Präsidialkabinette in einem allgemeinen Klima nationalistischer Krisenlösungsversuche günstige Konstellationen vorgefunden und im reparations- und rüstungspolitischen Bereich Erfolge sowie in der Außenwirtschaft Teilerfolge erzielt. Dieser Revisionskurs, der nun auch vor Konfrontationen nicht zurückschreckte, und dessen macht- und hegemonialpolitische Perspektiven gefährdeten die Versailler Nachkriegsordnung und trugen zur Destabilisierung des kollektiven Sicherheitssystems bei.16 Die Intensivierung der schrittweisen Revision von Versailles und die traditionellen machtpolitischen Ambitionen, wie sie die Vertreter der alten Eliten im Auswärtigen Amt und die Militärs nach der nationalsozialistischen Machtübernahme weiter betreiben und verfolgen wollten, lagen zwar durchaus im Interesse der Nazi und ihres Führers, Hitlers eigentliches Ziel hatte aber ein ganz anderes Ausmaß. Hitlers Ziel war „die Eroberung von neuem Lebensraum im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung“, wie er am 3. Februar 1933 vor den Befehlshabern des Heeres und der Marine unmissverständlich geäußert hatte.17 Funktion und Ziel der Außenpolitik, die Hitler lediglich als eine „Vorform kriegerisch auszutragender Machtkämpfe“18 verstand, oder als nichts anderes „als die Kunst, einem Volke den jeweils notwendigen Lebensraum in Größe und Güte zu sichern“, wie er in seinem zweiten Buch 1928 schrieb,19 waren demnach von Anfang an klar: Die Schaffung der entsprechenden machtpolitischen Voraussetzungen für diesen rassistischen Vernichtungskrieg. In dieser Funktion und mit dieser Zielsetzung bereiteten sie auf den Zeitpunkt der Krieges vor und ging auf dem Weg dorthin wiederholt das Risiko eines Krieges ein.20 Die Eroberung von „Lebensraum im Osten“, dieser „schrankenlose Raumerwerb“ 21 und die damit verbundene gewaltsame, kriegerische Perspektive, waren neben dem Rassismus, dem „radikalen universalen Antisemitismus“22 und Antibolschewismus die konstanten, bestimmenden Faktoren nationalsozialistischer Politik bzw. Außenpolitik,23 in der Hitler sehr rasch zur Entscheidungsinstanz werden sollte. Dies alles und Hitlers sozialdarwinistische und Vgl. dazu Knipping, Franz: Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928-1931, München 1987. Zur Außenpolitik der Präsidialkabinette siehe auch: Graml, Hermann: Zwischen Stresemann und Hitler. Die Außenpolitik der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher, München 2001. 17 Die sogenannte „Liebmann-Aufzeichnung“ vom 3.2.1933 ist abgedruckt bei Michalka, Deutsche Geschichte, S. 17f. 18 Dülffer, in Forndran, S. 300. 19 Weinberg, Gerhard L. (Hg.): Hitlers zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahre 1928, Stuttgart 1961, S. 62. 20 Wendt, Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 70. 21 Jost Dülffer: Politik zum Kriege. Das Deutsche Reich und die Mächte auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg, in Neue Politische Literatur (1981), S. 48. 22 Siehe Hillgruber, Andreas: Die „Endlösung“ und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus, in: Derselbe: Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Düsseldorf 1979, S. 254f. 16 10 rassistische Denkweise waren seit den Zwanzigerjahren in Hitlers programmatischen Schriften fixiert und zeigten, dass der rassistische Krieg und die Vernichtung das eigentliche „Bewegungsgesetz“ des Nationalsozialismus waren.24 Aus diesen Schriften lässt sich zudem, wenn wissenschaftlich auch umstritten, ein „Programm“ und „Stufenplan“,25 der letztlich den Kampf um die Weltherrschaft vorsah, ableiten. Sosehr Hitler in seiner Außenpolitik auch pragmatisch agieren, opportunistische Anpassungen, Änderungen und Terminverschiebungen vornehmen sollte, so sehr war seine Politik von besagtem „festen Kalkül“ 26 bestimmt, das er unbeirrt verfolgte. Die forcierte Macht- und Revisionspolitik, die in Nazideutschland über die politischen und wirtschaftlichen Eliten hinaus breite Zustimmung fand und deren rasche Erfolge Hitlers Prestige bei den Massen weiter vergrößerten, waren für Hitler lediglich ein Instrument, um die machtpolitischen Voraussetzungen für die Verfolgung seines eigentlichen Zieles zu schaffen. Die revisionspolitischen Erfolge waren lediglich ein Zwischenschritt auf dem Weg dorthin.27 Gleiches gilt auch für die Außenwirtschaftspolitik, in der Hitler, der von Ökonomie nichts verstand und nur in seinen rüstungspolitischen Vorgaben dominant war. In einer mehr und mehr durch Protektionismus und Währungsblöcke fragmentierten Weltwirtschaft verfolgte die Außenwirtschaftspolitik Nazideutschlands zwar auch klassische handelspolitische Ziele, wie die Verbesserung der Handels- bzw. der Zahlungsbilanz, oder wurde das außenwirtschaftliche Instrument für machtpolitische Zwecke eingesetzt, ihre tatsächliche, von Hitler zugedachte und auch wahrgenommene Funktion war aber die der ökonomischen Kriegsvorbereitung. Das hieß die Beschaffung der entsprechenden Rohstoff- und Devisenressourcen für die sofort mit höchster Priorität von Hitler begonnene und rücksichtslos forcierte Aufrüstung. Es ging in weiterer Folge also um die Formierung eines Mittel- und Südosteuropa umfassenden Großwirtschaftsraumes, als blockadesichere ökonomische Basis für Hitlers „Lebensraumkrieg“. Vgl. dazu Wendt, Großdeutschland, S. 63ff. Dülffer, Politik zum Kriege, in: Neue Politische Literatur(1981), S. 42. 25 Diese Position wurde von Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand vertreten. Zur Diskussion vgl. Wendt, Großdeutschland S. 222; und Recker, Außenpolitik, S. 62 und S. 70. 26 Dülffer in: Forndran, S. 304. 27 Wendt, Großdeutschland, S. 68. 23 24 11 Ebenso wie die Finanz- und Währungspolitik Nazideutschlands stand auch die Außenwirtschaftspolitik im Dienst der Kriegsvorbereitung.28 Die Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland29 agierte zunächst vorsichtig und mit Friedensbeteuerungen, um ihre anfänglich wichtigste Aufgabe, die Abschirmung der geheim laufenden Aufrüstung, erfüllen zu können; kalmierend und propagandistisch, um die negativen Eindrücke, die der nazistische Terror und die Verfolgung der Juden in Deutschland im internationalen Umfeld hervorgerufen hatten, zu minimieren; zielstrebig und bald mit der Methode des überraschenden fait accompli operierend die Revisionspolitik, welche 1933 als ersten Schritt die internationale Abrüstungskonferenz zum Scheitern brachte und Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund vollzog und solcherart einer kollektiven Konfliktregelung eine Absage erteilte und zur Vergrößerung der allgemeinen Unsicherheit wesentlich beitrug; opportunistisch bei der Verlängerung des Freundschafts- und Nichtangriffsvertrages mit Sowjetrussland, dem Konkordat mit dem Vatikan und 1934 beim Abschluss eines deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes, der gegen die bisherige Polenpolitik der nationalistisch rechtskonservativen Führung im Auswärtigen Amt von Hitler durchgesetzt wurde und dem rasch eine Verschlechterung des deutsch-russischen Verhältnisses folgen sollte. Ihr ideologisches, subversives und gewalttätiges Profil zeigten die Nazi in der Außenpolitik von Anfang an in der so genannten „Volkstumspolitik“ und in ihrer Politik gegenüber Österreich. Aggressiv auch die Außenwirtschaftspolitik Nazideutschlands. Mittels einer umfassenden Devisen-, einer rigorosen Einfuhrkontrolle und eines Clearingabkommens, einer Bilateralisierung und Umorientierung der deutschen Handelsbeziehungen mit der Tendenz zu einem deutschen „informal Empire“ in Südosteuropa, gelang dieser die vorübergehende Überwindung der Ausfuhrkrise 1934, und zwar in der Weise, als die Handelsbilanz kurzzeitig aktiv gehalten werden konnte und die für die Rüstungswirtschaft notwendigen Importe gegenüber von Fertigprodukten und Konsumgütern beträchtlich erhöht wurden. Diese im Rahmen von Schachts „Neuem Plan“ verfolgte Politik der zentralen Devisenbewirtschaftung Wendt, Großdeutschland, S. 125ff. Siehe weiters: Teichert, Eckart: Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930-1939. Außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Weltwirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München 1984; Volkmann, Hans-Erich: Die NS Wirtschaft in Vorbereitung des Krieges, in: Wilhelm Deist u.a. (Hg.): Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, Frankfurt/M 1989; Boelcke, Willi: Deutschland als Welthandelsmacht 19301945, Stuttgart-Berlin-Köln 1994. 29 Siehe dazu Wendt, Großdeutschland; Recker, Außenpolitik; und Ludolf Herbst: Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Frankfurt a. M. 1996, S. 99 passim. 28 12 und Außenhandelssteuerung, wurde in dem seit 1936 anlaufenden „Vierjahresplan“ beibehalten. Der „Vierjahresplan“ sollte der Rüstung weitere Impulse geben, die Importabhängigkeit Nazideutschlands massiv reduzieren und nach der Forderung Hitlers, die deutsche Wirtschaft und das deutsche Heer in vier Jahren kriegsbereit machen. Bis Ende 1936 hatte die Außenpolitik, in der neben einem dominierenden Hitler und neben dem Auswärtigen Amt auch das Militär, Parteistellen und Personen, mit oft divergierenden Interessen und Konzepten operierten, Nazideutschland einen beträchtlichen Machtgewinn und Spielraum für die weitere Expansionspolitik geschaffen.30 Der beträchtliche Gewinn an Macht und außenpolitischem Handlungsspielraum war durch Veränderungen im internationalen Beziehungsgefüge, dessen System der kollektiven Sicherheit zu dieser Zeit bereits ruiniert war, begünstigt worden, aber auch durch den Umstand, dass aus divergierenden innen-, macht-, sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen und wohl auch aus ideologischen Gründen eine internationale Abwehrfront gegen die Rüstungseskalation und den Expansionismus Nazideutschlands nicht zu Stande kam.31 Allgemein lässt sich sagen, dass die Politik der Großmächte zwischen Versuchen einer Isolierung, einer partiellen Kooperation und den Bemühungen einer Reintegration Nazideutschlands in eine internationale Friedensordnung schwankte. Das negative Deutschlandbild, das durch den Terror gegen politische Gegner, vor allem die Linke, durch die beginnende Judenverfolgung, durch die Militarisierung in der internationalen Öffentlichkeit entstanden war, schlug nicht unbedingt auf die Regierungspolitik der Mächte durch. Die französische Politik und deren starkes Interesse an der Aufrechterhaltung der Versailler Nachkriegsordnung versuchte mittels einer komplizierten Bündnispolitik (Ostlocarno) ihre traditionellen Bündnisbeziehungen in Südost- und Osteuropa zu intensivieren und den französischen Einfluss dort zu verstärken. 1934 begann sie die Beziehungen Frankreichs zur Sowjetunion zu verbessern, was im folgenden Jahr zu einem Beistandspakt führte (2. Mai 1935), dem sich auch die Tschechoslowakei anschloss. Angesichts der Spannungen in Europa hatte die Sowjetunion eine Kursumkehr ihrer bisherigen Politik vorgenommen und mit dem Beitritt zum Völkerbund 1934 eine kollektive Sicherheitspolitik zu verfolgen begonnen, an der sie bis 1939 festhalten sollte. Neben der Annäherung an die SU hatte Frankreich auch eine an das faschistische Italien begonnen. Wendt, Großdeutschland, S. 106. Zur internationalen Politik der Dreißigerjahre vgl. Niedhart, Gottfried: Internationale Beziehungen 1917-1947, Paderborn usw. 1989; und Werner Link: Der Ost-West-Konflikt. Die Organisierung der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Stuttgart usw. 1980, S. 75-86. 30 31 13 Insgesamt war die französische Bündnispolitik wenig erfolgreich und wenn überhaupt, dann nur temporär und partiell. Dem französisch-sowjetischen Beistandspakt folgte kein Militärabkommen, das diesem Gewicht gegeben hätte. Abgesehen davon, dass sich aufgrund des Antikommunismus und anderer Erwägungen der für die britische Außenpolitik verantwortlichen konservativen Eliten der Beistandspakt nicht um England erweitern ließ, präferierten die französischen Militärs Absprachen mit dem faschistischen Italien und das rechte Frankreich lehnte den Pakt ab. Die Interessenabstimmung mit dem faschistischen Italien, die in Bezug auf dessen koloniale Expansionsabsichten in Afrika zudem (und wohl auch) bewusst vage war, war nur temporär haltbar. Das Italien Mussolinis hatte seit dem Machtantritt der Nazi in Deutschland in der internationalen Politik zunehmend Gewicht bekommen. Die Politik Mussolinis, die seit den Zwanzigerjahren sowohl ein antirevisionistisches wie auch ein revisionistisches Profil zeigte, versuchte vor der 1936 begonnenen Hinwendung zu Deutschland mindestens zwei Dinge gleichzeitig: Durch eine vor allem im Verein mit Frankreich betriebene Politik der Erhaltung des Status quo in Europa die Billigung seiner kolonialen Expansion in Afrika durch die westeuropäischen Großmächte zu bekommen und, unter dieser Mächtekonstellation, die seit 1932 von Mussolini vorbereitete Aggression gegen das Völkerbundmitglied Abessinien zu verwirklichen. Die so genannte „Stresafront“ (11.-14. April 1935) zu dem sich das faschistische Italien, Frankreich und Großbritannien, in Reaktion auf den Österreichkonflikt und die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland zusammengefunden hatten und mit dem neben den italienischen Intentionen auch weiter gehende, diese Abwehrfront verbreiternde französische Intentionen verknüpft wurden, war von Anfang an brüchig und sollte das Jahr 1935 nicht überleben. Die britische Politik hatte auf die sich in den 1930er Jahren verschärfende globale Konfliktsituation, entsprechend ihrer weltweiten, imperialen Interessen, ihrer beschränkten Ressourcen, aber auch aufgrund der Furcht der konservativen Eliten vor tief greifenden durch einen Krieg bewirkte Veränderungen in der englischen Gesellschaft mit einer Politik des Appeasement reagiert, die in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre unter dem Premier Neville Chamberlain und unter Zustimmung der Dominions und einer breiten Öffentlichkeit ihre besondere Ausprägung erfuhr. Appeasementpolitik hieß, kurz gesagt, den japanischen und den nazistischen Herausforderungen weitgehend entgegenkommen und Nazideutschland durch ein „general settlement“ in eine Friedensordnung zu integrieren, selbst unter Preisgabe von Staaten und Gesellschaften. Mittels dieser Beschwichtigungs- und Friedenspolitik, die auch eine ökonomische Komponente hatte, sollte aber auch Zeit für eine britische Aufrüstung 14 gewonnen werden. Die irrige Wahrnehmung von einer nazistischen Führung, in der um den jeweiligen Einfluss von Radikalen und Gemäßigten um den dazwischenstehenden kompromissbereiten Hitler gerungen wurde, begünstigte diesen Appeasementkurs, der seinen Höhepunkt im Münchener Abkommen 1938 haben sollte und selbst nach dem Aggressionsakt gegen Polen noch nicht tot war. Auf diese Appeasementpolitik schwenkte in den späteren Dreißigerjahren auch der Quai d’Orsay ein. 1936 waren die Beschränkungen, die der Versailler Friedensvertrag einer deutschen Aufrüstung entgegengesetzt hatte, beseitigt.32 Unter Bruch des Vertrages war 1935 der Aufbau einer deutschen Luftwaffe öffentlich gemacht, unmittelbar danach die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht verkündet worden und unter neuerlichem Bruch und mit einseitiger Aufkündigung des Vertrages von Locarno im März 1936 der Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland erfolgt und die seit 1925 bestehende regionale Friedensordnung zerstört worden. Wie groß dabei Hitlers Furcht vor Gegenmaßnahmen war, zeigte das kleine Truppenkontingent und seine dem Militärcoup folgenden bombastischen Verständigungsangebote. Neben diesen fait accomplies und den ausgebliebenen Sanktionen auf die Vertragsbrüche trugen aber auch noch andere Ereignisse und Entwicklungen zur Erweiterung der deutschen Machtstellung bei: Der Abschluss des Aufsehen erregenden deutsch-britischen Flottenabkommens von 1935, das nicht nur eine indirekte Anerkennung der deutschen Wiederaufrüstung bedeutete, sondern auch der grundsätzlichen Orientierung der nationalsozialistischen Außenpolitik an bilateralen Abmachungen entgegenkam; die seit Beginn des Jahres 1936 von Mussolini begonnene Annäherung des faschistischen Italien, die noch im selben Jahr zum Abschluss eines Kooperationsabkommens der beiden Faschismen führen sollte; die Regelung des Konfliktes mit Österreich, der zu einer zeitweiligen Isolierung Nazideutschlands geführt hatte, im „Juliabkommen“, das die Interventionsmöglichkeiten erweiterte und den subversiven österreichischen „Betont-Nationalen“ und illegalen Nazi einen größeren Aktionsradius verschaffte; der Antikominternpakt mit Japan. Das deutsch-britische Flottenabkommen, das von Hitlers späterem Außenminister Ribbentrop am Auswärtigem Amt vorbei verhandelt worden war, sollte nur ein erster Schritt zu einem umfassenden Bündnis mit Großbritannien sein. Dieses Bündnis mit Großbritannien war eine fixe Idee in Hitlers außenpolitischem Denken, wobei auch rassenideologische Motive eine Siehe dazu: Wendt, Großdeutschland; Recker, Außenpolitik; Herbst, Ludolf: Das nationalsozialistische Deutschland 19331945, Frankfurt a. M. 1996. 32 15 Rolle spielten. Grundlage dieses Bündnisses sollte die Aufteilung von Interessen- und Machtsphären zwischen der See- und Kolonialmacht Großbritannien und der Kontinentalmacht Nazideutschland sein. Hitler wollte auf diese Weise von Großbritannien freie Hand für seinen kriegerischen Expansionismus auf dem Kontinent erhalten. Um dieses Bündnis mit Großbritannien, dessen Realisierung im Auswärtigen Amt für illusorisch gehalten wurde, dessen Chef Neurath sprach von Dilettantismus, hatte sich seit etwa 1934 Ribbentrop als Sonderbeauftragter Hitlers bemüht, wenn auch ohne Erfolg. Die britische Politik war wohl zu einer Revision der Versailler Nachkriegsordnung bereit und wollte Nazideutschland einen weit gehenden Machtzuwachs zugestehen, bei Integrierung in eine neue europäische Friedensordnung. Sie war aber nicht bereit die gewaltsame Realisierung von Hitlers „Lebensraumplan“ zu dulden. In der Folge versuchte Hitler durch Demonstration von militärischer und bündnispolitischer Stärke diesen Interessenausgleich durchzusetzen. Die Annäherung an das faschistische Italien und an das militaristische Japan bzw. die mit beiden Staaten abgeschlossenen Vereinbarungen sollten dafür instrumentalisiert werden. Die italienisch-deutsche Annäherung, die im Schatten der Abessinienkrise begonnen hatte und die während des spanischen Bürgerkriegs, in dem beide Mächte intervenierten, vertieft werden sollte, war von Mussolini Anfang November 1936 propagandistisch zur Achse BerlinRom stilisiert worden. Die fast drei Jahre andauernde Intervention zu Gunsten der spanischen Nationalisten unter Franco, zu der sich Hitler ohne Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt im Juli 1936 entschlossen hatte, geschah nicht aufgrund wehrwirtschaftlicher Überlegungen, wiewohl diese im Laufe der Intervention sehr wohl eine Rolle spielten, sondern aus dem Kalkül heraus, dass ein befürchteter kommunistischer Block aus Spanien und Frankreich, wo gerade eine Volksfrontregierung gebildet worden war, Nazideutschland zwischen diesem und der Sowjetunion „einkeilen“ und Hitlers Expansion im Osten dadurch aufs Spiel setzten würde.33 Eine Vermittlungsaktion der französischen Politik Ende 1936, welche die drohende allgemeine Kriegsgefahr in Europa verringern wollte und die mit einem weit gehenden Verständigungsangebot (Rohstoffe, Kolonien, Anleihen) an Deutschland verbunden war, wurde umgehend abgelehnt. Der deutsche Außenminister erklärte in diesem Zusammenhang, dass die deutsche Seite „auf keinen Fall die Festsetzung einer sowjetisch-kommunistischen Abendroth, Hans-Henning: Deutschland, Frankreich und der Spanische Bürgerkrieg 1936-1939, in: Hildebrand, Klaus, Karl Ferdinand Werner (Hg.) Deutschland und Frankreich 1936-1939, München 1981, S. 461-463. 33 16 Regierung in Spanien dulden würde(n). Wir würden dies unter Umständen sogar mit Gewalt verhindern.“34 Die Annäherung an Japan, das 1931 mit seiner Aggression in der Mandschurei die in den Washingtoner Verträgen 1921/22 vereinbarte Nachkriegsordnung in Fernost zu zerstören begonnen hatte und 1933 durch seinen Austritt aus dem Völkerbund aus dem kollektiven Sicherheitssystem ausgeschieden war, begann 1935.35 Sie wurde erneut unter Umgehung des Auswärtigen Amtes und im Gegensatz zur bisherigen, chinafreundlichen deutschen Fernostpolitik und gegen die pro-chinesische Reichswehrführung und die deutsche Rüstungsindustrie von Ribbentrop vorbereitet. Nach einigen Verzögerungen kam es schließlich am 25. November 1936 zur Unterzeichnung des Antikominternpaktes. Der Pakt sah eine Kooperation gegen die Kommunistische Internationale vor, lud Drittstaaten zum Mittun ein und sah in einem geheimen Zusatzabkommen die jeweilige wohlwollende Neutralität bei einem nichtprovozierten Angriff Sowjetrusslands auf einen der Vertragspartner und eine durch einen weiteren Notenwechsel ziemlich verwässerte Koordination der Russlandpolitik der beiden Staaten vor. Das Antikominternabkommen hatte mehr propagandistischen Wert, als dass es eine wirkliche Allianz war, wenn auch der Beitritt Italiens zum Antikominternabkommen ein Jahr später (6. November 1937) bei den westlichen Großmächten und der Sowjetunion beträchtliche Unruhe hervorrief, weil sich hier die drei, den Status quo und den Frieden gefährdenden Mächte zu einem Bündnis zu formieren schienen, das die Konfliktbereiche in Europa, im Mittelmeerraum und in Fernost miteinander verschränkte. Mochte Hitler das Antikominternabkommen als einen Baustein für eine globale Allianz gegen die Sowjetunion sehen und als einen Schritt zu einem späteren gegen die Sowjetunion gerichteten Militärbündnis mit Japan36, zu dem es nicht kommen sollte, und mochte er anfänglich noch glauben, Großbritannien zum Eintritt in den Antikominternpakt und in die globale antisowjetische Allianz bewegen zu können, so musste er sehr rasch erfahren, dass sich auch mit einer in der Folge antibritischen Instrumentierung des Antikominternpaktes Großbritannien nicht in ein Bündnis zwingen ließ. 34 Ebenda, S. 467. Siehe dazu: Martin, Bernd: Die deutsch-japanischen Beziehungen während des Dritten Reiches, in: Manfred Funke (Hg.): Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches. Düsseldorf 1976. S. 454-470; Derselbe: Aggressionspolitik als Mobilisierungsfaktor. Der militärische und wirtschaftliche Imperialismus Japans 1931 bis 1941, in: Forstmeier, Friedrich, Hans-Erich Volkmann (Hg.): Wirtschaft und Rüstung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, 2. Aufl. Düsseldorf 1981, S. 222-244; und Krebs, Gerhard: Japans Deutschlandpolitik 1935-1941, Bd. 1, 2. Hamburg 1984. 36 Wendt, Großdeutschland, S. 114. 35 17 Interessant ist in diesem Zusammenhang die antibritische bündnispolitische Alternative, die der weniger ideologisch als traditionell machtpolitisch orientierte Ribbentrop, nachdem er in London gescheitert war, zu verfolgen begann. In Anknüpfung an Vorstellungen eines antibritischen Kontinentalblocks, wie sie im kaiserlichen Deutschland von einem Großadmiral Tirpitz entwickelt worden waren, wollte Ribbentrop in völliger Umkehrung der Funktion des Antikominternpaktes das „weltpolitische Dreieck Berlin-Rom-Tokio“ unter Einbeziehung der Sowjetunion zu einer umfassenden antibritischen Allianz fortentwickeln, die 1940 von „Madrid bis Yokohama“ reichen sollte. In der Literatur ist diese bündnispolitische Konzeption als außenpolitische Alternative zu Hitlers „Programm“ gesehen worden, allerdings als eine Alternative, die Hitler, solange sie funktional für sein völlig anderes „Programm“ zu gebrauchen war, in den Jahren 1936 bis 1940 duldete, die aber „weder vor dem Krieg noch nach Kriegsbeginn eine wirkliche Chance“ hatte „den Diktator langfristig von seinem Lebensraumkrieg abzubringen“.37 Der Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939, an dem Ribbentrop maßgeblich mitwirken sollte, gehörte zu den Versatzstücken dieser Ribbentrop’schen Bündnisarchitektur. Die drohende Krise, auf welche die deutsche Wirtschaft infolge der von Hitler und auch den Militärs verlangten Beschleunigung und Ausweitung der Rüstung zusteuerte, veranlasste einen sich in Zeitnot wähnenden Hitler am 5. November 1937 vor seinen Wehrmachtsführern, dem Kriegs- und dem Außenminister die nächsten Schritte der gewaltsamen Expansion Nazideutschlands zu konkretisieren und zu terminieren. Hitler wollte dabei auch das Risiko eines großen europäischen Krieges, den er damals noch gerne vermieden hätte, eingehen. Mit der in der Zwischenzeit gemachten Erfahrung, dass er ein Bündnis mit England ebenso nicht bekommen würde, wie die britische Zustimmung für sein kontinentales Eroberungsprogramm, war er auch zu einem Krieg gegen Großbritannien und Frankreich bereit. Die von Hitler am 5. November 1937 angekündigte Politik, die mit Ausnahme Görings bei den anderen Anwesenden massiven Widerspruch hervorrief, sollte in den Jahren 1938 und 1939, wenn auch unter anderen Voraussetzungen und in anderer Abfolge, ihre Durchführung erfahren. Den Anschluss Österreichs wollte Hitler noch vierzehn Tage vor dem Ereignis auf evolutionärem Weg realisieren, wie er die österreichischen Nazi wissen ließ.38 Letztere und das unter massivem Druck dem Kanzler des austrofaschistischen Österreichs abgepresste Abkommen 37 38 Wendt, Außenpolitik, in: Enzyklopädie S. 76f. Herbst, S. 187. 18 von Berchtesgaden, das eine völlige Ausrichtung der österreichischen Außenpolitik nach jener der deutschen verlangte, ferner einen nazistischen Innenminister, die Aufhebung des Betätigungsverbotes für die illegale NSDAP, beiderseitige Generalstabsbesprechungen, eine Intensivierung des Wirtschaftsverkehrs u.a. boten dafür eine gute Handhabe. Die Sache „ins Rutschen“, so Göring, der nun, anders als Hitler, zur treibenden Kraft wurde, brachte die vom österreichischen Kanzler für den 14. März vorgesehene Volksbefragung über den Status der Republik. Schuschnigg wollte dabei nicht nur über den internationalen, sondern auch über den „inneren“ Status der Republik („deutsches“, „christliches“ Österreich) abstimmen lassen. Diese Volksbefragung hatte eine ultimative Forderung Berlins nach Rücknahme und die Forderung nach einem nazistischen Bundeskanzler und den militärischen Einmarsch zur Folge. Letzterer sollte nach einer Weisung Hitlers „in Form eines von der Bevölkerung begrüßten friedlichen Einmarsches“ ablaufen.39 Der Anschluss Österreichs, der militärstrategisch und auch wehrwirtschaftlich einen erheblichen Gewinn für Nazideutschland bedeutete, hatte nur schwache internationale Reaktionen hervorgerufen, was Hitler bestärkte, seine Expansionspolitik zu forcieren.40 Nach dem Anschluss Österreichs begann Hitler seine nächsten Aggressionsschritte gegen die Tschechoslowakei zu setzen. Als subversives Instrument diente ihm dabei, ähnlich wie in Österreich die Nazi, die Sudetendeutsche Partei. Deren Führer war von Hitler am 29.März 1938 instruiert worden, von der tschechoslowakischen Regierung „immer soviel zu fordern, daß wir nicht zufriedengestellt werden können.“41 Kurz darauf (24. April 1938) ergingen die Anweisungen für den Angriff auf die ČSR und am 30. Mai verkündete Hitler seinen „unabänderlichen Entschluß“ zur militärischen Zerschlagung der ČSR.42 „Den politisch und militärisch geeigneten Zeitpunkt abzuwarten oder herbeizuführen“ sollte „Sache der politischen Führung“ sein.43 Mittels der Sudetendeutschen Partei begann Hitler die so genannte „Sudetenkrise“ zu inszenieren, die hart an den Rand eines europäischen Konflikts führte, mit deren Risiko Hitler, unterstützt von seinem nunmehrigen Außenminister Ribbentrop, Politik machte. Wie allgemein bekannt, wurde erst im letzten Moment eine Verhandlungslösung auf der Münchner Konferenz (29./30. September 1938) erreicht. Aus tschechoslowakischer Sicht 39 Herbst, S. 190. Recker, S. 21. 41 Michalka, Deutsche Geschichte, S. 151. 42 Ebenda, S. 154. 43 Ebenda, S. 154. 40 19 kann man auch von einem Diktat der europäischen Großmächte sprechen. Vorausgegangen waren zwei Deutschlandbesuche des britischen Premiers, bei dessen Ersten er von sich aus Hitler die Abtretung der Sudetendeutschen Gebiete offerierte, um das nächste Mal mit weiteren Forderungen und Gewaltdrohungen Hitlers konfrontiert zu werden, vorausgegangen war ein massiver britischer und französischer Druck auf die ČSR und, nachdem Hitler seine ultimativen Forderungen erhöht und mit Gewalt gedroht hatte, die Mobilmachung der CS Armee ebenso wie der französischen und der britischen Flotte. Die Münchner Konferenz war über einen Vermittlungsvorschlag Mussolinis zu Stande gekommen, deren Grundlage im AA kooperativ von Weizsäcker, Neurath und Göring, die ebenso wie einige Spitzenmilitärs zu diesem Zeitpunkt einen Krieg vermeiden wollten, ausgearbeitet und Rom zugeleitet worden war.44 Möglich ist allerdings auch, dass die Mobilisierung der britischen Flotte Hitler mehr beeindruckt hat, als das Vermittlungsangebot des Duce. „München“ wurde von Hitler als Niederlage empfunden, wie sehr die Ergebnisse auch in der deutschen Öffentlichkeit bejubelt werden mochten. Hitler war es nicht um die Sudetendeutschen gegangen, sondern um die diplomatische Isolierung und anschließende Zerstörung der ČSR, um sich günstige strategische und wehrwirtschaftliche Ausgangspositionen für seinen „Lebensraumkrieg“ zu schaffen. Kurz nach „München“, und das damit im Zusammenhang mit Großbritannien abgeschlossene Konsultativabkommen und seine Beteuerungen der territorialen Saturiertheit Lügen strafend, hatte er der Wehrmacht befohlen Vorbereitungen für die „Erledigung der Rest-Tschechei“ und die „Inbesitznahme des Memelandes“ (21. Oktober 1938) zu treffen. An der Zerstörung der ČSR arbeitete die Hitler’sche Politik auch mit der Methode der „chemischen Auflösung“. Die Annexion von tschechischem bzw. slowakischem Staatsgebiet durch Polen und Ungarn leistete dazu ihren Beitrag. Mittels der slowakischen Nationalisten und mit Drohungen und Druck wurde u.a. auf die slowakische Regierung und den Landtag eingewirkt, sich als unabhängiger Staat zu erklären, um unmittelbar nach der von Berlin diktierten Proklamation einer selbstständigen Slowakei das restliche Staatsgebiet der Tschechoslowakischen Republik Mitte März 1939 militärisch zu besetzen und zu einem Annex Nazideutschlands zu machen. Die Slowakei wurde noch im März zu einem Satelliten Hitlerdeutschlands. Die gewaltsamen Veränderungen im Frühjahr 1939 und ein deutsch-rumänischer Wirtschaftsvertrag hatten Nazideutschland eine hegemoniale Position im mittel- und auch osteuropäi- Blasius, Weizsäcker, S. 111. Siehe auch Michalka, Wolfgang: Machtpolitik und Machtbewusstsein politischer Entscheidungsträger in Deutschland 1938, in: Knipping, Machtbewusstsein, S. 86f. 44 20 schem Raum verschaffen. Die gewaltsamen Veränderungen hatten aber nun auch deutlich gemacht, dass es Hitler nicht um „Revision“ oder um „Selbstbestimmungsrecht“ ging, dass seine „Friedensversicherungen“ Propaganda waren. Die Zerstörung der Tschechoslowakei hatte nun auch Auswirkungen auf die Politik der westeuropäischen Mächte, und zwar insofern, als diese jetzt Garantieerklärungen für Polen (31. März), Rumänien und Griechenland (13. April) und eine Beistandserklärung für die Türkei abgaben, die als ein „Haltesignal“ für den Expansionismus Hitlers gedacht waren.45 Trotzdem der „Weg des Appeasement“ weiter offen blieb – die englisch-französische Garantieerklärung für Polen schloss eine Revision der deutsch-polnischen Grenze nicht aus – hatte sich der Aktionsraum für Hitler verengt.46 Nach München hatte Nazideutschland aber auch nach einer bündnispolitischen Absicherung bzw. Bündniskonstellation für die von Hitler anvisierte kriegerische Expansion gesucht. Bis zum März 1939 bemühte sich Ribbentrop um eine enge Anbindung Polens, das im Kalkül Hitlers bei einem Krieg gegen den Westen als Rückendeckung, oder bei einem Konflikt mit der Sowjetunion als Aufmarschgebiet und Partner fungieren und in den zu dieser Zeit von Ribbentrop lancierten Kontinentalblock einbezogen werden sollte. Als es nicht gelang Polen zum Juniorpartner Nazideutschlands zu machen und in einen von Nazideutschland dominierten Machtblock einzubeziehen, machte Hitler eine radikale Wende in seiner Polenpolitik und wandte sich nun gegen Polen. Am 11. April 1939 gab Hitler die Weisung für die Angriffsvorbereitungen gegen Polen. In den bekannten Äußerungen Hitlers vor führenden Militärs am 23. Mai 193947 erklärte er, Polen bei günstiger Gelegenheit angreifen zu wollen und meinte: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung“. Verhandlungslösungen mit den westeuropäischen Großmächten schlug Hitler aus. Um die Gefahr auszuschalten mit der Aggression gegen Polen in einen Zweifrontenkrieg zu geraten und dessen militärischen und ökonomischen Konsequenzen zu entgehen, begannen nach anfänglichen Sondierungen, dann aber aufgrund des von Hitler fixierten Angrifftermins (26. August) sehr rasch kurze Verhandlungen mit der Sowjetunion über einen Nichtangriffs 45 Niedhart, Internationale Beziehungen, S. 140. Recker, Außenpolitik, S. 22ff. 47 Der sogenannte Schmundt-Bericht über die Besprechung Hitlers mit den Befehlshabern und führenden Offizieren auszugsweise bei Michalka, Deutsche Geschichte, S. 165f. 46 21 pakt.48 Dieser wurde samt einem für Polen und das übrige Osteuropa folgenreichen geheimen Zusatzprotokoll unter maßgeblicher Mitwirkung von Ribbentrop am 23. August 1939 abgeschlossen. Mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und seinem geheimen Zusatzabkommen und den folgenden Wirtschaftsabkommen, konnte Hitler seinen „Lebensraumkrieg“ am 1. September 1939 beginnen und führen, wenn auch vorerst noch mit verkehrten Fronten. Damit begann ein „struktureller Weltkonflikt“49, der sich seit den späten 1930er Jahren abzuzeichnen begann. „Strukturell“ deswegen, weil die Positionen der Konfliktparteien in Bezug auf die Organisation und die Struktur des internationalen Staatensystems bzw. der internationalen Beziehungen letztlich unvereinbar waren. Die Position der Nazi war eine rassistische, ihre „Welt“ sollte nach dem rassistischen Prinzip strukturiert und organisiert sein und war es in ihrem Herrschaftsbereich auch tatsächlich. Ihre Methoden der strukturellen Änderungen und Konfliktlösungen waren die der Gewalt und Vernichtung. Solchermaßen waren die Position Nazideutschlands bzw. Hitlers und jener vielen, die diese Politik bis weit in den Krieg hinein akzeptierten und unterstützten,50 letztlich unvereinbar mit jener der liberal kapitalistischen Weltmächte und auch jener der Sowjetunion. Bliebe zum Schluss noch der Hinweis auf den Bedeutungs- und Funktionsverlust der NSAußenpolitik während des Krieges. Bernd-Jürgen Wendt sieht den ursächlichen Zusammenhang dieses Funktionsverlustes im NS-Herrschaftssystem und seinem „völkisch“-rassistischem Programm. „Gegenüber dem als absolut gesetzten Krieg, so Wendt, strebte die nationalsozialistische Führung, je weiter der Krieg fortschritt und je geringer seine militärischen Chancen wurden, keine politische Alternative mehr an. Die vom NS-Regime konzipierte „neue Ordnung“ in Europa war auf deutsche Hegemonie, auf Unterwerfung, Beherrschung und Ausplünderung, auf „rassische Flurbereinigung“ und Vernichtung angelegt. Sie entbehrte jeder konstruktiven und werbenden Idee und ließ keinen außenpolitischen Gestaltungsspielraum zu.“51 Schon im Laufe der Dreißigerjahre war das Auswärtige Amt mehr und mehr von wichtigen Entscheidungen ausgeschaltet worden,52 „seit dem Überfall auf die Sowjetunion Dazu siehe: Rolf Ahmann: Der Hitler-Stalin-Pakt. Eine Bewertung der Interpretationen sowjetischer Außenpolitik mit neuen Fragen und neuen Forschungen, in: Michalka, Wolfgang (Hg.) Der zweite Weltkrieg, 2. Aufl. München-Zürich 1990, S. 93-107; und Ueberschär, Gerd: „Der Pakt mit dem Satan, um den Teufel auszutreiben“. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag und Hitlers Kriegsabsicht gegen die UdSSR, in: Ebenda, S. 568-585. 49 Link, Werner, Ost-West-Konflikt, S. 76f. 50 Dülffer in Forndran, S. 289. Zur Rolle der „Zuarbeiter“ Hitlers und den vorauseilenden Eifer bei Diplomaten, Bürokraten, Militärs und Wirtschaftsmanager vgl. die entsprechenden Abschnitte in Ian Kershaw: Hitler 1936-1945, Stuttgart-München 2000. 51 Wendt, Außenpolitik, in Enzyklopädie, S. 82f. 52 Ebenda, S. 77. 48 22 (war es) nur noch ein Sekretariat Hitlers zur Erledigung von Routineangelegenheiten. Man kann auch von einer Attrappe sprechen.“53 Die neue Funktion, die das Auswärtige Amt während des rassistischen Vernichtungskrieges bekam, war die Mitwirkung an der Deportierung und Vernichtung der europäischen Juden.54 Das Auswärtige Amt geriet zunehmend unter die Kontrolle von SS und SD und unter den Einfluss Himmlers. Ribbentrop, selbst ein Exponent der SS hatte dem vorgearbeitet und als er 1938 Außenminister geworden war, eine Reihe von Schlüsselfunktionen im AA mit SSLeuten aus seiner Dienststelle besetzt. Im Juni 1940 entstand im Referat D III des AA, das zuvor für „jüdische Angelegenheiten“ eingerichtet worden war, der so genannte „Madagaskarplan“, der die Deportation von vier Millionen Juden auf die Insel Madagaskar, die damals zum französischen Kolonialreich gehörte, vorsah und im Herbst 1940 fallen gelassen wurde. Im Oktober/November 1941 war das AA auch mitverantwortlich am Massenmord an serbischen Juden involviert. Im November 1941 wurde Unterstaatssekretär Luther, Ribbentrops zeitweiliger Vertrauensmann mit großem Einfluss im AA, von Heydrich, dem Chef des für die Judenverfolgung zentralen Reichssicherheitshauptamtes zu einer Aussprache über die „Judenfrage“ eingeladen, die dann am 20. Jänner 1942 auf der berüchtigten Wannseekonferenz stattfinden sollte. In einem von Luther an Heydrich übermittelten Acht-Punkteprogramm, das die „Wünsche und Ideen des Auswärtigen Amtes zu der vorgesehenen Gesamtlösung der Judenfrage in Europa“, so der Titel, zum Inhalt hatte, war das AA für die Abschiebung der Juden aus dem deutschen Herrschafts- und Machtbereich nach dem Osten und „für Einwirkungen auf die übrigen Länder Europas zur Einführung von Judengesetzen“. Die Durchführung wollte das Auswärtige Amt, „wie bisher, im guten Einvernehmen mit dem Geheimen Staatspolizeiamt“ vornehmen.55 In der Folge gab es eine enge Kooperation des AA mit der SS bei der Deportation von Juden aus den besetzten Gebieten in die Vernichtungslager. Es wurde über die jeweiligen Gesandtschaften in Rumänien und der Slowakei Einfluss auf die dortigen Regierungen und deren Politik gegen die Juden genommen und die verbündeten Staaten zur Deportation der dort lebenden Juden gedrängt. Bei steigendem Einfluss der SS auf das AA verstärkte sich diese Kooperation mit dem Reichssicherheitshauptamt weiter. Zur Kriegs- 53 Eschenburg Theodor: Diplomaten unter Hitler, in: Die Zeit v. 5. Juni 1987, S. 36. Dazu: Browning, Christopher: The final Solution and the German Foreign Office. New York, London 1978. Derselbe: Der Weg zur “Endlösung”. Entscheidungen und Täter, Bonn 1998; und Hans-Jürgen Döscher: SS und Auswärtiges Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“, 2. Aufl. Frankfurt-Berlin 1991. 55 Döscher, S. 223. 54 23 politik war als weitere Funktion des Auswärtigen Amtes die „diplomatische“ Vorbereitung, die Abschirmung und Mitwirkung an der Vernichtung der europäischen Juden gekommen. 24 Wolfgang Neugebauer (Teilaspekte zu) Verfolgung und Widerstand in Ostmittel- und Osteuropa Ich gestehe, dass mir dieses Referat einiges Kopfzerbrechen bereitet hat. Zum einen beschäftige ich mich zwar schon lange mit österreichischem und deutschem Widerstand und dessen Einbettung in den europäischen Widerstand und habe an einem von Ger van Roon herausgegebenen Sammelband „Europäischer Widerstand im Vergleich“ (Berlin 1985) mitgewirkt, bin aber kein Experte für die einzelnen Länder Ost- und Ostmitteleuropas, zum anderen ist die wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema fast unüberschaubar. Angesichts der Zahl der staatlichen Gebilde und Territorien, der Vielschichtigkeit und Komplexität der Geschichte der einzelnen Länder und Völker kann ich nicht auf alle eingehen, sondern habe zwei mir wichtig erscheinende Staaten, nämlich Tschechien und Polen, herausgegriffen. Die von der FPÖ vom Zaun gebrochene Diskussion um Beneš- und AVNOJ-Dekrete und die Auseinandersetzungen um die Wehrmachtsausstellung haben uns wieder vor Augen geführt, welche bis heute spannenden Bezüge zwischen den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg, der Nachkriegsordnung und den heutigen politischen Problemen bestehen, wie konfliktgeladen die europäische Zeitgeschichte ist und wie sie – ungeachtet von Verdrängung, Vergessen und Schlussstrichziehen – in Gegenwart und Zukunft hineinwirkt. Ich möchte daher auf die in den Jahren 1944/45 vor sich gehende, die Nachkriegsverhältnisse bestimmende Entwicklung besonders eingehen. Zunächst versuche ich, in aller Kürze Charakter und Ziele der deutschen Außenpolitik sowie die NS-Herrschaftssysteme im Osten zu skizzieren. Deutsche Außenpolitik / NS-Herrschaftssystem Schon bei der Lektüre von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ wird klar, dass es den Nationalsozialisten nicht nur um die Revision der im Versailler Vertrag festgesetzten Grenzen und um die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker ging. Vielmehr erachtete Hitler die Gewinnung des Lebensraumes im Osten als unabdingbar, damit sich das deutsche Volk im Kampf der Völker und Rassen behaupten könne. Sein außenpolitisches Programm zielte unverhüllt und mit gewaltsamen Methoden auf territoriale Eroberungen ab, auf Ausplünderung und Unterjochung fremder Völker bzw. deren partielle Germanisierung/Eindeutschung, auf die Zerschlagung des „jüdisch-bolschewistischen“ Systems der Sowjetunion sowie auf die Vernichtung der Juden und Dezimierung der 25 slawischen Völker, um schließlich die Vorherrschaft in Europa und letztlich die Weltherrschaft zu erringen. Im Zuge der Eroberungen im Zweiten Weltkrieg wurden diese rassistischen Vorstellungen mit barbarischen Methoden umgesetzt. Die Ermordung der im deutschen Herrschaftsbereich befindlichen europäischen Juden war keineswegs der Abschluss dieser genozidalen Politik. Reichsführer SS Heinrich Himmler gab als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums den Befehl zur Ausarbeitung einer Gesamtkonzeption zur Germanisierungspolitik in den besetzten und noch zu erobernden Gebieten, der im Mai 1942 vorgelegt und als Generalplan Ost bekannt wurde (Dietrich Eichholtz, Der „Generalplan Ost“ und seine Opfer, in: Werner Röhr [Hg.], Faschismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer, Berlin 1992, S. 291-299; Wolfgang Benz, Der Generalplan Ost. Zur Germanisierungspolitik des NS-Regimes in den besetzten Ostgebieten 1939-1945, in: ders. [Hg.], Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt/Main 1995, S. 45-57; Rolf-Dieter Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt/Main 1991). Vier Millionen Germanen, vor allem SS-Angehörige als Wehrbauern, sollten die Hegemonie über die zu dezimierende und zu Arbeitssklaven degradierte slawische Bevölkerung ausüben. Dass eine solche mörderische Politik, die nicht einmal mehr wie in den besetzten westeuropäischen Ländern Satelliten- oder Kolloborateurregimes zuließ, auf den erbitterten Widerstand der betroffenen Völker stoßen musste, lag auf der Hand. Der Widerstand im Osten hatte daher nicht nur den Charakter eines nationalen Befreiungskampfes, es war ein Existenzkampf im wahrsten Sinn des Wortes. Tschechien / ČSR Wie aus dem so genannten Hossbach-Protokoll vom November 1937 hervorgeht, war die Zerschlagung der Tschechoslowakei – gemeinsam mit Österreich – das vorrangigste außenpolitische Ziel Hitlers. Die 1918 von Thomas G. Masaryk gegründete ČSR war zwar wirtschaftlich und militärisch stark, außenpolitisch durch Pakte mit Frankreich und der Sowjetunion abgesichert, stabil demokratisch, aber die ungelösten Nationalitätenkonflikte mit den so genannten Sudetendeutschen und Ungarn schwächten ihre Stellung und begünstigten die NS-Propaganda. Die von Konrad Henlein geführte Sudetendeutsche Partei, die zwei Drittel der deutschen Wähler gewann und von Hitler unterstützt und instruiert wurde, unterminierte zielbewusst den eigenen Staat. Diese Haltung eines großen Teils der Sudetendeutschen und deren nachfolgende Kooperation mit den deutschen Besatzern war mit 26 ein Grund für die Vertreibung 1945. Die verhängnisvolle Appeasement-Politik der Westmächte zwang die ČSR im Münchener Abkommen vom September 1938 zur Abtretung der sudetendeutschen Gebiete. Die so genannte Rest-Tschechei wurde im März 1939 als Reichsprotektorat Böhmen und Mähren dem Dritten Reich einverleibt (Detlef Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat, Teil I und II, München-Wien 1969 bzw. 1975), während die Slowakei zum Satellitenstaat wurde. Spätestens mit diesem offenen Aggressionsakt wurde sichtbar, dass es Hitler nicht um die Vereinigung aller Deutschen ging, sondern um die Unterjochung fremder Staaten und Völker, um eine imperialistische Expansionspolitik. Dem Protektorat wurde eine Scheinautonomie mit – machtlosen – Präsidenten und Premierminister gewährt. Die Politik wurde von Hitlers Statthalter, dem Reichsprotektor, gemacht, Deutsche besetzten die Schlüsselstellen. Fernziel war die „Endlösung der Tschechenfrage“, d.h. eine totale Germanisierung des strategisch wichtigen Raumes und eine Vernichtung der tschechischen Nation, auch eine zahlenmäßige Reduzierung der Bevölkerung. Aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen – es ging um die Ausnützung des tschechischen Menschen- und Produktionspotenzials für die Kriegsführung – wurden diese tendenziell genozidalen Absichten nicht unmittelbar verwirklicht. Diese taktische Mäßigung bewirkte, dass das deutsche Besatzungssystem (ich zitiere Radomir Luža, S. 372) ein „Mittelding“ zwischen den Besatzungsregimen in Westeuropa und Osteuropa war. In der aktuellen Diskussion um die Beneš-Dekrete werden zwar gelegentlich einzelne Ereignisse wie das Massaker von Lidice erwähnt, aber nicht das volle Ausmaß der verbrecherischen Politik Hitlerdeutschlands und die damit zusammenhängende Verbitterung der Tschechen dargestellt. Gegen jeden Widerstand wurde mit äußerster Brutalität vorgegangen, und die „Endlösung der Judenfrage“ wurde konsequent durchgeführt. Reinhard Heydrich, der im September 1941 den als zu schwach angesehenen von Neurath als Reichsprotektor ablöste, begann noch im selben Jahr mit der Ausrottungspolitik durch die Errichtung des Lagers Theresienstadt, verharmlosend „Altersghetto“ genannt. In diesem Lager starben 33.000 meist deutschsprachige Juden, 88.000 wurden in Vernichtungslager wie Auschwitz weiter deportiert. Insgesamt kamen mehr als 80.000 Juden des Protektorats ums Leben. Nach dem Attentat auf Heydrich am 27. Mai 1942 (Alan Burgess, Sieben Mann im Morgengrauen. Das Attentat auf Heydrich, Gütersloh 1960; Hellmut G. Haasis, Tod in Prag. Das Attentat auf Reinhard Heydrich, Reinbek bei Hamburg 2002) erfolgte nochmals eine 27 Steigerung des Terrors, die in der Auslöschung des Dorfes Lidice seinen grausamen Höhepunkt erreichte. Die Terrormaßnahmen gegen Tschechen nahmen jedoch nicht jenes Ausmaß wie gegen Polen oder in Weißrussland an. In dem Standardwerk von Mamatey/Luža (Victor S. Mamatey / Radomir Luža [Hg], Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918-1948, Wien-KölnGraz 1980, S. 338f.) werden die Bevölkerungsverluste durch politische Verfolgung und KZHaft mit mindestens 36.700 bis höchstens 55.000 angegeben (im Vergleich: im Ersten Weltkrieg starben 180.000). Die Bevölkerungszahl nahm sogar um 180.000 zu. Für den tschechischen Widerstand und überhaupt für die Entwicklung des Landes war die Existenz einer Exilregierung von überragender Bedeutung. Staatspräsident Edvard Beneš war im Oktober 1938 nach London gegangen, hatte die Zerschlagung seines Landes nicht anerkannt und bemühte sich bei den Alliierten hartnäckig um die Anerkennung als Exilregierung. Erst im Juli 1940 erkannte Großbritannien das Nationalkomitee Beneš als provisorische tschechoslowakische Regierung an. Im Juli 1941 erfolgte die de jure Anerkennung durch Großbritannien, USA und UdSSR. Die Ziele der Exilregierung, die auch für weite Teile des Widerstands im Lande maßgeblich waren, bestanden in Folgendem: - Rückgängigmachung des Münchner Abkommens, Wiederherstellung der ČSR in den alten Grenzen, Sicherheitsgarantien durch die Alliierten, - Erreichung eines Modus vivendi mit der Kommunistischen Partei (später wurde Beneš zu große Nachgiebigkeit in der Zusammenarbeit mit der KP vorgeworfen), - Lösung der sudetendeutschen Frage, d.h. einschneidende Reduzierung des deutschsprachigen Bevölkerungsanteils. In diesem bis heute wichtigen Punkt erreichte Beneš noch während des Krieges die Zustimmung der Alliierten zur Aussiedlung der Deutschen. Von Anfang an unterstützte die Exilregierung den tschechischen Widerstand. Die ersten Widerstandsgruppen hatten sich im Frühjahr und Sommer 1939 formiert. Nach Radomir Luža unterschieden sich diese deutlich von den traditionellen Parteien, es waren jüngere, aktivistische Kräfte und es fand ein Linksruck statt. Er unterscheidet vier Hauptgruppen: - die Armee (ON, Verteidigung der Nation), - die ehemaligen Mitarbeiter Beneš (PU, Politisches Zentrum), - sozialdemokratische und linke Intellektuelle (PVZZZ, Petitionskomitee Wir bleiben treu). Diese Gruppe entwickelte ein demokratisch-sozialistisches Programm, das von ON und 28 PU übernommen und zum Programm der ersten Regierung der befreiten ČSR wurde. Darin war die Wiederherstellung der ČSR und die Entfernung der Sudetendeutschen enthalten. Diese Gruppierung schlossen sich zum Zentralkomitee des Widerstands (UVOD) zusammen. - Die vierte Richtung bildete die KSČ, die Kommunistische Partei, die als einzige traditionelle Partei weiterbestehen blieb. Sie vertrat wie alle KP´s die Volksfront-Linie, ausgenommen allerdings die Zeit des Hitler-Stalin-Pakts 1939-1941, als sie gegen den imperialistischen Krieg, gegen die Regierung Beneš und gegen die Wiederherstellung der ČSR auftrat. Zu erwähnen ist auch, dass sowohl Präsident Hacha als auch der Premierminister General Eliasch die Regierung Beneš insgeheim anerkannten. Eliasch wurde wegen dieser Zusammenarbeit zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Tätigkeit des Widerstands bestand - in der Informationsbeschaffung für die Exilregierung und für Alliierte, - in der Organisierung von Streiks, Langsamarbeiten, allerdings gab es nur wenig Sabotageakte, - in Propaganda und Untergrundpublikationen; - am Anfang gab es auch verlustreiche öffentliche Manifestationen, z.B. am Unabhängigkeitstag, dem 28. Oktober 1939. Die brutalen Vergeltungsmaßnahmen – 9 Studenten wurden erschossen, andere kamen ins KZ, die Universitäten wurden geschlossen – erwiesen solche Demonstrationen als nicht zielführend. Es ist bezeichnend, dass in dem seriösen und profunden Werk von Mamatey/Luža der von Sudetendeutschen geleistete Widerstand nicht vorkommt. Ich kann hier aus Zeitgründen darauf ebenso wenig wie auf den Widerstand in der Slowakei eingehen. Ich kann nur auf die fundierten Arbeiten von Leopold Grünwald über den sudetendeutschen Widerstand verweisen (Leopold Grünwald, Im Kampf für Frieden und Freiheit. Sudetendeutscher Widerstand gegen Hitler, 2 Bde., Veröffentlichung des Sudetendeutschen Archivs in München 12 und 13, München 1978 bzw. 1979; ders., [Hg.] Sudetendeutsche – Opfer und Täter. Verletzungen des Selbstbestimmungsrechtes und ihre Folgen 1918-1982, Wien 1983). Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Opfer – mehr als 1.000 Hingerichtete, über 4.000 in KZ gebrachte Häftlinge – im Verhältnis zur Einwohnerzahl größer war als in Deutschland oder Österreich. In diesem Licht, meint Grünwald, erscheint das Unrecht der Vertreibung der Sudetendeutschen „besonders krass“. 29 Mit der Exilregierung und den Alliierten hatten die tschechischen Widerstandsgruppen eine enge Kooperation, insbesondere beim Transport von Fallschirmspringer-Agenten. Im Oktober 1941 ordnete Beneš die Tötung Heydrichs durch ein Spezialkommando an. Das gelungene Attentat am 27. Mai 1942 hatte brutale Vergeltungsmaßnahmen zur Folge: Die Attentäter wurden im Juni in einer Prager Kirche gestellt und fielen; die orthodoxe Kirche wurde aufgelöst, ein Bischof, drei Kleriker und zahlreiche Unterstützer ermordet. Das Netz der Widerstandsbewegung wurde weitgehend zerschlagen und musste mühsam wieder aufgebaut werden. Hunderte Todesurteile wurden monatlich gefällt. Nach den Siegen der Alliierten, insbesondere bei Stalingrad 1942/43, nahm der Widerstand einen starken Aufschwung. 1944 vereinigten sich mehrere Gruppen im Rat der Drei/R3. Diese Organisation trat für soziale und wirtschaftliche Reformen, für eine Annäherung an die Kommunisten und eine enge Bindung an die SU ein und bereitete einen bewaffneten Aufstand vor. Es kam zur Bildung von Partisanengruppen, in denen geflohene sowjetische Kriegsgefangene sowie sowjetische Fallschirmspringer eine führende Rolle einnahmen. Sie kooperierten mit dem tschechischen Widerstand, standen aber unter dem Kommando der Roten Armee. Im Winter 1944/45 kam es zu heftigen Kämpfen zwischen diesen Partisaneneinheiten und den Deutschen in Westmähren und Ostböhmen. Auf den slowakischen Aufstand vom Sommer 1944 kann ich hier nicht eingehen. 1945 wurde als Dachorganisation der Tschechische Nationalrat (CNR) gegründet, das Luža als farbloses und uneinheitliches Zentralorgan negativ bewertet. Im April 1945 spitzte sich die Lage zu. Der revolutionäre Schwung kam vor allem den Kommunisten zugute, die in der am 4. April 1945 im befreiten Kosice gebildeten Koalitionsregierung starken Einfluss (vor allem im Sicherheitsapparat und in der Armee) erhielten. Im Mai kam es vielerorts zu Befreiungsaktionen bzw. zu Wiedereroberungen durch die Deutschen, in deren Gefolge es zu brutalen Repressalien kam. Am 5. Mai 1945 erfolgte der Aufstand in Prag, der nach dreitägigem Kampf mit der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai endete. Am 9. Mai zog die siegreiche Rote Armee, von der Bevölkerung begeistert begrüßt, in Prag ein, einen Tag später die Exilregierung. Der CNR trat zurück, seine Mitglieder kamen nicht in die Regierung, die Führer der Widerstandsbewegung spielten nur eine untergeordnete Rolle in der neuen ČSR. Die nach der Befreiung erfolgten Ausschreitungen gegen die Deutschen hatten – was keine Rechtfertigung für Massenmorde sein soll – ihre Ursache in dem durch sechsjährige Unterdrückung und massenhafte Verbrechen aufgestauten Hass in der tschechischen 30 Bevölkerung. Die Vertreibung der Sudetendeutschen hatte tiefere Ursachen, sie resultierte aus der Einsicht praktisch aller politischer Kräfte der Tschechoslowakei, dass das friedliche Zusammenleben mit den Deutschen in einem Staat nicht möglich und daher eine Trennung mittels Aussiedlung erforderlich sei. Diese Vorstellung fand schon während des Krieges die Zustimmung der Alliierten, wurde auf der Konferenz in Potsdam am 2. August 1945 formell beschlossen und zum Bestandteil der europäischen Nachkriegsordnung. Die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs, auch wenn sie heutigen Menschenrechtsmaßstäben zuwiderlaufen, können nicht nachträglich umgestürzt werden, will man nicht die gesamte europäische Ordnung bis hin nach Russland destabilisieren. Es ist jedoch legitim und notwendig, diese bislang verdrängen Aspekte historisch aufzuarbeiten und unter Berücksichtigung der gesamten Vorgeschichte politische und moralische Bewertungen vorzunehmen. Inwieweit die Gültigkeit/Wirksamkeit für Gegenwart und Zukunft eingeschränkt oder aufgehoben werden soll, ist eine offene, in gegenseitigem Einvernehmen zu klärende Frage. Polen Wie Sie wissen, ist Polen nach Teilungen, Fremdherrschaften und Freiheitskämpfen am Ende des Ersten Weltkriegs, 1918, als souveräner Staat, aber mit beträchtlichen nationalen und religiösen Minderheiten, wieder erstanden und musste sich stets gegen Ansprüche und Infragestellungen seitens übermächtiger Nachbarn – Deutschland und Russland – behaupten. Für Hitler und das NS-Regime gehörte Polen zu jenen Staaten, die den zu erobernden Lebensraum im Osten darstellten und gegen die sich die aggressive Außenpolitik richtete, wobei auch hier die Diskriminierung der deutschen Minderheit durch das autoritäre Regime propagandistisch ausgenutzt wurde. Dass die Polen als Erste militärischen Widerstand gegen den am 1. September 1939 erfolgten deutschen Angriff leisteten, war kein Zufall. Es hängt mit der Tradition der polnischen Freiheitskämpfe und auch mit dem Wissen um das vom deutschen Faschismus drohende Schicksal zusammen. Während die Sowjetunion durch den Nichtangriffs- und Freundschaftspakt vom 22. August 1939 Hitlerdeutschland den Rücken frei machte, am 17. September selbst in Ostpolen einmarschierte und – aufgrund des geheimen Zusatzabkommens – große Gebiete annektierte, hatten die Westmächte zwar den Krieg erklärt, waren aber Polen militärisch nicht zu Hilfe gekommen. Nach heldenhaftem Kampf mit 100.000 Gefallenen musste Polen am 27. September kapitulieren. Der polnische Staat wurde zerschlagen und an Deutschland grenzende Gebiete 31 dem Deutschen Reich einverleibt, während das zentralpolnische Gebiet als „Heimstätte der Polen“ zum „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiet“ erklärt wurde. Weitere territoriale Veränderungen ergaben sich nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941, als u.a. die früher zu Polen gehörenden weißrussischen und ukrainischen Gebiete den „Reichskommissariaten“ Ostland und Ukraine zugeschlagen wurden. Polen war das erste Land, wo die rassenideologischen Vorstellungen des Nationalsozialismus verwirklicht wurden. Ziel der Besatzungspolitik war die schnelle Germanisierung, die mit unerhörtem Terror sowohl gegen Juden als auch gegen nichtjüdische Polen durchgeführt wurde. So wurden aufgrund rassenbiologischer Untersuchungen tausende Kinder „germanischen Typs“ ihren Eltern weggenommen und deutschen Familien oder der „Lebensborn“-Organisation übergeben. Viele tausende polnische Bürger, vor allem Intellektuelle, Geistliche, Gewerkschafter, Linke, wurden von Einsatzgruppen des SD ermordet. Am bekanntesten war die Verhaftung und KZ-Einweisung von 183 Krakauer Universitätsprofessoren im November 1939. Über eine Million Polen wurden als entrechtete Zwangsarbeiter in das Deutsche Reich gebracht. Im Zuge von groß angelegten Umsiedlungsmaßnahmen wurden im Warthegau brutale Enteignungs- und Aussiedlungsaktionen vorgenommen. Im Dezember 1939 fand die erste planmäßige Massendeportation von Juden und Polen im Reichsgau Wartheland statt und setzte sich in den eingegliederten Ostgebieten bis 1941 fort. 365.000 Juden und Polen wurden in das Generalgouvernement deportiert. Bald setzten auch dort massive Terroraktionen insbesondere gegen Juden ein, die systematisch unter lebensunwürdigen Umständen in Ghettos konzentriert und mittels Zwangsarbeit ausgebeutet wurden. Ende 1941 begann mit der Errichtung der Vernichtungslager Chelmno die „Endlösung der Judenfrage“, die Shoa. Der „Aktion Reinhard“, der Ermordung der Juden des Generalgouvernements, fielen ca. zwei Millionen Menschen zum Opfer, insgesamt waren es 2,7 Millionen. Die im September 1939 geflüchtete polnische Regierung formierte sich zuerst in Paris, dann in London unter dem General Sikorski als Exilregierung und wurde von Frankreich, Großbritannien und den USA anerkannt. Eine polnische Exilarmee kämpfte auf Seiten der Anti-Hitler-Koalition. Das am 30. Juli 1941 mit der Sowjetunion geschlossene Abkommen zur Unterstützung im Kampf gegen Hitlerdeutschland und zur Aufstellung einer polnischen Armee in der SU, der so genannten Anders-Armee, hielt nur bis April 1943, als die Leichenfunde von Katyn bekannt wurden und Stalin die diplomatischen Beziehungen abbrach. Wie wir heute wissen, hatte das Politbüro der KPdSU am 5. März 1940 die 32 Ermordung von mehr als 20.000 polnischen Gefangenen, zum Großteil Offiziere, beschlossen, die im April und Mai 1940 vollzogen wurde. Dieser stets geleugnete Massenmord belastete bis in die Neunzigerjahre die polnisch-russischen Beziehungen. Noch im Jahr 1939 setzte der polnische Widerstand in Form von Untergrundorganisationen ein (Wolfgang Jacobmeyer, Henryk Dobrzanski [„Hubal“] – Ein biographischer Beitrag zu den Anfängen der polnischen Résistance im Zweiten Weltkrieg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 20. Jg., H. 1, Stuttgart 1972, S. 65-74) und wuchs bis Winter 1941/42 auf 100.000 Mann an. Am 14. Februar 1942 wurde die Armee im Lande, die Armia Krajowa/AK, gebildet, der sich die meisten militärischen Widerstandsgruppen anschlossen. Der polnische militärische Untergrund wurde – neben Jugoslawien – der größte in Europa und genoss vollen Rückhalt in der polnischen Bevölkerung. Die AK war wie die Regierungsdelegatur im Lande, an die Exilregierung und deren Programm gebunden und operierte in allen Gebieten, die vor dem Krieg zu Polen gehörten (Hermann-J. Mallmann, Die Armia Krajowa und die alliierten Mächte. Zum polnischen Widerstand, in: Gerhard Schulz [Hg.], Geheimdienste und Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1982, S. 188-222; Michael Unger, Armija Krajova. Die polnische Heimatarmee, Seminararbeit, Seminar Wolfgang Neugebauer, SS 1999). Im Hinblick auf das allgemeine Seminarthema wäre es angebracht, auf die Bedeutung des europäischen Widerstandes für die Entwicklung der Idee eines vereinten Europa einzugehen, die meines Erachtens viel zu wenig beachtet wird. Ich kann hier nur auf die grundlegenden umfangreichen Publikationen von Walter Lipgens hinweisen, u.a. auf „Documents on the History of European Integration“ (4 Bde., Berlin-New York 1984-1990; EuropaFöderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-1945. Eine Dokumentation, gesammelt und eingeleitet von Walter Lipgens, München 1968; 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939-1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, herausgegeben und kommentiert von Walter Lipgens, Bonn 1986; ders., European Federation in the Political Thought of Resistance Movements during World War II, in: Central European History, vol. 1, no. 1, March 1968, pp. 5-19; ders., Das Konzept regionaler Friedensorganisation. Resistance und europäische Einigungsbewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 14. Jg., H. 2, Stuttgart 1968, S. 150-164) bzw. auf einen bescheidenen Aufsatz von mir im DÖW-Jahrbuch 1998 (Wolfgang Neugebauer, Vom europäischen Widerstand zur Europäischen Union, in: DÖW Jahrbuch 1998, S. 46-57, insbes. S. 53). 33 Im polnischen Widerstand haben die polnische Sozialistische Partei PPS und die Bauernpartei im August 1941 die gemeinsame Erklärung „Programm Volkspolens“ vorgeschlagen, deren einziger außenpolitischer Punkt eine „Föderation freier europäischer Völker“ forderte. Die rechtsgerichteten Polnischen Nationaldemokraten lehnten im Polnischen Verständigungskomitee diese Forderung ab. Entschiedener Gegner europäischer Einigungsvorstellungen war die den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion vollständig untergeordnete kommunistische Bewegung, die den Widerstand als nationalen Befreiungskampf verstand und im Sinne der schon 1935 eingeleiteten Volksfront-Politik – unter Zurücksetzung sozialistischer Ziele – alle politischen Kräfte zum Kampf um die Wiederherstellung der Souveränität und Demokratie vereinen wollte. Das kommunistische Konzept des nationalen Befreiungskampfes erwies sich im europäischen Widerstand als äußerst attraktiv und ließ die Kommunisten vielfach zur stärksten, in einigen Ländern zur führenden Kraft im Widerstand werden. Wenn wir an Jugoslawien und an China, Vietnam und andere im Kampf gegen Besatzungsregimes und im Bürgerkrieg entstandene Systeme denken, wurde ein neues Modell einer gesellschaftlichen Umgestaltung, einer sozialistischen Revolution entwickelt. In Polen war diese Dominanz der Kommunisten angesichts der Rolle der AK vorerst nicht gegeben. Im Frühjahr 1942 entstand als eigene militärische Formation der Kommunisten die Volksgarde, die Gwardia Ludowa/GL, die Anfang 1944 in eine Volksarmee, die Armia Ludowa/AL, übergeführt wurde. Trotz der katastrophalen Bedingungen in den Ghettos und Lagern, trotz schierer Aussichtslosigkeit bildete sich auch ein beträchtlicher jüdischer Widerstand. Zurecht nannte Hermann Langbein sein Buch über den Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern „...nicht wie die Schafe zur Schlachtbank“ (Frankfurt/Main 1980), um das weit verbreitete Klischee von den sich in ihr Schicksal ergebenden Juden zu widerlegen. Die Vielfalt des jüdischen Widerstands wird in dem eindrucksvollen Werk von Arno Lustiger „Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945" (Köln 1994) sichtbar. In den Ghettos, in den KZ, Arbeits- und Vernichtungslagern, in den Wäldern formierte sich ein militanter jüdischer Widerstand, der bis zum bewaffneten Aufstand reichte. Inbegriff dieses heroischen Verzweiflungskampfes war der Aufstand im Warschauer Ghetto im April und Mai 1943. Die Jüdische Kampforganisation unter dem Haschomer HazairFührer Mordechai Anielewycz, vornehmlich aus linken zionistischen und nichtzionistischen Jugendlichen zusammengesetzt, leistete wochenlang Haus um Haus kämpfend den 34 übermächtigen SS-Truppen Widerstand. (Ich möchte in diesem Zusammenhang auf den Film „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" von Claude Lanzmann hinweisen, in dem ein Überlebender des Aufstands im Vernichtungslager berichtet.) Die Ghettokämpfer erhielten nur bescheidene Unterstützung vom polnischen Widerstand – Wladyslaw Bartoszewsky, einer der damaligen Helfer, hat darüber ein Buch verfasst. Weit verbreiteter Antisemitismus, aber auch die Angst vor deutschen Repressalien verhinderten weitreichendere Hilfe für Juden. Im Winter 1943/44 ging die AK zum offenen Guerillakrieg über, wobei die Befreiung polnischer Gebiete noch vor den sowjetischen Truppen intendiert wurde. Als die Rote Armee im Zuge der Sommeroffensive 1944 in Warschau das rechte Weichselufer erreicht hatte, löste General Graf Bor-Komorowski am 1. August den Warschauer Aufstand aus (Gernot Albrecht, Der Warschauer Aufstand 1944, Seminararbeit, Seminar Wolfgang Neugebauer, SS 1999). Da die Rote Armee zuerst nicht helfen konnte, dann nicht wollte oder durfte, und auch die Westalliierten aus der Luft dazu nicht in der Lage bzw. willens waren, mussten die Aufständischen am 2. Oktober 1944 kapitulieren. Auf Weisung Hitlers wurde nach den Kämpfen die ohnehin schon 1939 und 1943 schwer beschädigte Stadt Warschau Haus für Haus zerstört. (An dieser Stelle darf ich nochmals einen Hinweis auf Filme geben: nämlich Meisterwerke von Andrzej Wajda, „Der Kanal“ und „Asche und Diamant“.) Der Aufstand forderte nicht nur große Opfer – 15.000 Gefallene, 150.000 tote Zivilisten, 50.000 KZ-Deportationen, 150.000 Menschen zur Zwangsarbeit verschleppt - nach Meinung vieler Historiker war er politisch und militärisch verfehlt. Auf alle Fälle schwächte er den nichtkommunistischen Widerstand entscheidend. Die AK büßte ihre Bedeutung ein und wurde am 19. Jänner 1945 offiziell aufgelöst. Mit der am 12. Jänner 1945 begonnenen Offensive der Roten Armee wurde Polen innerhalb weniger Wochen befreit. Es war offenkundig, dass die Sowjetunion die ihr nahe stehenden politischen Kräfte und Widerstandsgruppen an die Macht bringen wollte und der Rückhalt der Exilregierung und der mit ihr verbundenen Kräfte bei den Westalliierten, die damals keinen Konflikt mit Stalin wollten, zunehmend geringer wurde. Die Kommunistische Partei Polens war 1938 von der Komintern aufgelöst worden und zahlreiche Funktionäre fielen dem Stalinterror zum Opfer. Schon 1941 hatte die Sowjetregierung ein „Polnisches Komitee“ in Saratow und 1943 einen Bund polnischer Patrioten ins Lebens gerufen sowie sowjetpolnische Divisionen aufgestellt. Das am 25. Juli 1944 entstandene „Polnische Komitee der nationalen Befreiung“ (Lubliner Komitee) unter Boleslav Bierut, ein Zusammenschluss kommunistischer, linkssozialistischer und „fortschrittlicher“ Kräfte der alten Opposition, 35 wurde als alleinige Vertretung des polnischen Volkes anerkannt. Es erklärte sich am 1. Jänner 1945 zur „provisorischen Regierung“ Polens und zog noch im selben Monat in Warschau ein. Mit dieser Regierung schloss die Sowjetunion am 21. April 1945 einen Freundschafts- und Beistandspakt, der zur Grundlage des von ihr abhängigen Nachkriegsstaates wurde. Weder die Westmächte noch die Exilregierung und die antikommunistischen Kräfte im Land waren im Stande, diese zur so genannten „Volksdemokratie“ und zum Satellitendasein Polens führende Entwicklung aufzuhalten. Darauf und auf die territorialen Veränderungen Polens kann ich hier nicht mehr eingehen. Die letztlich auf den Bajonetten der Roten Armee aufgerichtete kommunistische Diktatur wurde als antifaschistische-demokratische Umwälzung bzw. Ordnung interpretiert. Der politisch breite nationale Widerstand der Polen wurde von den kommunistischen Machthabern zum reinen antifaschistischen Widerstand unter der Führung der Kommunisten uminterpretiert. Juden verschwanden als Opfer, z.B. waren auf Gedenktafeln im Vernichtungslager Sobibor nur „Staatsbürger“ Polens, der SU u.a. Länder angeführt. Insgesamt waren fast 6 Millionen polnische Staatsbürger, darunter mindestens 2,7 Millionen Juden und die Hälfte der nichtjüdischen Intelligenz, der deutschen Besatzungspolitik im Generalgouvernement und den eingegliederten Gebieten zum Opfer gefallen. Schlussbemerkungen Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass die von rassistischen Vorstellungen geleitete nationalsozialistische Herrschaftspolitik in Osteuropa, die sich von der Besatzungspolitik im Westen grundlegend unterschied, auf den entschiedenen Widerstand der Völker stieß, dass sich ein breiter, alle politischen Gruppen umfassender Widerstand formierte, der auch zu beachtlichen militärischen Aktionen führte und viele Opfer forderte. Die Eroberung dieser Länder durch die sowjetischen Streitkräfte und die von der Sowjetunion kommende Unterstützung und Anleitung ermöglichten den aus dem kommunistischen Widerstand und Exilgruppen kommenden Kräften die Machtergreifung nach der Befreiung, wodurch diese Länder kommunistisch und in den sowjetischen Herrschaftsbereich einverleibt wurden. Diese aus Widerstand und Verfolgung resultierende Nachkriegsordnung Ostmittelund Osteuropas dauerte bis 1989. Zuletzt noch eine Bemerkung zu den aktuellen Bezügen: Friedrich Heer hat den Ausdruck „Jahrhundert der Entwurzelung“ geprägt; Aussiedlung, Umsiedlung, Vertreibung, Deportation und Genozid waren – nicht nur für faschistische und nationalistische Diktaturen – die 36 Instrumente zur „Lösung“ ethnischer Probleme. Nicht die Rückgängigmachung, gegenseitige Aufrechnung oder die Prolongation von negativen Emotionen und Hass, sondern die gemeinsame Auseinandersetzung, kritische Aufarbeitung, Gespräche und Dialog scheinen mir der einzige Weg, um aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Nichts ist zielführender auf diesem Weg als die Erweiterung der Europäischen Union zu dem, was Michail Gorbatschow das gemeinsame Haus Europa genannt hat. 37 38 Barbara Distel Zur Rolle und Struktur der nationalsozialistischen Konzentrationslager Die Befreiung der Konzentrationslager durch alliierte Truppenverbände ab Herbst 1944 offenbarte Zustände, die jede Fantasie überstiegen. Die Konfrontation mit der Realität nationalsozialistischer Verfolgung, gerichtet gegen politische Gegner, Opfer der Rassenideologie, gesellschaftliche Randgruppen, unangepasste Minderheiten, Widerstandskämpfer und Eliten der unterworfenen Völker vieler Nationen Europas, Kriegsgefangene der Roten Armee und Arbeitssklaven, löste Entsetzen und Abscheu aus und erklärt drastische Reaktionen der Alliierten bei der Besetzung Deutschlands. Die Namen mancher Konzentrationslager wurden zum Synonym des Staatsterrors, viele sind aber vergessen und mit der Beseitigung ihrer Spuren in der Nachkriegszeit sind diese Schreckensorte auch aus dem allgemeinen Gedächtnis verschwunden. 1944 existierten im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich mindestens 25 Konzentrationslager mit rund 1.600 Außenlagern, wenn man die formal korrekte Definition – Unterstellung unter den Reichsführer-SS, zentrale Administration durch die Inspektion der Konzentrationslager und durch das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt – zu Grunde legt, wenn man die reinen Mordstätten und Vernichtungslager wie Chelmno (Kulmhof), Belzec, Sobibor, Treblinka (deren Spuren teilweise schon 1943 verwischt wurden) nicht mitrechnet und wenn man die zahllosen Haft- und Terrororte außer Acht lässt, die nicht als Konzentrationslager definiert waren, die unter verschiedener Hoheit als Zwangsarbeitslager für Juden, als Arbeitserziehungslager, als Polizeihaftlager in den besetzten Gebieten, als „Sonderlager“ mit wechselnder Funktion wie der Komplex der 15 Lager im Emsland an der niederländischen Grenze, als „Jugendschutzlager“, als Ghetto, als „Zigeuner-Lager“ oder als mobile SS-Bau oder Eisenbahnbaueinheit firmierten. Diese Haftstätten, in denen weitgehend die gleichen Bedingungen herrschten wie in den offiziellen Konzentrationslagern, gehörten nicht zum System der Konzentrationslager, das mit der Errichtung von Dachau im März 1933 begründet wurde und mit der Befreiung von Mauthausen am 5. Mai 1945 und dessen Nebenlager Ebensee am Nachmittag des folgenden Tages zu bestehen aufhörte. 39 1. Entstehung und Bedeutung der Konzentrationslager Die Verordnung des Reichspräsidenten zum „Schutze von Volk und Staat“ suspendierte am 28. Februar 1933 das Grundrecht der persönlichen Freiheit und ermöglichte die Verfolgung politischer Gegner des Regimes außerhalb der Justiz. Die Errichtung von „Konzentrationslagern“ (von der NSDAP schon vor 1933 propagiert) zur Vollstreckung der „Schutzhaft“ an geeigneten Orten (stillgelegten Fabriken, Gefängnissen, aufgelassenen Zuchthäusern, Kasernen, Arbeitshäusern, auch SA- und SS-Sturmlokalen) begann im März 1933 an zahlreichen Orten des ganzen Reichsgebiets. Die Bewachung der Gefangenen – zunächst vor allem kommunistische und sozialdemokratische Funktions- und Mandatsträger und andere Oppositionelle – oblag der Polizei, der SA, der SS, dem Stahlhelm als Hilfspolizei. Sie war anfangs nicht einheitlich geregelt. Die Existenz der meisten KZ dieses Typs endete bereits 1933 und 1934. Unter ausschließlicher Hoheit der SS entwickelte sich ab Mitte 1934 auf der Grundlage der „frühen KZ“ das System des Staatsterrors, das sich zum SS-Imperium mit eigenen wirtschaftlichen Interessen und Produktionsbetrieben, zum Arbeitskräftereservoir der Rüstungsindustrie und zum Vernichtungsapparat der Rassenpolitik perfektionierte. Die Wachmannschaften der KZ spielten bei der Entstehung der Waffen-SS eine wichtige Rolle. Nach der völlig unkontrollierten Rekrutierung der Gefangenen in der Anfangszeit durch lokale Stellen und Initiativen erfolgte nach der Zentralisierung des KZ-Systems die Einweisung durch die Gestapo. Der Schutzhafterlass des Reichsministers des Innern vom 12./26. April 1934 schrieb die Rechtlosigkeit der KZ-Gefangenen reichseinheitlich fest. 2. Organisation und Strukturen Die Konzentrationslager waren seit 10. Dezember 1934 der „Inspektion der Konzentrationslager RFSS (Reichsführer SS)“ unterstellt, die ihren Sitz in Berlin, ab 1938 in Oranienburg, hatte. Erster „Inspekteur der Konzentrationslager und SS-Wachverbände“ (SS-Totenkopfverbände) wurde Theodor Eicke. Er war seit Sommer 1933 Kommandant des Konzentrationslagers Dachau, das sich unter seiner Leitung zum Modell der Prinzipien der Häftlingsbehandlung, der Organisation und der Kompetenz- und Aufgabenverteilung bei der Leitung und Verwaltung der Konzentrationslager entwickelte. Die Organisation in fünf Lagerabteilungen galt grundsätzlich seit Mitte 1934 und praktisch seit 1936 für alle Konzentrationslager: 40 I. Kommandatur (Lagerkommandant, Adjutant, Postzensurstelle), II. Politische Abteilung (Leiter der Politischen Abteilung, Erkennungsdienst), III. Schutzhaftlager (Schutzhaftlagerführer, Rapportführer, Blockführer, Arbeitsdienstführer, Kommandoführer), IV. Verwaltung (Verwaltungsführer, Gefangenen-Eigentumsverwaltung, Lager-Ingenieur) und V. Lagerarzt. Diese Struktur wiederholte sich in größeren Außenlagern, die dem Hauptlager unterstellt blieben. Das Gleiche gilt für die Hierarchie der Häftlingsgesellschaft mit dem „Lagerältesten“ an der Spitze. Bei den Lagern waren kasernierte SS-Wachverbände stationiert, die seit Ende 1934 nicht mehr zur allgemeinen SS zählten, sondern als „SS-Wachverbände“ oder „SS-Totenkopfverbände“ bezeichnet wurden und damit einen Zweig der bewaffneten SS bildeten. Die „Inspektion der Konzentrationslager“ wurde am 1. Juni 1940 dem SS-Hauptamt/ Kommandoamt der Waffen-SS unterstellt und am 15. August 1940 in Amt VI des SS-Führungshauptamts umgewandelt. Am 16. März 1942 wurde sie als Amtsgruppe D dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt eingegliedert. 3. Die Entwicklung und Dimension des Konzentrationslagersystems 1933-1945 Die Geschichte der Konzentrationslager lässt sich in sechs Phasen einteilen. In den ersten Wochen und Monaten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme entstanden in Deutschland zahlreiche so genannte „frühe oder wilde“ Konzentrationslager. Von SA, SS, Polizei und Hilfspolizei bewacht und deren Willkür ausgeliefert, wurden dort die Gegner des NS-Regimes inhaftiert. Im Sommer 1933 waren mehr als 26.000 Menschen inhaftiert. Die „frühen“ Konzentrationslager wurden mit Ausnahme von Dachau ab 1933 wieder aufgelöst. Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch die administrative Vereinheitlichung der Konzentrationslager nach dem Modell des von Theodor Eicke seit 1933 geleiteten KZ Dachau. Seit Dezember 1934 unterstanden ihm als „Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SSTotenkopfverbände“ die Konzentrationslager. Im Sommer 1935 war die Zahl der Häftlinge mit weniger als 4.000 auf den niedrigsten Stand gefallen. 1936 setzte in der dritten Phase eine gegenläufige Entwicklung ein. Die Verfolgung richtete sich nun weniger auf die politischen Oppositionellen, als auf unerwünschte Minderheiten und 41 „Volksschädlinge“ wie „Asoziale“, „Arbeitsscheue“ und Kriminelle („Berufsverbrecher“). Bis Kriegsbeginn wurden neben Dachau sechs weitere Konzentrationslager errichtet: Sachsenhausen im Juli 1936, Buchenwald im Juli 1937, Flossenbürg im Mai 1938, Mauthausen im August 1938, Neuengamme im September 1938 und Ravensbrück im Mai 1939. Seit August 1938 war der „Führer der SS-Totenkopfverbände und Konzentrationslager“, wie die amtliche Bezeichnung von Eickes Stab nun lautete, in Oranienburg bei Berlin in der Nähe von Sachsenhausen untergebracht. Gleichzeitig begann man die Arbeitskraft der Häftlinge auszubeuten. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurden etwa 25.000 jüdische Männer inhaftiert, sodass sich Ende 1938 vorübergehend etwa 60.000 Menschen in den Konzentrationslagern befanden. Bis Kriegsbeginn sank diese Zahl auf etwa 21.000. Der Kriegsbeginn markiert eine einschneidende Veränderung. Obwohl auch viele deutsche potenzielle Gegner inhaftiert wurden, bildeten die in den besetzen Ländern festgenommenen Belgier, Franzosen, Holländer, Polen und Tschechen die Mehrheit in den Konzentrationslagern. Gleichzeitig expandierte das KZ-System. Im September 1939 wurden die ersten Häftlinge in Stutthof eingeliefert, im Juni 1940 in Auschwitz, im August 1940 in Groß-Rosen, im Mai 1941 in Natzweiler-Struthof, im Juni 1941 in Krakau-Plaszow und im November 1941 in Lublin-Majdanek. Die Häftlingszahlen in den Konzentrationslagern außerhalb des Reichsgebietes überstiegen bald die der Reichsdeutschen. Die Häftlinge wurden nun in immer größeren Ausmaß zur Zwangsarbeit herangezogen. In Dachau stieg die Sterblichkeitsrate von 4 % im Jahre 1938 auf 36 % 1942, in Mauthausen von 24 % im Jahr 1939 auf 76 % 1940. Die fünfte Phase in der Geschichte der Konzentrationslager wurde durch den deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 eingeleitet, an den sich der Beginn der systematischen Ermordung der europäischen Juden und die Errichtung von Vernichtungslagern auf polnischem Boden anschloss. Im April 1943 waren 203.000 Häftlinge in den Konzentrationslagern fest gehalten, bis August 1944 stieg diese Zahl auf 524.000 an. Die Schlussphase vom Sommer 1944 bis zur Befreiung im Frühjahr 1945 war durch eine nochmalige drastische Zunahme der Häftlingszahlen bis zu vermutlich 700.000 KZ-Insassen gekennzeichnet sowie durch den dramatischen Anstieg der Sterblichkeitsrate in allen Lagern. Seuchen und Epidemien, für die keine Möglichkeit zur Eindämmung und Bekämpfung bereit gestellt wurden, und schließlich die Evakuierung der Lager durch Transporte in Viehwagons 42 und mit Schiffen sowie auf Fußmärschen kosteten noch unzählige Menschenleben. Die deutschen Gefangenen waren beim Ende mit weniger als 10 % nur noch eine Minderheit, die allerdings oftmals zentrale Positionen in der Häftlingsgesellschaft der einzelnen Lager innehatte. In den Konzentrationslagern waren neben Misshandlung Hunger und Krankheit – oftmals als Folge der Zwangsarbeit – häufigste Todesursachen. Um die Arbeitskraft der Häftlinge in stärkerem Maß für die Rüstungsindustrie ausnützen zu können, wurde die Inspektion der Konzentrationslager im März 1942 dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA) eingegliedert. Auch die zunehmende Einrichtung von Außenlagern und deren Verselbstständigung diente diesem Ziel. Im April 1942 war das Konzentrationslager Arbeitsdorf in Fallersleben als Arbeitskräftereservoir für das Volkswagenwerk eröffnet worden, im Januar 1943 Herzogenbusch in den Niederlanden, im März 1943 Riga-Kaiserwald in Lettland, im April 1943 Bergen-Belsen, im August 1943 Warschau und Mittelbau-Dora, im September 1943 Vaivara in Estland und im November Kaunas in Litauen. Seit 1942 war die Zahl der Außenlager vor allem an Standorten der Rüstungsindustrie sprunghaft angestiegen. Sie überzogen Deutschland und das besetzte Europa als flächendeckendes Netz. Die Häftlinge wurden in der Flugzeugindustrie, bei der Montage von Raketen, bei der Verlegung der Produktion in unterirdische Fertigungsstätten, in Waffen- und Munitionsfabriken und deren Zulieferern, in Ausrüstungsbetrieben, in Uniformschneidereien, in der Fertigstellung von Soldatenstiefeln und vielen anderen eingesetzt. Dabei verrichteten sie Zwangsarbeit für die Großindustrie, für den gewerblichen Mittelstand, für Forschungsinstitute, in der Landwirtschaft für kommunale Behörden, staatliche Einrichtungen und in SSeigenen Betrieben. Schätzungen zufolge waren etwa 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen zeitweise in einem Konzentrationslager inhaftiert; ca. 450.000 Menschen überlebten die Haft nicht. Die Mordstätten, in denen die europäischen Juden getötet wurden, waren formal keine Konzentrationslager. Die Vernichtungslager Belzec, Chelmno, Sobibor und Treblinka entsprachen nicht der Definition der Konzentrationslager, weil sie nur den Zweck der Tötung hatten - ohne vorherigen Aufenthalt. Die Lager Auschwitz und Lublin-Majdanek waren sowohl Konzentrationslager als auch Vernichtungsstätten. Letzteres wurde im Herbst 1941 als Kriegsgefange43 nenlager der Waffen-SS errichtet und im November des Jahres 1942 dem „Inspekteur der Konzentrationslager“ unterstellt. Erst am 16. Februar 1943 wurde es offiziell in „Konzentrationslager Lublin“ umbenannt. Die Häftlinge – seit 1942 hauptsächlich „umgesiedelte“ oder „bandenverdächtige“ Polen und aus der Tschechoslowakei, Slowenien und aus den Ghettos von Warschau und Bialystok deportierte Juden - mussten Zwangsarbeit leisten. Seit November 1942 fungierte Lublin-Majdanek auch als Vernichtungslager. Wegen Arbeitsunfähigkeit selektierte Häftlinge und jüdische Deportierte wurden in den Gaskammern ermordet. Auch das größte Konzentrationslager Auschwitz hatte diese Doppelstruktur. Seit seiner Errichtung im Mai/Juni 1940 erfüllte es im Stammlager (Auschwitz I) und im Lager Monowitz (Auschwitz III) sowie mit 38 Außenlagern seine Funktionen als Konzentrationslager, seit Mitte 1942 entwickelte es sich darüber hinaus mit Auschwitz II in Birkenau zum größten Vernichtungslager für die europäischen Juden. 4. Andere Lager mit ähnlichen Haftbedingungen Neben den Konzentrations- und Vernichtungslagern existierten noch andere Kategorien von Lagern, die oft als Konzentrationslager bezeichnet werden, was formal unzutreffend ist, auch wenn sich die Haftbedingungen nicht von denen im Konzentrationslager unterschieden. Theresienstadt etwa diente ab November 1941 als Internierungslager für Juden aus Böhmen und Mähren und war ab Juli 1942 als „Altersghetto“ Ziel der Deportationen deutscher und österreichischer Juden. Seit Januar 1942 war Theresienstadt Durchgangsstation in die Vernichtungsstätten im Osten. Von Oktober 1942 an gingen die Deportationen von Theresienstadt aus nur noch nach Auschwitz. Als eigener Komplex bestand neben dem Ghetto in der „Kleinen Festung“ unter dem Kommando der Prager Gestapo in Theresienstadt eine Haftstätte für politische Gefangene aus dem Protektorat Böhmen und Mähren mit dem Charakter eines Konzentrationslagers. Die „Jugendschutzlager“ Moringen und Uckermark waren Konzentrationslager für von den Behörden als schwer- oder unerziehbar, als „kriminell“ oder „sexuell verwahrlost“ eingestufte Kinder und Jugendliche. Sie unterstanden dem Amt V (Reichskriminalpolizeiamt) des Reichssicherheitshauptamtes. Die Haftdauer war unbefristet und die Gefangenen wurden von dem Rassenhygieniker Robert Ritter „kriminalbiologisch begutachtet“. Volljährig gewordene Jugendliche wurden in gewöhnliche Konzentrationslager überführt. Das erste Jugendschutzlager für männliche Jugendliche wurde 1940 in Moringen bei Göttingen errichtet. Mädchen 44 wurden seit 1. Juni 1942 in das Jugendschutzlager Uckermark bei Mecklenburg in unmittelbarer Nachbarschaft des Konzentrationslagers Ravensbrück eingewiesen. (Im Lager Uckermark wurde in der letzten Phase vor der Befreiung noch eine Gaskammer eingerichtet, in der eine große Zahl kranker und arbeitsunfähiger Häftlinge noch mit Giftgas ermordet wurde). Das „SS-Sonderlager“ Hinzert im Hunsrück war zunächst Haftstätte für die Dauerarbeiter der Organisation Todt und unterstand bis 1. Juli 1940 dem Inspekteur der Sipo und des SD als Führer des Sicherungsstabs bei der Organisation Todt. Dann wurde das Lager dem Inspekteur der Konzentrationslager und im Mai 1942 dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt zugeordnet. Im Januar 1945 wurde es dem KZ Buchenwald unterstellt. Auch die seit 1939 in Polen und nach dem Überfall auf die Sowjetunion dort eingerichteten „Ghettos“ zur Konzentrierung der jüdischen Bevölkerung fielen nicht unter die Definition Konzentrationslager. Sie dienten als Zwangsarbeitslager und als Station für die Todeslager. In der litauischen Hauptstadt Kaunas wurde das im Juli 1941 errichtete jüdische Ghetto im Herbst 1943 in ein Konzentrationslager umgewandelt, dessen Organisation jedoch kaum mit der anderer Konzentrationslager in Deutschland oder Polen verglichen werden kann, da keine strukturierte Verwaltung aufgebaut wurde; sie ging lediglich auf eine SS-Kommandatur über. Die Ghettos in Aleksotas, Siauliai und Vilna wurden Außenlager des Hauptlagers Kaunas. Die mehr als 100 „Arbeitserziehungslager“ waren ebenfalls keine Konzentrationslager. Hier wurden deutsche und ausländische Arbeiter inhaftiert, denen Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin der Kriegswirtschaft vorgeworfen wurde. Der Übergang zu den Konzentrationslagern war jedoch fließend. Wer nach acht Wochen den Ansprüchen der NS-Gesellschaftsideologie immer noch nicht genügte und damit nicht an seinen Arbeitsplatz zurückgebracht wurde, konnte in ein Konzentrationslager eingewiesen werden. Als separate Lager im Lager wurden in den fünf Konzentrations-Hauptlagern Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Groß-Rosen und Stutthof „Arbeitserziehungslager“ eingerichtet. 45 5. Forschungsstand Die Geschichtswissenschaft überließ die Historiographie der Konzentrationslager und deren Außenlagern lange Zeit den Opfern. Die ersten Darstellungen verdanken wir den überlebenden Häftlingen, die in autobiografischen Texten Zeugnis ablegten von ihrem Martyrium. Erst in den Sechzigerjahren (Frankfurter Auschwitz-Prozess) nahm sich die historische Forschung allmählich des Themas an. Martin Broszats Gutachten (Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933–1945, in: Hans Buchheim/Martin Broszat/Hans-Adolf Jacobsen/Helmut Krausnick, Anatomie des SS-Staates, München 1967) bietet bis heute eine fundierte Analyse des Konzentrationslagersystems. Seit den Achtzigerjahren wächst das Interesse der Historiker an der Geschichte der Konzentrationslager. Dank der Studien von Falk Pingel (Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager, Hamburg 1978), Johannes Tuchel (Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934–1938, Boppard 1991) und Klaus Drobisch/Günther Wieland (System der Konzentrationslager 1933–1939, Berlin 1993) liegen Forschungsergebnisse zum System und der Struktur der Konzentrationslager vor. Die Arbeit des Soziologen Wolfgang Sofsky (Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1993) zeichnet das idealtypische Bild des Konzentrationslagers, neu ist der ausgezeichnete historische Aufriss von Karin Orth (Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999). Mit diesen Arbeiten ist die Systematik und die chronologische Entwicklung der Konzentrationslager erstmals grundlegend dargestellt. Was fehlt, ist die Beschreibung der einzelnen Lager im Zusammenhang einer ordnenden und bewertenden Gesamtdarstellung. Der Forschungsstand über die einzelnen Lager ist noch sehr unterschiedlich. Der 1998 von Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann herausgegebene Sammelband „Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998“ bietet einen sehr guten Überblick und zeigt Desiderata. Zu einigen Lagern sind in den letzten Jahren Monographien erschienen, zu Neuengamme (Hermann Kaienburg, „Vernichtung durch Arbeit“. Der Fall Neuengamme. Die Wirtschaftsbestrebungen der SS und ihre Auswirkungen auf die Existenzbedingungen der KZ-Gefangenen, Bonn 1990; ders., Das KZ Neuengamme 1938-1945, Bonn 1997), zu Groß-Rosen (Isabell Sprenger, Groß-Rosen. Ein Konzentrationslager in Schlesien, Köln 1996), zu Bergen-Belsen (Alexandra-Eileen Wenck, Der Menschenhandel des Dritten Reiches und die „Endlösung“. Das KZ Bergen-Belsen im Span46 nungsfeld nationalsozialistischer und alliierter Interessen, Diss., Münster 1997) und zu Mittelbau-Dora (Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ-Mittelbau-Dora, Göttingen 2001; sowie Angela Fiedermann/Torsten Hess/Markus Jaeger, Das Konzentrationslager Mittelbau-Dora. Ein historischer Abriß, Bad Münstereifel 1993; Manfred Bornemann, Geheimprojekt Mittelbau: Vom zentralen Öllager des Deutschen Reiches zur größten Raketenfabrik im Zweiten Weltkrieg, München 1994). Auch über das KZ Niederhagen bei der Wewelsburg, dem ehemaligen Schloss der Paderborner Fürstbischöfe, das Heinrich Himmler zu einem „wissenschaftlichen“ und „kultischen“ Zentrum der SS und zu einer Repräsentationszentrale des SS-Gruppenführerkorps umbauen wollte, liegen Forschungsarbeiten vor (Wulff E. Brebeck/Karl Hüser, Wewelsburg 1933–45. Kultstätte des SS-Ordens, Münster 1991; Kirsten John, „Mein Vater wird gesucht ...“. Häftlinge des Konzentrationslagers in Wewelsburg, Essen 1996). Marcel Engel und Andre Hohengarten untersuchten das „SS-Sonderlager“ Hinzert (Hinzert. Das SS-Sonderlager im Hunsrück 1939–1945, Luxemburg 1983). Über andere wichtige Konzentrationslager wie Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Herzogenbusch, Ravensbrück, Sachsenhausen oder das in Estland gelegene Vaivara hingegen fehlen umfassende Monographien. Ähnlich verhält es sich mit den Außenlagern. So sind Einzelne der mehr als 80 Außenlager des KZ Neuengamme Thema mehrerer Untersuchungen geworden (vgl. Detlef Garbe, Außenlager als Orte der Erinnerung. Das Beispiel Neuengamme, in: Dachauer Hefte 15 [1999], S. 240-253), eine Gesamtdarstellung fehlt jedoch bislang. Infolge der Initiativen regionaler Geschichtswerkstätten entstanden mit Unterstützung der KZGedenkstätte Neuengamme in den letzten Jahren zahlreiche Broschüren, kleine Einzelstudien oder Dokumentationen, die allerdings häufig schwer zugänglich sind und deshalb kaum Eingang in das allgemeine Geschichtsbild fanden. Beispiele hierfür sind etwa die Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof, Walldorf und Wiesengrund (Magistrat der Stadt MörfeldenWalldorf [Hg.], Nichts und niemand wird vergessen. Zur Geschichte des KZ-Außenlagers Natzweiler-Struthof in Walldorf, Mörfelden-Walldorf 1996; Bernd Martin, Das Konzentrationslager „Wiesengrund“, in: Schriftenreihe der Stadt Vaihingen an der Enz. Beiträge zur Geschichte, Kultur und Landschaftskunde, Bd. 4, Vaihingen an der Enz 1985) oder das Außenkommando Kassel des KZ Buchenwald (Alfred F. Groenveld, Im Außenkommando Kassel des KZ Buchenwald. Ein Bericht, Kassel 1991). 47 Auf Forscherinteresse stießen vor allem Außenlager, die bei Großprojekten der Rüstungsindustrie eingerichtet wurden, so haben etwa Edith Raim die Dachauer Außenlager Kaufering und Mühldorf (Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg/Lech 1992) sowie Florian Freund und Bertrand Perz ein Außenlager von Mauthausen (Das KZ in der „Serbenhalle“. Zur Kriegsindustrie in Wiener Neustadt, Wien 1987) untersucht. In seiner Publikation „´Projekt Quarz´, Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk“ (Wien 1991) thematisierte Bertrand Perz nochmals ein Außenlager von Mauthausen, Florian Freund bietet am Beispiel Mauthausen einen Überblick, wie unterschiedlich der Forschungsstand zu den Außenlagern eines Konzentrationslagers ist (Mauthausen: Zu Strukturen von Haupt- und Außenlagern, in: Dachauer Hefte 15 [1999], S. 254-272) und macht dabei deutlich, dass zwar das System der Konzentrationslager weitgehend erforscht ist, im Einzelfall aber noch große Lücken bestehen. Zu einem zentralen Organ der KZ-Forschung entwickelten sich die von Wolfgang Benz und mir seit 1985 herausgegebenen „Dachauer Hefte“. Sie bieten sowohl den ehemaligen Häftlingen als auch der Wissenschaft ein Forum. Unter thematischen Schwerpunkten wurden in bisher 17 Ausgaben auch zahlreiche unbekannte Lager und Außenlager behandelt. Seit 1994 gibt außerdem die KZ-Gedenkstätte Neuengamme die „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ heraus. Einzelne KZ-Gedenkstätten wie Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen entfalten darüber hinaus eine rege Publikationstätigkeit. Eine systematische Darstellung der Konzentrations- und ihrer Außenlager als Gesamtbeschreibung, eine Bündelung der Ergebnisse, die zu einer zusammenfassenden Übersicht führt, bleibt jedoch ein Desiderat der NS-Forschung und der politischen Kultur. Die Konzentrationslager waren das zentrale Terrorinstrument der nationalsozialistischen Diktatur. Die weitere Erforschung ihrer Rolle und Struktur bleibt weiterhin eine gesellschaftspolitische Aufgabe. 48 Gabriella Hauch Nationalsozialismus-Zwangsarbeit-Weiblich: NS-Bevölkerungs- und Sexualpolitik gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen* I. Untersuchungen zu Zwangsarbeiterinnen und ihren Kindern während des Nationalsozialismus stellen in der österreichischen Historiographie zur NS-Zeit ein Forschungsdesiderat dar.1 Subsumiert unter das Großprojekt „Ausländereinsatz“, das von männlichen Bedürfnissen, Eigenschaften und Fähigkeiten geprägt war, verschwanden die frauenspezifischen Lebenswelten.2 Das galt auch für die „Patenstadt des Führers“ Linz und „Oberdonau“. Als Teil des Rüstungsdreiecks St. Valentin-Steyr-Linz wurden seit 1942 massenhaft Männer und Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion – „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“ genannt – zur Zwangsarbeit hierher deportiert. Im November 1943 machte der Ausländer/innenanteil an den Erwerbstätigen im Arbeitsamtsbezirk Linz 42,2 % aus.3 Den größten Anteil machte die Gruppe der Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen aus, wobei im Mai 1944 von den 34.000 in „Oberdonau“ Beschäftigten 51 % Frauen waren. Im Konkreten heißt das in diesem Falle, Geschlecht als zentrale Untersuchungskategorie zu verwenden, bedeutet, nicht nach den Lebensbedingungen und Handlungsspielräumen von Angehörigen einer Minderheit zu fragen. Jedoch ist grundlegend festzuhalten: Erst die explizite Thematisierung der Lebensbedingungen von Frauen ermöglicht einen annähernd umfassenden Blick. Unterbleibt dies, dominiert ein scheinbar androzentrisch, realiter jedoch männlich definiertes und deswegen verzerrtes und falsches Bild von Allgemeinheit. Das gilt auch für die Geschichte der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Soweit die erste These. Bei diesem Text handelt es sich um eine überarbeitete Version von: Gabriella Hauch, Die Institutionalisierung der NSBevölkerungs- und Sexualpolitik gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen: Modell Oberdonau?, in: Lisa Rettl u. Karl Stuhlpfarrer: V. Österreichischer Zeitgeschichtetag, 2001 Klagenfurt, Studienverlag, Innsbruck-Wien-Bozen-München 2002. 1 Die beiden Historiker Bertrand Perz und Florian Freund, die in Österreich am intensivsten zu Zwangsarbeit arbeiteten, forschten vor allem zu Bereichen, in denen keine Frauen beschäftigt waren. Die einzige Publikation, die explizit Zwangsarbeiterinnen thematisiert, orientiert sich nicht an den geschlechtsspezifischen Leitfragen der ZwangsarbeiterinnenForschung bzw. an Fragestellungen zur Bevölkerungs- und Sexualpolitik: Margarete Ruff, Um ihre Jugend betrogen. Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg 1942-1945. Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 13, Bregenz 1996. Als ich 1999 mit den Forschungsarbeiten zum „Geschlecht der Zwangsarbeit“ in den „Hermann Göring Werken AG, Standort Linz“ begann, konnte ich an keinerlei österreichische Aufarbeitung des Schicksals dieser vergessenen Frauen und ihrer Kinder anknüpfen. 2 Gabriella Hauch, Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder: Zum Geschlecht der Zwangsarbeit, in: Christian Gonsa u.a.: Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Bd. 1, NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin, 1938-1945, hg. v. Oliver Rathkolb, Wien-Köln-Graz 2001, S. 355-448; Gabriella Hauch, Ostarbeiterinnen. Vergessene Frauen und ihre Kinder, in: Fritz Mayerhofer u. Walter Schuster (Hg.), Nationalsozialismus in Linz, Bd. 2, S. 1.271-1.310. 3 Zum „Arbeitsamtsbezirk Linz“, zu dem auch das Mühlviertel und Wels gezählt wurden, vgl. Hermann Rafetseder, Der „Ausländereinsatz“ zur Zeit des NS-Regimes am Beispiel der Stadt Linz, in: Mayerhofer/Schuster, S. 1.107-1.129f. * 49 Im Nationalsozialismus wirkte „Rasse“ als zentrale Kategorie, mit der vorab über lebenswertes und lebensunwertes Leben entschieden wurde und hinter dessen Wirkungsmacht die des Geschlechts zu verschwinden drohte. Gisela Bock hat dazu die These von der „Applanation“ der Geschlechterdifferenzen in der Behandlung von „Fremden“ im NS-System formuliert: Je niedriger Angehörige bestimmter Ethnien und Nationalitäten in der Werteskala des NS-Rassismus eingestuft waren, desto weniger kamen die Geschlechterdifferenzen in den Handlungsspielräumen zu tragen.4 Die geschlechtsspezifische Analyse der Situation von Ostarbeiterinnen und Polinnen, die nach Jüdinnen und Romnis bzw. Sintezas an unterster Stelle dieser Rasseskala standen, führt jedoch zur Differenzierung von Bocks These. Besonders deutlich wird dies beim bevölkerungs- und sexualpolitischen Umgang des NS-Systems mit der Natalität von Ostarbeiterinnen und Polinnen. Diese Forschungsergebnisse stellen zwar die Ersten ihrer Art für Österreich dar,5 es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass dieselben Problematiken im gesamten Gebiet der „Ostmark“ ähnlich gestaltet und behandelt wurden. Eines wurde jedoch in der komparativen Analyse des Zeitpunktes der Einführung jeweiliger bevölkerungs- und sexualpolitischer Maßnahmen gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen augenscheinlich: Oberdonau erwies sich dem Altreich immer einen Schritt voraus. Diese dritte These kann hier nur skizzenhaft behandelt werden und benötigt noch weitere empirische Untersuchungen zur Untermauerung. Bevor im Sommer 1942 massenhaft auch Ostarbeiterinnen nach Oberdonau deportiert wurden, waren seit 1939 vor allem Männer zum Aufbau der Rüstungsindustrie hierhergebracht worden. Diese brachten nicht nur die notwendige Arbeitskraft, sondern gerieten, angesichts der kriegsbedingten Abwesenheit vieler heimischer Männer, zu Konkurrenten und wurden per se als Bedrohung der ideologisch konstruierten „Reinheit der deutschen Frau“ imaginiert.6 In der sexualpolitischen Begegnung dieses Problems zeigte sich die „Patenstadt des Führers“ dem Deutschen Reich voraus: Das erste Bordell für ausländische Männer war in Linz bereits in Betrieb, als Ende 1940 die Gauleiter vom „Stellvertreter des Führers“ mit der Schaffung solcher Einrichtungen als „mittelbare Polizeikosten“ beauftragt wurden.7 Am 15. 4 Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, S. 135ff; zuletzt: Gisela Bock, Ganz normale Frauen. Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus, in: Kirsten Heinsohn/Barbara Vogel/Ulricke Weckel (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M.-New York 1997, S. 248-281. 5 Zum Forschungsstand, siehe Hauch, Zwangsarbeiterinnen, S. 358-360. 6 Zu den realitätsmächtigen Folgen, siehe das Kapitel „Der Fall der Eleonore B.“, in: Hauch, Zwangsarbeiterinnen, S. 404408. 7 Andreas Heusler, Ausländereinsatz. Zwangsarbeit für die Münchner Kriegswirtschaft 1939-1945, München 1996, S. 212f. 50 Oktober 1940 wurde der Vorpachtvertrag für das in der Nähe der Zwangsarbeiterlager der „Hermann Göring Werke, Linz“ gelegene Bordell „Villa Nova“ geschlossen.8 Die zum „Arbeitseinsatz“ ins Land gebrachten Zwangsarbeiterinnen hingegen schienen keine derlei Problematiken mit sich zu bringen. Erst die einsetzenden Schwangerschaften konterkarierten die asexuellen Fantasmen, mit denen die NS-Bürokratie die (Ost-) Ukrainerinnen, Russinnen und Polinnen vorab bedacht hatten. Am 15. Juli 1942 alarmierte der Gauleiter von „Oberdonau“ August Eigruber den Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei: „Ich habe im Gau Oberdonau tausende von Ausländerinnen und mache die Feststellung, daß die ausländischen Arbeiterinnen ... schwanger werden und Kinder in die Welt setzen“.9 In Eigrubers Schreiben wurden die Problemlagen, die mit der Gebärfähigkeit von Frauen für den NS-Apparat entstanden waren, deutlich: Auf ökonomischer Ebene unterliefen schwangere und stillende Frauen die Politik des „Arbeitseinsatzes“, die auf maximale Ausbeutung der Arbeitskraft ausgerichtet war. Geburten und Kleinkinder verursachten zudem zusätzliche Kosten. Auf der bevölkerungspolitischen Ebene hieß das, dass die deutsche Bevölkerung, entsprechend der NS-Rassenideologie, vom „Umgang“ nicht nur mit ausländischen Erwachsenen, sondern auch ausländischen Kindern bewahrt werden musste. „Die Situation drängt nach einer Lösung“, appellierte Eigruber an Himmler. II. Dieser Brief aus Linz, das bislang zeitlich erste bekannte Dokument, in dem die NSDAPSpitzen durch die tagespolitische Erfahrung eines Provinzführers mit dem Problemfeld konfrontiert wurden, initiierte die überfällige Diskussion, wie mit den Schwangerschaften dieser Frauen umzugehen wäre. In anderen Regionen des Deutschen Reiches wurde mehr „naturwüchsig“ damit umgegangen. Die bereits seit 1939 eingesetzten Polinnen wurden nach Hause geschickt oder es wurden Provisorien eingerichtet, von einer „institutionalisierten“ Regelung war man weit entfernt. Durch den Eifer Eigrubers über „seine“ schwangeren ausländischen Arbeiterinnen geriet Oberdonau zum Pilotprojekt für die Institutionalisierung des Umganges mit den Schwangerschaften von Polinnen und Ostarbeiterinnen sowie die der Verwahrung ihrer Kinder. 8 Ausführlicher dazu, vgl. Karl Fallend, Zwangsarbeiter/innen: (Auto)Biographische Einsichten, Bd. 2, NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der „Reichswerke Hermann Göring AG Berlin“ 1938-1945, hg. v. Oliver Rathkolb, Wien-Köln-Weimar 2001, S. 103-110; Rafetseder, Ausländereinsatz, S. 1.163-1.167. 9 BA Berlin, NS 19-3596, Eigruber an Himmler, 15. Juli 1942. Dieser Briefwechsel – der Einzige seiner Art – wird in allen Arbeiten, die sich mit frauen- und geschlechtsspezifischen Fragestellungen dem Thema Zwangsarbeit nähern, ausführlich zitiert. 51 Drei Monate später erhielt Eigruber ein Antwortschreiben. Innerhalb der NS-Eliten tobte ein Richtungsstreit: „Rationalisierer“, die die Ausbeutung bzw. Vermehrung der Arbeitskräfte als prioritär erklärten, standen jenen gegenüber, die eine Vermehrung der als „minderwertig“ kategorisierten Nationalitäten zu verhindern suchten.10 Vor der Niederlage von Stalingrad Ende Jänner 1943 gab es zwar noch immer keine Entscheidung, die eine einheitliche und institutionalisierte Behandlung der schwangeren Frauen geregelt hätte, trotzdem wurde die für schwangere Polinnen erlaubte Heimfahrt im Herbst 1942 eingestellt.11 In der Behandlung der schwangeren Ostarbeiterinnen und Polinnen und ihren Kindern können drei Phasen festgestellt werden: Im Falle „Oberdonau“ kann man belegen, dass seit April 1942 Kinder von Polinnen und das erste so genannte „Russenkind“ im Juli 1942 in der Landesfrauenklinik zur Welt kamen. Diese erste Phase begann bereits vor dem Brief Eigrubers und war durch Provisorien und Improvisation geprägt. Die Landesfrauenklinik und das AKH widmeten seit 1942 eines bzw. mehrere Zimmer als „Ausländerinnen-Abteilung“, da Deutsche und Ostarbeiterinnen nicht in einem Zimmer liegen durften. Die Niederlage von Stalingrad beendete diese erste Phase. Fritz Sauckel, Leiter des „Arbeitseinsatzes“ und ein Vertreter der „Rationalisierer“, überzeugte Hitler, dass der Erhalt aller potenziellen Arbeitskräfte für die Kriegsführung nötig wäre. Diese zweite Phase markiert die Errichtung der „Ostarbeiterinnen-Baracke“ aus „Reichsmitteln“ mit Zustimmung des Gauleiters und Reichsstatthalters Eigruber sowie des ärztlichen Dienstes des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz im März 1943 im Anstaltsgarten der Landesfrauenklinik mit 40 Betten.12 Nach bisherigem Forschungsstand kam Linz in dieser Frage wiederum eine Vorreiterfunktion zu. Ein Erlass, der die Errichtung spezieller Baracken für Ostarbeiterinnen und Polinnen für das ganze Deutsche Reich regeln sollte, erschien im Juli 1943, als die Ostarbeiterinnen-Baracke in Linz bereits voll in Betrieb war. Im März 1943 wurden 33 Ostarbeiterinnen und Polinnen zur Geburt in die Landesfrauenklinik eingeliefert, wobei es sich um ca. ein Viertel der insgesamt 129 zur Geburt Eingelieferten handelte. Im (Kranken-)Jahr 1944, die Landesfrauenklinik wurde mit der Ostarbeiterinnen-Baracke aufgrund der zunehmenden Bombardierungen des Rüstungsindustriezentrums Linz nach Bad 10 BA Berlin, R 59-48, Chef der Sipo u. d. SD, gez. Baaz und Volksdeutsche Mittelstelle, Berlin, 5. August 1942. Unterstellt wurde, dass Polinnen schwanger würden, damit sie nach Hause zurückkehren und sich dem Arbeitseinsatz entziehen könnten. Vgl. zu dem Prozess, Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.275-1.278. 12 Franz X. Bohdanowicz, Ein Jubiläum der Landesfrauenklinik Linz des Reichsgaues Oberdonau, in: Zeitschrift für das gesamte Krankenhauswesen (1943), S. 21/22. Heide Eiblmayr, Frauen und Kinder – Streiflichter in die 200jährige Sozialgeschichte der Stadt Linz, in: 200 Jahre Landesfrauenklinik Linz, Wien 1990, S. 36-51, S. 49f.; Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.278-1.282. 11 52 Hall evakuiert, wurden monatlich durchschnittlich 49 Ostarbeiterinnen und Polinnen zur Geburt eingeliefert.13 Die dritte Phase in der institutionalisierten Behandlung der schwangeren Ostarbeiterinnen und Polinnen begann mit Mai 1944, als die „Ostarbeiterinnen-Baracke“ ihre Tätigkeit in Bad Hall wieder aufnahm. Die Verwaltung der Landesfrauenklinik führte eine eigene „Ost-Arbeiterinnen“-Kartei, wobei die Krankenblätter in andersfärbigen Umschlägen als die der deutschen Frauen aufbewahrt wurden. Schließlich wurde mit der Aussonderung der Krankenblätter aus dem allgemeinen Bestand begonnen und das „Anderssein“ dieser Frauen auch auf dieser Ebene penibel dokumentiert. III. Diesen drei Phasen entspricht auch die Institutionalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung („Interruptio“) bei Ostarbeiterinnen und Polinnen, für deren Unterbringung ebenfalls die „Ostarbeiterinnen-Baracken“ dienten. Wie schon die Geburten erregte auch die Frage der Abtreibung von „fremdvölkischen“ Ungeborenen die Gemüter der NS-Eliten. Wie viele der bis März 1942 – hier endet die erste Phase – in Spitäler eingelieferten Fälle eines „Abortus“ tatsächlich ein willentlich oder wissentlich herbeigeführter Abbruch war, kann nicht eruiert werden. Mit der Lockerung des geltenden Abtreibungsverbotes im Deutschen Reich bei Ostarbeiterinnen am 11. März 1943 begann die institutionalisiert abgesicherte Form der zweiten Phase, am 22. Juni 1943 folgte die Ausweitung der Ausnahmebestimmungen für Polinnen. Der Diskurs von der „rassischen Minderwertigkeit“ der „Fremdvölkischen“ hatte den Boden dafür aufbereitet. Zeitgleich führte die „Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft“ vom 9. März 1943 zu einer Strafverschärfung für Abtreibungen bei deutschen Frauen.14 In Linz wurden von Seiten der Ärztekammer zwei Gutachter als Ärzte bestellt: Dr. Ludwig Müller, der die meisten der Frauen zur „Interruptio“ einwies und Dr. Hermann Mossböck. In der Linzer Gaufrauenklinik begannen im Mai 1943 die offiziell als „Interruptio“ bezeichneten Abtreibungen. 13 Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.281f. BH-Grieskirchen, Sch. 13/1, „Anordnung 4/43“ Reichsstatthalter OD an den Oberbürgermeister etc., 6. April 1943. Zu den Diskussionen im Vorfeld, der Frage der „Abortus“ und der sukzessiven weiteren Lockerung vgl. Hauch, Zwangsarbeiterinnen, S. 422-429; und Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.282-1.287. 14 OÖLA, 53 Intakte Schwangerschaften wurden bis ins 7. Monat abgebrochen. Die Patientinnen aus der Sowjetunion und Polen dienten dabei quasi als chirurgische Übungsobjekte.15 Eine Ablehnung des Eingriffes von Seiten der Ärzte kam ebenso selten vor,16 wie die Verweigerung einer Interruptio von Seiten der Frauen. Die handvoll Frauen, die nach den Stationen „Ärztliche Erstuntersuchung durch Betriebsarzt“ o.ä., Gutachterdiagnose, Eingliederung in das Durchgangslager 3917 und schließlich Einlieferung in die Ostarbeiterinnen-Baracke der Landesfrauenklinik, (während der Evakuierung nach Bad Hall von Dezember 1944 bis Mai 1945 in das AKH-Linz, anschließend nach Bad Hall), den Eingriff verweigerten, sprachen allesamt Deutsch. Bei den meisten ihrer Leidensgenossinnen hingegen war am Krankenblatt in der Rubrik der Krankengeschichte notiert: „Patientin spricht kein Deutsch“. Im Jänner 1944 kam es zu einer weiteren Lockerung der Abtreibungsbestimmungen. Ab nun konnten die Anträge für Abtreibungen auch von Ärzt/innen, Betriebsleiter/innen, Arbeitgeber/innen und Arbeitsämtern gestellt werden. Begleitet wurden diese Bestimmungen von Rundbriefen der Ärztekammer OÖ an die Kreisamtsleiter, allen Ärzten die „Wichtigkeit dieser Angelegenheit in politisch, biologischer Richtung klarzumachen“.18 Der kontinuierlich steigende Druck auf die sich in einer fremdbestimmten Zwangssituation befindenden Frauen lässt jegliche Diskussion über „Selbstbestimmung“ vorab verstummen. Die Zahl der Abtreibungen stieg parallel zur Verschlechterung der Position Deutschlands im Krieg an: Allein im November 1944 fanden 103 Abtreibungen bei Ostarbeiterinnen und Polinnen in der Gaufrauenklinik in Bad Hall statt. Zu diesem Zeitpunkt wurde, wie bei den Geburten auch bei den Abtreibungen, bereits eine eigene „Ostarbeiterinnen-Kartei“ geführt und die dritte Phase der Institutionalisierung erreicht. Für die Zustände in der Ostarbeiterinnen-Baracke in Bad Hall konnten bereits Zeitzeug/innenberichte eruiert werden:19 „Vier oder fünf Frauen lagen auf provisorischen Z.B.: OÖLA, Landesfrauenklinik, Gyn. Abt., Krankenblätter 1943, Sch. 90, Zl. 499 u. Zl. 1.209. OÖLA, Landesfrauenklinik, Gyn. Abt., Krankenblätter 1943?, Sch. 117, Zl. 139. Warum Primar Halter gerade diesen Abbruch wegen „Übertretung der zweiten Schwangerschaftshälfte“ ablehnte, konnte nicht eruiert werden. 17 Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.276f. 18 OÖLA, BH-Grieskirchen, Abt. Sanität, Sch. 13/4, Reichsärztekammer, Ärztekammer Oberdonau 18.1.1944, Betrifft: „Schwangerschaftsunterbrechungen bei Ostarbeiterinnen und Polinnen“. OÖLA, BH-Grieskirchen, Abt. Sanität, Sch. 13/3, Reichsärztekammer, Ärztekammer Oberdonau 25.1.1944, Betrifft: „Schwangerschaftsunterbrechungen bei Ostarbeiterinnen und Polinnen“. 19 Im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Frauenleben in Oberösterreich einst und jetzt“ des Instituts für Frauen- und Geschlechterforschung, Johannes Kepler Universität Linz, Projektleitung: Univ. Prof. Mag. Dr. Gabriella Hauch, erhielt Frau Mag. Katharina Ulbrich, Forum Hall, Handwerk. Heimat. Haustüren im Sommer 2001 Einblick in die Meldedatei von Bad Hall und interviewte etliche Zeitzeug/innen. Material im Institut für Frauen- und Geschlechterforschung, Universität Linz und Frau Mag. Katharina Ulbrich, Waldneukirchen. Hier Herr D., in einem Interview vom 17.7.2001. 15 16 54 Krankentragen, völlig nackt und in ihrem Blut. Sie waren noch in der Narkose, sie schwitzten sehr. Ich erschrak darüber. Es waren schwangere Frauen, denen man die Kinder weggenommen hatte. Ich besorgte Decken für die Frauen ... Es war so ein erschütterndes Bild, das mich bis in die Gegenwart stark ergriffen hat. Ich ging nie wieder in die Frauenklinik und beendete auch die Krankentransporte.“ Insgesamt konnten zwischen Mai 1943 und Februar 1945 in Oberdonau 972 Schwangerschaftsabbrüche festgestellt werden. Diese Zahl ist jedoch als die unterste Grenze anzunehmen. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr verschlechterten sich – aufgrund der gegenüber Ostarbeiterinnen und Polinnen praktizierten Sexual- und Bevölkerungspolitik – die Lebensbedingungen und die Handlungsspielräume für Ostarbeiterinnen und Polinnen als Frauen. Für diese Frauengruppen kann unter Bedachtnahme auf die Parameter Reproduktionsfähigkeit und Natalität die Theorie der „geschlechtlichen Applanation“ (Gisela Bock) nicht aufrecht erhalten werden.20 IV. Die Behandlung der Neugeborenen und Kinder von Ostarbeiterinnen und Polinnen entspricht den Schemata der Institutionalisierung von Geburten bzw. Schwangerschaftsabbrüchen. Die erste Zeit war von Improvisation geprägt. In Oberdonau kam es im März 1943 zur Einrichtung des ersten „Fremdvölkischen Säuglingsheimes“ im Deutschen Reich, wie es von Eigruber in seinem Brief von Juli 1942 bereits avisiert worden war, und damit zur zweiten Phase, zur Errichtung spezieller Institutionen. Sauckel und Himmler hatten dieses Vorhaben ausdrücklich begrüßt: „Hier könnten wir die Dinge einmal gleich in der Praxis durchführen und Erfahrungen sammeln“. Aufgrund des erhaltenen Briefwechsels zwischen Linz und Berlin über die Zustände im Heim, handelt es sich dabei um das „berühmteste“ Heim seiner Art und wird in allen einschlägigen Publikationen zitiert.21 Im Juli 1943 machte der Amtsarzt von Kirchdorf auf die katastrophalen Zustände aufmerksam: Angesichts der täglichen Verpflegung von ½ l Milch und 1 Stück Zucker würden die Kleinen langsam verhungern. Infolge besichtigte der Leiter der NSV Hilgenfeldt das Heim und berichtete Himmler: „... Bezüglich der Aufzucht der Säuglinge bestehen Meinungs- Diese These wird durch weitere Indikatoren gestützt, etwa den geschlechtsspezifischen Bestrafungen bei Arbeitsvertragsbrüchen u.ä. Darauf kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 21 BA, NS 19-3596. Zu anderen Einrichtungen im Deutschen Reich vgl. den Forschungsüberblick in: Hauch, Zwangsarbeiterinnen, S. 1.290-1.292. 20 55 verschiedenheiten. Zum Teil ist man der Ansicht, die Kinder der Ostarbeiterinnen sollen sterben – zum anderen der Meinung, sie aufzuziehen“. Die Entscheidung fiel zu Gunsten der Aufzucht. Trotzdem starben von den insgesamt 97 dort bis Jänner 1945 untergebrachten Kleinen 38, von 6 weiteren ist das Schicksal unbekannt.22 Der Entscheid, die Kinder als zukünftige Arbeitskräfte aufzuziehen, markiert die dritte Phase. Spital am Phyrn blieb in Oberdonau nicht lange die einzige „Ausländerkinderpflegestätte“ – wie die Bezeichnung auf Befehl von Himmler im offiziellen Sprachgebrauch lauten musste. Bislang konnten zwölf weitere Einrichtungen mit Hunderten dort untergebrachten Kindern eruiert werden.23 Zum Beispiel „Waldschlössel“ in Gattern Nr. 22 bei Schärding.24 Eine überzeugte Nationalsozialistin stellte der NSV den ersten Stock ihres nicht in Betrieb befindlichen Gasthauses zur Verfügung und genehmigte dem „Fremdvölkischen Kinderheim“ die Benützung der Küche. Nicht viel später zog sie mit ihrem kleinen Sohn aus. Alle 30-40 in einem Raum untergebrachten Babys waren krank und sie fürchtete um die Gesundheit ihres Buben. In einem Brief an die NSV formulierte sie ihr Entsetzten über die im fremdvölkischen Kinderheim herrschenden Zustände: „so etwas rachitisches und krankes habe ich noch nie gesehen“. Auch die notwendige Grundausstattung mit Babykleidung, Windeln etc. würde fehlen. Was mit den Kindern in den „Fremdvölkischen Kinderheimen“ geschah, wie viele starben, wie viele überlebten, ist bislang nur punktuell erforscht. Zum Beispiel die Kinderkrippe im „Lager 57“ der „Hermann Göring Werke Linz“. Von den dort im März 1944 ca. 30 untergebrachten Kleinkindern ist bislang nur ein Todesfall bekannt.25 Diese Zahlen korrespondieren in etwa mit den Geburten der Ostarbeiterinnen aus den „Hermann Göring Werken“, die in der Landesfrauenklinik und im AKH registriert wurden (39, davon 5 Totgeburten). Soweit die Quellenlage in den Akten. Karl Fallend, Psychologe und Mitglied der Historiker/innenkommission zur Erforschung der Zwangsarbeit in den „Hermann Göring Werken“, die 1998 von der VA-Stahl eingesetzt wurde, hörte bei seinen Gesprächen mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen jedoch anderes: „Lina Rodgers: Schwangere Frauen und ihre Kinder wurden normalerweise sofort weggeschickt. So bekam eine Frau bei uns, ..., das Kind von einem Kroaten und blieb bis nach der Geburt nur einen Tag im Lager. Niemand wusste, 22 Die Meldekarten der dort untergebrachten Kinder befanden sich im Meldearchiv des Standesamtes von Spital am Phyrn. Zur Aufarbeitung des „Lindenhofes“, so hieß das Heim, siehe Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.292-1.303. 23 Hauch, Ostarbeiterinnen, S. 1.303-1.310. 24 OÖLA, NSV, Sch. 19, M. 4. Briefwechsel zwischen Hedwig K. und Dr. Praxmarer, der NSV-Verantwortlichen für diese Heime. 25 Hauch, Zwangsarbeiterinnen, S. 439-445. 56 wohin man sie brachte. Sonst nahm man die Kinder weg, die dort geboren wurden, vor allem Buben. ... Im Lager hat es einen Raum gegeben, wo die Kinder in den Betten untergebracht wurden. ... An einem Tag waren alle Kinder verschwunden, sie sind ohne Kinder geblieben.“26 Mit den vorgefundenen Akten konnte diese Erinnerung von Lina Rodgers nicht bestätigt werden. Ihre Erzählung verweist jedoch auf den Mantel des Schweigens, der über der Bevölkerungsund Sexualpolitik gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen liegt. Dies gilt nicht nur für die Menschen, die von der Problematik der Hunderten von Säuglingen und Kinder von Ostarbeiterinnen und Polinnen wussten, sondern das Schweigen gilt insbesondere auch für die betroffenen Frauen selbst. 26 Fallend, (Auto)Biographische Einsichten, S. 160. 57 58 Szabolcs Szita Antisemitismus und jüdische Emigration in Osteuropa nach 1945 Der historischen Forschung zufolge erlosch der Antisemitismus in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs. Sein Fortbestand in den osteuropäischen Gesellschaften, im Bewusstsein einzelner Bevölkerungsschichten ist zweifelsfrei nachzuweisen: Nachwievor hegten viele ein mehr oder weniger starkes Misstrauen gegen das Judentum, bauten ihre Vorurteile gegen die Juden trotz Holocaust nicht ab – oder zumindest kaum ab. Zum Nachweis dieser Behauptung müssen wir die Gründe und Ursachen hinterfragen. Feststeht, dass der Antisemitismus – zum Teil unter Druck des Dritten Reiches, zum Teil aber auch auf eigenem Boden – von der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre an, im Vergleich zu den früheren Jahrzehnten konstant zunahm und in den osteuropäischen Ländern immer mehr zum Alltag gehörte. Zwar zeigte der Judenhass territoriale Unterschiede in seiner Intensität, immerhin schlug er im gesellschaftlichen wie geistigen Leben so mancher Länder doch recht tiefe Wurzeln. Dies war allein dadurch möglich, da der ohnehin vorhandene, „volkstümliche Antisemitismus“ staatliche Unterstützung und Anregung erhielt. Hetzpropaganda und Verfolgung haben dem Judentum unermessliche Schäden zugefügt. Durch das Zusammenbrechen der hitlertreuen Regimes und die Befreiung von der Besetzung durch die Nazis wurde in der osteuropäischen Region dem institutionalisierten Judenhass ein Ende gesetzt. Doch es kamen nach dem Krieg neue Probleme, neue Konfliktsituationen auf. Die aufbrausenden Emotionen ließen sich zum Teil auch an den allmählich aus der Deportation heimkehrenden Juden abreagieren. Bereits 1945 zeigten sich im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden etliche Streitpunkte, die einer raschen Klärung bedurften. Diese wucherten bald latent, bald traten sie scharf zum Vorschein. Sie drangen in den Alltag des Einzelnen und waren im gesellschaftlichen Leben anzutreffen. Vielerorts erschien und verbreitete sich der mal größere Gruppen bewegende spontane Antisemitismus, der wohl auf die allgemeinen Entbehrungen nach dem Krieg, auf die unsichere Lage zurückzuführen ist und mit den auf diese Probleme erhaltenen – durchaus nicht eindeutigen – Antworten in Verbindung stehen mag. Des Öfteren handelte es sich um einen hysterischen Antisemitismus ohne Juden. Etliche Ortschaften samt Umkreis sind nämlich infolge der früheren Deportationen ohne jüdische Bevölkerung geblieben – allenfalls versuchten dort einige Zurückgekehrte wieder Fuß zu fassen –, dennoch erblickte man die Ursache aller Übel 59 in den Juden und gab damit wieder einmal die einfachste – seit Jahrhunderten fleißig angewendete – Erklärung für sämtliche Schwierigkeiten. Für breite Bevölkerungsschichten – insbesondere in der Slowakei und in Ungarn, aber auch im ukrainischen Teil der Karpaten – waren die vermögensrechtlichen Fragen von entscheidender Wichtigkeit. Die Besitztümer und Güter der ins Ghetto und in Lager verschleppten Juden blieben ja zurück und wurden für andere zugänglich. Ob legal oder auf gesetzwidrige Weise erwarben etliche Menschen kleinere und größere Stücke vom Judenvermögen, und möglicherweise bangte ihnen 1945/46 auch davor, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden bzw. sie fürchteten die „jüdische Rachsucht“. Viele, die sich in Geschäften, Häusern und Wohnungen anderer breit gemacht hatten, begannen sich unheimlich zu fühlen. Wieder andere gerieten schuldlos, als Ausgebombte und Flüchtlinge, in ähnliche Situationen. Die meisten von ihnen wollten aber auf die ihnen zugeteilten „herrenlosen Güter“ ebenfalls nicht verzichten, waren nicht geneigt, Haus und Wohnung zu räumen. Vielfach waren Erscheinungen des allgemeinen Moralverlustes anzutreffen. So zeigten viele absolut keine Reue für ihre früheren Taten, vielmehr suchten sie nach irgendeiner Entschuldigung. Sie wiesen jede Schuld von sich und beschuldigten die zurückgekehrten Juden. Sie warfen ihnen unter anderem maßlose Habgier vor und öfter war der Satz zu hören: „Bei uns wird nie wieder Judenwelt“. Nach näherem Betrachten dieser Aussagen müssen wir darauf hinweisen, dass die neuerliche Begegnung zwischen den aus den Lagern, aus der Deportation, eventuell aus den Verstecken mit einem schrecklichen Trauma heimgekehrten Juden und der christlichen Gesellschaft nicht ohne seelische Erschütterungen verlief. Beide Parteien hatten ein gestörtes Verhältnis zu der jeweils anderen, sie konnten nicht miteinander umgehen. Meist gewannen die puren Emotionen, die Vorurteile und Voreingenommenheiten die Oberhand über die Vernunft. Dabei hätten die aktuellen Aufgaben des neuerlichen Zusammenlebens und der Integration, wie auch die Probleme einer eventuellen Trennung in Frieden, von beiden Seiten Nüchternheit, Verständnis, Loyalität und Taktgefühl verlangt. Viele heimgekehrte Juden fühlten sich völlig entwurzelt und litten darunter. Vor allem Vertreter der jüngeren Generation wandten sich daher massenhaft Palästina zu. Im Rahmen des Antisemitismus der Nachkriegszeit tauchte wieder einmal die aus dem Mittelalter bekannte Blutbeschuldigung auf. In der Tschechoslowakei, in Polen und Ungarn entfachte der Verdacht des Ritualmordes eine wahre Hysteriewelle, die zu Pogromen führte. 60 Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich der Mechanismus der „Sündenbockbildung“ bis zur Perfektion entwickelt und gefestigt. Wir können auch aus den Vierzigerjahren etliche „prägnante“ Beispiele zitieren. Nach der Niederschlagung des nationalen Aufstandes der Slowaken im Jahre 1944 verlautete die offizielle Propaganda in Pressburg/Bratislava, dass für die Kämpfe, für den Angriff auf die Nazis allen voran die Juden verantwortlich seien. Aufgrund dieser Lüge konnten Tiso und Konsorten die Verantwortung auf andere abwälzen, woraufhin 13.000 – 14.000 bisher verschonte Juden aus den Dörfern bei Bratislava in Eisenbahnwagons getrieben und als „Aufständische“ deportiert wurden. Die neue slowakische Regierung billigte sogar, deutsch-slowakische Spezialeinheiten aufzustellen, die in den Bergen die dort untergetauchten jüdischen „Verbrecher“ jagen sollten. Diese so genannten Edelweiß-Kommandos töteten schließlich 3.722 jüdische Menschen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder. Während der Kriegsjahre wurden 95 % der jüdischen Bevölkerung der Slowakei umgebracht, dennoch lebte der Antisemitismus auf slowakischem Boden weiter. Der im Volk und bei den Bauern sehr verbreitete Aberglaube an Ritualmord blieb konstant, schon deswegen taugte die Zivilgesellschaft zu keinerlei Solidarität mit den heimgekehrten Juden. Zugegeben, nach April 1945 fand sich in der Tschechoslowakei keine noch so radikale Partei und Bewegung, die Pogrome gegen die Juden öffentlich auf sich genommen hätte. Die judenfeindliche Gesinnung offenbarte sich vielmehr im täglichen Leben. Viele bekannten sich mehr oder weniger offen zu der Auffassung, das Jüdische (der Jude) sei unbegreifbar, bedeute aber eine umso größere Gefahr für das Individuum und die Familie, für Nation und Vaterland. All dies hatte dramatische Folgen. Eines der tragischen Ereignisse datiert aus Dezember 1945. In den Dörfern Kolbaschow und Ulic kam es zu Massentötungen. Die Mörder der elf jüdischen Opfer in Kolbaschow waren ukrainische Nationalisten und ehemalige Hlinka-Gardisten slowakischer Herkunft. In Sznina (Svinna) bei Homonna brachten die in früheren Judenhäusern einquartierten Gardisten fünfzehn ebenfalls aus Konzentrationslagern Heimgekehrte um. Der auf slowakischem Territorium aufkommende blinde Glaube an Ritualmord und die Furcht davor entluden sich in spontanen brutalen Gewalttaten. Im Frühjahr 1946 erreichten die Blutbeschuldigungen auch Ungarn und Polen. Es kam zu Ausschreitungen unterschiedlichen Ausmaßes. Juden wurden unter einem beliebigen Vorwand angegriffen, ihre Geschäfte und Magazine geplündert. Es wurde ihnen Warenanhäufung, so genannter Schwarzhandel, vorgeworfen und zum Anlass von Tätlichkeiten 61 genommen. Dass die slowakischen Kommunisten nach 1945 noch lange Zeit keinen Abstand vom Nationalsozialismus und Antisemitismus genommen haben, sondern sich bis zu einem bestimmten Grade sogar mit den „volkstümlichen“ Ideen identifiziert haben, kam den Angreifern zugute. Die Blutbeschuldigungen nahmen in Ungarn etwas später, im Frühjahr 1946, ihren Anfang. Hier waren auch politische Beweggründe im Spiel. In der Slowakei gab es am 24. September 1945 in Topolscány ein Pogrom wegen vermuteten Ritualmordes. Ein jüdischer Arzt, ein gewisser Dr. Berger, impfte zwanzig slowakische Schulkinder. Eines von ihnen bekam hohes Fieber, abends sprach man schon allgemein über ein Attentat auf Christenkinder. Dabei war von zehn bis sechzehn Kindern die Rede. Eine meist aus Frauen bestehende Menschenmenge zerrte den Arzt aus seiner Wohnung und schlug ihn zusammen. Binnen kurzer Zeit versammelten sich mehrere Tausend aufgebrachter Menschen, darunter Polizisten, Soldaten und frühere Partisanen – jeweils bewaffnet. Sie überfielen die etwa 300 bis 400 jüdischen Einwohner der Ortschaft und plünderten alle den Juden zurückerstatteten Wohnungen und Geschäfte. In den schweren Ausschreitungen holten sich 49 jüdische Menschen Verletzungen, zwanzig Oper waren dermaßen schwer verletzt, dass sie sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Der Raserei setzten die in der Stadt stationierten russischen Soldaten ein Ende. Doch der Pogrom wurde in den umliegenden Dörfern fortgesetzt, was von der örtlichen Polizei nicht verhindert wurde. Im Gegenteil: Einige Polizeiangehörige schürten und verbreiteten sogar weitere Furcht erregende Gerüchte. Die Prager Regierung verurteilte scharf die slowakischen antisemitischen Ausschreitungen, die auch im Slowakischen Nationalrat sowie in den kommunistischen und demokratischen Presseorganen scharfe Kritiken auslösten. Die Behörden führten in der Angelegenheit Ermittlungen durch, doch anderthalb Jahre später sprach keiner mehr darüber. Im August 1946 ereigneten sich in mehreren slowakischen Städten heftige Unruhen, die gegen Juden gerichtet waren. Zu gleicher Zeit fand der Kongress des Partisanenverbandes statt. Bereits zuvor wurden emsig antisemitisch orientierte Flugblätter verteilt und vielerorts verunstalteten Schmierereien gleichen Inhalts das Straßenbild. An der judenfeindlichen Agitation beteiligten sich sogar Polizeibeamte und einstige Partisanen. Nach allgemein geteilter Ansicht hätten die im Bund eine führende Rolle spielenden Kommunisten mit dieser Aktion den Slowakischen Nationalrat, wo doch die Demokraten die Mehrheit hatten, unter Druck stellen und dem Rat dadurch ihren eigenen Willen aufzwingen wollen. Tatsache aber ist, dass etliche jüdische Einwohner der Stadt Pressburg/Bratislava zwischen dem 3. und 5. 62 August auf offener Straße insultiert und geschlagen wurden. Die aufgehetzten Massen plünderten zahlreiche Geschäfte, die sich im jüdischen Besitz befanden. Die Pressburger jüdische Garküche wurde in dieser Zeit gar zweimal durchwühlt und dabei ihre Einrichtung total verwüstet. In Komárom (Komarno) wiederholte sich der Vorfall, hier wurde außerdem eine Handgranate auf eines der von Juden bewohnten Wohnhäuser geworfen. In Zsolna (Zilina) wurden 15 Menschen verletzt, in Érsekújvár (Nové Zamky) gab es sieben Verletzte. Die slowakischen Behörden sprachen von der „Wühlarbeit reaktionärer Elemente“, während ihre Prager Kollegen anschließend eine „ungarische Autorenschaft“ feststellten. Ihrer Ansicht nach lag die Initiative in den Händen der ungarischsprachigen Einwohnerschaft, was die fehlerhafte slowakische Sprache der illegalen Flugblätter beweisen sollte. Die in Komárom verwendete Handgranate solle ebenfalls ungarischer Herstellung gewesen sein. Kurz und gut, es lässt sich eindeutig feststellen, dass sich zu dem slowakischen Antisemitismus nach 1945 noch eine Ungarnfeindlichkeit gesellte. Ziel war es, die Minderheiten einzuschüchtern und zu verdammen. In Eperjes (Preschow) erschienen neue Parolen: Ungarn jenseits der Donau, Juden in die Donau oder nach Palästina! In Pressburg hieß es: Schlage den Juden, jage den Ungarn! In Komárom wurde ein Ungar – ohne jeglichen Grund – für die Unruhen verantwortlich gemacht. In Èrsekújvár wurde die jüdische Bevölkerung zu der Aussage verpflichtet, die Schuld für den Pogrom liege bei den Ungarn. Von den slowakischen „Lösungen“ verdient auch folgende Angabe unsere Aufmerksamkeit: Ex-Innenminister Sanyo Mach, Befehlshaber der Hlinka-Garde, wurde nach dem Krieg als Organisator der Judendeportationen für 30 Jahre verurteilt. Der Ungar János Graf Esterházy hingegen, der seinerzeit als Einziger im slowakischen Parlament gegen die Judengesetze gestimmt hatte, bekam lebenslänglich. Esterházy starb jung im Gefängnis. Keine Gewissensbisse trübten 1946 das Nationalbewusstsein der Slowaken trübten. Die öffentliche Meinung fand den bisherigen Umgang mit Juden, deren Behandlung im Nachhinein berechtigt, bestätigt. Was die Vergangenheitsbewältigung angeht, taten sich die Völker Ostmitteleuropas, darunter die ungarische Nation, generell nicht besonders hervor. Doch was die Slowaken in ihrem Nationalbewusstsein hinsichtlich „Vergessen und Entschuldigen“ „geleistet haben“, das steht ohne Beispiel. 63 Der Antisemitismus „blühte“ auch in Polen und hat uneingeschränkt in den Kriegsjahren gewütet. Als Folgeerscheinung war Erpressung ebenfalls keine Seltenheit. Dies alles hatte einen gewaltigen Anteil an der beinahe erfolgreichen Ausrottung des Judentums in Polen. An dieser Stelle soll auf einige Gegebenheiten aus der Zeit vor 1945 hingewiesen werden. So zögerten viele polnische Menschen, wenn sie auf untergetauchte Juden gestoßen waren oder ihre Verstecke entdeckt hatten, keinen Augenblick, die Verfolgten – oft ganz offen, ohne ihren Schritt zu verheimlichen – bei den Behörden anzuzeigen. Die jüdische Bevölkerung hatte eine einzige Möglichkeit zur Selbstrettung: Um von den Nazis nicht verschleppt zu werden, mussten sie sich immer wieder freikaufen. Auf der Flucht lauerte dann eine konstant hohe Gefahr, da die Fliehenden mit der Hilfeleistung ihrer „arischen“ Mitmenschen nur äußerst selten rechnen konnten. Im Juli und Oktober 1942 wurden ganze Gruppen untergetauchter Juden von polnischen Spitzeln angegeben. Bei den Herbstopfern handelte es sich um 900 jüdische Menschen, die allesamt aus dem Ghetto von Legionów geflohen waren. (Vor der Erschießung mussten sie sich entblößen, ihre Sachen übergab nachher das deutsche Hinrichtungskommando den Spitzeln.) Die polnische Widerstandsbewegung nahm erst März 1943 gegen die einheimischen Erpresser der Juden „öffentlich“ – d.h. in illegalen Presseorganen – Stellung. Zitat: „Ehr- und gewissenlose Elemente der Unterwelt greifen neuerlich zu unlauteren Mitteln, um sich Geld zu verschaffen, indem sie Polen und Polinnen, die Juden Unterschlupf gewähren, und die Versteckten ebenfalls erpressen. Der Vorstand des Zivilen Widerstandes macht hiermit darauf aufmerksam, dass derartige Erpressungstaten registriert werden und die Täter nach Möglichkeit jetzt schon, in Zukunft aber mit absoluter Konsequenz die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen werden.“ Zu voller Wahrheit gehört auch, dass der Judenhass den meisten nationalistischen Organisationen der damaligen Zeit keineswegs fremd war. Laut einer von kundigen Experten des Themas 1995 gezogenen Bilanz gehen etwa 120 Mordtaten, die an in Wälder versteckte Juden verübt wurden, auf die Rechnung der polnischen Widerstandsorganisationen. Dies alles spielte eine Rolle dabei, dass nur ein bescheidener, allenfalls wenige Prozente ausmachender Bruchteil des einst drei Millionen zählenden Judentums von Polen den Zweiten Weltkrieg überlebte. 1946 ereigneten sich hie und da im Lande weitere Gewalttaten antisemitischen Kolorits. Unter ihnen gab es politisch orientierte Propagandaaktionen ebenso wie sich aus antisemitischer Gesinnung herleitende spontane Handlungen. Bei diesen Letzteren spielten meistens die verarmt-zerlumpten Bauern- und Arbeitermassen eine Hauptrolle. Doch in Brutalität und Grau64 samkeit gab es überhaupt keinen Unterschied zwischen einer spontanen und einer organisierten Aktion. In beiden Fällen trifft man auf ähnlich Furchtbares: Raub und Plünderung, Lynchen und Töten. Während aber die spontanen Aktivitäten jedes Mal von vornherein gegen die Juden gerichtet waren, hatten die politisch geprägten, organisierten Massenaktionen ursprünglich andere Zielgruppen (richteten sich etwa gegen Spekulanten und Schwarzhändler) und schlugen dann aber in judenfeindliche Ausschweifungen um. In Ungarn kam es im März 1946 in Békéscsaba (Südostungarn) zu einer Massenkundgebung gegen die „Reaktion und Reaktionäre“. Demonstriert wurde gleichzeitig auch gegen „Schwarzhändler und sabotierende Fabrikanten“. Auf einmal begann man antisemitische Losungen auszurufen. Die Demo entartete schließlich zur Judenschlägerei auf offener Straße. Aus Nordungarn wurden Ende Juli, Anfang August judenfeindliche Ausschreitungen gemeldet. Um die ohnehin gespannte Atmosphäre noch mehr aufzuheizen, veranstaltete die Kommunistische Partei in Miskolc ein „Volksgericht“. Zwei jüdische Händler wurden so in das Internierungslager begleitet, dass sie unterwegs von der aufgehetzten Masse getötet werden konnten. Da die Kommunistische Partei häufig als „Judenpartei“ und deren Generalsekretär Mátyás Rákosi als „Judenkönig“ verunglimpft worden waren, ist wohl anzunehmen, dass die Parteileitung gerade dadurch das Gegenteil beweisen wollte. Aufgrund der nordungarischen Ereignisse lassen sich folgende Eigenheiten feststellen: Während im Arbeitermilieu Plünderungen und Misshandlungen vorherrschten, hielt sich in den Dörfern eher die Ritualmord-Legende. Diese artete am 21. Mai 1946 in Kunmadaras, einer Ortschaft der ungarischen Tiefebene, in ein Pogrom mit Lynchjustiz aus. Die Hauptverantwortung trugen Asoziale, doch die Gleichgültigkeit bzw. das Nichteingreifen der Sicherheitsorgane trugen ebenfalls dazu bei, dass die sich vom Marktplatz ausbreitende Hysterie blutige Folgen hatte. Auf dem Markt ging das Gerücht um, ein Christenkind sei entführt worden, um „zur Wurst verarbeitet“ zu werden. Die aus der Kontrolle geratenen wilden Menschenmassen, die sich vorwiegend aus Arbeitslosen rekrutierten, zogen von Haus zu Haus. Es wurde geplündert und geprügelt. Zwölf jüdische Menschen erlitten grobe Misshandlungen. Je zwei von ihnen wurden schwer bzw. tödlich verletzt. Die Polizei nahm endlich 86 Beteiligte in Haft und stellte fest: „Das Verhalten der Juden hat derartige Geschehnisse überhaupt nicht auslösen können“. Die Fortsetzung war nicht weniger merkwürdig. Die lokalen Parteistellen beschlossen, dass die Juden, die ja unfähig waren, sich in die Dorfgemeinschaft einzugliedern, ihr Domizil binnen 24 Stunden verlassen sollten. Mit diesem 65 unerhörten Entscheid fassten die politischen Leiter des Dorfes ein „Volksgerichtsurteil“. Für die tragischen Ereignisse wurden also nicht die Täter, sondern die Opfer bestraft. Allein aufgrund ihres Daseins. Die Prozessführung zum Fall Pogrom in Kunmadaras zog sich in die Länge. Dabei konnten auch politische Bedenken eine Rolle gespielt haben. Das ganze Verfahren ließ darauf schließen, dass die im Dezember 1974 angelaufenen demokratischen Umwälzungen in Ungarn ins Schwanken geraten sind. Zum Schluss sprach man kaum mehr über die schweren Verunglimpfungen und Pogrome gegen die Juden. Wenige Worte fielen auch über das Verurteilen solcher Taten. Vielmehr ging es um die Abrechnung zwischen den einzelnen Parteien. Vom Herbst 1946 an konnte man in Ungarn immer weniger über Antisemitismus und den eigentlichen Volksinteressen dienenden, so genannten Volksgerichtsurteile hören bzw. lesen. Es wurde allmählich unheimlich, in Ungarn über diese Dinge zu reden. Dabei war es ziemlich egal, ob man diese Erscheinungen einzeln oder im Zusammenhang brachte. Die Gründe dafür waren allerdings unterschiedlich. Die Massendemonstrationen wären für die Kommunistische Partei eine Gefahr gewesen – infolge der dabei eventuell aufkommenden antisemitischen Handlungen. Hätte man den Antisemitismus als solchen unabhängig von den Volksbewegungen zur Diskussion gestellt, wäre die Aufmerksamkeit unvermeidlich auf die jüdische Herkunft der Parteiführer gelenkt worden. Und gerade das wollten die Kommunisten am liebsten vermeiden. Von nun an tat Budapest so, als gäbe es überhaupt keinen Antisemitismus mehr. Das Thema wurde vollkommen verdrängt, verschwiegen, tabuisiert, man setzte alles daran, die Aussprache über dieses Phänomen zu verhindern. Ende 1946 unterbreitete der ungarische Justizminister im Parlament einen Gesetzentwurf über die Brandmarkung der Judenverfolgungen. Der Entwurf wurde mit Dringlichkeit eingereicht. Sowohl im Dokument als auch in der Diskussion darüber ging es ausschließlich um die Verfolgung der Juden vor 1945, insbesondere um den Antisemitismus während der Horthy-Ära. Ein einziger Abgeordneter der Kommunistischen Partei meldete sich zu Wort und bezog sich in seiner Rede auf das Beispiel der Sowjetunion. Auf das Beispiel des einzigen Landes, wo – ich zitiere – „das Gesellschaftssystem schon die Möglichkeit der Verfolgung aus rassischen Gründen von vornherein ausschließt“. In Wirklichkeit erreichte erneut eine starke Internierungswelle die Sowjetunion. Aus der Karpato-Ukraine wurde die Bevölkerung mit ungarischer und deutscher Zunge ab Herbst 66 1944 massenweise in Lager verschleppt. Von den rund 30.000 Juden, die sich aus der Deportation mühselig heimgeschleppt hatten – die meisten sprachen neben Jiddisch die ungarische oder die deutsche Sprache –, wurden sehr viele als Spione verdächtigt und verhaftet. Der alte Fremdenhass wirkte nach wie vor, so landeten viele wieder in Arbeitslagern, und viele andere kamen ins Gefängnis. (Übrigens wurden selbst jene Juden interniert, die vor dem deutschen Angriff über die Grenze in die Karpato-Ukraine geflohen sind.) Man konnte gar nicht daran denken, dass Juden ihr Eigentum, ihre Häuser und Wohnungen zurückbekamen, denn in denen wohnten längst andere Familien. Die Behörden interessierte eher die Frage, wie war es möglich, dass der Betreffende das Lager überlebte, wo doch angeblich der Tod waltete. Sollte er etwa den Nazis gedient haben? Warum er allein, ohne Familie zurückkehrte? So kam es, dass die kompakten Judengemeinden auch in dieser Region spurlos verschwunden sind. Und mit ihnen verschwand aus dieser Gegend die jiddische Sprache, die sie noch beherrscht oder zumindest verstanden haben, verschwand die jüdische Kultur mit all ihren spezifischen Traditionen und Festen. Nach dem Holocaust gab es selbst in den ferneren, zentralen ukrainischen Landstrichen keine einzige Siedlung mit jüdischer Dominanz mehr. In Kijew und Umgebung war vor dem Krieg noch jeder vierte Einwohner jüdischer Herkunft: Nur ein winziger Teil dieser Bevölkerungsschicht überlebte die Schreckenszeit. Von den einst stolzen 80 % jüdischer Bevölkerung in Bergitschew blieben nur noch 5 % übrig. Jüdische Verluste gleicher Größenordnung wurden auch in Tschernovici, einer von Rumänien an die Sowjetunion angegliederten Ortschaft verbucht. Allein in Kischinow gab es mehr Überlebende: 19 % des städtischen Judentums. Die aus dem Krieg heimkehrenden siegreichen russischen Soldaten und Offiziere jüdischer Herkunft erwartete eine riesige Enttäuschung: Sie mussten sich mit der bitteren Wahrheit konfrontieren, dass sich so manche Ortsbewohner fast überall begeistert an der Demütigung und Ausplünderung der Juden, ja selbst an ihrer Vernichtung vor Ort, beteiligten. Und der Rest sah seelenruhig zu, beobachtete gleichgültig, was geschah. Diese Erfahrung war schwer zu verarbeiten, denn es handelte sich ja diesmal nicht um auf Hass getrimmte, angreifende Soldaten aus Hitlers Deutschland, sondern um Sowjetbürger, die doch im Geiste des Internationalismus großgezogen worden sind. Und diese Menschen empfingen in den ersten Monaten unmittelbar nach der Besetzung die heimkehrenden Juden – anstatt Mitleid, Anteilnahme oder gar Reue zu zeigen – häufig mit lodernden Hassgefühlen. Einige bangten um ihre Beute, manche versuchten zu vertuschen, dass sie selber oder ihre Familienangehörigen mit dem Feind kollaborierten. Wieder andere empfanden: Durch das stete Heraufbeschwören der 67 jüdischen Leiden im Holocaust seien ihre eigenen Leiden erniedrigt, ihre unerträglichen Kriegsverluste, die Trauer um den Tod von Soldatensöhnen, Ehegatten und Gattinnen entwürdigt. Das jüdische Gemeindeleben zerfiel. Hinzu kam, dass die sowjetischen Behörden von der zweiten Hälfte des Jahres 1946 eine heftige Kampagne gegen Kosmopolitismus und Kosmopoliten führten. In deren Rahmen wurden zahlreiche jüdische Intelligenzler verhaftet, gefoltert und in Straflager, GULags, geschickt. Eine Zeit lang durfte noch das Komitee jüdischer Antifaschisten wirken, dann wurde auch seine Tätigkeit eingestellt. Die rumänische Lage reell zu beurteilen, ist eine durchaus schwierige Aufgabe. Marschall Ion Antonescu, Rumäniens „Staatsführer“ bis August 1944, sagte später als Angeklagter vor Gericht aus, er habe das Leben der rumänischen Juden gerettet, indem er sie Hitlers Deutschland nicht auslieferte. Diese Behauptung wird seither von jedem rumänischen Historiker als unantastbar übernommen und immer wieder betont. Kurzum: Es soll in Rumänien überhaupt keinen Holocaust gegeben haben, ausgenommen das nördliche Siebenbürgen, das vor 1944 bekanntlich wieder zu Ungarn gehörte. Die rumänischen Presseorgane und Propagandamittel beteuern seit Jahrzehnten immerfort nur das eine, und zwar, dass die Ungarn Hunderttausende von Juden und Jüdinnen vernichten ließen. Die Ungarn seien durch ihre Gene zum Mord determiniert. Die Rumänen hingegen seien allesamt wahre Verfechter der Menschlichkeit, der Toleranz und des Philosemitismus, da sie die Gene dazu prädestinieren. An dieser Bastion der Lüge wird seit einem halben Jahrhundert fleißig gebaut. In diesem Zusammenhang wollen wir hier auf einige historische Tatsachen hinweisen. Die 1866 verabschiedete rumänische Verfassung ist ein beispielloses Unikum in der Geschichte des osteuropäischen Antisemitismus. Gemäß Artikel 7 stand ja die rumänische Staatsbürgerschaft einzig und allein Christen zu. Zwischen 1866 und 1902 erhielten lediglich 3.469 jüdische Menschen die rumänische Staatsbürgerschaft. Dabei gab es im Land zahlreiche weitere judenfeindliche Ereignisse. In den knapp vierzig Jahren bis 1913 fasste die rumänische Gesetzgebung insgesamt 196 ausschließende, antisemitisch geprägte An- und Verordnungen, Gesetze. Landesverweisungen standen auf der Tagesordnung. Das Recht auf rumänische Staatsbürgerschaft erkämpfte sich das dort ansässige Judentum erst 1919. Wenig später – zwischen 1938 und 1944 – suchten in rascher Folge drei Diktaturen Rumänien heim: Auf die königliche Gewaltherrschaft folgten das Regime der Eisengardisten und die Antonescu-Ära. 68 Die ersten Massenmorde an Juden verübten im Juni 1940 Soldaten der sich aus Bessarabien zurückziehenden rumänischen Truppen. Nach diesem „Auftakt“ kam es zu mehreren Pogromen. Die mit deutschen Wehrmachtstruppen gemeinsam vorrückende rumänische Armee tötete in den drei Monaten vom 22. Juni bis 21. September 1941 rund 166.000 jüdische Menschen. Die Rumänen rotteten die jüdische Bevölkerung von Bessarabien und Transnistrien aus, die Zahl ihrer Opfer ging auch deshalb an die 430.000. Heute gehören diese Gebiete nicht mehr zu Rumänien, auch deshalb können rumänische Historiker ihre Theorien aufs Leugnen bauen. Laut ihrer Behauptung soll Antonescu das rumänische Judentum verschont haben. In Wirklichkeit beläuft sich die Zahl der Verluste in dieser Relation auf über 400.000 Personen. Darüber darf man bis heute nicht sprechen oder gar schreiben. Die offizielle rumänische Geschichtsschreibung spricht von ausgiebigen Rettungsaktionen, schildert Rumänien als ein wahres Asylland verfolgter Juden. Fakt ist, dass einige hundert Juden 1944 aus Ungarn nach Süd-Transsilvanien, nach Rumänien also, fliehen konnten. Zionistenvereinigungen organisierten ebenfalls Fluchtwege in diese Richtung und halfen etlichen, vor allem aus jungen Leuten bestehenden jüdischen Gruppen nach Constanza zu gelangen, um von dort nach Palästina weiterreisen zu können. Doch die gelungenen Aktionen und sogar die gescheiterten Versuche waren nur möglich, wenn man für alles und überall, jedem teures Geld gezahlt hat. Es hieß zahlen und wieder nur zahlen – den rumänischen Beamten und Polizeistellen, den Verbindungsmännern und den Bauern, die einem mit Brot und Wasser weiterhalfen. Die Sachliteratur über den rumänischen Holocaust könnte man als bescheiden bezeichnen. Der Anfang war allerdings viel versprechend. Matatias Carp veröffentlichte zwischen 1946 und 1948 in vier Bänden sein Werk „Schwarzes Buch. Die Leiden der Juden zwischen 1940 und 1944 in Rumänien“. Die Exemplare des Buches wurden nachher von den kommunistischen Behörden ohne Ausnahme eingesammelt und eingestampft, damit das rumänische Volk mit diesem schwarzen Kapitel der eigenen Vergangenheit nicht konfrontiert werde. Die emsigen Beamten gingen aufs Ganze und ließen ihre Agenten die noch vorhandenen Bände aus allen großen Bibliotheken der Welt entwenden. In den Achtzigerjahren unternahm ich in Berlin den Versuch, etwas über den Holocaust in Rumänien zu erfahren, einschlägige Literatur zu studieren. Man bot mir eine Arbeit im schmucken goldenen Einband an, von der gleich zwei Exemplare vorlagen. Eine Schenkung aus Rumänien, hieß es. Als ich das Buch in die Hand nahm, wurde mir alles klar. „Die Greueltaten des Horthy-Faschismus in Nord-Transsilvanien, Rumänien“, verkündete der 69 Titel. Folglich war und blieb der Holocaust in Rumänien einzig und allein Schuld der Ungarn. Die Rumänen hätten nur geholfen und gerettet, sie hätten in den Judenangelegenheiten keinerlei Schuld auf sich geladen. Nach dieser kurzen Übersicht können wir uns fragen: Worauf ist das Weiterleben des Antisemitismus in den Ländern Osteuropas nach der Tragödie der Endlösung wohl zurückzuführen? Wieso kam die Hysterie der Blutbeschuldigung wieder auf und warum griff sie um sich? Wie waren Pogrome möglich? Wie kann so etwas in unserer Zeit passieren? Die Antwort auf die aufkeimenden Fragen finden wir in den festgefahrenen oder ganz ausgebliebenen Modernisierungsprozessen der Region, in der Rückständigkeit im Vergleich zu den entwickelteren Teilen Europas sowie in der Problematik des Nationalbewusstseins in diesen mit feudalen Überbleibseln belasteten Gesellschaften. In diesen Ländern unterhielten die nationalen Bewegungen von Anbeginn (also vom 19. Jahrhundert an) ein negatives Verhältnis zum jeweiligen Judentum. Und die Juden konnten sich folglich fast nirgends in die Gemeinschaft der führenden Vertreter nationaler Aspirationen integrieren. Auch durften sie im politischen Leben keine Rolle spielen. Sogar nach 1945 ist diese Trennung in der Elite zwischen Juden und Nichtjuden zu beobachten, zu politischen Funktionen kamen allenfalls solche Leute, die ihr Judentum geleugnet bzw. verschwiegen haben. Viele davon beteuerten, zur kommunistischen Ideologie übertreten zu sein. Sie wurden tatsächlich zu eifrigen Verfechtern und Verbreitern der kommunistischen Ideen. In der Slowakei blieb die akademische Elite trotz mehrerer politischer Wenden, trotz mehrfacher umfangreicher Umstrukturierung auf der Basis des aktuellen Gesellschaftssystems immer unverändert. Ihre Vertreter akzeptierten sowohl den nationalsozialistischen Trend tschechischer und später deutscher Prägung als auch die angelsächsische und schließlich sowjetische Orientierung. Die in dieser Hinsicht so „wendige“ Intelligenz blieb nur auf einem Gebiet bis zuletzt konsequent: Sie respektiere die traditionelle Judenfeindlichkeit der Bauern und anderer Volksmassen. Ähnliches zeichnete sich auch in Polen ab. Der uralte „volkstümliche“ Judenhass lebte in den qualvollen Kriegsjahren, aber auch nach 1945 weiter. Das hat bis heute greifende Probleme verursacht. Es reicht, wenn wir an dieser Stelle auf die Aktivitäten um die Auschwitzer Mahnund Gedenkstätte verweisen, das erzwungene Aufstellen von Kreuzen und einige Äußerungen kirchlicher Würdenträger in Erinnerung rufen. 70 In beiden erwähnten Ländern – aber in Ungarn nicht anders – bewahrte der Antisemitismus auch in der Nachkriegszeit sein archäisches Gepräge. Dafür sprechen die wiederholten Ausbrüche der Ritualmord-Hysterie, die bis August 1948 andauerten. (Die letzte Pressburger Blutbeschuldigung ist schon deshalb beachtenswert, weil sie nach der kommunistischen Machtübernahme vorgefallen ist.) In der Wiederbelebung der Legende über den Ritualmord spielte die Slowakei eine Vorreiter-Rolle. Von hier aus griff sie auf die benachbarten Länder Ungarn und Polen über. Wir müssen allerdings eine Eigenheit des slowakischen Antisemitismus festhalten: Er besaß keinen antikommunistischen Kolorit, höchstens hin und wieder gewisse ungarnfeindliche Untertöne. Als ungarische Eigenheit kann man betrachten, dass es vor 1945 in der Horthy-Ära, d.h. zur Zeit des so genannten christlich-nationalen Kurses, doch nicht gelungen ist, die legale und illegale Arbeiterbewegung in antisemitische Bahnen zu lenken. Beispiellos war aber auch, wie der Antisemitismus nach 1945 hier zu Lande wieder Fuß fasste. Die Judenfeindlichkeit erschien als eine „überparteiliche“ Kraft, zeigte aber auch antikommunistische, antisowjetische Inhalte. Wie in Polen, wurden die Kommunisten und die Russen auch in Ungarn in der politisch brisanten Nachkriegszeit mit den Juden gleichgesetzt. Der nach dem Krieg weiterlebende Antisemitismus wirkte freilich auch auf das Leben der Juden aus, die in ihre osteuropäischen Heimatländer zurückkehrten. Manche versuchten einen Neuanfang. Sie versuchten erneut sich eine Existenz zu schaffen, sich einzugliedern, sich anzupassen, was nicht selten das Geheimhalten ihrer rassischen Zugehörigkeit bedeutete. Andere, die nach und nach von dem Tod ihrer Lieben, Familienangehörigen und Verwandten erfahren und so ihren Halt, ihre Wurzeln verloren haben, wanderten aus. In der Slowakei beurteilten die meisten zurückgekehrten Juden ihre Zukunft als aussichtslos. Sie emigrierten massenweise. Während 1939 noch 90.000 slowakische Juden registriert waren, schätzt man ihre Anzahl heute auf 3.000 – 4.000. Von den einst drei Millionen polnischen Juden leben vielleicht nur noch 10 % in Polen. Es liegen keine zuversichtlichen Angaben vor, denn die Juden befanden sich in steter Emigration – mal innerhalb der Staatsgrenzen, mal außerhalb. Einigen Angaben zufolge lebten 1946 50.000 jüdische Menschen in Polen, während das Zentralkomitee Polnischer Juden Ende 1945 100.000 Überlebende meldete. Dieselbe Organisation wusste im Januar 1946 von 86.000 Landsleuten jüdischer Abstammung, kurz darauf 71 stieg ihre Zahl auf 99.280 und ein halbes Jahr später, im Juli 1946, schon auf 243.000. Die plötzliche Zunahme war Folge eines Abkommens mit der Sowjetunion über Bevölkerungsaustausch. Ende 1946 wurden 192.000 polnische Juden registriert. Und Tausende lebten als Flüchtlinge oder Heimatlose in verschiedenen Lagern Deutschlands, Österreichs und Italiens. Zwischen 1945 und 1947 konnte man aus Polen meistens legal emigrieren. Die überwiegende Mehrheit wanderte nach Palästina oder zu Verwandten in andere Länder aus. Die genauen Zahlen sind bis heute nicht bekannt. Offiziell verließen vom Januar 1946 bis zum 15. Mai 1948 rund 17.000 jüdische Menschen das Land, ihr Ziel war in erster Linie Palästina. Es ist nicht nachweisbar, wie viele bei der Rapatriierung nicht nach Polen heimkehrten, sondern gleich Palästina oder ein anderes Land als ihre neue Heimat wählten. Mit der zweiten Welle der polnischen Emigration verließen zwischen 1949 und 1951 insgesamt 27.859 Juden und Jüdinnen das Land. Um diese Zeit agitierten zionistische Kreise für die Auswanderung der Juden, es kam öfters zur illegalen Landflucht. Danach verblieben nahezu 60.000 Juden in Polen. In der Karpato-Ukraine nahm man Repatriierung und Familienzusammenführung gerne zum Vorwand, um alle ausreisewilligen Juden loszuwerden. Die Auswanderung war beinahe kontinuierlich. In jener Region, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg als eine Hochburg jüdischen Lebens in Osteuropa gegolten hat, lebten 1959 insgesamt 12.000 und 1979 nur noch 3.848 jüdische Menschen. Die Zahlen der jüdischen Emigration aus Rumänien sind entweder nicht zugänglich oder gefälscht. Tatsache ist, dass die Auswanderung zwischen 1945 und 1948 – schon wegen der direkten Seeverbindung – in überwiegender Mehrheit der Fälle nach Palästina ging. Nach einer Statistik von 1945 fiel etwa die Hälfte des rumänischen Judentums dem Holocaust zum Opfer. Die Zahl der Überlebenden belief sich auf 380.000 bis 400.000. Eine aus 1946 datierte Veröffentlichung meldete 300.000 bis 320.000 Juden in Rumänien, was eindeutig eine Reduzierung zeigt. Wir stießen aber auch auf eine Schätzung von 250.000 Personen. Gemeldet wurde, dass von den 68.405 Juden in Jugoslawien, nur noch 9.000 gezählt werden. In Bulgarien registrierte man 40.000 jüdische Menschen, ihre Kriegsverluste beliefen sich auf 7.000, was 14 % bedeutet. Hier gab es auf dem Balkan die meisten Überlebenden. Die nach Ungarn heimgekehrten Juden wurden ab Juli 1945 zusammengeschrieben. Viele schreckten infolge schlechter Erfahrungen in der Vergangenheit davor zurück. Das Land 72 wurde in Registrierungskreise eingeteilt, die Aktion zog sich in die Länge. Bis zum 31. Oktober 1946 zählte man in Budapest 117.363 und in der Provinz 47.967, insgesamt 165.330 Juden. Eine andere Erhebung aus dem gleichen Jahr gibt insgesamt 143.500 Juden an, davon lebten 96.500 in der Hauptstadt und 47.000 in der Provinz. 1946 verließen viele jüdische Menschen Ungarn, die sich entweder in den USA oder in Palästina niederlassen wollten. Die Engländer hielten mehrere Gruppen unterwegs auf und internierten die Auswanderer auf Zypern. Mittlerweile wurde die Tätigkeit der Zionisten in Ungarn immer verdächtiger, die Aktivisten wurden polizeilich überwacht. Die Emigrationswelle stieg an, 1947 kam es schon immer häufiger – nach intensiver Vorbereitung in Lagern – zu illegalen Auswanderungen. Diese Möglichkeit bestand seit der Existenz des Eisernen Vorhanges nicht mehr, massenhafte Abwanderungen jüdischer Ungarn gab es erst im Zuge der Revolution von 1956. Ein 1993 publizierter Forschungsbericht schätzt die Zahl der von 1945 bis Ende 1956 ausgewanderten ungarischen Juden auf 100.000. 73 74 Manfred Rotter Die EU: Weg oder Ziel? – Ansätze einer europäischen Konzeptdiskussion 1. Standort als thematischer Brückenschlag Die folgenden Überlegungen sind von der Überzeugung getragen, dass der jeweilige Zustand der Gesellschaft als Ganzes oder einiger ihrer Teilbereiche das Ergebnis gezielten menschlichen Handelns ist. Sie fallen nicht vom Himmel und sie entspringen nicht der Hölle. Das gilt für das Grauen, worüber Sie hier in den letzten Tage gearbeitet haben ebenso, wie für die Entwicklung eines breiten, jeden erfassenden Sozialsystems auf der Basis eines von der Solidarität aller getragenen Umlageverfahrens. Gesellschaftliches Gestalten beginnt in den Köpfen als Idee, mag sie Ausdruck einer allumfassenden gesellschaftlichen Idealprojektion oder – nicht minder legitim – konkreter Interessen sein. Natürlich entstehen so manche gesellschaftlichen Vorstellungen aus einem konkreten – sei es sicherheitspolitischen oder ökonomischen – Umfeld oder auch Zwängen. Diesen nachzugeben, sich von ihnen in bestimmte Richtungen treiben zu lassen, erfolgt jedoch nicht automatisch, sondern in mehr oder weniger aufeinander folgenden Entscheidungsschritten. Es ist immer wieder der Mensch, der sich entscheidet, Zwängen nachzugeben oder sich ihnen entgegenzustellen und sich zu verweigern. Deswegen soll ja der hinter ihnen liegende Rückblick in die Büchse der Pandora des Gewesenen nicht so stehen bleiben. Das unerlässliche Besinnen auf die Entsetzlichkeiten der Verbrechen und Sünden früherer Generationen auch jenseits unseres Kulturbereiches muss in die Auseinandersetzung, ja das Ringen um das Werdende eingebettet sein, soll es nicht zum Selbstzweck degenerieren. Die Anfänge der europäischen Integration sind die Antwort der damals führenden Entscheidungsträger auf eine mindest ebenso drückende Zwangslage nach dem Zweiten Weltkrieg, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg bestanden hat. Aber welch ein Unterschied im ideologischen Unterbau!? Damals (1918): Autoritäre, kollektivistische, bewusst antidemokratische Staatsvorstellungen in den Nachfolgestaaten der Achsenmächte als Antwort auf die Katastrophe des Krieges und zögerliche Reaktionen der Demokratien offenbar vom Zweifel geplagt, ob der Weg der liberalen, pluralistischen Demokratie der Richtige ist. 75 Und jetzt nach 1945 die bedingungslose Abgrenzung gegen das Totalitäre und der Versuch, künftigen Generationen den Weg aus der Katastrophe heraus in die demokratische Solidarität, und zwar über die bestehenden Grenzen hinweg, in die Zukunft zu ebnen. 2. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Am 5. Mai 1950 verkündet der damalige französische Außenminister Robert Schuman im Uhrensaal des französischen Außenministeriums den nach ihm benannten Plan für die Zusammenlegung der Gesamtheit der deutsch-französischen Stahlproduktion unter einer „obersten Aufsichtsbehörde“. Dadurch sollte in aller Zukunft ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, von dem, wie man auch damals schon meinte, alles Übel ausgegangen war, nun nicht nur undenkbar sondern auch „materiell unmöglich“ werden. Die für die bisherige Geschichte der Internationalen Organisationen sensationelle Neuerung bestand darin, dass zum ersten Mal bestimmte Staatsaufgaben aus dem Hoheitsbereich einzelner Staaten gelöst und in die Entscheidungsgewalt einer internationalen Autorität übertragen werden sollten. Dieser enorme Qualitätssprung in der Ideengeschichte der Internationalen Organisationen wird in seiner Bedeutung auch nicht dadurch gemindert, dass es sich bei den Angelegenheiten der Kohle- und Stahlproduktion (Montanindustrie) um einen vergleichsweise schmalen Ausschnitt aus der breiten Palette staatlicher Aufgaben handelt. Die mit der Gründung der EGKS verbundenen Ideen und Interessen lassen sich in drei Gruppierungen zusammenfassen: 2.1. Friedensstiftung Dem Entwicklungsstand der Technologie der Mitte des vergangenen 20. Jahrhunderts entsprechend, war Rüstungsindustrie gleich Schwerindustrie. Ein Staat, der über autonome Aufrüstungsprogramme verfügen wollte, brauchte dazu unbedingt den unerlässlichen Rückhalt einer Schwerindustrie. Wenn nun, so der Gedanke der französischen Planer, eben diese Schwerindustrie der ausschließlichen Verfügungsgewalt einzelner Staaten entzogen und einer internationalen Autorität unterstellt wird, so verlieren diese Staaten eben die Kapazität autonome Rüstungsprogramme selbstständig durchzuführen, was einen wichtigen Teil der Kriegsgefahr bannen könnte. Schon nach dem Ersten Weltkrieg hatte man den Versuch gemacht, die deutsche Ruhrindustrie aus der exklusiven Verfügungsgewalt des Deutschen Reiches herauszulösen. Das war damals ein Alleingang der französischen und der belgischen Regierung, welchen es vor76 geblich darum gegangen war, die Reparationszahlungen des Deutschen Reiches zu erzwingen bzw. sicherzustellen. So war es 1923 bis 1925 zur so genannten „Ruhrbesetzung“ durch französische und belgische Truppen gekommen, die nach Meinung vieler Analytikerinnen und Analytiker ein wichtiger Bestimmungsfaktor für die Formierung nationalen deutschen Widerstandes gegen die Nachkriegspolitik der Alliierten (Diktat von Versailles) geworden ist. Diesen Fehler wollte man nach dem Zweiten Weltkrieg vermeiden, obgleich man dasselbe Problembewusstsein hatte. So kam es 1949 zu einem Abkommen zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Staaten über die Errichtung der Internationalen RuhrBehörde. Sie hatte die Aufgabe, die internationale Kohle-, Koks- und Stahlproduktion sowohl auf den deutschen, wie auch auf den internationalen Märkten gleichmäßig zu verteilen und übermäßige wirtschaftliche Konzentrationen zu verhüten. Diese Ruhr-Behörde war dann das Vorbild für die Errichtung der Hohen Behörde der EGKS, von der noch zu sprechen sein wird. 2.2. Gemeinsamer Montanmarkt Der eigentliche Planer hinter dem Schuman-Plan war Jean Monnet, der seit 1944, also der Befreiung Frankreichs, für die Wirtschaftsplanung seines Landes verantwortlich war. Aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Daten wurde sehr bald klar, dass der französische Markt für die mit großen Zuwächsen auszustattende französische Stahlindustrie innerhalb kürzester Zeit zu klein werden würde. Daneben war von Anfang an klar, dass eine wiederaufgebaute deutsche Montanindustrie wegen ihrer günstigeren Produktionsbedingungen (Kohlebergbau) innerhalb kurzer Zeit eine schwere Konkurrenz für die französische Industrie darstellen werde. Innerhalb dieses gemeinsamen Marktes für die Montanindustrie ohne Zölle und ähnlichen Beschränkungen sollte es eben Aufgabe der „Hohen Behörde“ sein, für gleichmäßige Wettbewerbsbedingungen und damit für einen gewissen Ausgleich zwischen den einzelnen Produzenten zu sorgen. Frankreich würde solcherart zum Beispiel der Zugang zur deutschen Ruhr-Kohle erleichtert werden. Es kam hinzu, dass die Schwerindustrie nicht nur Grundlage für die Rüstungsindustrie, sondern für alle Arten wirtschaftlicher Tätigkeiten war, so klarerweise für die anspringende Autoproduktion aber auch für die Bautätigkeit, die im Zuge des Wiederaufbaus nach den Kriegsschäden von zentraler Bedeutung für alle Wirtschaftssysteme war. Es finden sich daher in den ersten Bestimmungen des EGKSV hauptsächlich Vorschriften über die Sicherstellung der Versorgung mit Produkten der Montanindustrie (Art. 2 bis 4). 77 2.3. Funktionaler Zwang Die zentrale Bedeutung der Stahlindustrie für die Wirtschaftssysteme der damaligen Zeit war auch der Ausgangspunkt für die Überlegung, dass für eine Vereinheitlichung des MontanMarktes in der Zeitdimension ein gewisser Zwang auf die Erweiterung des Einsatzbereiches der Europäischen Integration auch in andere staatliche Aktivitäten ausgeübt werden könnte. Schon damals hatte man gedacht, dass daraus vielleicht auch einmal der Ansatz zur politischen Einigung erwachsen könnte. Dank der präzisen Vorbereitung des Schuman-Plans insbesondere durch Jean Monnet und sein Team ging die Gründung der EGKS relativ schnell über die Bühne. Bereits am 18. April 1951 wurde der Vertrag unterzeichnet und trat kaum mehr als ein Jahr später, am 23. Juli 1952, in Kraft. Die ursprünglichen Mitglieder waren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Die Sechsergemeinschaft war entstanden. Der Vertrag war auf 50 Jahre limitiert und ist gemäß Art. 97 mit Wirkung vom 23. Juli 2002, wie vorgesehen, ausgelaufen. 3. Der Status Europas als Hintergrund In der Regel sind Ideologien und die gesellschaftlichen Prozesse zu ihrer Umsetzung Antwort und Reaktion auf konkrete gesellschaftliche Zustände zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Es ist die Konzeption neuer Entwicklungen, die Verbindung zwischen Gestern und Heute herstellt. So werden Ideologien in der Regel besser verständlich, wenn man sich jenen gesellschaftlichen Entwicklungen und Zuständen zuwendet, von denen sie wegführen sollen. In diesem Sinne muss man sich kurz die Situation Europas zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts vergegenwärtigen, um die besondere Bedeutung der ersten Ansätze der europäischen Einigung in Westeuropa besser verstehen zu können. Das Europa der damaligen Zeit war ein Staatenkonglomerat ruinierter Wirtschafts- und Finanzsysteme. Nicht nur in den so genannten Verliererstaaten, sondern auch in den Staaten der Siegermächte gab es ernste Versorgungskrisen, was den täglichen Bedarf der Menschen anlangte. Sechs Jahre eines verheerenden Krieges haben allenthalben dazu geführt, dass die Gesellschaftssysteme auf diesen ausgerichtet waren und mit ihnen auch die gesamte Wirtschaft. Schwierig und gefährlich war auch die durch die sechs Jahre Krieg in den einzelnen Gesellschaften eingetretenen dramatischen Verformungen, wobei, wie bereits oben angedeutet, in vielen Staaten keine demokratische Tradi78 tion als Rückzug in eine frühere Geborgenheit zur Verfügung stand. So hat es von den Nachfolgestaaten der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie nur die Tschechoslowakei geschafft, bis zum Jahre 1938 ein funktionierendes pluralistisch-demokratisches System am Leben zu erhalten. Überall anders kam es entweder gar nicht erst zu demokratischen Regimen oder sie wurden nach kurzer Zeit – wie etwa in Österreich – von autoritären, um nicht zu sagen faschistischen Regimen abgelöst. Aber selbst in den traditionsreicheren Demokratien gab es große Verwerfungen durch das Aufkommen von politischen Bewegungen, die mit den faschistischen Regimen durchaus sympathisiert haben. Das Faszinierende an der so genannten „Nachkriegspolitik“ besteht aus meiner Sicht und nicht zuletzt auch aus der Sicht des Themas dieser Tagung darin, dass man erkannt hat, dass die Lösung der vielfältigen immer wieder auftretenden und zwar unvermeidlicherweise immer wieder auftretenden gesellschaftlichen Problemstellungen nur in den Bahnen pluralistischliberaler Demokratie gelöst werden können. In diesem Sinne ist die Gründung des Europarates vom 5. Mai 1949 (eine internationale Organisation) und damit die Schaffung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1950/1953) nicht laut genug zu berühmen. Damit sollte dem Gedanken der pluralistischen-freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie mit der Gewährleistung der Grund- und Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat gleichsam eine internationale Verankerung und zusätzliche Sicherung in Form einer internationalen Organisation (Europarat) verliehen werden. Totalitären Ideologien, nicht nur dem Faschismus, sondern auch dem Kommunismus, sollte auf diese Weise eine Absage erteilt werden. Wenn wir oben vom ökonomischen Tief der europäischen Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gesprochen haben, so sollte bedacht werden, dass jener Staat, der am meisten – sofern man hier quantitative Vergleiche überhaupt für sinnvoll hält – unter dem Zweiten Weltkrieg zu leiden hatte, mit Sicherheit die Sowjetunion war. Sie bietet solcherart den negativen Endpunkt eines Kontinuums von Zerstörungen und Menschenopfer der Staaten des Zweiten Weltkrieges, an dessem Ende auf der anderen Seite die USA stehen, die zwar auch 300.000 Soldaten verloren hatten, aber keine Verluste unter der Zivilbevölkerung und vor allem keine Schädigung der ökonomischen Infrastruktur in ihrem vom Kriegsgeschehen verschont gebliebenen Territorium zu beklagen hatten. Die USA waren am Ende des Zweiten Weltkrieges die ökonomische Weltmacht. Die enormen Schäden, die vom Deutschen Reich der Sowjetunion nicht zuletzt durch die Strategie der verbrannten Erde zugefügt wurden, führten dazu, dass kaum ein anderer Staat 79 einen derartigen Bedarf an Investitionsgütern zum Wiederaufbau hatte, als eben die Sowjetunion. Es ging aber nicht nur um die ökonomischen Folgen des Zweiten Weltkrieges, sondern auch darum, dass die sowjetischen Sicherheitsplaner einen strategischen Sicherheitsgürtel befreundeter Staaten um ihre Westgrenze verlangten. Solcherart sollte ein Überfall, wie er vom Deutschen Reich am 22. Juni 1941 auf die damals ja verbündete Sowjetunion begangen wurde, verhindert werden. Die in den europäischen Staaten agierenden kommunistischen Parteien verstanden sich als Alliierte der sowjetischen Nachkriegspolitik und wurden solcherart immer weniger als Exponenten des linken Flügels des demokratischen Spektrums als vielmehr als zunehmende Gefährdung der demokratischen Systeme an sich empfunden. Der sehr bald ausbrechende „Kalte Krieg“ hatte zwei Wurzeln. Zum einen ging es um die territorialen Fragen, insbesondere die polnische Westgrenze, die auf traditionell deutschem Gebiet gezogen wurde, sowie das Auseinanderdriften der westlichen Besatzungszonen einerseits und der sowjetischen Besatzungszone andererseits in Deutschland, aber eben auch um Fragen der Neuordnung Europas, wobei auch die immer wieder wiederholte Forderung der Sowjetunion nach entsprechendem Anteil an Reparationen für Konflikte sorgte. Am 5. Juni 1947 hatte der damalige amerikanische Außenminister Marshall in einer denkwürdigen Rede vor der Harvard-Universität den so genannten „Marshall-Plan“ vorgestellt, der eine substanzielle Subventionierung des Wiederaufbaus der Wirtschaftssysteme der europäischen Staaten vorsah. Allerdings ging es nach der amerikanischen Konzeption hier um ein Wiederaufbauprogramm. Das war der Grund dafür, dass die Forderungen der osteuropäischen – zum damaligen Zeitpunkt noch nicht kommunistischen – Staaten sowie die Sowjetunion von diesem Programm ausgenommen waren, weil sie die Finanzmittel nicht zum Wiederaufbau, sondern für die Industrialisierung ihrer traditionellen Agrarsysteme verwenden wollten. Nach meiner Einschätzung war es diese Entscheidung der USA, ihre Wirtschaftshilfe nicht auch für Strukturveränderungen zu leisten, als der letzte Auslöser für jene Entwicklungen, die die Teilung Europas einleiteten. Im September 1947 fand eine „Informationskonferenz“ der Vertreter der kommunistischen Parteien und der Staaten unter sowjetischen Einfluss statt, in deren Schlussdokument zum ersten Mal die Teilung Europas in zwei Lager deutlich angesprochen wird. Einem „imperialistischen, antidemokratischen Lager, dessen Hauptziel darin besteht, die Weltvormachtstellung des amerikanischen Imperialismus zu erreichen“, steht ein „demokratisches Lager gegenüber, dessen Hauptziel es ist, den Imperialismus zu überwinden.“ (Europa Archiv 1947, S. 935) 80 Im Februar 1948 kommt es in der Tschechoslowakei zu einem kommunistischen Staatsstreich, am 25. Juni 1950 bricht der Korea-Krieg aus. Am 20. Juni 1948 tritt in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands die Währungsreform mit der Einführung der DM in Kraft, am 24. Juni 1948 beginnt die berühmte Berliner Blockade, die bis zum 12. Mai 1949 dauern sollte. Am 24. Mai 1949 tritt das Bonner Grundgesetz in Kraft, wodurch die Bundesrepublik Deutschland aus der Zusammenfassung der drei westlichen Besatzungszonen entstanden ist und naturgemäß die Teilung Deutschlands zunächst fixiert wurde. Schon vorher, am 4. April 1949, wurde das westliche Militärsystem NATO gegründet. Nicht nur Europa, sondern man kann sagen der Globus, wird in zwei miteinander rivalisierende Herrschaftssysteme, unter der Führung der USA auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite, geteilt. Damit ist klar, dass die europäische Einigungsbewegung auch als Manifestation der Zuwendung zum pluralistisch-demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaftssystem konzipiert werden musste. In der Präambel zum Gründungsvertrag für den Europarat (5. Mai 1949) heißt es daher: siehe Folie 1 4. Europismus Der Gedanke, die europäischen Staaten aus ihren wiederkehrenden Konflikt- und Kriegsphasen durch ihre Zusammenfassung in einen gesamteuropäischen Verbund herauszuführen, geht deutlich in das 19. Jahrhundert zurück. Victor Hugo hat nach meiner Einschätzung die Wünsche und Bestrebungen und Erwartungen, die mit einem solchen Schritt verbunden sind, am Schönsten zusammengefasst: Victor Hugo: Ein Tag wird kommen Ein Tag wird kommen, wo die Waffen auch Euch aus den Händen fallen werden! Ein Tag wird kommen, wo ein Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin ebenso absurd erscheinen und unmöglich sein wird, wie er heute absurd schiene zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia. Ein Tag wird kommen, wo Ihr, Frankreich, Russland, Ihr, Italien, England, Deutschland, all Ihr Nationen des Kontinents ohne die besonderen Eigenheiten Eurer ruhmreichen Individualität einzubüßen, Euch eng zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werdet, genau so wie die Normandie, die Bretagne, Lothringen, Elsaß und alle unsere Provinzen sich zu Frankreich verschmolzen haben. Ein Tag wird kommen, wo es keine anderen Schlachtfelder mehr geben wird als die Märkte, die sich dem Handel öffnen, und die Geister, die für die Ideen geöffnet sind. Ein Tag wird kommen, wo die Kugeln und Granaten von dem Stimmrecht ersetzt werden, von der allgemeinen Abstimmung der Völker, von dem ehrwürdigen Schiedsgericht eines großen souveränen Senats, der für Europa das sein wird, was das Parlament für England, was die Nationalversammlung für Deutschland, was die Gesetzgebende Versammlung 81 für Frankreich ist. Ein Tag wird kommen, wo man in den Museen eine Kanone zeigen wird, wie man heute dort ein Folterwerkzeug zeigt, voll Staunen, dass es so etwas gegeben hat. Ein Tag wird kommen, wo man sehen wird, wie die beiden ungeheuren Ländergruppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa, Angesicht in Angesicht sich gegenüberstehen, über die Meere sich die Hand reichen, ihre Produkte, ihren Handel, ihre Industrien, ihre Künste, ihre Genien austauschen, den Erdball urbar machen, die Einöden kolonisieren, die Schöpfung unter den Augen des Schöpfers verbessern, um aus dem Zusammenwirken der beiden unendlichen Kräfte, der Brüderlichkeit der Menschen und Allmacht Gottes, für alle das größte Wohlergehen zu ziehen! Um diesen Tag herbeizuführen, wird es keiner vierhundert Jahre bedürfen, denn wir leben in einer schnellen Zeit, wir leben in dem heftigsten Strom der Ereignisse, der je die Völker hingerissen hat, und in unserer Epoche tut ein Jahr oft das Werk eines Jahrhunderts. Franzosen, Engländer, Belgier, Deutsche, Russen, Slawen, Amerikaner, was haben wir zu tun, um möglichst bald diesen großen Tag zu erreichen? Uns zu lieben! Franz. Original in Jacob Ter Meulen (Literaturliste Bd. 2, Erstes Stück, S. 318) Diese und viele andere ähnliche Gedanken fanden aber in der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg keinen Widerhall, im Gegenteil. Das Friedenssystem der so genannten „Pariser-Vororte-Verträge“ festigte die klassische Vorstellung von Europa als einem System autonomer Einzelstaaten. Im Kielwasser dieser Entwicklung entstand gleichsam als Kontrapunkt die so genannte „PanEuropa-Bewegung“. Richard Coudenhove-Kalergi hat mit seinem Buch „Pan-Europa“ gleichsam die ideologische Grundlage dafür geschaffen. Er geht von zwei Prämissen aus: Die eine ist die ständige Bedrohung durch Russland, wobei er keinen Unterschied zwischen dem so genannten „weißen“ und der sich damals erst festigenden Sowjetunion machte. Ganz gleich, welches Regime in Russland an der Macht, Russland sei für Europa die Bedrohung schlechthin. Für ihn sind die Russen von niedriger Zivilisation, von einem unbändigen Expansionsdrang, wobei sie den Vorteil eines relativ geschlossenen Staatsgebietes für sich hätten. Europa wäre im Verhältnis zu Russland geschwächt, da es in so viele autonome Einheiten zerfällt. Im Westen sah er Europa vom Wirtschaftsimperialismus der USA bedroht. Er weist darauf hin, dass die USA in einem mühsamen, aber letzten Endes erfolgreichen Einigungsprozess zu einem geschlossenen politischen und ökonomischen System zusammengeschweißt wurden und nunmehr damit befasst seien, den südamerikanischen Kontinent zu einem gesamten panamerikanischen System zusammenzufassen. 82 Europa sei aufgrund seiner kulturellen Tradition immer noch beiden Systemen überlegen, wobei er darauf hinweist, dass das amerikanische System im Grund genommen europäischen Charakter habe. Um es kurz zu machen: Die einzige und plausible Lösung aus dem Dilemma der europäischen Staaten zwischen diesen beiden großen Machtsystemen sei eben ihre Vereinigung zu einem europäischen Staat. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat dieses Gedankengut eine deutliche Renaissance erlebt, was wohl mit den entsetzlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang steht. Wenn wir also die Faktoren, die zu den ersten Anfängen der europäischen Einigung in Form der EGKS geführt haben, neu gruppieren und zusammenfassen, so können wir gleichsam als Zwischenergebnis festhalten: Friedensstiftung, Versorgungssicherung und pluralistischdemokratischer, rechtsstaatlicher Europismus. 5. Grundcharakteristik Der sachliche Geltungsbereich des Vertrages zur EGKS erweist sich bald als zu eng, um die immer vielfältiger werdenden Regelungsbedürfnisse auf Gemeinschaftsebene befriedigen zu können. Interessanterweise entscheidet man sich nicht für eine schlichte Änderung des EGKSV in der Kürzung, sondern es werden 1947 zwei zusätzliche Gemeinschaften, nämlich die E(W)G und die Europäische Atomgemeinschaft gegründet. Ihre Gründungsverträge treten 1958 in Kraft. Trotz aller Unterschiede wird bei den beiden neuen Organisationen dasselbe Muster wie schon bei der EGKS, nämlich eine supranationale Struktur, geschaffen. Im Kern steht das Modell einer Zollunion, das heißt, der Beseitigung der Zölle im Inneren bei gleichzeitiger Errichtung eines gemeinsamen Außenzolles. Als Organe werden der (Minister-)Rat, die Kommission (bei der EGKS „Hohe Behörde“), das Parlament und der Europäische Gerichtshof eingesetzt. Durch zwei Fusionsverträge werden diese Organe, die ursprünglich getrennt für jede der Organisationen eingesetzt worden sind, zusammengefasst und sind nunmehr für alle drei Organisationen, wenn auch mit deutlicher Abgrenzung ihrer jeweiligen Rollen, tätig. Entscheidend ist der so genannte supranationale Charakter, der auf der Ebene der Gemeinschaften geschaffenen Rechtsordnung. Mit dieser Bezeichnung beschreibt man den Umstand, dass die von den Gemeinschaftsorganen geschaffenen Rechtsnormen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unmittelbar die Bürgerinnen und Bürger berechtigen und verpflichten, ohne dass, von den Richtlinien ausgenommen, die einzelstaatlichen Gesetzgeber dazwischen treten können. Wir sprechen davon, dass das Recht der Gemeinschaften den Souveräni83 tätspanzer der Mitgliedstaaten durchbricht. Zwar sprechen wir immer noch von einer so genannten „Teilintegration“, dennoch ist unverkennbar, dass weite Teile des seinerzeit klassischen staatlichen Regelungsbereiches mittlerweile auf der Gemeinschaftsebene geregelt werden, was zu einem deutlichen Abfluss staatlicher Rechtssetzungsautonomie in Richtung Gemeinschaft geführt hat. Das Binnenmarktkonzept hat die wirtschaftliche und sicherheitspolizeiliche Wirkung der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten aufgehoben und durch den Wegfall der klassischen Grenzkontrollen auch das äußere Erscheinungsbild der europäischen Union für die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger dramatisch verändert. Die nunmehr auch durch eine gemeinsame Währung verwirklichte Wirtschafts- und Währungsunion hat, wenn auch noch nicht von allen Mitgliedstaaten mitgetragen, das Antlitz der Union seit dem 1. Jänner 2002 geradezu dramatisch verändert. Die so genannten vier Freiheiten - Freiheit des Warenverkehrs, - Arbeitnehmerfreizügigkeit, - Niederlassungsfreiheit, - Dienstleistungsfreiheit und Freiheit des Kapitalverkehrs nähern die Struktur der Europäischen Union dem geschlossenen Wirtschaftsraum eines Staates spürbar an, lassen aber die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten in ihrem Kern immer noch unberührt. Besonders drastisch erscheint die Herauslösung der landwirtschaftlichen Systeme aus dem einzelstaatlichen Verbund in Form der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik, was, wie den Medien zu entnehmen, nicht zuletzt große Probleme auf der Ebene der Erweiterung der Gemeinschaften mit sich zieht. Ideologisch ist die Europäische Gemeinschaft und damit die gesamte Europäische Union grundsätzlich kapitalistisch-marktwirtschaftlich ausgerichtet, was sich unter den Zielsetzungen der Gemeinschaft in Artikel 4 (EGV) als „Einführung einer Wirtschaftspolitik, die (...) dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist“ findet. Vergleicht man Wirtschafts- und Sozialbereich nach Regelungsintensität, so wird man feststellen, dass bis jetzt jedenfalls der Wirtschafts- und Währungsunion deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde, als der immer wieder geforderten Sozialunion, auch wenn gewisse Ansätze nicht zu übersehen sind. Dies wird besonders deutlich in der Festschreibung der Ziele und Aufgaben der gemeinschaftlichen Währungspolitik in Form des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZP). 84 In Artikel 105 EGV heißt es: „Das vorrangige Ziel des ESZP ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne die Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZP die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaften beizutragen.“ Zu diesen der „Preisstabilität“ nachzuordnenden sozialen Ziele der Gemeinschaft, werden in Artikel 2 unter anderem „hohes Beschäftigungsmaß“ und ein hohes Maß an sozialem Schutz (...) aufgezählt. 6. Wie weit reicht Europa? Bis zum Oktober 1989 waren der Erweiterung der Europäischen Union (damals der drei Gemeinschaften) im Eisernen Vorhang eine deutliche Grenze gezogen. Die wirtschaftlichen Integrationsbedürfnisse der marktwirtschaftlich-demokratisch orientierten demokratischen Staaten wurden entweder in den europäischen Gemeinschaften oder in der 1960 gegründeten Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) befriedigt. Das führte dazu, dass die mit Dänemark, Irland und mit Großbritannien 1973 begonnene und 1981 mit Griechenland und 1986 mit Spanien und Portugal fortgesetzte Erweiterung, die vorerst mit dem Beitritt Finnlands, Schwedens und Österreichs 1995 ihren Abschluss gefunden hat, zu Lasten der Mitgliederzahl der EFTA erfolgt ist. Mit dem Zusammenbruch der staatskommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion stellte sich erstmals die Frage, wie weit eigentlich Europa nach Osten reicht. Denn gemäß Artikel 49 EUV steht die Mitgliedschaft bei der Europäischen Union nur europäischen Staaten frei. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, die Argumentation der Kommission zu studieren, mit welcher Malta als europäischer Staat und somit als Kandidat für die Erweiterung zugelassen wird. Ohne an dieser Stelle auf Details eingehen zu können, bleibt festzuhalten, dass die Definition des Begriffes und des Phänomens Europa nicht nur kulturell und geographisch, sondern durchaus auch rechtlich problematisch erscheint. Man bedenke, dass mit der Assoziierung der Türkei (1964), welche deutlich als Vorstufe für die Mitgliedschaft konzipiert wurde, die Grenze weit in den kleinasiatischen Raum verschoben worden ist. Sollte die Türkei dereinst Mitglied der Europäischen Union werden, so wird sie an Aserbaidschan, den Iran und Syrien grenzen, was die räumlichen Proportionen der Union – gemessen an der Ausgangsposition der „Sechsergemeinschaft“ – deutlich verschieben wird. 85 Alles in allem lässt die Praxis der Europäischen Kommission, der ja die Beitrittsgesuche zur Erstbeurteilung vom Rat überwiesen werden, erkennen, dass die Gemeinschaft davon ausgeht, dass der Begriff Europa die nördlichen Gestade des Mittelmeeres und seine Inseln, nicht aber dessen östliche und südliche Anrainerstaaten erfasst. Man könnte also von einem „pragmatischen Europabegriff“ sprechen. 1987 wurde Marokko ohne weitere Begründung die Behandlung seines Aufnahmegesuches „aus juristischen Gründen“ verweigert. Im Falle Zyperns hat man sich ähnlich wie im Falle Maltas große Mühe gegeben und die europäische Identität der Insel durch ihre geographische Lage, aber auch durch die „tiefen, zweitausendjährigen Bindungen dieses fruchtbaren Kulturbodens an Europa“ begründet. Die ungebrochene Dynamik des Erweiterungsprozesses lässt zum einen erkennen, dass Europa seit dem Ende der staatskommunistischen Regime zum wichtigsten Kristallisationspunkt der Neuordnung der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse in und um und mit den ehemaligen Mitgliedern des RGW, COMECON und des Warschauer Paktes geworden ist. Insgesamt werden derzeit mit nicht weniger als 10 dieser Staaten und zusätzlich mit Malta und Zypern Beitrittsverhandlungen, wenn auch mit unterschiedlicher Erfolgsaussicht, geführt. Zum andern kann man diesem Prozess auch die Tendenz der Organe der Union ableiten, dass man keinen Gegensatz zwischen den Tendenzen zur Erhöhung der Integrationsdichte und der Erweiterung der Union sieht. Aufgrund meiner Erfahrungen als Analytiker dieser Prozesse bin ich mir aber nicht sicher, dass es den seinerzeit in der englischen Formel zusammengefassten Spannungsbogen zwischen „Widening“ und „Deepning“ nicht doch gibt. Die Organisationsstrukturen der Union sind die der alten Sechsergemeinschaft. Die Erweiterungsprozesse haben nicht zu substanziellen Änderungen der Entscheidungsstrukturen geführt, sondern es wurde so recht und schlecht es eben ging, die entsprechende zahlenmäßige Adaption der bestehenden Strukturen vorgenommen. Zu grundsätzlichen Reformen hat es nie gereicht. 7. Gemeinschaftliche Demokratie jetzt und in der Erweiterungsperspektive Wie nun schon mehrfach dargelegt, ist die Europäische Union den Grundsätzen der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte verpflichtet. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden. Zum einen bemühten sich die Autorinnen und Autoren der Gründungsverträge in ihren diversen Ausformungen, den Willensbildungsprozess innerhalb der Gemeinschaften – so gut das eben im Rahmen einer auf Völkerrecht aufgebauten internationalen Organisation geht – nach den Grundsätzen demokratischer Legitimität zu organisieren. Das Grundmuster 86 geht davon aus, dass jedenfalls für den Bereich der EG die Hauptkompetenz zur Rechtssetzung beim Rat der Europäischen Union liegt. Im Rat der Europäischen Union sind die Mitgliedstaaten mit Regierungsmitgliedern vertreten, wobei ihre demokratische Legitimation aus den einzelstaatlichen Verfassungen der Mitgliedstaaten abgeleitet wird. Das heißt, die Staatenvertreter im Rat sind ihren eigenen Parlamenten nach den Grundsätzen ihrer eigenen Verfassungen verantwortlich. Sie haben allerdings keine demokratische Legitimierung auf der Ebene der gemeinschaftlichen Demokratie. Dies ist aber, solange die Grundstrukturen internationaler Organisationen auf der Basis völkerrechtlicher Verträge beibehalten werden, nicht anders möglich. Erst wenn die Union vom Staatenbund in einen Bundesstaat kippt, besteht die Möglichkeit, die Legitimation der zentralen Entscheidungsträger zur Gänze auf die Gemeinschaftsebene zu transferieren. Die Abgeordneten zum Europäischen Parlament werden seit 1979 alle fünf Jahre von den EUBürgerinnen und EU-Bürgern unmittelbar gewählt, allerdings auf der Basis einzelstaatlicher Wahlverfahren. Es gibt noch kein gemeinschaftliches Wahlverfahren, welches in allen Mitgliedstaaten gilt. Die Zahl der Abgeordneten wird nach einem ausgehandelten Verteilungsschlüssel auf die einzelnen Mitgliedstaaten aufgeteilt. Entscheidend ist aber, dass das Europäische Parlament zwar punktuell die Möglichkeit hat, das Zustandekommen von Rechtsakten oder beispielsweise auch die Erweiterung der Gemeinschaften um neue Mitglieder zu verhindern, selber aber keine Kompetenz hat, selbstständig – den parlamentarischen Einrichtungen der Mitgliedsstaaten vergleichbar – Rechtsakte zu initiieren und zu beschließen. Immerhin ist die Kommission dem Parlament, wenn auch nur als Gesamtkollegium, politisch verantwortlich und bedarf auch eines Vertrauensbeschlusses des Europäischen Parlamentes bei ihrer Bestellung. Die mit unserer Vorstellung von Demokratie untrennbare Rechtsstaatlichkeit wird einerseits durch das Prinzip der „begrenzten Einzelermächtigung“ für Organhandeln und andererseits durch die weitgesteckten Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes gewährleistet. Dieser war es auch, der in ständiger Judikatur den Schutz der individuellen Grund- und Freiheitsrechte als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung etabliert hatte. Mit dem Vertrag von Maastricht (1992/1993) ist die pluralistische, rechtsstaatliche Demokratie als tragendes Prinzip der Union in Artikel 6 festgeschrieben. Ebenso wurde die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes in Bezug auf individuelle Grund- und Freiheitsrechte in Absatz 2 gleichsam kodifiziert. 87 Eine dramatische Neuerung brachte diesbezüglich der Vertrag von Amsterdam in Artikel 7 EUV, womit die Zweite der eben genannten Ebenen, nämlich die innerstaatliche, anzusprechen ist. Artikel 6 hat, was die 15 derzeitigen Mitgliedstaaten anlangt, eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen. Er war auch deutlich konzipiert als Barriere für Beitrittswerber (die diesem Prinzip ja nicht in ausreichendem Maße zu genügen in der Lage sein mögen, wobei man insgeheim immer an die Türkei gedacht hatte). Mit Artikel 7, dem so genannten „Sanktionensystem“, soll aber auch eine Gebotsrichtung in die politischen Systeme der Mitgliedstaaten eröffnet werden. Artikel 7 sieht nämlich vor, dass für den Fall, dass ein Mitgliedstaat das Demokratiegebot des Artikel 6 Abs. 1 schwer wiegend und anhaltend verletzt, auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments vom Rat Sanktionen erlassen werden können. Diese können in der Aussetzung bestimmter Mitgliedsrechte, wie Stimmrechte etc. münden. Bekanntlich war Österreich nach der Amtseinführung der Bundesregierung am 5. Februar 2000 das erste „Opfer“ diese Sanktionsbestimmung, wobei man damals geflissentlich vermieden hat, sich wirklich im Detail an das dort vorgesehene Verfahren zu halten, weil nämlich sonst Österreich die Möglichkeit gehabt hätte, vor den Europäischen Gerichtshof zu gehen. Das heißt, das Sanktionsvorgehen gegen Österreich war erstens inhaltlich, aber vor allem auch verfahrensrechtlich nicht mit dem Artikel 7 in Zusammenhalt mit Artikel 6 wirklich in Einklang zu bringen. Wie dünn das Eis ist, auf welches sich die Union mit dieser Bestimmung begeben hat, kann den Diskussionen über die neue italienische Regierung unter Silvio Berlusconi entnommen werden. Das Anliegen des Vertrages von Amsterdam ist erkennbar und grundsätzlich zu begrüßen. Geht es doch auch darum, dass nicht nur die Institutionen der Union und ihrer Gemeinschaften, sondern eben auch die Mitgliedstaaten demokratische Strukturen brauchen, um nicht wechselseitig die Prinzipien pluralistisch, rechtsstaatlicher Demokratie, sei es vom Mitgliedstaat in der Union oder von der Union in den Mitgliedstaaten, in Frage zu stellen. Der Vertrag von Nizza erschwert zwar eine außerrechtliche Vorgangsweise wie jene gegen Österreich, bringt aber keine grundsätzlichen Verbesserungen. Ein anderer Aspekt des Demokratieproblems ergibt sich aus den Erweiterungsabsichten. Wie bereits gesagt, sind die formalen Strukturen im Grunde genommen immer noch die der alten Sechsergemeinschaft. Sie wurden an die gestiegene Zahl der Mitglieder angepasst, aber keiner prinzipiellen Reform unterzogen. 88 Es geht um die Verteilung der auf die einzelnen Mitgliedstaaten (im Folgenden MS) entfallenden Abgeordnetensitze, die Stimmgewichtung im Rat und die Zusammensetzung der Kommission. Am einfachsten scheinen sich die Probleme noch auf der Ebene des Parlamentes zu lösen. Es hat gegenwärtig insgesamt 626 Abgeordnete. Sie verteilen sich auf die MS wie folgt: Folie 7 Die organisatorischen Probleme im Zuge der Erweiterung sollten durch die Einführung einer Obergrenze von 700 Abgeordneten und die entsprechende Umverteilung nach unten erreicht werden. Das ist nicht ganz, aber einigermaßen gelungen. Im Vertrag von Nizza hat man sich auf die folgende Verteilung der Sitze auf die Mitgliedstaaten geeinigt: Folie 9. 32 Abgeordnete mussten dazukommen, um Deutschland seine angestammte Zahl von Abgeordneten zu sicheren. Hinsichtlich der Kommission wurde der Kompromiss erzielt, dass bis zu einer Höchstzahl von 27 Mitgliedstaaten jeder Staat einen Staatsangehörigen in der Kommission haben soll. Steigt die Zahl der MS darüber hinaus, fällt die Zahl der Kommissionsmitglieder hinter der Zahl der MS zurück und es wird ein Rotationsverfahren eingeführt, welches der Rat entwickeln wird. Die neue Zahl der Kommissionsmitglieder legt der Rat einstimmig fest. Bereits im Protokoll Nr.7 zum Vertrag von Amsterdam wurde festgelegt, dass ab der nächsten Erweiterungsrunde der Kommission nur mehr ein Staatsangehöriger pro MS angehören soll, wenn eine befriedigende Regelung für die Stimmenwägung erzielt worden ist. Die Stimmenwägung im Rat sieht derzeit folgende Stimmverteilung vor: Folie 6 Das ergibt eine Gesamtstimmenzahl von 87, wovon 62 Stimmen für eine Entscheidung notwendig sind. Nach den Plänen des Vertrages von Nizza sieht die Verteilung folgendermaßen aus: Folie 10. Das ergibt eine Gesamtsumme von 237 Stimmen. Für einen Beschluss sind 169 Stimmen notwendig. Alles in allem ist erkennbar, dass die durchaus überproportionale Berücksichtigung der kleineren Staaten zurückgenommen werden wird. Dabei ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass es keinen verbindlichen Algorithmus für die diversen Stimmverteilungen und Stimmgewichtungen gibt. Es handelt sich um Verhandlungsergebnisse. 89 8. VSE – Europa die 3. Weltmacht? Der EuGH und zuletzt auch Außenministerin Ferrero-Waldner sprechen von einer Organisation sui generis. Daran ist richtig, dass die EU und ihre Gemeinschaften in der Geschichte der IO ein singuläres Phänomen sind. Es hat mit Sicherheit noch keine IO eine derartige Kompetenzfülle gegenüber den MS und mehr noch gegenüber den Bürger/innen in den MS gehabt. In ihrem Kern ist die Union aber nach wie vor vom Willen der Regierungen der MS abhängig. Sie hat keine Kompetenz-Kompetenz. Oder wie es an anderer Stelle in der Literatur heißt: Die Staaten sind die Herren der Verträge. Und doch verwendet der Zielartikel für die GASP Formulierungen, wie sie nur auf Staaten passen: Folie 8 Im Art. 1 EUV heißt es verheißungsvoll: „Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden.“ Illusion? Utopie? Realutopie? Demokratisch legitimierter Handlungsauftrag an unsere Regierungen? 9. Zusammenfassung Längst hat sich die EU von einer wirtschaftlichen Interessens- und Versorgungsgemeinschaft zu einem veritablen gesamtgesellschaftlich agierenden überstaatlichen Akteur entwickelt, der bereits viele – aber noch bei weitem nicht alle – Bereiche staatlicher Daseinsvorsorge erfasst. All dies kann ohne ideologischen Unterbau nicht vor sich gehen, auch wenn insbesondere von politischer Seite immer wieder der Eindruck erweckt wird, es handle sich um eine schlechterdings folgerichtige Entwicklung, zu der es keine sinnvolle Alternative und folglich auch keine Notwendigkeit zu ideologischen Grundsatzentscheidungen gebe. In den politischen Kanzleien wird damit die Sorge verbunden, dass die Wählerinnen und Wähler in den Mitgliedstaaten von dem hohen Maß an Vergemeinschaftung ihrer Lebensumstände zurückschrecken könnten. So wird die eigentliche Gretchenfrage nämlich jene nach der Weiterentwicklung der EU verschämt offen gehalten: Soll sie dereinst die Qualitätsmembran zwischen Staatenbund zum Bundesstaat durchstoßen, oder soll die gegenwärtige Integrationsdichte unter Beibehaltung der Kernsouveränität der Mitgliedstaaten im Wesentlichen den Plafond der Europäischen Integration bilden? 90 Die Grundideologie der EGKS war bereits 1951 von 3 Dimensionen geprägt: Friedensstiftung, Versorgungssicherung und Europismus. Unter Europismus verstehe ich hier die Europäische Einigung als Alternative zur gewachsenen europäischen Staatenpluralität mit ihren immer wieder zu massiven Kriegen ausartenden Konflikten etwa im Sinne von Coudenhove Kalergi's „Paneuropa“. (Europa als dritte Weltmacht zwischen USA und Russland). Diese „Wert-und-Ziel“ Trias war schon damals als bewusster Kontrast zu den staatskommunistischen Regimen um die Rechtsstaatlichkeit und die zur „Sozialen Marktwirtschaft“ mutierte grundsätzlich kapitalistische Ausrichtung erweitert. Wenn auch mit verschobenen Schwerpunkten, so gilt diese ideologische Basis auch für die EU heutigen Zuschnitts, wobei die kapitalistische Ausrichtung durch die Festschreibung des Monetarismus als oberstes Handlungsziel für die EZB verstärkt wurde. Weiters wird heute die ursprünglich unproblematische (alle sechs Gründerstaaten waren NATO-Mitglieder) transatlantische Komponente durch die Verdichtung der Außenpolitiken der Mitgliedstaaten zur GASP zunehmend thematisiert. 91 Literaturliste: Brandstetter, Gerfried: Chronologisches Lexikon der europäischen Integration 1945-1995 (Wien, 1996) Coudenhove-Kalergi: Paneuropa 1922-1966 (Wien, 1966) Dorner, Klaus/Meyer-Thamer, Gisela/Paape, Björn W./Verny, Arsene: Aspekte der europäischen Integration (Wiesbaden, 1998) Fischer, Peter/Köck, Heribert: Europarecht, 3. Auflage (Wien, 1995) Hrbek, Rudolf: Die Reform der Europäischen Union (Baden-Baden, 1997) Kirchhof, Paul/Schäfer, Hermann/Tietmeyer, Hans: Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2. Auflage (Berlin, 1994) Loth, Wilfried: Der Weg nach Europa, 3. Auflage (Göttingen, 1996) Mickel, Wolfgang W.: Handlexikon der Europäischen Union, 2. Auflage (Köln, 1998) Neisser, Heinrich/Verschraegen, Bea: Die Europäische Union – Anspruch und Wirklichkeit (Wien, 2001) Rotter, Manfred: Europäische Konzeptionen auf dem Weg zur Europäischen Union, in Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 5 (Wien, 2000) Rotter, Manfred: Analyse der „Sanktionen“ der 14, in Europäische Rundschau Nr. 3/2000, S. 21 Streinz, Rudolf: Europarecht, 5. Auflage (Heidelberg, 2001) Ter Meulen, Jacob: Der Gedanke der internationalen Organisation in seiner Entwicklung, 2. Band (Den Haag, 1929) Weidenfeld, Werner/Wessel, Wolfgang: Europa von A-Z, 6.Auflage (Bonn, 1997) 92 FOLIE 1 Satzung des Europarates (5.5.1949) Die Regierungen des Königreichs Belgien, des Königreichs Dänemark, der Französischen Republik, der Republik Irland, der Italienischen Republik, des Großherzogtums Luxemburg, des Königreichs der Niederlande, des Königreichs Norwegen, des Königreichs Schweden und des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland' haben, in der Überzeugung, dass die Festigung des Friedens auf den Grundlagen der Gerechtigkeit und internationalen Zusammenarbeit für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft und der Zivilisation von lebenswichtigem Interesse ist; in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht; in der Überzeugung, dass zum Schutze und zur fortschreitenden Verwirklichung dieses Ideals und zur Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts zwischen den europäischen Ländern, die von demselben Geiste beseelt sind, eine engere Verbindung hergestellt werden muss; in der Erwägung, dass, um diesem Bedürfnis und den offenkundigen Bestrebungen ihrer Völker Rechnung zu tragen, schon jetzt eine Organisation errichtet werden muss, in der die europäischen Staaten enger zusammengeschlossen werden, beschlossen, einen Europarat zu gründen, der aus einem Komitee von Vertretern der Regierungen und einer Beratenden Versammlung besteht, und zu diesem Zweck diese Satzung angenommen. 93 FOLIE 2 Europarat Gründung: 5.5.1949 in London durch 10 Staaten Ziele: Enger Zusammenschluss zwischen den MS, um ihr gemeinsames Erbe zu bewahren und den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern. Schutz der Menschenrechte Mitglieder: 41 Staaten innerhalb und außerhalb Europas mit zusammen rund 770 Mio. Einwohnern Bspw. auch Moldawien, Aserbaidschan, Armenien 94 FOLIE 3 NATO Gründung: 4.4.1949 in Washington DC zwischen 12 Staaten Westeuropas und Nordamerikas als Sicherheitsbündnis gleichberechtigter Staaten (Ratifizierung am 24.8.1949) Ziele: Stärkung der Sicherheit durch Zusammenarbeit auf politischem, wirtschaftlichen und militärischem Gebiet Mitglieder: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritanien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande Norwegen, Polen, Portugal, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn und die USA 95 FOLIE 4 OSZE (früher KSZE) Gründung: 1.8.1975 mit der Schlussakte der KSZE von Helsinki durch 35 Teilnehmerstaaten Ziele: Stabilität und Sicherheit in ganz Europa Engere Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Umweltschutz Schaffung einer europäischen „Sicherheitsstruktur für das 21. Jahrhundert“ Mitglieder: 54 Mitglieder (Jugoslawien ist seit 8.7.1992 suspendiert!) innerhalb und außerhalb Europas. Auch die USA oder bspw. Kirgisistan, Usbekistan, Vatikanstaat sind Mitglieder. 96 FOLIE 5 Westeuropäische Union (WEU) Gründung: 17.3.1948 Revision im Rahmen der Pariser Verträge als Beistandspakt am 23.10.1954 (auf 50 Jahre) Ziele: Sicherheit der Partner durch automatischen Beistand „Europäischer Pfeiler“ der NATO Vollmitglieder: Belgien, Deutschland, Frankreich Griechenland, Großbritanien, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Spanien Assoziierte Mitglieder: Island, Norwegen, Türkei, Polen, die Tschechische Republik, Ungarn Beobachter: Dänemark, Finnland, Irland, Österreich, Schweden 97 FOLIE 6 Art. 205 EGV Art. 205 EGV [Beschlussfassung des Rates] (1) Soweit in diesem Vertrag nichts anders bestimmt ist, beschließt der Rat mit der Mehrheit seiner Mitglieder. (2) Ist zu einem Beschluss des Rates die qualifizierte Mehrheit erforderlich, so werden die Stimmen der Mitglieder wie folgt gewogen: Belgien Dänemark Deutschland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Finnland Schweden Vereinigtes Königreich 5 3 10 5 8 10 3 10 2 5 4 5 3 4 10 87 Beschlüsse kommen zustande mit einer Mindeststimmenzahl von - zweiundsechzig Stimmen in den Fällen, in denen die Beschlüsse nach diesem Vertrag auf Vorschlag der Kommission zu fassen sind; zweiundsechzig Stimmen, welche die Zustimmung von mindestens zehn Mitgliedern umfassen, in allen anderen Fällen. (3) Die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht dem Zustandekommen von Beschlüssen des Rates, zu denen Einstimmigkeit erforderlich ist, nicht entgegen. 98 FOLIE 7 Art. 190 EGV Art. 190 [Zusammensetzung; Wahlverfahren] (1) Die Abgeordneten der Völker der in der Gemeinschaft vereinigten Staaten im Europäischen Parlament werden in allgemeiner unmittelbarer Wahl gewählt. (2) Die Zahl der in jedem Mitgliedstaat gewählten Abgeordneten wird wie folgt festgesetzt: Belgien Dänemark Deutschland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Finnland Schweden Vereinigtes Königreich 25 16 99 25 64 87 15 87 6 31 21 25 16 22 87 Wird dieser Absatz geändert, so muss durch die Zahl der in jedem Mitgliedstaat gewählten Abgeordneten eine angemessene Vertretung der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten gewährleistet sein. (3) Die Abgeordneten werden auf fünf Jahre gewählt. (4) Das Europäische Parlament arbeitet einen Entwurf für allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen aus. Der Rat erlässt nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, die mit der Mehrheit seiner Mitglieder erteilt wird, einstimmig die entsprechenden Bestimmungen und empfiehlt sie den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. (5) Das Europäische Parlament legt nach Anhörung der Kommission und mit Zustimmung des Rates, der einstimmig beschließt, die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Wahrnehmung der Aufgaben seiner Mitglieder fest. 99 FOLIE 8 NIZZA C 80149 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften PROTOKOLLE A. PROTOKOLL ZUM VERTRAG OBER DIE EUROPÄISCHE UNION UND ZU DEN VERTRÄGEN ZUR GRÜNDUNG DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN Protokoll über die Erweiterung der Europäischen Union DIE HOHEN VERTRAGSPARTEIEN HABEN folgende Bestimmungen ANGENOMMEN, die dem Vertrag über die Europäische Union und den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften beigefügt werden: Artikel 1 Aufhebung des Protokolls über die Organe Das dem Vertrag über die Europäische Union und den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften beigefügte Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union wird aufgehoben. Artikel 2 Bestimmungen über das Europäische Parlament 1. Artikel 190 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und Artikel 108 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft erhalten zum 1. Januar 2004 mit Wirkung ab dem Beginn der Wahlperiode 2004-2009 jeweils folgende Fassung: „Die Zahl der in jedem Mitgliedstaat gewählten Abgeordneten wird wie folgt festgesetzt: Belgien 22 Dänemark 13 Deutschland 99 Griechenland 22 Spanien 50 Frankreich 72 Irland 12 535 + 197 = 732 Italien 72 Luxemburg 6 Niederlande 25 Österreich 17 Portugal 22 Finnland 13 Schweden 18 Vereinigtes Königreich 72“ 2. Vorbehaltlich des Absatzes 3 entspricht die Gesamtzahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament für die Wahlperiode 2004-2009 der in Artikel 190 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und in Artikel 108 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft angegebenen Zahl der Abgeordneten zuzüglich der Anzahl der Abgeordneten der neuen Mitgliedstaaten entsprechend den spätestens am 1. Januar 2004 unterzeichneten Beitrittsverträgen. 100 FOLIE 9 NIZZA C 80/50 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 3. Liegt die Gesamtzahl der Mitglieder gemäß Absatz 2 unter 732, so wird die Zahl der in jedem Mitgliedstaat zu wählenden Abgeordneten anteilig so korrigiert, dass die Gesamtzahl so nah wie möglich bei 732 liegt, die Korrektur aber nicht zu einer höheren Zahl von in jedem Mitgliedstaat zu wählenden Abgeordneten führt als in Artikel 190 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und in Artikel 108 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft für die Wahlperiode 1999-2004 vorgesehen. Der Rat fasst zu diesem Zweck einen Beschluss. 4. Abweichend von Artikel 189 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und von Artikel 107 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft kann die Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments während der Geltungsdauer des Ratsbeschlusses gemäß Absatz 3 Unterabsatz 2 dieses Artikels vorübergehend 732 überschreiten, wenn nach der Annahme dieses Beschlusses Beitrittsverträge in Kraft treten. Die in Absatz 3 Unterabsatz 1 dieses Artikels genannte Korrektur findet auch auf die Zahl der in den betreffenden Mitgliedstaaten zu wählenden Abgeordneten Anwendung. Artikel 3 Bestimmungen über die Stimmengewichtung im Rat 1. Ab 1. Januar 2005 gilt Folgendes: a) Artikel 205 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und Artikel 118 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft werden jeweils wie folgt geändert: i) Absatz 2 erhält folgende Fassung: 2. Ist zu einem Beschluss des Rates die qualifizierte Mehrheit erforderlich, so werden die Stimmen der Mitglieder wie folgt gewogen: Belgien 12 Dänemark 7 Deutschland 29 Griechenland 12 Spanien 27 Frankreich 29 Irland 7 Italien 29 Luxemburg 4 Niederlande 13 Österreich 10 Portugal 12 Finnland 7 Schweden 10 Vereinigtes Königreich 29 In den Fällen, in denen die Beschlüsse nach diesem Vertrag auf Vorschlag der Kommission zu fassen sind, kommen die Beschlüsse mit einer Mindestzahl von 169 Stimmen zustande, welche die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder umfassen. In den anderen Fällen kommen die Beschlüsse mit einer Mindestzahl von 169 Stimmen zustande, welche die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder umfassen. 101 102 103 104 AUTOR/INNENVERZEICHNIS Dr. h.c. Barbara Distel geb. 1943; seit 25 Jahren Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau; Verleihung der Ehrendoktorwürde 2000; Mitglied des Internationalen Beirats der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin; Mitglied des Beirats Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin. Ao. Univ. Prof. Dr. Karl Haas geb. 1941; Historiker; 1968-2001 Arbeit am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkt: Österreichische Republikgeschichte. Schwerpunkte in der Lehre: politik-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Themen des 20. Jahrhunderts. Univ. Prof. Mag. Dr. Gabriella Hauch geb. 1959; Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Salzburg; seit 2002 Universitätsprofessorin für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Linz; seit 2001 leitet sie als Institutsvorständin das Institut für Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Linz, das erste Überfakultäre seiner Art. Hon. Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer geb. 1944 in Wien; Studium der Geschichte und Geographie; Honorarprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Wien; wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes. Forschungsschwerpunkte: NS-Regime, Veröffentlichungen auf den Gebieten Widerstand und Verfolgung 1933-1945, NS-Medizin, Euthanasie und Justiz, Rechtsextremismus nach 1945. Univ. Prof. Dr. Manfred Rotter Dr. jur. 1964; Universitätsprofessor für Völkerrecht Europarecht und Internationale Beziehungen (seit 1983); Vorstand des Instituts für Europarecht (seit 1990); Vorstand des Instituts für Völkerrecht und Internationale Beziehungen (seit 1996); Direktor des Europäischen Dokumentationszentrums der Europäischen Kommission an der Universität Linz (seit 1990); Lehrbeauftragter für Politische Bildung an der Pädagogischen Akademie des Bundes für OÖ (seit 1970). Dr. Szabolcs Szita geb. 1945 in Sopron; Studium in Budapest; bis 1997 Universitätsdozent; seit 1990 wissenschaftlicher Leiter des Holocaust-Dokumentationszentrums in Budapest, zur Zeit Leiter der wissenschaftlichen Forschungsgruppe an der West-ungarischen Universität. Forschungsschwerpunkte: das Schicksal der Deportierten während des Zweiten Weltkrieges; Rettung jüdischer Leben. 105 Die Tagung der Referent/innen für Zeitgeschichte 2002 mit Thema „Von der NS-Ostpolitik zur Europäischen Integration“ fand vom 28. bis 30. April 2002 in Salzburg als Österreichisches Seminar im Lehrer/innenfortbildungsprogramm des Europarates, Council of Europe´s In-Service Training for Educational Staff, Education for Democratic Citizenship, statt. Diese Dokumentation beinhaltet die Vorträge, die im Rahmen dieser Tagung gehalten wurden.