TIERGESUNDHEIT Ohrrand- und Schwanzspitzennekrosen sind ein weit verbreitetes Problem bei Aufzuchtferkeln und Mastläufern. top agrar hat sich mit Experten über Ursachen und vorbeugende Maßnahmen unterhalten. Ohrrandnekrose infolge einer Duchblutungsstörung der feinen Gefäße im Bereich der Ohrspitze. Deutlich sichtbar ist der Übergang von schlecht durchblutetem Gewebe (rot-blau) zu abgestorbenem Gewebe (schwarz). Fotos: Lahrmann, Archiv Ohrnekrosen – Antibiotika allein reichen nicht S chweine mit angeknabberten, entzündeten oder bereits abgestorbenen Ohrspitzen – wer kennt das nicht? Unruhe im Bestand, Minderzunahmen und im Extremfall Totalausfälle können die Folge sein. Doch auf die Frage hin, was man gegen Ohrrand- und Schwanzspitzennekrosen unternehmen kann, herrscht große Unsicherheit – zumal es offensichtlich verschiedene Auslöser für dieses Symptom gibt. Ohrrand- und Schwanzspitzennekrosen stellen kein einheitliches Krankheitsbild dar. Sie werden häufig als Begleiterscheinung von Haltungsmängeln und eventuell von Fütterungsfehlern beobachtet, treten aber auch als Symptom verschiedener Allgemeinerkrankungen auf. Aufzuchtferkel und Mastläufer sind besonders stark betroffen. Es besteht der Verdacht, dass das Problem in Großgruppen gehäuft auftritt. Meist zeigen 5 % bis 10 % der Tiere eines Bestandes die Symptome, in Einzelfällen bis zu 80 %. S 18 top agrar 5/2000 Auslöser können sowohl bakterielle Infektionen der Haut sein als auch Durchblutungsstörungen der feinen Gefäße am Ohrrand. Oft ist eine scharfe Abgrenzung zwischen Hautinfektion und Durchblutungsstörung nicht möglich. Folgende Faktoren werden mit dem Auftreten der Nekrosen in Verbindung gebracht: ■ Kannibalismus; ■ Staphylokokken- und Streptokokkeninfektionen nach Verletzungen; ■ Eperythrozoonose; ■ Infektionen, die mit der Freisetzung von bakteriellen Toxinen einhergehen; ■ Mykotoxine. Kannibalismus ist ein Managementproblem Beißereien sind Ausdruck einer Verhaltensstörung, die meist auf Haltungsund eher selten auf Fütterungsfehler zurückzuführen ist. Zu Beginn gehen die Beißereien vielleicht nur von einzelnen Tieren aus, andere Buchtengenossen ziehen jedoch meist schnell nach. Es entwickelt sich ein Teufelskreis: Da infizierte Wunden Juckreiz auslösen, dulden die betroffenen Tiere das Benagen, und es kommt zu einer Kettenreaktion. Im Nachhinein lässt sich meist nicht klären, was zuerst da war – das Beißen oder die Hautinfektion. Als Ursachen für Unruhe, Aggressivität und Beißereien werden folgende Faktoren diskutiert: ■ Eine hohe Belegdichte und Mangel an Liegeplätzen; ■ Rangkämpfe durch Umgruppieren; ■ Feuchte oder nasse Buchten; ■ Zu hohe Luftgeschwindigkeiten bzw. Zugluft (Güllekanal); ■ Erhöhte Schadgaskonzentrationen (Ammoniak, Schwefelwasserstoff, Kohlendioxid); ■ Wassermangel; ■ Reizarme Umgebung; ■ Fehlerhafte Rationsgestaltung: Eine massive Fehldosierung von Mineralstoffen im Futter kann zu erheblichen Geschmacksabweichungen führen. Wenn diese eine Futterverweigerung hervorrufen, versuchen die Tiere ihr Hungerge- S C H W E I N fühl auch durch Ohr- und Schwanzbeißen zu stillen. ■ Fütterungstechnik: Fehlende Trogplätze, Rationierung, Futterwechsel; ■ Fehlende Absetzreife: Bei früh abgesetzten Ferkeln bleibt der Saugreflex unbefriedigt. Die Tiere suchen eine Ersatzbefriedigung und beginnen aus Frustration das gegenseitige Ohrlutschen. Kleine Verletzungen führen dann zur Hautinfektion. Als gefürchtete Spätfolge der Infektion können die Bakterien auch in die Blutbahn eindringen. Neben Ohrrandund Schwanzspitzennekrosen treten dann häufig Gelenk- und Lungenentzündungen sowie Abszesse in den Organen auf. Schwanzspitzenentzündungen sind außerdem Ausgangspunkt aufsteigender Infektionen des Rückenmarks. Hier können Abszesse zu Lähmungen führen. Bakterien benötigen „Eintrittspforten“ Bei der Untersuchung von Ferkeln mit Ohrrandnekrosen werden in den Wunden fast immer Staphylokokken und Streptokokken nachgewiesen. Das verwundert zunächst nicht, da Staphylokokken die gesamte Hautoberfläche des Schweins besiedeln. Streptokokken allerdings können auf der gesunden Haut nicht überleben. Hautinfektionen mit Staphylococcus hyicus sind bei Ferkeln als Nässendes Ekzem oder „Ferkelruß“ gut bekannt. Während bei Ferkeln oft die gesamte Hautoberfläche betroffen ist, tritt bei älteren Tieren die örtlich begrenzte Form stärker auf. Für die Entstehung einer Staphylokok- keninfektion ist folgendes entscheidend: Die Bakterien können nur dann eine Infektion hervorrufen, wenn gleichzeitig kleine Hautverletzungen vorliegen. Ohrbeißen, Ohrlutschen, aber auch Räudemilben oder sonstige Verletzungen begünstigen die Infektion. Dabei geht man davon aus, dass Staphylokokken wahrscheinlich das Frühstadium der Hautentzündung verursachen. Während ein Teil der Wunden spontan abheilt, entwickeln sich andere zu tiefen Geschwüren und Nekrosen. Hierfür macht man vor allem die Streptokokken verantwortlich. In betroffenen Betrieben muss daher zunächst die Ursache der Hautbeschädigung abgeklärt werden. Die meisten zu diesem Problem befragten Tierärzte stellen Kannibalismus in Form von Ohrenund Schwanzbeißen in den Mittelpunkt. Das Absterben von Gewebe im Bereich der Ohren kann aber auch nach schweren Allgemeininfektionen auftreten. Die Symptome werden z. B. vereinzelt bei chronischem Rotlauf und infolge von Salmonellose, Glässerscher Krankheit und der Ödemkrankheit der Absatzferkel beschrieben. Die Nekrose wird bei diesen Erkrankungen als Folge einer Durchblutungsstörung der Körper-Rand- gebiete erklärt. Und auch bei der Schweinepest, die allerdings von einem Virus ausgelöst wird, führen Durchblutungsstörungen zu Hautnekrosen. Welche Rolle spielen Bakterientoxine? Welche Bedeutung Gifte gram-negativer Keime (z. B. E. coli) spielen, ist noch unklar. Diese sogenannten Endotoxine sind Bestandteile der Bakterienwand und lösen eine Folge von Entzündungsreaktionen aus, die auch zu Durchblutungsstörungen führen können. Unumstritten ist jedoch, dass Schweine besonders empfindlich gegenüber bestimmten Coli-Toxinen sind. Prof. Pohlenz, Pathologe an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, hat Ohrrandnekrosen zum Beispiel nach überstandener Ödemkrankheit der Absatzferkel beobachtet. Das Krankheitsbild wird ganz wesentlich von gefäßschädigenden Toxinen bestimmter E.coli-Stämme geprägt. Es werden aber auch einige Pilzgifte aus Futtermitteln, die sogenannten Mykotoxine, für die Ausbildung von Ohrrandnekrosen verantwortlich gemacht. Die mehr als 400 inzwischen bekannten Die Schwanznekrose der Saugferkel beginnt bereits kurz nach der Geburt. Vom Schwanzansatz ausgehend schreitet die Nekrose zur Spitze fort. Ein Auslöser: Eperythrozoonose O hrrand- und Schwanzspitzennekrosen sind auch häufig ein Symptom der Eperythrozoonose. Das ist eine Erkrankung der Schweine, die durch den Blutparasiten Eperythrozoon suis hervorgerufen wird. Der Erreger wird auf dem Blutwege übertragen. Neben unsauberen Instrumenten (Kanülen, Kastrationsmesser) spielt dabei wahrscheinlich die blutsaugende Schweinelaus eine besondere Rolle. Hohes Fieber, Blutarmut und Gelbfärbung der Schleimhäute können den Verdacht auf Eperythrozoonose lenken. Bei Sauen treten außerdem Scham- und Gesäugeschwellung, fleckige Hautverfärbungen und Fruchtbarkeitsstörungen auf. Ferkel und Mastschweine werden anfälliger gegen Lungenentzündung und andere Infektionen. Der Erreger umlagert die roten Blutkörperchen und leitet deren Zerstörung ein. Denn nach der Anheftung des Parasiten werden die roten Blutkörperchen vom Immunsystem nicht mehr als „körpereigen“ erkannt. Die Folge: Antikörper lagern sich an und führen zu einem „Verkleben“ der Blutkörperchen. Diese Eigenschaft entfalten die Antikörper bei kühleren Körpertemperaturen, wie sie im Ohr- und Schwanzbereich herrschen. Es entsteht eine Durchblutungsstörung, die bis zur Nekrose führen kann. Die Diagnose erfolgt bei Schweinen in der Fieberphase durch den mikroskopischen Erregernachweis. Der Erreger ist empfindlich gegenüber dem Antibiotikum Tetrazyklin. -rn- Mykotoxine verursachen unter anderem Fruchtbarkeits- und Stoffwechselstörungen. Aber auch eine Schwächung der Körperabwehr wird den Mykotoxinen zugeschrieben. Ohrrand- und Schwanzspitzennekrosen werden zudem in Zusammenhang mit einer Vergiftung durch die im Mutterkorn enthaltenen Ergotalkaloide genannt. Diese Pilzgifte führen zu zentralnervösen Störungen und Gefäßverengungen. Das Ergebnis ist eine Durchblutungsstörung, die bis zum Absterben des Gewebes führen kann. Aus den USA wird über Fälle von Ohrrandnekrosen nach Mutterkornvergiftung berichtet. Betroffen waren Extensivhaltungen, die große Mengen hofeigenen Getreides verfütterten, das mit Mutterkorn belastet war. In deutschen Untersuchungen ließ sich dagegen beim Mutterkorn kein di- top agrar 5/2000 S 19 TIERGESUNDHEIT rekter Zusammenhang nachweisen. Wissenschaftler der Universität München konnten derartige Symptome auch nach Mutterkorngehalten von 10 % im Futter nicht auslösen. Im Vordergrund standen vielmehr Milchmangel, eine reduzierte Futteraufnahme und eine unzureichende Gewichtszunahme. Anders dagegen bei den sogenannten Trichothecenen. Schon 1982 berichteten Wissenschaftler von einem Betrieb, in dem plötzlich 30 % der Saugferkel Schwanznekrosen aufwiesen. Die Futteruntersuchung ergab eine hohe Belastung mit dem sogenannten T 2-Toxin aus der Gruppe der Trichothecene. Ebenfalls zu den Trichothecenen gehört das Deoxynivalenol. Vergiftungen mit diesem Toxin führen zu gesteigertem Bewegungsdrang und vermehrter Unruhe im Bestand. Agressionen, die auf Haltungsmängeln beruhen, können hierdurch noch verstärkt werden. Die teils widersprüchlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit Mykotoxinen haben sicherlich mehrere Ursachen. Einerseits sind meist mehrere Mykotoxine beteiligt, die sich in ihrer Wirkung wahrscheinlich ergänzen. Andererseits muss bei allen Untersuchungen berücksichtigt werden, dass weitere betriebsspezifische Einflüsse wie z. B. der Immunstatus der Tiere die Mykotoxinwirkung beeinflussen können. S C H W E I N Schwanz- und Ohrbeißer müssen sofort isoliert werden. Dies gilt auch für Tiere mit fortgeschrittenen Verletzungen. Denn sie erhöhen den Anreiz für neue Beißereien. Wichtig ist die Frage, in welchen Buchten die ersten Verletzungen auftraten und was Auslöser sein könnte. ■ Haltung und Fütterung überdenken: Überprüfen Sie dann checklistenartig die Haltung- und Fütterung. Dazu gehören u.a. die Belegdichte, die Lüftung, die Wasserversorgung und das Tier-FressplatzVerhältnis etc. Schrittweise werden Änderungen und Korrekturen zunächst probeweise in einigen Buchten vorgenommen, um die Effekte bewerten zu können. Der Zeitpunkt des Absetzens und die Neugruppierung im Flat-Deck-Bereich scheinen besonders kritisch. Zur Ablen- Das Problem schrittweise lösen Weil Ohrrand- und Schwanzspitzennekrosen nur Begleitsymptome anderer Grundkrankheiten darstellen, ist keine „Einheitsbehandlung“ möglich. Fakt ist jedoch, dass Beißereien und anschließende bakterielle Infektionen die größte Rolle für Ohrrand- und Schwanzspitzennekrosen spielen. Deshalb gilt es, schrittweise vorzugehen. Zunächst müssen die Ursachen für die Verhaltensstörung aufgedeckt werden. Und im nächsten Schritt gilt es dann, den Keimdruck in unmittelbarer Umgebung der Tiere so niedrig wie möglich zu halten. Am besten geht man dabei folgendermaßen vor: ■ Beobachtungen protokollieren: Alle Einzelheiten, die im Zusammenhang mit den Nekrosen auftreten, sollten genau aufgeschrieben werden. Neben der Untersuchung betroffener Buchten oder Abteile sollten auch unauffällige Tiere untersucht werden, z. B. auf einen Befall mit juckenden Hautparasiten. ■ Aggressive Tiere isolieren: Aggressive S 20 top agrar 5/2000 werden. Neben einer gründlichen Stallreingung und Desinfektion hat es sich bewährt, die Sauen schon zum Eintritt in den Abferkelstall zu duschen (siehe top agrar 7/99). Das Infektionsrisiko für die Ferkel kann bereits zu diesem frühen Zeitpunkt reduziert werden. Eine Hautdesinfektion der Ferkel zum Absetztermin zeigt ebenfalls gute Erfolge. Dazu werden jodhaltige „Dipmittel“ eingesetzt, die man bei Kühen zur Zitzendesinfektion nutzt. Die Ferkel werden dabei vollständig mit der Lösung eingesprüht. Aber Vorsicht: Da diese Präparate nicht für Schweine zugelassen sind, dürfen sie nur im Einzelfall nach „Umwidmung“ durch den Tierarzt und unter seiner Aufsicht angewandt werden. Es ergeben sich daraus besondere Bestimmungen für einzuhaltende Wartezeiten. ■ In Problembeständen kann es sinnvoll sein, antibiotisch zu behandeln. Wirkstoffe wie Tetrazykline, Amoxicillin, Ampicillin oder Sulfonamid-Trimethoprim werden zur Behandlung der Hautinfektion acht bis zehn Tage über das Futter verabreicht. Begleitend wird auch die lokale Behandlung der entzündeten Ohren mit hierfür geeigneten Wundsprays empfohlen. Doch sind sich die Experten einig: Werden die Ursachen für das Auftreten von Ohrrand- und Schwanzspitzennekrosen nicht abgestellt, treten die Symptome nach einer ersten Besserung bald wieder auf. Fazit Um den Keimdruck zu senken, werden die Sauen vor dem Umstallen in das Abferkelabteil geduscht. kung und Beschäftigung der Tiere haben sich sogenannte „feeder-boards“ bewährt. Es handelt sich dabei um etwa einen Quadratmeter große Bretter mit einem zwei Zentimeter hohen Rand. Sie dienen als Futtertische und werden leicht erhöht aufgestellt. Praxiserfahrungen aus den USA und den Niederlanden haben gezeigt, dass der freie Zugang aller Ferkel zu den Fressplätzen Beißereien verhindern kann. Eine vergleichbare Wirkung erhofft man sich auch von „Spielzeug“ (Kanister, Bälle usw.), welches zur Beschäftigung angeboten wird. Langfristig werden damit aber keine Erfolge erzielt, da die Schweine meist schon nach wenigen Tagen das Interesse verlieren. ■ Den Keimdruck senken: Die Belastung der Schweine und ihrer Umgebung mit Staphylokokken und Streptokokken muss so niedrig wie möglich gehalten Ohrrand- und Schwanzspitzennekrosen sind Ausdruck von Haltungs- und Fütterungsfehlern oder treten in Kombination mit anderen Grundkrankheiten auf. Beißereien scheinen aber die Hauptursache zu sein. Durch sie wird das Gewebe zerstört, so dass bakterielle Erreger eindringen können. In Problembetrieben wird man daher nicht auf eine antibiotische Behandlung verzichten können. Diese erspart allerdings keine genaue Ursachenforschung im Betrieb. Alle Maßnahmen müssen darauf gerichtet sein, das Wohlbefinden der Tiere zu steigern. Hierzu ist ein Verlaufsprotokoll sinnvoll, anhand dessen Haltung, Fütterung und die Entwicklung der Nekrosen verfolgt werden. Unter welchen Bedingungen bakterielle Gifte oder Pilzgifte Ohrrand- und Schwanzspitzennekrosen erzeugen, ist noch nicht abschließend geklärt. Zahlreiche Praxisberichte lassen jedoch einen Zusammenhang vermuten. Rolf Nathaus