IV. Kapitel (B.2) B. Drei Lebensanschauungen B.2. Der Utilitarismus oder die Nützlichkeitslehre. (Der Nutzen, d.h. erfolgreiche Selbstbehauptung und geschickte Anpassung, der höchste Zweck des Lebens.) B.2.1. Der individuelle und generelle Utilitarismus (Ut.) Aus dem Vorigen dürfte sich ergeben haben, dass es physisch und moralisch unmöglich ist, die Glückseligkeit als eigentlichen und höchsten Lebenszweck zu betrachten und zu erstreben. Nun gilt es einen anderen zu suchen, der einer historischen und ethischen Kritik besser standhält. Dazu bietet sich eine Theorie an, die entschieden den Bedingungen der Möglichkeit und Erreichbarkeit besser entspricht und zugleich zur Erklärung der tatsächlichen Verhältnisse des Einzel- und Gesamtlebens gute Dienste leistet. Für den konsequenten Anhänger des Eudämonismus bleibt der Vorgang und das Resultat der bisherigen Kulturgeschichte, bleibt insbesondere die Entstehung und Ausbildung der in den vorigen Kapiteln dargestellten soziologischen und psychischen Voraussetzungen eines moralischen Daseins schlichtweg unverständlich; denn sie alle sind keine direkten und zweckmässigen Mittel zur Annäherung an das erstrebte Ziel der Glückseligkeit. Wenden wir uns nun vom Eudämonismus zum Utilitarismus, um zu sehen, ob er uns ein den Tatsachen besser entsprechendes und auch moralisch wertvolleres Ziel unseres Lebens zu bieten vermag! Leider wurde der Utilitarismus (Ut.) in den bisherigen ethischen Systemen so vielfach mit dem Eudämonismus (Eud.) verquickt, dass ihn z.B. Sidgwik in s. „Methods of Ethics“ und W. Wundt in seiner „Kritik der Moralsysteme“ mit dem sozialen Eud. identifizieren. Das Prinzip des Utilitarismus: der Nutzen, das Wohl des Einzelnen oder der Gesamtheit, wurde nämlich bisher fast immer als „Lustmaximum“ oder Glück aufgefasst, so dass am nützlichsten (bzw. auch am moralischsten) diejenigen Handlungen und Gesinnungen wären, die das grösste Maß oder den höchsten Grad von Glück (bei J. St. Mill, der die geistigen Genüsse am höchsten schätzt) dem Einzelnen oder der Gesamtheit gewährten. Das ist eine schwer zu verzeihende Unklarheit der englischen Denker, die es nötig macht, ein System des Ut., das sich vom Eud. klar und scharf abhebt, kurz zu skizzieren; denn so ist der bisherige Ut. faktisch nur ein verschämter Eud., der an allen Unsicherheiten und Schwächen desselben teilnimmt und demnach mit ihm zugleich widerlegt ist. Aber nein - es gibt tatsächlich eine W e l t a n s c h a u u n g , (Und wir möchten behaupten, dass die Nation, aus die jene Theoretiker hervorgingen, die englische, dieselbe in Wirklichkeit viel klarer und bestimmter - wenn auch unbewusst - zum Prinzip ihres Handelns erhoben hat, als es den Philosophen gelang, sie zum wissenschaftlichen Ausdruck zu bringen.) die sich vom Eudämonismus scharf unterscheidet und die man treffend als U t i l i t a r i s m u s bezeichnen kann. Dann ist aber das Ziel derselben „der Zweck des Nützens” ( = nützlich wozu?) anders zu definieren, als es bisher geschah, nicht gleich der grössten Lust, sondern als k r ä f t i g e S e l bs t b e h a u p t u n g und g e s c h i c k t e Anpassung an die gegebenen V e r h ä l t n i s s e ! „ N ü t z l i c h " , demnach auch moralisch, wären unter diesem Gesichtspunkt diejenigen Handlungen und Handlungsweisen, die am besten und schnellsten, sei es den Einzelnen (individ. Ut.) oder das Ganze, zunächst das Volk / die Nation, sodann die Zivilisation (genereller Ut.), diesem doppelten Ziel, der kräftigen Selbstbehauptung und der geschickten, zweckmässigsten Anpassung zuführen, die den betreffenden Einzelnen oder Volk/Nationen zum Sieg über die Mitbewerber, zum Vorrang, zum Erfolg v er h elf en . Diese Lebensauffassung fällt ganz und gar nicht mit der eud. zusammen, so wenig als die beiden Wertkategorien: nützlich und angenehm - (Nicht alles, was nützlich ist, ist angenehm, und umgekehrt) identisch sind. Das kräftige Lust- und Glücksgefühl, das aus der gelungenen Selbstbehauptung und Anpassung, aus dem Erfolg, aus der energischen Kraftentfaltung, aus dem erreichten Vorteil und Nutzen entspringt, ist hier weder Grund noch Zweck des Handelns, sondern nur Folge und Nebeneffekt. Die H a u p t t r i e b f e d e r n bei dem auf den Erfolg und Nutzen gerichteten „ u t i l i t a r i s c h e n ” Leben und Tun sind ein energischer intensiv und extensiv wirkender S e l b s t e r h a l t u n g s t r i e b (Das „eigene Interesse” höchster Gesichtspunkt.) der bis zur unersättlichen, rücksichtslosen S e l b s t s u c h t sich steigern kann, ein k l u g b e r e c h n e n d e r , vorwärts und um sich schauender praktischer, aber auch nüchterner Verstand, der stets die zweckmässigsten Mittel zum Vorwärtskommen zu finden weiss, und ein unbeugsamer, durch keine Schwäche noch Leidenschaft gehemmter, vor keinem Hindernis zurückschreckender W i l l e . (Ganz andere Seelenkräfte als die des Eudämonismus) Die innigeren Gefühle, wie Liebe und Wohlwollen, dürfen sich nur im engsten Lebenskreis, in der Familie und Verwandtschaft geltend machen; im Verkehr mit anderen, besonders den Konkurrenten, werden sie als unpraktische Schwäche unterdrückt. Im praktischen Leben gilt für den richtigen Utilitarier als Regel, „niederzuboxen“, wer ihm den Vorrang streitig machen will; beiseite zu stossen, wer ihm den Ellbogenraum verengt; klug den zu benutzen, der ihm dienen kann; frech zu betrügen den, der dumm genug; rücksichtslos auszubeuten, den der schwach genug ist. Immer handelt es sich darum, Hammer statt Amboss zu sein, voranzukommen um jeden Preis, mehr zu sein und mehr zu haben als die übrigen. Die sozialen und politischen Einrichtungen werden hoch- und festgehalten (konservativer Sinn), da und insofern sie ihn schützen und ihm nützen; Ehrlichkeit im Handel wird beobachtet, weil darauf der Kredit beruht; überhaupt werden alle sogenannten Tugenden gepflegt, insoweit sie Nutzen bringen; aus dem gleichen Grund werden ausser dem Geschäft und Profit auch andere Kulturbestrebungen unterstützt und gefördert. Wissen ist Macht, Geld ist Macht, Zeit ist Geld: darum werden alle drei bis aufs äusserste ausgenutzt zum unermüdlichen und unerbittlichen Konkurrenzkampf. Sogar die Spiele dienen zum Abbild und zur Schule für das praktische Leben: Rennen und Wettkämpfe zu Wasser und zu Land stehen obenan. Trotz dieses stark egoistischen Grundzugs, die der utilitarischen Weltanschauung eigen ist, führt sie doch in Theorie und Praxis häufiger und leichter zum sogenannten altruistischen Handeln und zur Erfüllung der bürgerlichen Pflichten als die eudämonistische. Es ist ja faktisch vielfach nützlich, dem andern, der in Not geraten ist, zu helfen, weil und wenn man dadurch auf ähnliche Hilfe in gleicher Lage zählen kann. (Vgl. bei Schiller im „Tell“: „Dem Nächsten muss man helfen! - Es kann uns allen gleiches ja begegnen.“) Es ist vielfach nützlich, sich uneigennützig und grossmütig zu zeigen, weil man dadurch an Ehre und Ansehen gewinnt; es ist fast immer vorteilhaft, rechtschaffen, wahr und pflichttreu zu sein, weil man dadurch das Vertrauen und Wohlwollen der Vorgesetzten und Mitbürger, Beförderung und Auszeichnung zu erwarten hat. Es ist klug und nützlich, die staatlichen Gesetze zu beachten und nicht ungestüm die Schranken durchbrechen zu wollen, die die energisch behauptete Freiheit, das tapfer verteidigte Recht der Übrigen der egoistischen Willkür gezogen haben. Was endlich das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen, des Individuums zum Staat betrifft, so sind hierbei individueller und genereller Utilitarismus leicht in Harmonie zu bringen. Das Ganze, der Staat, der sich auf diesem Standpunkt wenig um soziale und Kulturaufgaben kümmert (z.B. Schutz der sozial Schwachen, Sorge für allgemeine Bildung), macht sehr geringe Ansprüche an die Einzelnen. Und das ut. Individuum, dessen oberster Grundsatz die Selbsthilfe ist, erwartet vom Staat für sich nur Freiheit, ungehemmtes Gehenlassen auf allen Gebieten. Dabei sorgt nicht nur ein gesunder politischer Sinn, dem jede Art von eigensinnigem Doktrinarismus und fantastischem Idealismus fern liegt, sondern auch die einfache ut. Berechnung dafür, dass das Individuum nicht gegen das Wohl, d.h. die Macht und Einheit des Staates sich vergeht, vielmehr in Zeiten innerer oder äusserer Gefahr Gut und Leben mit kühner Energie für die Erhaltung der Gesamtheit einsetzt, ahnend und wissend, dass das Unterliegen des Ganzen auch den Vorteil des Einzelnen vernichtet oder wenigstens empfindlich schädigt, sowie dass ein mächtiges Staatswesen im Wettkampf mit den übrigen Nationen zum Schutz und zur Förderung der Einzelinteressen im Weltverkehr das nützlichste, ja unentbehrlichste Hilfsmittel ist. Möge es gestattet sein, um das Bild der utilitarischen Lebensauffassung, die den Nutzen als den höchsten Zweck des Daseins betrachtet, zu vervollständigen, einige Züge utilitarischen Tun und Denkens auch aus anderen Gebieten als dem rein ethischen zu entnehmen! Im Wirtschaftsleben predigt der Ut. unbeschränkten Freihandel, denn dieser ist nicht nur für die Handelstreibenden selbst, sondern, rein ökonomisch betrachtet, für die ganze Welt das Praktisch-Nützlichste. Welches Industrievolk wird sich noch mit einer Beschäftigung, wie z.B. dem Ackerbau, abgeben, wenn es von anderen Ländern billigstes Getreide für seine Industrieerzeugnisse tauschen kann! „Rentabilität” ist die Hauptsache, der Maßstab, an dem alle Werte gemessen werden. Was sich nicht in klingende Münze, in Kapitalien und Prozente umrechnen lässt, hat für den konsequenten Utilitarismus unserer heutigen wirtschaftlichen Entwicklungsstufe nur nebensächliche Bedeutung. Ebenso sucht der reine Ut. die Volkswirtschaft in die Weltwirtschaft überzuführen. (Globalisierung) Diese Anschauungen sind ganz richtig, wenn man keine anderen Werte kennt als die in Geld, resp. in materielle Güter umsetzbaren, wenn nur der praktische Verstand zu sprechen hat, und nicht auch das Gemüt und die Phantasie. Im Unterricht sucht der reine Ut. alles auszuscheiden, was nicht augenscheinlichen unmittelbaren Nutzen bringt. Sein Hauptansturm ist gegen die humanistischen Gymnasien gerichtet; sein Wunsch wäre, die möglichst frühzeitige und allgemeine Einrichtung von Fachschulen. Von den Wissenschaften werden vorzugsweise diejenigen gepflegt und geschätzt, die sich zur technischnützlichen Anwendung eignen, wie Physik und Chemie, überhaupt die realen und Naturwissenschaften. R eligio n und K i r c h e werden vom Ut. ziemlich hoch gehalten, nicht aus innigem Gemütsbedürfnis oder idealem Sinn, sondern weil sie am bequemsten über all das jenseits des Sinnfälligen und Nützlichen Liegende, das sogenannte Metaphysische, Aufschluss geben und zugleich zur Erhaltung des sozialen Friedens so überaus praktisch sind. Die Pflege der Künste tritt zurück, soweit sie nicht dem Trieb nach teuersten Gemälden und kostspieligen Theatervorstellungen dienen. Dagegen entfaltet sich die Technik zu ungeahnter Höhe und Vielseitigkeit; Phantasie und Genie arbeiten nur im Dienst des Praktisch-Nützlichen, nicht mehr des unpraktischen Schönen, und die „Spekulation" richtet sich nicht mehr auf allgemeine, übersinnliche Probleme, sondern nur auf Erwerb und Gewinn. Während die humane und ideale Lebensauffassung, z.B. zu Ende des 18. Jahrhunderts, in der Frau ein Wesen gesehen hatte von eigenartiger Anlage, nach manchen Seiten zarter und höher organisiert als der Mann, daher seine Verehrung fordernd, die Priesterin des Geziemenden und Idealen, die anmutige und würdige Führerin auf dem Weg der Humanisierung des Menschengeschlechts, die in die ärmste Hütte wie in den reichsten Palast den Geist der Anmut, des moralischen Taktes, der Milde und des Friedens zu tragen berufen ist - sieht die utilitarische in der Frau vor allem die gleichartige, daher auch gleichberechtigte Arbeitsgenossin des Mannes, deren geistige und körperliche Kräfte gleichfalls in den Dienst des Praktisch-Nützlichen, der volkswirtschaftlichen Produktion gestellt, deren physische und materielle Bedürfnisse in gleicher Weise befriedigt werden sollen. Um die Einzelnen möglichst von den Pflichten gegen das Ganze, gegen Staat und Gesellschaft, zu entheben, hilft sich der Ut., der wie der Eud. in der Gesamtheit nur eine Summe gleicher Individuen sieht, sehr einfach, indem er eine wunderbare Harmonie zwischen Einzel- und Gesamtinteresse voraussetzt. Demnach nützt der Einzelne dem Ganzen am meisten, wenn er am umsichtigsten und energischsten für seinen eigenen Nutzen sorgt, die Schranken seiner freien Betätigung, die Gesetze, sorgfältig respektiert und im übrigen möglichst wenig Ansprüche an das Ganze macht. Das s o z i a l e Leben, der w i r t s c h a f t l i c h e und g e s e l l s c h a f t l i c h e V e r k e h r wird - jener durch die harten und unumstößlichen „Naturgesetze” der Gütererzeugung und -verteilung, insbesondere durch Angebot und Nachfrage, dieser durch die herkömmlichen steifen Konventionsregeln des „respektablen” Benehmens - aufs beste geregelt. B.2.2. Utilitarismus und Eudämonismus. Im Vorigen haben wir in kurzen und allgemeinsten Umrissen eine Weltanschauung gezeichnet, die auch heute von Unzähligen geteilt wird, ja in ganzen Nationen vorherrschend sein kann. Sie hat ihre Berechtigung so gut wie der Eudämonismus; sie liesse sich theoretisch konsequenter und vollkommener durchführen, als der sozial-eudämonistische Kalkül „vom grössten Glück der grössten Zahl”; sie entspricht unserer Zeit und Kultur viel mehr und steht auch moralisch höher als der schwächliche Eudämonismus. Der Utilitarismus ist eine kraftvolle Lebensauffassung, die die Einzelnen und die Nationen wenigstens auf dem Gebiet technischer und materieller Kultur voran bringt, während der Eud. folgerichtig auf den menschl. Urzustand zurückführen würde. Er hat seine Wurzeln in einem sicheren Kraftgefühl, in einem energischen Streben nach verständiger und reicher Selbstbehauptung und in einem klugen, geschickten Anpassungsvermögen, das seine Anhänger aus allen Lagen des Lebens den grösstmöglichen Gewinn ziehen lässt. Der Eudämonismus hat seine Wurzeln in einem unersättlichen Begehrungsvermögen, das den Intellekt in den Dienst der pers. Wünsche stellt und die Energie durch den Genuss lahm legt. Jener ist ein eminent aktives, dieser ein konsequent passives Prinzip; jener erhält und kräftigt die Menschen, spannt alle Nerven und Muskeln an, weckt viele Anlagen und Kräfte, spornt an zur höchsten körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit; dieser entnervt und verweichlicht, erschlafft durch übermäßigen Genuss und unstillbare Wünsche oder lähmt die Kräfte durch quietistisches Selbstgenügen, fatalistische Ergebung in einen fremden Willen oder pessimistischen Lebensüberdruss. Jener erzeugt, dieser verzehrt Güter und Kräfte; jener führt vorwärts, dieser abwärts; jener erhält und vermehrt Volkswohl und Volkszahl, dieser vermindert und vernichtet beides. Daher werden Individuen und Nationen, die den Ut., die energische Verfolgung des Selbstinteresses, zur Richtschnur ihres Lebens und Handelns erheben, die Anhänger des Eud. weit überholen, sie, wie es Grossbrittanien mit Spanien und Portugal, mit Argentinien und Peru, mit Indien und Ägypten gemacht hat, wirtschaftlich oder politisch beherrschen und sie bis auf die Knochen aussaugen. Ihnen gehört die Welt, s i e s i n d d i e S i e g e r im Kampf ums Dasein. Nur vor der Macht des Stärkeren und einem ebenso entschiedenen Willen wie der ihrige weichen sie zurück und vermeiden Übergriffe ihrer Selbstsucht. Glück und Lust spielen auch im Ut. eine Rolle; allein sie kommen erst in zweiter Linie: als Folge energischen Vorwärtsstrebens, als Begleitmotiv beim Trachten nach dem Vorrang, nach Erwerb und Gewinn; weniger positiv (Erzeugung von Glück) als negativ (Befreiung von Unglück und Schmerz, überhaupt Beseitigung alles Hemmenden, Leben- und Kraftzerstörenden). Im letzten Grund aber unterscheidet das Wie und Worin er sein Glück sucht, den Utilitarier am deutlichsten vom Eudämonisten. Auch der indische Büßer und der christliche Mönch, der griechische Zyniker und der römische Stoiker suchten das Glück, das dauernde, höchste; aber sie sahen es vorzugsweise in mehr oder weniger gründlicher Entsagung, in Armut und Weltflucht, in Krafthemmung und W i l l e n s v e r n e i n u n g . Die südländische Art sucht das Glück, aber mehr in der Behaglichkeit des Nichtstuns, in den einfachsten Lebensgenüssen und in fatalistischem Vertrauen auf die Zukunft. Der Leichtlebige, die arbeits- und pflichtscheue Jugend mit ererbtem Besitz suchen das Glück, aber in Beschäftigungen des Spiels, des Sports, des Reisens und des Wohllebens auf allen Gebieten. Der moderne Manager und der ehrgeizige Streber suchen auch das Glück, aber in erster Linie in ununterbrochener vorteilhafter Tätigkeit, in steigendem Gewinn, in rastlosem Spekulations- und Kombinationseifer, in h a s t i g e m Wettbewerb um den Vorrang, in unermüdlichem Jagen nach Nutzen und Erfolg. Hier haben wir den Typus des U t i l i t a r i e r s zu suchen, der das Geniessen hinter das Erwerben zurückdrängt, immer weiter hinausschiebt und meist gar nicht dazu kommt. Häufig finden sich beide Weltanschauungen vereinigt vor, aber es lässt sich fast geographisch nachweisen, in welchen Nationen die eine oder die andere überwiegt; es ist der Gegensatz von Süden und Norden; und selbst in den einzelnen europäischen Ländern lässt sich in mehr oder weniger scharfen Nuancen ein Unterschied zwischen dem mehr eudämonistischen, genussliebenden, heiteren, behaglichen und dem utilitaristischen, tätigen, ernsteren Bewohner konstatieren. B.2.3. Zur Kritik des Utilitarismus. Trotz dieser relativen Vorzüge der ut. Weltanschauung vor der eud. wird es sich unschwer herausfühlen und erkennen lassen, dass dieselbe noch nicht die höchste, die wahrhaft ethische sein kann. Wäre sie in der b i s h e r i g e n Entwicklung des moralischen Bewusstseins die letzte Stufe gewesen, so begreift sich nicht, wie die im vorigen Kapitel analysierten moralischen Gefühle und Ideen entstehen konnten, da sie ja in einer ut. Lebensgestaltung keinen Platz gefunden hätten und auch gar nicht notwendig wären. Sollte ferner der Ut. in unserer Zeit humanerer Bildung als das letzte Wort der Ethik gelten, zum herrschenden Prinzip werden, so müsste man gerade die höchsten humanen Motive, alle idealeren Wertschätzungen gewaltsam unterdrücken oder wenigstens nach und nach verkümmern lassen. Der Ut. stellt ohne Zweifel ein niedrigeres Niveau humaner Lebensführung dar, eine praktisch-egoistische Klugheitsmoral; ihm fehlt, um es kurz zu sagen, das Humane und I d e a l e , die höchsten Äusserungen des spezifisch menschlichen Wesens; der Sinn für Schönheit und Anmut; die Rücksicht auf Anstand und Würde; Wohlwollen, Grossmut und wahre Humanität. Es ist im allgemeinen der S t a n d p u n k t der B r u t a l i t ä t , des Natürlic hen, eine „R a u b t i e r m o r a l “ ; der Daseinskampf der unter-menschlichen Lebewelt wird ohne weiteres auf das menschliche Leben übertragen; daher ist Zweck und Resultat nur E r h a l t u n g und Anpassung (im besten Fall die praktische Leistungsfähigkeit); man gelangt nicht zur Verschönerung und Veredlung des Einzel- und Gesamtdaseins. Die besten und höchsten Eigenschaften der menschlichen Natur (das Gemüt, die moralischen Gefühle; die Vernunft) bleiben unentwickelt; die schönsten und edelsten Gesichtspunkte, Ideale und Ideen, bleiben unverstanden. Es ist keine Frage, dass sich das Verhalten von Nation zu Nation, von den verschiedenen Individuen im gleichen Staat im Wettbewerb und Interessenkampf vielfach nach egoistisch-utilitarischer Auffassung gestaltet, dass der Existenzkampf auch in der Menschenwelt v i e l f a c h in rücksichtsloser Weise geführt wurde, und dass sich selbst heute noch vielfach im Benehmen des Stärkeren gegen den Schwächeren eine ähnliche Gesinnung betätigt. Aber daneben und d a r ü b e r haben sich zum Glück und zur Ehre für die Menschen schon frühzeitig, zunächst innerhalb der Familien- und Stammesgemeinschaft, Gefühle und Triebe, Gesinnungen und Gesichtspunkte ethisch-humaner Art geltend gemacht und sind im Laufe der sogenannten Kulturgeschichte auch im Verkehr von Volk zu Volk und von Mensch zu Mensch so mächtig geworden, dass selbst die entschiedensten Utilitarier oder Egoisten meistens aus Klugheit, viele aus Gewohnheit dieselben angenommen haben. Neben dem Nützlichen erkennen auch die stärksten Ut. noch a n d e r e Handlungsweisen und Zwecke als berechtigt an, denen die rein utilitarischen sich unterordnen müssen. Heute werden die Alten und Kranken, die Schwachen und Gebrechlichen gepflegt und versorgt; Wissenschaften und Künste werden gefördert, der Anstand beobachtet, auch das Wohlwollen wagt sich hervor in Akten privater und öffentlicher Wohltätigkeit. Dies und vieles andere sind Konzessionen an und Kombinationen mit einer höheren ethisch-humanen Anschauung. Selbst auf wirtschaftlichen Gebiet und in der Politik, wo utilitarische Gesichtspunkte die nächsten und notwendigsten zu sein schienen, ja wo sie einst allein herrschten (vgl. die Politik des Absolutismus, Individualismus; sowie die Wirtschaftstheorien des liberalen Kapitalismus und des Manchestertums) bereitete sich eine Entwicklung vor, derzufolge man auch hier ethische Grundlagen aufzusuchen und ethische Zwecke anzuerkennen begann. Alle Betätigungen des Nationallebens fingen an, sich in den Dienst der moralischen Kultur zu stellen und sich mit echter Humanität zu durchdringen. Wenn auf diese Weise der Ut. im Einzel- und Gesamtleben durch höhere humane Gefühle geläutert und veredelt, wenn so der Begriff des Nutzens von seinen brutal-egoistischen und rein materialistischen Beifügungen gesäubert wird, so gelangen wir zu der Zweckidee des „W o h l e s” (Gesamt- und Einzelwohl), die schon eher als Ziel des menschlichen Lebens, wenn auch nicht als edelstes und letztes, anzuerkennen ist. Besonders im Begriff des Gesamtwohls (salus publica) vollzieht sich eine Verschmelzung (Synthese) des sozialen Eud. mit dem generellen Ut. und zwar verbunden mit ethischen Gesichtspunkten. Allein die Idee des Gesamtwohles, die von vielen als höchster Zweck des menschlich-moralischen Lebens betrachtet wird, ist dafür einerseits zu weit, zu umfassend, da sie z.B. auch die ganze Ökonomie, sowie Rechtspflege und Verwaltung in sich schliesst; andererseits zu niedrig, da eine ethische Lebensauffassung, eine spezifisch humane Beurteilung der Handlungen und Beweggründe von allen eud. und ut. Beimengungen sich zunächst vollkommen rein zu halten hat. So mag man nicht mit Unrecht als Aufgabe des politischen und wirtschaftlichen Lebens und Handelns im weitesten Umfang die Förderung des Gemeinwohls - in diesem nicht mehr nur eud. (=Glück), sondern auch ut. (=Erhaltung) und ethischen (=Fortbildung zu Besserem) Sinne - bezeichnen; allein die Ethik als normgebend für das spezifisch menschliche Tun und Leben muss ihren Vorrang vor den übrigen praktischen Wissenschaften zu wahren, einen besseren Standpunkt zu gewinnen, vom Endlichen zum Unendlichen, vom Gegenwärtigen und Wirklichen zum Künftigen und Idealen sich zu verbessern suchen. B.2.4. Bedeutung des Utilitarismus für die human-ideale Ethik. Schon hier ist darauf aufmerksam zu machen, dass auch in der idealen und humanen Ethik der Wertbegriff des N ü t z l i c h e n zumal in der geläuterten Form des Gesamt- und Einzelwohls bei der Beurteilung der Zwecke und der H a n d l u n g e n , weniger der Motive, eine weitgehende Berechtigung hat. Er ist unentbehrlich zur Kritik und Korrektur des Moralischen überhaupt, besonders des g e t a n e n , v e r w i r k l i c h t e n . - Niemand wird behaupten: „Alles, was n ü t z l i c h ist, was zum Wohl - (D.h. hier zum kräftigen Gedeihen, zu erfolgreicher Selbstbehauptung.) - des Ganzen und der Einzelnen beiträgt, ist zugleich unter a l l e n Umständen, d.h. ohne Rücksicht auf die Beweggründe und auf höhere Zwecke, moralisch.” Wohl aber ist es ein Postulat, eine notwendige Forderung einer wissenschaftlich begründeten humanen Ethik, dass a l l e s , was human sein s o l l , im letzten Grund und auf Dauer dem Ganzen und dem Einzelnen nützlich ist, zu i h r e r E r h a l t u n g und ihrem Gedeihen b ei tr äg t. Das Moralische darf auf keinen Fall dem Wohl des Ganzen, und der Einzelnen durchgehend oder allgemein nachteilig sein. Was der Erhaltung und Anpassung der Einzelnen und Gesamtheiten, was der Entfaltung der intellektuellen, technischen und physischen Kräfte, der Förderung des materiellen und physischen Wohles des Ganzen und der Einzelnen unter allen Umständen hinderlich ist, kann nicht moralisch genannt, nicht als P f l i c h t geboten werden, wenn es auch durch wenig kritisches Herkommen, durch abergläubische Sitten oder durch einen fremden Gesetzgeber geheiligt wäre. So ist der Ut., wie erwähnt, ein Erzeugnis u n s e r e r Zeit und unserer Kulturbedürfnisse, ein w i c h ti ger Maßstab (Kriterium), wenn auch nicht der edelste und letzte, für eine moderne Ethik. Der Gesichtspunkt des berechtigten Ut. steht fest auf dem Boden der Erfahrung, der lebendigen Wirklichkeit, von dem sich auch die ideale Ethik nicht vollständig loslösen darf, wenn sie nicht in die Regionen des Mystischen und Utopischen sich versteigen will, von wo aus sie dann schwerlich ohne Halsoder Beinbruch den Rückweg finden dürfte. Auch im humanen Leben und Handeln des E i n z e l n en ist der ut. Gesichtspunkt nicht aus dem Auge zu verlieren, damit wir nicht in wohlgemeinter Kurzsichtigkeit das Gute wollend das Böse fördern (z. B. Wohlwollen, Nachgiebigkeit gegen bösartige, gewalttätige Naturen würde zu mannigfacher Unterdrückung der (und des) Guten durch die Bösen, zu direkter Förderung der Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit führen.) oder das Beste wollend das Gute vernachlässigen und schädigen. Der Ut. macht uns besonders auf das aus der Erfahrung aller Zeiten entnommene Gesetz der R e l a t i v i t ä t aller menschlichen, also auch der moralischen Bestrebungen und Einrichtungen aufmerksam. Er belehrt uns, dass es (objektiv) nichts a b s o l u t Gutes gibt, das für alle Zeiten und nach allen Seiten gilt, sondern nur ein r e l a t i v Gutes, dass jede Sache, auch die beste (Maßregel, Gesetz, Einrichtung usw.), ihre Schatten- bzw. Schadenseite hat. Nicht das höchste Gut, wie es die alten Philosophen suchten, sondern nur: „d a s k l e i n e r e Ü b e l ” kann das jeweils nächste Ziel aller unserer individual- und sozial-ethischen Bestrebungen und Schöpfungen sein. Die menschliche Unvollkommenheit, mit der auch der idealste Ethiker und Politiker zu rechnen hat, wird vorerst selbst die bestgemeinten Reformen und die herrlichst ausgedachten Pläne immer nur als etwas r e l a t i v B es s e r es , als einen k l e i n e n Fortgang, sich realisieren lassen und auch die besten Einrichtungen zu ganz entgegengesetzten Zwecken missbrauchen. Das widerum lehrt uns die Geschichte des Liberalismus, das mögen die Anhänger und Freunde des modernen Staates beherzigen.