1 ISLAM IN EUROPA Richard Potz, Wien In der Europäischen Union wurde in den letzten Jahrzehnten eine multikulturelle Realität geschaffen, die von unterschiedlichen Werthaltungen geprägt ist. Im Zusammenhang mit kulturellen Traditionen und Verhaltensweisen stellen sich eine Reihe von Fragen, vor allem auch die Frage nach den Konsequenzen dieser Vielfalt für die sich entfaltende Zivilgesellschaft. Für das Gelingen zivilgesellschaftlicher Strukturen wird unter anderem bedeutsam sein, inwieweit die europäischen Muslime bereit sind, hierfür ihren Beitrag zu leisten. Meine kurzen Überlegungen sollen der Frage nachgehen, durch welche Faktoren diese Entwicklungen bestimmt sein können. Der erste und vordergründigste Faktor ist die Zahl der Muslime in den europäischen Staaten. Bei der Bewertung dieser Zahlen ist jedoch darauf zu achten, dass sie im Allgemeinen ein kulturislamisches Selbstbild bzw die Herkunft aus einer islamisch geprägten Gesellschaft widerspiegeln. Sie sagen daher nichts über die Intensität islamischer Überzeugungen dieser Bevölkerungsgruppen aus. In den meisten Staaten Europas leben 4 bis 5 % Muslime in diesem weiten Sinne, die als Gastarbeiter und Immigranten ins Land gekommen sind. Zu diesen Staaten gehören etwa die Niederlande, Belgien, Deutschland, Österreich und die Schweiz. Um diesen Kern lagern sich konzentrisch Staaten mit abnehmenden Zahlen von Muslimen. Dies gilt sowohl für die skandinavischen Staaten, als auch für Spanien und Italien. Besondere Bedingungen aus sprachlichen und einwanderungsrechtlichen Gründen bestehen in Staaten mit einer prononcierten kolonialistischen Vergangenheit, wobei die Anzahl der Muslime deutlich unterschiedlich ist. Während sie in Großbritannien knapp 3 % ausmacht, werden für Frankreich bis 2 zu 8 % angenommen. Damit stellt Frankreich demographisch gesehen einen Sonderfall dar. Die Gesamtzahl der Muslime in den westeuropäischen Immigranten-Staaten ist mit maximal 15 Millionen zwar nicht sonderlich groß, sie entspricht aber doch etwa der Einwohnerzahl der Niederlande. Jedenfalls sind die Muslime in den meisten Staaten quantitativ und qualitativ zur Minderheit par excellence geworden. Von den Immigrations-Staaten unterscheiden sich die Staaten mit autochthonen islamischen Bevölkerungsteilen im Südosten Europas, von denen Griechenland als einziger auch Mitglied der Europäischen Union ist. In Zypern gehört der Nordteil mit der türkischen Bevölkerung noch nicht zur EU. Weitere Staaten mit einer autochthonen muslimischen Bevölkerung stehen entweder vor der Tür der Union wie Bulgarien oder sind mittelfristige Kandidaten wie Bosnien/Hercegovina. Diese Staatengruppe ist deshalb herauszuheben, da in der aktuellen Minderheitenrechtsdiskussion eine gewisse Tendenz besteht, den autochthonen Minderheiten mehr Rechte einzuräumen als Immigrantengruppen. Damit komme ich zum zweiten bestimmenden Faktor, den allgemeinen gesellschaftlichen, psychologischen und rechtlichen Problemen der Einwanderung. Fast alle europäischen Staaten sind in ihrer gesamten neuzeitlichen Geschichte auch Einwanderungsstaaten gewesen. Aber sowohl das confessional cleansing des 16. bis 18. Jahrhunderts, als auch das ethnic cleansing und die Arbeitsmigrationen des 19. und 20. Jahrhunderts waren innereuropäische Phänomene. Erst die islamische Einwanderung der jüngsten Zeit scheint allgemein derart ins Bewusstsein gedrungen zu sein, dass es nun notwendig erscheint, kontrafaktisch immer wieder zu betonen, man sei traditionell eben kein Einwanderungsland. Kein europäischer Staat konnte sich daher dazu aufraffen, Einwanderungsregeln zu formulieren, die mit einem klaren Integrationskonzept verbunden wären, wie das bei den klassischen überseeischen Einwanderungsländern immer der Fall war. 3 Ähnliche Probleme, wie sie die Regulierung der Einwanderung bestimmen, zeigen sich auch in der Ausgestaltung des jeweiligen Staatsbürgerschaftsrechtes, das durch vergleichsweise hohe Unterschiede in den einzelnen europäischen Staaten geprägt ist. Wie auch immer, durch Einbürgerungen wird eine wachsende Zahl von Muslimen zu Trägern staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten. Die wichtigste Folge ist die volle Mitwirkung der Immigranten am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess. Der dritte Faktor besteht darin, dass viele Fragen der islamischen Minderheit typischer Weise mit dem urbanen Lebensraum, in dem die meisten muslimischen Immigranten leben, zusammenhängen. Wobei nicht zu übersehen ist, dass viele Muslime aus ruralen Gebieten einwandern, sodass der Wechsel in fremdkulturelle urbane Lebensräume eine besondere Herausforderung darstellt. Eine weitere Verschärfung der Problematik ergibt sich häufig für Immigrantinnen, für die zu dem ihnen fremden religiös-kulturellen bzw urbanen Umfeld noch die geschlechterspezifische Problematik hinzutritt. Das bedeutet, dass der hier angesprochene Fragenkomplex auch als Gender-Problem gesehen werden muss und entsprechende Maßnahmen verlangt, die in allen europäischen Immigrationsstaaten bislang nur in ungenügender Weise erfolgten. Der Stellenwert, der dem Islam bei Restriktionen im Einwanderungs- und Aufenthaltsrecht zukommt, steht in einem unmittelbaren Bezug zum aktuellen Islambild in der europäischen Gesellschaft, das den vierten Faktor bildet. Unbestreitbar füllt der Islam bzw der militante Islamismus nach dem Untergang des Sowjetimperiums und vor allem nach 9/11 bei der Darstellung von Bedrohungsszenarien die viel zitierte Feindbild-Lücke im politischen Spektrum des Westens aus. Es ist daher zu bedenken, dass die Situation in den islamischen Staaten bzw. die Berichte darüber sowie der dschihadistische Terrorismus das Bild des Islam in den Medien stärker prägen als die konkreten Erfahrungen mit islamischen Mitbürgern. 4 Der fünfte Faktor besteht im islamischen Pluralismus, der sowohl durch die nationale Herkunft der Immigranten, als auch durch die religiöse Vielfalt des Islam bedingt ist. Es ist inzwischen zu einer Binsenweisheit geworden, dass das einheitliche Selbstbild vieler Muslime, das mit einem entsprechenden Fremdbild in Europa korrespondiert, von jeder Realität abgehoben ist. Als sechster Faktor ist schließlich das historisch gewachsene religionsrechtliche Systeme der europäischen Staaten zu beachten. Das Verhältnis des Staates zur Religion ist in den einzelnen europäischen Staaten bis in die Gegenwart erstens von seinen christlichen Wurzeln und zweitens durch die dem Islam zunächst fremde neuzeitliche Säkularisierung geprägt. Dieser Prozess der religiösen Entzauberung – um mit Max Weber zu sprechen – liegt allen drei gegenwärtig in Europa bestehenden Typen des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften zugrunde. Im ersten Grundtyp sind wesentliche Elemente des Staatskirchentums erhalten geblieben. Obwohl Religionsfreiheit gewährleistet wird, ist die Säkularisierung der staatlichen Institutionen aufgrund der reformatorischen Bindung an die Monarchie nicht konsequent durchgeführt worden. Dieser Typ ist etwa in England verwirklicht. Worin bestehen nun charakteristische Probleme für den Islam in diesen Staaten? In England ergibt sich durch die starke Dezentralisierung der für die Muslime bedeutsamen Verwaltungsbereiche auf lokaler Ebene oft weitgehendes Entgegenkommen. So etwa, was den Bau von Moscheen und die Errichtung islamischer Friedhöfe betrifft. England verfolgt trotz - oder vielleicht gerade wegen - der institutionellen Verknüpfung von Staat und Kirche am ehesten das Konzept einer kommunitaristischen Insertion. Der Staat soll keinen melting-pot begünstigen, der British Way of Life soll nicht oktroyiert werden. Es darf aber nicht übersehen werden, dass in staatskirchlich geprägten Staaten religiöse Minderheiten im öffentlichen Raum durchaus überraschend stark präsent sind. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass es in England Polizistinnen 5 mit islamischem Kopftuch gibt. Dass viele Muslime das kommunitaristische Konzept positiv bewerten, mag unter anderem damit zusammenhängen, dass es an das vertraute islamische Modell der Dhimmi-Selbstverwaltung für religiöse Minderheiten im islamischen Bereich erinnert. Den zweiten Grundtyp stellt die strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaft dar. Immer wieder schien die totale Ausgrenzung des Religiösen die Voraussetzung konsequenter Entwicklung neuzeitlicher Staatlichkeit zu sein. Konsequenterweise stehen daher Trennungsstaaten jeder religionsbezogenen Tätigkeit des Staates reserviert bis ablehnend gegenüber. Für sie birgt jegliche positive Berücksichtigung von Religion durch den Staat wie etwa Subventionierung, Einbau des Religionsunterrichtes in den regulären Schulfächerkatalog etc - die Gefahr einer Identifikation mit Religion und ist deshalb unzulässig. Dieses europäische Trennungssystem ist in seiner rechtsstaatlich-demo-kratischen Ausprägung gegenwärtig vor allem in Frankreich verwirklicht. Wie die historische Entwicklung gerade im ausgehenden 20. Jahrhundert zeigt, lässt sich das Problem des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaft im Zeichen der Säkularisierung jedoch nicht auf die verfassungsrechtlich fundierte institutionelle Trennung reduzieren. Auch in Frankreich traten mit der Entwicklung des sozialen und kulturellen Leistungsstaates immer häufiger Fragen der Bewertung der religiösen Dimension auf. Trotz des expliziten laizistischen Grundsatzes entstand daher de facto mit der Zeit auch im französischen Recht für die Religionsgemeinschaften ein spezifischer Status. Überdies sind manche der für den Islam charakteristischen Probleme im sonst so zentralisiert verwalteten Frankreich auf regionalen Verwaltungsebenen entschärft worden, wie etwa die Genehmigung zur Vornahme islamischer Schlachtungen und die Errichtung islamischer Friedhöfe. Auf der Ebene des Schulsystems erwies sich die laizistische Tradition Frankreichs gegenüber diesen Entwicklungen allerdings als äußerst resistent, 6 wie der Langzeit-Streitpunkt um das Tragen des islamischen Kopftuchs und dessen gesetzliche Regelung deutlich machen. Der dritte Grundtyp schließlich sieht spezifische staatliche Regelungen für Religionsgemeinschaften vor. Dieser Typ ist in Europa am häufigsten verwirklicht, er findet sich von Portugal bis zu den baltischen Staaten und prägt das Konzept in Österreich, Deutschland und den deutschsprachigen Schweizer Kantonen. Diese Staaten haben zwar eine institutionelle Trennung von Staat und Kirche vollzogen, es wird jedoch dem spezifischen Wirken der Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit im Sinne einer hereinnehmenden Neutralität ausdrücklich Rechnung getragen. Der Staat geht als Kulturstaat und Sozialstaat neue Beziehungen mitbestimmungsorientierter Planung, Regulierung und Förderung mit den Akteuren der Zivilgesellschaft ein. In dieser Perspektive sind auch die religiösen Interessen in den Gewährleistungszusammenhang des allgemeinen staatlichen Kulturverfassungsrechts eingebettet und als Teil der gesellschaftlich legitimierbaren Zwecke angemessen zu berücksichtigen und nicht auszugrenzen. Abschließend möchte ich auf den gesamteuropäischen Kontext noch einmal zu sprechen kommen. Europäische Rechtsdokumente verweisen immer wieder auf gemeinsame europäische Überlieferungen. So erfolgt in der Präambel der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 unter anderem eine Berufung auf den Besitz eines „gemeinsamen Erbes an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes“. Auch im Maastricht-Vertrag 1992 hat diese Idee ihren Niederschlag gefunden: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und 7 wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechtes ergeben.“ Es wird in diesem Zusammenhang häufig die Frage diskutiert, ob der Islam, dem die Trennung von geistlichem und weltlichem Bereich fremd sei und daher eine mangelnde Verfasstheit im europäischen Sinne aufweise, das europäische System überhaupt übernehmen könne. Von den christlichen Kirchen, deren Verfasstheit der gleichen europäischen Wurzel wie der Staat entspringt, kann der Staat „amtliche Antworten“ erwarten, daher kann er sie ohne weiteres mit einer öffentlich-rechtlichen Stellung ausstatten. Der Islam hingegen habe keine einheitliche Organisationsstruktur schaffen können und damit eine grundsätzliche Voraussetzung für diese Rechtsstellung nicht erfüllt. Dem sind allerdings die im Großen und Ganzen guten Erfahrungen mit der Anerkennung der islamischen Glaubensgemeinschaft und deren öffentlich-rechtlichem Status in Österreich entgegen zu halten. Wenn man von der hier nicht weiter zu erörternden Frage des Beitritts der Türkei zur EU einmal absieht, stellt sich vor dem Hintergrund gemeinsamer europäischer Überlieferungen ganz grundsätzlich auch die Frage nach der Mitgestaltung der bereits bestehenden islamischen Minderheiten an der rechtlichen Ordnung Europas. Es ist zwar legitim, europäische Gemeinsamkeiten zu betonen; dies sollte jedoch nicht zu Ausgrenzungen führen, da gerade damit ein schwer erkämpfter neuzeitlicher europäischer Standard, der die Basis aller menschenrechtlichen Gewährleistungen ist, in Frage gestellt würde. Eine säkularisierte religiös-neutrale Ordnung, die für die Angehörigen außereuropäischer Religionen mit Diskriminierungen verbunden wäre, würde wohl ihre Glaubwürdigkeit verlieren. In diesem Sinne können religionsrechtliche Konzepte nur als Angebote verstanden werden. Die Assimilation hat das republikanische Ziel einer strikt egalitären Bürgerschaft ohne Ressentiments und Diskriminierung im Auge. Nicht die Gruppe steht im Blickfeld, sondern der einzelne und seine 8 Emanzipation, gegebenenfalls unter gleichzeitiger Aufgabe seiner kulturellen Identität. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit ihren kulturellen und religiösen Spezifika wird grundsätzlich nicht releviert. So wie dem Einzelnen die Möglichkeit der Assimilation offen stehen muss, muss den islamischen Gemeinden das Angebot zur Integration gemacht werden, d.h. als gestaltende Kraft an einem säkularen pluralistisch-demokratisch begründeten politischen System mitzuwirken. Sie können allerdings zu dieser Integration nicht wirklich gezwungen werden. Wenn sie von diesem Angebot keinen Gebrauch machen wollen oder können, muss für sie jedenfalls volle Religionsfreiheit, die in unserem System einen konstitutionellen Grundstatus darstellt, gewährleistet werden. Das Ziel bleibt auch im zuletzt erwähnten Modell ein konfliktfreies Nebeneinander. Die Schwächen dieses Systems liegen darin, dass die Ausgrenzung der Minderheit gleichsam perpetuiert wird, dass Ghetto-Bildung und Parallelgesellschaften gefördert werden und damit zur Desintegration des öffentlichen Raumes beigetragen wird. Man muss sich auch klar sein, dass dieses Konzept tendenziell die Chancengleichheit vermindert. Das Ziel der Integration ist ohne Zweifel das politisch intelligenteste; Integration geht allerdings davon aus, dass sich die Muslime in Europa in den „overlapping consensus“ einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft einbringen können ohne ihre Identität zu verlieren. Diese Frage können aber nur die Muslime selbst beantworten.