Bondeli. Freiheitsauffassungen in der klassischen deutschen Philosophie. 17. April 2014 Johann Gottlieb Fichte „Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seien unumstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z.B. der Begriff einer absoluten Freiheit, Pflicht usw., sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur umso froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dieses System gibt! (Fichte an Weißhuhn, Sommer 1790) „Mein System ist vom Anfange bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit und es kann in ihm diesem nicht widersprochen werden, indem gar kein anderes Ingrediens hineinkommt.“ (Fichte an Reinhold. 8. Januar 1800). [„Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!“ (Schelling: Vom Ich als Prinzip der Philosophie… 1795, § 6)] Ein philosophisches System der Freiheit Die gesamte Philosophie (sowohl die praktische, die Moral- und Rechtsphilosophie, als auch die theoretische, die Erkenntnistheorie und Logik) soll auf der Basis der praktischen Vernunft (praktische Vernunft=Welt der Freiheit; theoretische Vernunft= Welt der Naturnotwendigkeit) entwickelt werden. Ausgangspunkt der praktischen Vernunft ist eine Tathandlung und nicht eine Tatsache; diese Tathandlung ist die Selbstsetzung des Ich, die in einem ersten Grundsatz der gesamten Philosophie ausgedrückt werden kann. Die Selbstsetzung des Ich impliziert weitere grundlegende Setzungsakte (Entgegensetzung eines Nicht-Ich durch das Ich, Teilung des Ich, wechselseitige Beschränkung von Ich und Nicht-Ich) und diesen entsprechende Grundsätze. Sie impliziert eine Setzungsteleologie, die sich im Bereich der theoretischen Philosophie als Differenzierung und Vervollständigung von Verhältnissen von Ich und NichtIch manifestiert, im Bereich der praktischen Philosophie als ein Streben nach dem als Ziel oder Zweck zu verstehenden Ich, welches sich selbst setzt. „Allerdings müssen wir einen realen, und nicht bloss formalen Grundsatz haben; aber ein solcher muss nicht eben eine Thatsache, er kann auch eine Thathandlung ausdrücken“ (Rezension des Aenesidemus. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 1, 8). „Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen.“ […] Er soll diejenige Thathandlung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.“ (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 1, 91) „Denkt man sich die Erzählung von dieser Thathandlung an die Spitze einer Wissenschaftslehre, so müsste sie etwa folgendermassen ausgedrückt werden: Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Seyn.“ (Ebd. 98) Zweiter Grundsatz: „dem Ich schlechthin [wird] entgegengesetzt ein Nicht-Ich“ (ebd. 104). Dritter Grundsatz: Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen.“ (Ebd. 110). Grundsatz der theoretischen Philosophie: „Das Ich setzt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich.“ (Ebd. 126). Grundsatz der praktischen Philosophie: „Das Ich setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch das Ich“ (Ebd. 125). Ziel, Zweck dieses ganzen Systems: Streben nach dem unbeschränkten Ich. [Je unbeschränkter das Ich, je weniger Nicht-Ich, desto freier das Ich, desto stärker seine konstruktive Rolle im Bewusstsein und Erkennen von etwas, im Wollen und Hervorbringen von etwas. Dies ist ein Gedanke, den wir bei der als graduell zu verstehenden Handlungsfreiheit antreffen. Doch was bedeutet Freiheit als Selbstsetzung eines Ich für sich gesehen, positiv betrachtet? Absolute Selbstbestimmung meines Willens? Absolute Selbstbestimmung meines Daseins in seinem potentiellen, bestimmbaren Zustand? Und was wäre dann dieses Dasein?] Freiheit als absolute Selbstbestimmung dessen, was bestimmbar ist. Freiheit gedacht als ein Übergehen Freiheit als das tätige und in seiner Tätigkeit (absolut) sich selbst bestimmende Ich, die Freiheit als Selbstwahl. Grenzen dieser Freiheit: das Angewiesensein der Selbstbestimmung auf Bestimmbarkeit, des Wählens auf das Wählenmüssen. „Vor dem Acte der Freiheit ist nichts, mit ihm wird alles, was da ist; aber diesen Act können wir uns nicht anderes denken denn als ein Übergehen von einer vorhergehenden Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit“ (Wissenschaftslehre Nova methodo. Hg. von E. Fuchs, Hamburg 1982, 50) „Die Freiheit ist sonach der höchste Grund, und die erste Bedingung alles Seins und alles Bewusstseins.“ (ebd. 51) „Die Freiheit besteht darin, daß unter allem gewählt werden kann, die Gebundenheit darin, daß unter dieser Summe gewählt werden muß; (ebd. 57) [Dem Ich kommt ein Vermögen absoluter Selbstbestimmung zu, dies jedoch im Rahmen dessen, was bestimmbar ist. Das Ich ist ein freies Wesen insofern, als die Welt ihm ein offenes Feld von Möglichkeiten bietet. Das Ich kann wählen, muss freilich auch wählen, sich entscheiden. Vergleich mit einem existentialistischen Verständnis von Freiheit] Freiheit als Selbstbestimmung eines Ich, Freiheit und Selbstbewusstsein ‚Sich selbst Setzen‘ kann nur ein Ich. Freiheit ist also im Ich, oder auch: Freiheit ist Bedingung des Ich. Unterhalb des Ich – z. B. in einem Bewusstsein ohne Ich, ohne Selbstbewusstsein – gibt es keine Freiheit. Was ist das Ich? Das Ich (nicht ich als Person mit körperlichen und mentalen Eigenschaften, nicht ich als Individuum, sondern ich als ‚mein‘ kontinuierliches Bewusstsein oder ich als Gesamtbewusstsein, Ichheit) ist mein Selbstgefühl, mein Selbstbewusstsein (=absolute Einheit von Subjekt und Objekt, in sich zurückgehende Tätigkeit, intellektuelle Anschauung). Fichte verwendet diese Ausdrücke häufig synonym. Nun ist Freiheit lediglich im und durch das Ich möglich. Also ist Freiheit dasselbe wie Selbstbewusstsein, … intellektuelle Anschauung. „In diesem Acte der Freiheit wird das Ich sich selbst Objekt“ (Wissenschaftslehre Nova methodo. Hg. von E. Fuchs, Hamburg 1982, 51). „Zu dem Bewusstsein der Anschauung [der intellektuellen] erhebt man sich nur durch Freiheit“ (Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 1, 533). [Im Selbstbewusstsein, in der intellektuellen Anschauung ist unser Bewusstsein frei; oder auch: nur durch Freiheit gelangen wird zum Selbstbewusstsein….] Freiheit und Idealismus. Der Dogmatiker ist Fatalist, der Idealist frei „Jeder konsequente Dogmatiker ist notwendig Fatalist; er leugnet nicht das Faktum des Bewusstseins, dass wir uns für frei halten: denn dies wäre vernunftwidrig; aber er erweist aus seinem Prinzip die Falschheit dieser Aussage. – Er leugnet die Selbstständigkeit des Ich, auf welche der Idealist baut, gänzlich ab, und macht dasselbe lediglich zu einem Produkt der Dinge“ (Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 1, 431). „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist […]. Ein von Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter und gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idealismus erheben.“ (Ebd. 434) Freiheit und Sittlichkeit Das Sittengesetz als Erkenntnisgrund der Freiheit; Sittlichkeit als Selbstwerdung, ‚sich selbst Hervorbringen‘ der Freiheit „Im Bewusstsein dieses Gesetzes [des Sittengesetzes], welches doch wohl ohne Zweifel nicht ein aus etwas anderem gezogenes, sondern ein unmittelbares Bewusstsein ist, ist die Anschauung der Selbsttätigkeit und Freiheit begründet. […] Nur durch das Medium des Sittengesetzes erblicke ich mich; und erblicke ich mich dadurch, so erblicke ich mich notwendig als selbsttätig […] Diese intellektuelle Anschauung ist der einzige feste Standpunkt für alle Philosophie.“ (Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 1, 466) „Man kann den Hauptinhalt unserer soeben gegebenen Deduktion [Deduktion der Sittlichkeit, des Sittengesetzes] so fassen. Das vernünftige Wesen, als solches betrachtet, ist absolut, selbstständig, schlechthin der Grund seiner selbst. Es ist ursprünglich, d. h. ohne sein Zutun, schlechthin nichts: was es werden soll, dazu muss es selbst sich machen, durch sein eigenes Tun.“ […] „Das vernünftige Wesen soll alles, was es je wirklich sein wird, selbst hervorbringen.“ (Das System der Sittenlehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 4, 50) „Der sittliche Trieb fordert Freiheit – um der Freiheit willen.“ […] „Ich soll frei handeln, damit ich frei werde.“ (Das System der Sittenlehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 4, 153) [Sittlich relevante Freiheit nicht als Wahl einer Maxime, die ein allgemeines Gesetz sein kann (Kant), nicht als Entscheidung für oder wider das Sittengesetz (Reinhold), sondern als Selbsttätigsein, Selbstrealisierung eines (sittlichen) Zwecks, Selbstrealisierung der eigenen Selbsttätigkeit] Was ist in diesem Falle das Sittengesetz? Formal gesehen: „Handle stets nach bester Überzeugung von deiner Pflicht“[…] „handle nach deinem Gewissen“ (Das System der Sittenlehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 4, 156). Material gesehen: Ein Imperativ des Selbstseins, der Freiheit: Sei selbst! Sei frei! Intelligible Freiheit, aber kein intelligibler Fatalismus Nimmt man an (Fichte zufolge soll Reinhold von einer solchen Annahme ausgegangen sein), die Selbstbestimmung des Willens sei eine Ursache und die Wirkung zu dieser Ursache sei ein in der Erscheinung bestehendes Bestimmtsein, „so zieht man ein Intelligibles in die Reihe der Naturursachen herab, und verleitet dadurch, es auch in die Reihe der Naturwirkungen zu versetzen; ein Intelligibles anzunehmen, das kein Intelligibles sei.“ (Creuzer-Rezension 1793, Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 8, 414) Eine Reihe von Naturwirkungen (Vorstellung des zureichenden Grundes) kann, so Fichtes Meinung, bei der Auffassung des Bestimmens, die im Bereich des Intelligiblen vorherrscht, gar nicht angenommen werden, denn im Bereich des Intelligiblen sind Bestimmen und Bestimmtwerden zwei Seiten ein und derselben Sache. Im Bereich des Intelligiblen ist „Eine, und eine einfache, und eine völlig isolierte Handlung; das Bestimmen selbst ist zugleich das Bestimmtwerden, und das Bestimmende das Bestimmtwerdende.“ (Ebd.) „Unsere Behauptung ist sonach die, dass nur die Intelligenz als frei gedacht werden könne“ […] „nur ein freies kann als Intelligenz gedacht werden, eine Intelligenz ist notwendig frei.“ (Das System der Sittenlehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 4, 36f.) Jedoch: „Das Vernunftwesen kann keine Anwendung seiner Freiheit, oder Wollen in sich finden, ohne zugleich eine wirkliche Kausalität ausser sich sich zuzuschreiben.“ (Das System der Sittenlehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 4, 89) [Was ist nun diese eigene Kausalität außer sich? Mein empirisches Ich? Mein reines Ich, sich manifestierend auf einer empirischen Stufe?] Kein intelligibler Fatalismus: „Die Sache verhält demnach sich so: wird auf die Anforderung des Gesetzes [Sittengesetzes] fortdauernd reflektiert, bleibt sie uns vor Augen, so ist es unmöglich, nicht nach ihr zu handeln, und ihr zu widerstehen. Verschwindet sie uns, so ist es unmöglich, nach ihr zu handeln. In beiden Fällen also herrscht Notwendigkeit; und wir scheinen hier in einen intelligiblen Fatalismus, nur von einem niederen Grade, als der gewöhnliche, zu geraten.“ […] „Dieses System ist schon abgewendet durch die nicht unwichtige Einsicht, dass das Sittengesetz gar nicht so etwas ist, welche ohne alles Zutun in uns sei, sondern dass es erst durch uns selbst gemacht wird.“ […] „Der Anschein des Fatalismus verschwindet sogleich, wenn man darauf merkt, dass es ja von unserer Freiheit abhänge, ob jenes Bewusstsein fortdauere, oder sich verdunkele.“ (Das System der Sittenlehre. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 4, 192) Freiheit und Interpersonalität, Anerkennung als Grundlage des Rechts „Das Verhältnis freier Wesen zueinander ist demnach notwendig auf folgende Weise bestimmt, und wird gesetzt, als so bestimmt: Die Erkenntnis des einen Individuums vom anderen ist bedingt dadurch, dass das andere es als ein freies behandle (d. i. seine Freiheit beschränke durch den Begriff der Freiheit des ersten). Diese Weise der Behandlung aber ist bedingt durch die Handelsweise des ersten gegen das andere; diese durch die Handelsweise und die Erkenntnis des anderen, und so ins Unendliche fort. Das Verhältnis freier Wesen zueinander ist daher das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln. Der aufgestellte Begriff ist höchst wichtig für unser Vorhaben, denn auf demselben beruht unsere ganze Theorie des Rechtes.“ (Grundlage des Naturrechts. Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. 3, 44)