Der Weg zur Wirklichkeit Die Teilübersetzung für Seiteneinsteiger Bearbeitet von Roger Penrose, Anita Ehlers 1. Auflage 2010. Taschenbuch. XXXVI, 357 S. Paperback ISBN 978 3 8274 2341 2 Format (B x L): 12,7 x 19 cm Weitere Fachgebiete > Mathematik > Mathematik Allgemein > Populäre Darstellungen der Mathematik Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. 2 Ein alter Satz und eine moderne Frage 2.1 Der Satz des Pythagoras Wenden wir uns der Geometrie zu und fragen: Was sind eigentlich die im vorhergehenden Kapitel erwähnten unterschiedlichen „Geometrien“? Erinnern wir uns zunächst an unsere Begegnung mit Pythagoras und den berühmten nach ihm benannten Lehrsatz:1 In jedem rechtwinkligen Dreieck ist der Flächeninhalt des Quadrats über der Hypotenuse (das ist die dem rechten Winkel gegenüberliegende Seite) gleich der Summe der Flächeninhalte der Quadrate über den Katheten, den anderen Seiten (Abb. 2.1). Mit welchem Grund halten wir diese Behauptung für wahr? Wie lässt sich der Satz des Pythagoras „beweisen“? Es gibt viele Beweise, von denen ich hier zwei führen möchte, die besonders klar sind und jeweils einen eigenen Schwerpunkt setzen. Beim ersten Beweis betrachten wir das in Abb. 2.2 dargestellte Kachelmuster aus zwei unterschiedlich großen Quadraten. Das Muster lässt sich „offensichtlich“ beliebig _____________ 1 Historisch gesehen ist völlig unklar, wer als Erster die heute als Satz des Pythagoras bekannte Aussage bewiesen hat (Fußnote 1 in Kap. 1). Anscheinend haben die alten Ägypter und Babylonier zumindest viele Beispiele für diesen Satz gekannt. Über die Rolle des Pythagoras und seiner Anhänger können wir nur Vermutungen anstellen. 40 Der Weg zur Wirklichkeit Abb. 2.1 Der Satz des Pythagoras: Bei jedem rechtwinkligen Dreieck ist die Fläche des Quadrats über der Hypotenuse c gleich der Summe der Flächen der Quadrate über den Katheten a und b. Abb. 2.2 Eine Überdeckung der Ebene durch Kopien zweier Quadrate unterschiedlicher Größe. Abb. 2.3 Die Mittelpunkte beispielsweise der großen Quadrate bilden die Kreuzungspunkte eines Gitters aus größeren Quadraten, das den Ausgangsquadraten gegenüber gekippt ist. 2 Ein alter Satz und eine moderne Frage 41 fortsetzen, und man kann die ganze Ebene ohne irgendwelche Lücken oder Überlappungen mit einem solchen Muster überdecken. Die Wiederholbarkeit des Musters wird noch klarer, wenn wir die Mittelpunkte der größeren Quadrate markieren und als Ecken eines Gitters von etwas größeren, „gekippten“ Quadraten sehen (Abb. 2.3). Dieses Gitter überdeckt sicherlich die gesamte Ebene. Jedes einzelne der gekippten Quadrate ist genau gleich markiert, und die Markierungen eines jeden lassen die des ursprünglichen Systems von zwei Quadraten erkennen. Dasselbe gilt, wenn wir nicht die Mittelpunkte der größeren der beiden Quadrate des ursprünglichen Systems wählen, sondern irgendeinen beliebigen Punkt zusammen mit allen ihm entsprechenden Punkten des Musters. Das neue Gitter gleicht haargenau dem ersten, ist ihm gegenüber aber (ohne es zu drehen) verschoben – eine Veränderung, die wir Translation nennen. Der Einfachheit zuliebe wählen wir als Ausgangspunkt ohne Beschränkung der Allgemeinheit eine der Ecken des ursprünglichen Systems (Abb. 2.4). Die Fläche eines der größeren gekippten Quadrate ist offensichtlich gleich der Summe der Flächen der beiden kleineren Quadrate – die Teile der gekippten Quadrate, die sich durch die Markierungen dieses größeren Quadrats ergeben, lassen sich für jeden Ausgangspunkt ohne Drehung so verschieben, dass sie die beiden kleineren Quadrate ergeben (z. B. Abb. 2.5). Außerdem geht aus Abb. 2.4 hervor, dass die Seite des großen gekippten Quadrats die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks ist, dessen andere Seiten so lang sind wie die Seiten der beiden kleineren Quadrate. Damit haben wir den Satz des Pythagoras bewiesen: Das Hypotenusenquadrat ist gleich der Summe der Kathetenquadrate. 42 Der Weg zur Wirklichkeit Abb. 2.4 Das Gitter der gekippten Quadrate lässt sich so verschieben, dass die Kreuzungspunkte des gekippten Gitters mit Kreuzungspunkten des ursprünglichen Musters zusammenfallen, und wie das zeigt, sind die Seiten jedes der gekippten Quadrate genau so lang wie die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks (hier schattiert), dessen andere Seiten gleich den Seiten der ursprünglichen Quadrate sind. Abb. 2.5 Unabhängig davon, welcher Punkt als Eckpunkt des gekippten Quadrats gewählt wird, schneiden die ursprünglichen Quadrate das gekippte Quadrat in Teile, die zusammen genauso groß sind wie die beiden kleineren Quadrate. Dieser einfache Beweis enthält alles, was ein Beweis dieses Satzes braucht – und mehr noch, er liefert einen einsichtigen „Grund“ für seine Wahrheit, was keineswegs selbstverständlich ist, denn ein Beweis kann auch rein formal sein und aus einer Folge nicht klar motivierter logischer Schritte bestehen. Man beachte jedoch, dass in diesen Beweis stillschweigend mehrere Annahmen eingegangen 2 Ein alter Satz und eine moderne Frage 43 sind. Nicht die unwichtigste ist die Voraussetzung, dass das scheinbar ganz einfache Muster der sich wiederholenden Quadrate in Abb. 2.3 oder auch in Abb. 2.6 geometrisch möglich ist – oder, noch wichtiger, dass ein Quadrat geometrisch möglich ist. Was meinen wir denn überhaupt mit einem „Quadrat“? Wir stellen uns ein Quadrat in der Regel als eine ebene Figur vor, deren Seiten alle gleich lang sind und deren Winkel alle rechte Winkel sind. Was ist ein rechter Winkel? Nun, da können wir uns zwei Geraden vorstellen, die einander in einem Punkt so schneiden, dass vier gleiche Winkel entstehen. Jeder dieser gleichen Winkel ist dann ein rechter Winkel. Versuchen wir uns jetzt an der Konstruktion eines Quadrats. Man nehme drei gleich lange Strecken AB, BC und CD, wobei ABC und BCD rechte Winkel sind und D und A wie in Abb. 2.7 auf derselben Seite der Strecke BC liegen. Dann stellt sich die Frage: Ist AD genauso lang wie die anderen drei Strecken? Mehr noch, sind die Winkel DAB und CDA ebenfalls rechte Winkel? Sicher sind diese Winkel gleich, denn die Abbildung ist in Bezug auf rechts und links symmetrisch, aber sind sie auch wirklich rechte Winkel? Das scheint uns nur deshalb offensichtlich, weil Abb. 2.6 Das vertraute Gitter aus gleich großen Quadraten. Woher wissen wir, dass es existiert? 44 Der Weg zur Wirklichkeit Abb. 2.7 Zum Versuch, ein Quadrat zu konstruieren. Man nehme ABC und BCD als rechte Winkel und AB = BC = CD. Folgt dann, dass DA die gleiche Länge hat wie sie und DAB und CDA ebenfalls rechte Winkel sind? wir mit Quadraten vertraut sind; vielleicht auch, weil wir uns aus unserer Schulzeit an eine auf Euklid zurückgehende Feststellung erinnern, wonach die Seiten BA und CD „parallel“ sein müssen und „Stufenwinkel“, wie sie entstehen, wenn eine Gerade ein Parallelenpaar schneidet, gleich sind. Dann also ist der Winkel DAB in Abb. 2.7 gleich dem Winkel EDC, der ADC ergänzt (wobei E ein Punkt der Geraden ADE ist), und auch, wie oben bemerkt, gleich dem Winkel ADC. (Die Winkel ADC und EDC heißen übrigens zueinander komplementär.) Nun kann ein Winkel (ADC) nur dann gleich seinem Komplement (EDC) sein, wenn er ein rechter Winkel ist. Wir müssen auch beweisen, dass die Seite AD genauso lang ist wie BC, aber auch das folgt beispielsweise aus den Eigenschaften einer die Parallelen AB und CD schneidenden Gerade. Wir können also wirklich aus einer solchen euklidischen Argumentation schließen, dass es Quadrate, d. h. Figuren mit gleich langen Seiten und rechten Winkeln, gibt. Darin steckt jedoch ein großes Problem. 2 Ein alter Satz und eine moderne Frage 2.2 45 Die euklidischen Postulate Als Euklid seine geometrischen Begriffe entwickelte, achtete er sorgfältig auf die Voraussetzungen, auf die er seine Beweise gründete.2 Insbesondere unterschied er sorgfältig jene Behauptungen, die er Axiome nannte – er hielt sie für selbstverständlich wahr – und die im Wesentlichen definieren, was beispielsweise mit Punkt und Gerade gemeint ist, von seinen fünf Postulaten, also Annahmen, deren Gültigkeit ihm weniger gesichert schien, die jedoch anscheinend für die Geometrie unserer Welt gelten. Die letzte dieser Annahmen, also das fünfte euklidische Postulat, galt immer als weniger offensichtlich als die anderen vier, und man meinte viele Jahrhunderte lang, es müsse sich mithilfe der anderen offensichtlicheren Postulate beweisen lassen. Euklids fünftes Postulat wird gewöhnlich als Parallelenpostulat bezeichnet, und so nenne ich es auch hier. Bevor wir das Parallelenpostulat erörtern, lohnt es sich, die anderen vier Postulate zu betrachten. Zunächst geht es dabei um die Geometrie der (euklidischen) Ebene – später betrachtete Euklid auch den dreidimensionalen Raum. Die Grundelemente der ebenen euklidischen Geometrie sind Punkte, Geraden und Kreise. Hier verstehe ich „gerade Linie“ (oder einfach „Gerade“) als in beiden Richtungen unendlich ausgedehnt; geht es um ein gerades Gebilde endlicher Länge, so spreche ich von einem „Geradenabschnitt“ oder einer „Strecke“. Euklids erstes Postulat besagt im Wesentlichen, _____________ 2 Trotz aller großen Sorgfalt verbergen sich in Euklids Werk Annahmen, die im Wesentlichen mit jenen Fragen zu tun haben, die wir heute als „topologisch“ bezeichnen. Für Euklid und seine Zeitgenossen wären sie „offensichtlich“ gewesen. Erst viele Jahrhunderte später, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, haben Mathematiker, besonders Hilbert und seine Kollegen, diese unerwähnten Annahmen bemerkt. Ich lasse sie im Folgenden außer Acht. 46 Der Weg zur Wirklichkeit dass es zu zwei Punkten genau eine Verbindungsgerade gibt. Sein zweites Postulat behauptet, dass man jeden Geradenabschnitt unbegrenzt fortsetzen kann. Sein drittes Postulat behauptet, dass jeder Punkt der Mittelpunkt eines Kreises mit beliebigem Radius sein kann, und sein viertes Postulat schließlich besagt, dass alle rechten Winkel einander gleich sind.3 Wir modernen Menschen finden einige dieser Postulate, besonders das vierte, merkwürdig, aber wir sollten bedenken, wie Euklid auf die Gedanken kam, die seiner Geometrie zugrunde liegen. Es ging Euklid hauptsächlich um die Bewegung idealisierter starrer Körper und den Begriff der Kongruenz, der dann ins Spiel kommt, wenn ein solcher idealisierter starrer Körper mit einem anderen zur Deckung gebracht wird. Die Gleichheit der rechten Winkel zweier Körper hatte mit der Möglichkeit zu tun, einen Körper so zu bewegen, dass die Geraden, die einen der rechten Winkel bilden, mit den Geraden zusammenfallen, die den anderen rechten Winkel bilden. Im Wesentlichen behauptet das vierte Postulat die Isotropie und Homogenität des Raums, denn diese Eigenschaften garantieren, dass eine Figur an einem Ort „dieselbe“ (im Sinne der Kongruenz) geometrische Form hat wie an einem anderen. Das zweite und das dritte Postulat erfassen den Gedanken, dass der Raum unendlich ausgedehnt ist und keine „Lücken“ aufweist, während das erste das Wesen eines Geradenabschnitts erfasst. Obwohl Euklids Art der Betrachtung der Geometrie sich von unserer heutigen Betrachtungsweise unterscheidet, enthalten die vier ersten Postulate im Grunde unseren heutigen Begriff eines (zweidimensionalen) metrischen Raums, der vollständig homogen und _____________ 3 Siehe z. B. Thomas (1939). Vgl. auch Schutz (1997), der eine schöne axiomatische Darstellung von Minkowskis vierdimensionaler Raumzeitgeometrie gibt. 2 Ein alter Satz und eine moderne Frage 47 isotrop und unendlich ausgedehnt ist. Dieses Bild entspricht recht genau dem Bild der modernen Kosmologie von der großräumigen Struktur des Universums. Und das Wesen des fünften Postulats, des Parallelenpostulats? Es besagt in Euklids Formulierung, dass in der Ebene zwei Geradenabschnitte a und b, die beide eine dritte Gerade c schneiden, sich in ihren Verlängerungen auf derjenigen Seite von c schneiden, auf der die Summe der Innenwinkel kleiner ist als zwei rechte Winkel (Abb. 2.8a). Eine äquivalente Form diese Postulats (das gelegentlich auch Playfair-Axiom genannt wird) sagt aus, dass es zu einer beliebigen Geraden und zu jedem Punkt, der nicht auf dieser Geraden liegt, genau eine eindeutig bestimmte Gerade durch diesen Punkt gibt, die parallel ist zur ersten Geraden (Abb. 2.8b). Bei dieser Formulierung sind die „parallelen“ Geraden zwei Geraden, die in derselben Ebene liegen und einander nicht schneiden (man erinnere sich, dass ich mit „Gerade“ ein unendlich ausgedehntes Gebilde meine und nicht Euklids „Geradenabschnitte“).[2.1] Mithilfe des Parallelenpostulats können wir angeben, welche Eigenschaft eine Figur haben muss, damit sie ein Quadrat ist. Wenn eine Gerade ein Geradenpaar so schneidet, dass die Summe der Innenwinkel auf einer Seite der schneidenden Geraden zwei rechte Winkel beträgt, lässt sich zeigen, dass die Geraden des Paars parallel sind. Mehr noch, es folgt unmittelbar, dass jede andere das Parallelenpaar schneidende Gerade genau dieselbe Winkeleigenschaft hat. Das ist im Grunde genau das, was wir oben für die Konstruktion des Quadrats gebraucht haben. Wir brauchen also in der Tat gerade das Parallelenpostulat, _____________ ☺ [2.1] Man zeige, dass Playfairs Behauptung über die Eindeutigkeit der Parallelen direkt aus Euklids Form des Parallelenpostulats folgt. 48 Der Weg zur Wirklichkeit wenn wir zeigen wollen, dass unsere Konstruktion ein Quadrat ergibt, dessen Seiten alle gleich lang und dessen Winkel alle rechte Winkel sind. Ohne das Parallelenpostulat können wir nicht beweisen, dass Quadrate (in denen, wie gewöhnlich, alle Innenwinkel rechte Winkel sind) überhaupt existieren. Es mag als pure mathematische Pedanterie erscheinen, wenn wir uns darum sorgen, welche Annahmen gemacht werden müssen, um die so offensichtliche Existenz eines Quadrats zu beweisen. Warum sollen wir uns überhaupt mit solchen Fragen abgeben, wenn doch ein „Quadrat“ einfach diese vertraute, uns allen bekannte Figur ist? Nun, wir werden bald sehen, dass Euklid außerordentlichen Scharfsinn bewies, als er sich solche Fragen stellte. Euklids Pedanterie hat mit einem tiefen Problem zu tun, das die Geo- Abb. 2.8 (a) Euklids Parallelenpostulat. Die Gerade c schneidet die Geradenabschnitte a und b so, dass die Innenwinkel dort, wo a beziehungsweise b auf c treffen, zusammen weniger als zwei rechte Winkel ergeben. Dann schneiden sich a und b, wenn sie hinreichend weit verlängert werden. (b) Playfairs Parallelenaxiom. Wenn in einer Ebene mit der Geraden a ein Punkt P nicht auf dieser Geraden liegt, dann gibt es in der Ebene genau eine Parallele zu a, die durch P geht.