Ausgabe 3/2011 Titelthema Balance zwischen Erforderlichkeit und Angemessenheit finden Orientierungshilfe „Technische Anforderungen an die Gestaltung und den Betrieb von Krankenhausinformationssystemen“ Für KIS bzw. KIS- Komponenten bedarf es einer Konfiguration des Systems, die im Betrieb die datenschutzrechtlichen Anforderungen berücksichtigt. Orientierungshilfe dazu wollen die Maßnahmen „Technische Anforderungen an die Gestaltung und den Betrieb von Krankenhausinformationssystemen“ geben. Experten aus Wissenschaft, Krankenhaus-Anwendung und Industrie erörtern sie konstruktiv-kritisch. Die Orientierungshilfe „Technische Anforderungen an die Gestaltung und den Betrieb von Krankenhausinformationssystemen“ haben die Arbeitskreise „Technik“ sowie „Gesundheit und Soziales“ der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder erarbeitet. Sie beschreibt Maßnahmen zur technischen Umsetzung der bestehenden datenschutzrechtlichen Regelungen und der Vorgaben zur ärztlichen Schweigepflicht beim Einsatz von Krankenhausinformationssystemen. Der datenschutzkonforme Einsatz eines Krankenhausinformationssystems erfordert in erster Linie bestimmte Funktionalitäten in den eingesetzten Produkten. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Hersteller entsprechender Produkte angesprochen. Deren Verantwortung erstreckt sich darauf, dass ein KIS bzw. einzelne KIS-Komponenten so gestaltet sind, dass zur Umsetzung datenschutzrechtlicher Vorgaben geeignete Funktionen und Mechanismen zur Verfügung stehen. Ergänzend bedarf es einer Konfiguration des Systems, die im Betrieb die datenschutzrechtlichen Anforderungen berücksichtigt. Dies liegt in der Verantwortung der Betreiber der Systeme als die datenschutzrechtlich verantwortlichen Stellen. Die Anforderungen werden daher nach drei Kategorien unterschieden: ● Anforderungen, die Konzeption und Gestaltung der Produkte durch die Hersteller betreffen (H), ● Anforderungen, die den Einsatz der Produkte im Krankenhaus betreffen und auf die Konfiguration und Nutzung durch den Anwender/Betreiber zielen (B) und 20 ● Anforderungen, die sich an Hersteller und Betreiber gemeinsam richten, da eingeschätzt wird, dass sie eine krankenhausindividuelle Anpassung in Zusammenarbeit des Herstellers und des Betreibers erfordern (HB). Weiterhin wird differenziert zwischen zwingenden Anforderungen („muss“), Anforderungen ohne deren Einhaltung ein datenschutzgerechter Betrieb eines KIS wesentlich erschwert wird („soll“) und Anforderungen die allgemein einen datenschutzfreundlichen Einsatz unterstützen („sollte“). Die Maßnahmen nehmen auf die in Teil I der Orientierungshilfe „Krankenhaus-Informationssysteme (KIS) datenschutzgerecht gestalten und betreiben“ dargestellten normativen Eckpunkte zur Zulässigkeit von Zugriffen auf elektronische Patientendaten im Krankenhaus Bezug und geben Hinweise zu einer datenschutzkonformen Gestaltung und einem datenschutzgerechten Betrieb von Krankenhausinfor mationssystemen. Die Autoren wollen Wissenschaftler, Krankenhaus-IT-Anwender und IndustrieVertreter zur Diskussion über die Empfehlungen der Datenschutzbeauftragten des Bundes, der Länder und der Kirchen zur Gestaltung und zum Betrieb von Krankenhausinformationssystemen einladen. Zu wenige Antworten auf zentrale Fragen aus der Praxis Professor Dr. Paul Schmücker, Hochschule Mannheim, Institut für Medizi nische Informatik ([email protected]) Die Empfehlungen der Datenschutzbeauftragten des Bundes, der Länder und Kirchen sind grundsätzlich zu begrüßen. Sie bieten für die Patienten einen umfangreichen Schutz ihrer persönlichen medizinischen Daten und den Mitarbeitern der Krankenhäuser, den Beratern und den Entwicklern von Krankenhaus-Software detaillierte Empfehlungen zur Umsetzung des Datenschutzes bei der Gestaltung und dem Betrieb von Krankenhausinformationssystemen. Die Leser fragen sich allerdings, warum die Empfehlungen nicht für alle Einrichtungen des Gesundheitswesens mit patientenorientierten Informationssystemen erarbeitet wurden. Von den Datenschutzbeauftragten wurden die normativen Eckpunkte zur Zulässigkeit von Zugriffen auf elektronische Patientendaten im Krankenhaus und die technischen Anforderungen an die Gestaltung und den Betrieb von Krankenhausinformationssystemen erarbeitet. Die neuen Datenschutzempfehlungen gehen weit über die bisherigen Anforderungen und Realisierungen hinaus. Bisher hat man sich bei der Rechtevergabe für den Zugriff auf und die Arbeit mit elektronischen Patientenakten im Wesentlichen auf Benutzerkategorien (z.B. Ärzte, Pflegekräfte, Sekretärinnen) und Fachabteilungen begrenzt. In den neuen Datenschutzempfehlungen betrachtet man den Datenschutz bis auf die Ebene der funktionsbezogenen Organisationseinheiten. Bei diesen handelt es sich um die kleinsten organisatorischen Behandlungseinheiten innerhalb eines Krankenhauses, in denen Patienten von einer oder interdisziplinär von mehreren Fachrichtungen (z.B. Fachabteilung, Klinik, Station, Gruppe von Konsiliarärzten) behandelt werden. Patienten und Krankenhausmitarbeiter können mehreren funktionsbezogenen Organisationseinheiten zugeordnet werden. Außerdem wird zwischen aktuellen Behandlungsdaten und abgeschlossenen Behandlungsfällen (Archivdaten) differenziert. Teilweise neu werden in den Empfehlungen Verarbeitungskontexte (z.B. Patientenaufnahme, Behandlung, Pflege, Qualitätsmanagement), Rollen (z.B. administrative Aufnahmekraft, Bereitschaftsdienst, Anästhesist, Belegarzt, Pflegekraft, Konsiliar, Anwen- Titelthema dungsadministration, Berechtigungsadministration), Datenarten (z.B. Stammdaten, medizinische oder pflegerische Daten) und der Status der Behandlung (z.B. in Behandlung, Behandlung abgeschlossen, Abrechnung noch nicht abgeschlossen) eingeführt. Der Patient kann der Hinzuziehung von Vorbehandlungsdaten widersprechen. In heterogenen Krankenhausinformationssystemen sollen redundante Datenhaltungen möglichst vermieden werden, in diesem Falle werden Referenzen auf die zuerst gespeicherten Daten empfohlen. Auf elektronischen Speichermedien sollten die Patientendaten möglichst verschlüsselt abgelegt werden. Ein weiterer Punkt ist die vollständige Protokollierung aller DV-Aktivitäten in den patientenorientierten DV-Anwendungssystemen. Während die Zugriffe auf Patientendaten bisher häufig durch die Dokumentation von Aufnahmen, Verlegungen oder Entlassungen gesteuert wurden, sollen künftig die Zugriffe verstärkt durch diagnostische, therapeutische, pflegerische und konsiliarische Maßnahmen geregelt werden. Somit müssen in den Krankenhausinformationssystemen demnächst auch vermehrt diagnostische, therapeutische, pflegerische und konsiliarische Maßnahmen elektronisch angefordert werden. Zur Regelung der Zugriffsrechte und partiellen automatischen Aktivierung dieser sollen Behandlungspfade und administrative Geschäftsprozesse in der Fallakte hinterlegt und Dienst- und Behandlungspläne berücksichtigt werden. Nun stellt sich die Frage, ob die vorgelegten sehr differenzierten Empfehlungen, u. a. ein sehr umfangreiches Rollen- und Berechtigungsmanagement, eine Historienverwaltung der Rechte, eine umfangreiche Protokollierung der Aktivitäten der Benutzer und des administrativen Personals, in den patientenorientierten Software-Komponenten und in den DV-Anwendungssystemen vor Ort abbildbar sind. Diese Frage kann mit Sicherheit erst die Zukunft endgültig beantworten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Datenschutzkonzepte in der Vergangenheit nur schwer komplett mit der eingesetzten Software realisiert werden konnten und Anpassungswünsche bezüglich der Datenschutzanforderungen nur sehr langsam von den Firmen realisiert wurden. Umfangreiche Erweiterung der KIS-Komponenten Die Forderungen der Datenschutzbeauftragten werden zwangsläufig zu einer um- fangreichen Erweiterung der rechnerunterstützten Komponenten der Krankenhausinformationssysteme führen und zahlreiche Konsequenzen für die lokale Adaption der Anwendungssysteme haben. In heterogenen Systemarchitekturen werden die systemübergreifende Bereitstellung, Übergabe und Übernahme von Zugriffsrechten zu einer immensen Herausforderung werden. Ein Punkt aus den Empfehlungen sollte besonders erwähnt werden: Die lebenslange Krankenversicherungsnummer darf nicht als Ordnungskriterium von Datenbanken oder als universelle Patientennummer im MasterPatient-Index verwendet werden, um eine umfassende Verknüpfbarkeit von Datenbeständen zu verhindern. Damit ist die Illusion dahin, die fehlerbehaftete und aufwendige Patientenidentifikation abzulösen, die an zahlreichen Quellen entstehenden Patientendaten sicher und fehlerfrei zusammenzuführen und dafür die lebenslange Krankenversicherungsnummer zu übernehmen. Leider gehen die vorgelegten Konzepte zu wenig auf den einrichtungsübergreifenden Informationsaustausch ein. Auch wird der Datenschutz bei klinischen Studien nicht ausführlich behandelt. Ferner berücksichtigen die Empfehlungen zu wenig zentrale Fragen aus der Praxis. So findet man beispielsweise keine Aussage, ob ein Arztbrief automatisch ohne ausdrückliche Zustimmung des Patienten an den Einweiser und Nachbehandler gesendet werden darf, wie das Alter der Patientenakte bestimmt wird oder wie lange die einzelnen Benutzergruppen auf die elektronischen Patientendaten zugreifen dürfen. Leider fehlen in der technischen Konzeption auch standardisierte Datensatzbeschreibungen für die Protokollierung der DVAktivitäten. In diesem Fall könnte man Standard-Software für die vielfältigen Auswertewünsche der Protokolldaten entwickeln. Hierdurch könnte man sicherlich hohe Aufwände und Kosten sparen, wenn nicht jede Firma und jedes Krankenhaus Eigenentwicklungen für die Auswertungen der Protokollierungen durchführen muss. Aus den vorgelegten Konzepten ist leider nicht eindeutig erkennbar, ob es sich dabei lediglich um Empfehlungen handelt oder ob den Nutzern von klinischen Informationssystemen Strafen oder andersartige Sanktionen bei Nichtbeachtung der Datenschutzanforderungen drohen. www.hs-mannheim.de Ausgabe 3/2011 Initiative mit einer gewissen normativen Kraft Prof. Dr. Klaus Pommerening, Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik Universitätsmedizin der JohannesGutenberg-Universität, Mainz; GMDS-AG „Datenschutz“ ([email protected]; [email protected]) Welche Chancen bieten die „Technischen Anforderungen an den KIS-Betrieb für Krankenhäuser“ hauptsächlich? Die gegenwärtigen KIS bilden die rechtlichen Anforderungen der ärztlichen Schweigepflicht und die daraus resultierenden besonders strikten Datenschutz-Anforderungen bisher nicht ausreichend ab. Das wissen Hersteller und Betreiber sehr gut und äußern auch immer wieder ihren prinzipiellen guten Willen, die Defizite zu beheben. Wenn es aber konkret wird, schieben Hersteller und Betreiber sich oft gegenseitig den schwarzen Peter zu: „Die Hersteller bieten die nötigen Funktionen ja gar nicht an!“ – „Die Betreiber fragen die nötigen Funktionen ja gar nicht nach!“ Als dahinter liegende Motive kann man bei Herstellern erkennen, dass der Einbau dieser Funktionen in ihr KIS Kosten verursachen würde, aber ein Wettbewerbsvorteil nicht unmittelbar erwartet wird. Die Weichen für die Systemauswahl sind ja langfristig gestellt, das Krankenhaus kann nicht mal eben schnell zu einem anderen Anbieter wechseln. Bei den Betreibern – den Krankenhaus-IT-Abteilungen – besteht die Furcht, dass die nur mit Mühe beherrschte Komplexität des KIS durch die Berücksichtigung weiterer restriktiver Rahmenbedingungen noch wachsen würde, und das bei chronisch unzureichender Ressourcenausstattung. Ein gerade mal funktionierendes System umzukrempeln, könnte Harakiri bedeuten. Darüber hinaus haben Sicherheitsmaßnahmen im KIS wie überall im Leben keine attraktiven Auswirkungen, man bemerkt sie nicht positiv, wenn sie funktionieren, und sie sind daher nicht geeignet, Begeisterung zu wecken. Vor diesem Hintergrund kann eine externe Initiative, die allen Betei- 21