1.7 Die wirksame Stille 63 1.7 Die wirksame Stille Müssen Videofilme mit Musik und anderen Klängen ununterbrochen begleitet werden? Nicht unbedingt. Sowohl im Leben als auch in Theaterstücken oder Spielfilmen kommen Situationen vor, bei denen Ton völlig überflüssig und sogar störend ist. Erforderliche Pausen zwischen gesprochenen Wörtern und Sätzen, formale Unterbrechungen beim Wechsel verschiedener musikalischer Darbietungen sowie natürliche Pausen beim Ausklang des vorangegangenen Tons, empfindet man als selbstverständlich und logisch. Da derartige Stille - Atempause, expressives Verstummen der Rede, unerlässliche Ruhepause zwischen zwei Klängen - einen Bestandteil des anderen Tons bildet, wird sie kaum wahrgenommen. Art und Gesetzmässigkeit des Tons bestimmen den Einsatz, Sinn und Dauer solcher Pausen. Je nach der gegebenen Situation kann ein Schweigen verschiedene Bedeutung bekommen: das Suchen einer passender Antwort, Abwarten der Reaktion der beteiligten Personen, Bestürzung durch kritisches Ereignis, gespannte Erwartung von bedeutungsvoller Aktion. Dramatische Pause Die Stille im Dialog in Form längerer Pausen, bedeutsam eingelegtes Verstummens oder unausgesprochener Worte stimuliert bestimmte Emotionen und damit verstärkt, schwächt ab oder vervollkommnet den psychologischen Inhalt der Szene. Im Leben und auch in Dramen gibt es Situationen, während der man das, was einen bewegt, nicht in Worten ausdrucken kann. Dadurch vermittelt eine Redepause ein Gefühl, für das es keine Worte gibt. Stille hat dann einen wesentlich grösseren emotionellen Wert als Worte. Bekanntlich sind Menschen in kritischen Situationen oft nicht dazu fähig, klar und fliessend zu sprechen und die einfachsten Sätze zu formulieren; sie sind „einfach sprachlos“. Der verborgene, unausgesprochene Teil des Dialogs einer Szene wird in diesem Augenblick zu einem wirksamen Mittel, das den Ausdruck vertieft, die Spannung erhöht und akzentuiert. Ein Beispiel, wie man den Zuschauer mit dem wirkungsvollen Einsatz der Stille im Atem halten kann: Ein Junge möchte seine Probleme mit Selbstmord lösen. Er geht ins Badezimmer, wo er den Ärmel hochstreift und eine Rasierklinge zur Ader langsam ansetzt. Der vorherige Ton verstummt, es ist nur das Tröpfeln des undichten Hahns zu hören. Die Stille, die durch das Geräusch der Wassertropfen unterbrochen wird, steigert übermässig die Erwartung was jetzt kommt. Wenn es zum Durchschneiden der Ader kommt, kann diese Tat durch einen scharfen Ansatz vom starken und schrillenden Ton markant betont werden. In anderem Fall, wenn der Junge nach einem Zögern die Rasierklinge doch weglegt, kann die Än- 64 1.7 Die wirksame Stille derung der ursprünglichen Absicht mit einem allmählichen Einsatz einer feinen, optimistisch klingenden Musik unterstützt werden. Die Stille als Ausdrucksmittel In der Tondramaturgie nimmt die Stille eine Sonderstellung ein und kann zahlreiche, mannigfaltige und dramaturgisch wichtige Funktionen erfüllen. Absichtlich eingesetzt, kann sie verschiedenste Emotionen hervorrufen, Seelenzustände ausdrücken und einen ästhetischen, darstellenden Wert erlangen. Als ein besonderes Kunstmittel ruft Stille Unruhe hervor und in der Regel kommt sie vor der Kulmination der zugespitzten Situationen vor. Eine in die Vertonung wissentlich eingefügte Stille kann die dramatische Spannung intensivieren und das Bildgeschehen potenzieren. Die an sich allein neutrale Stille bekommt im Zusammenhang mit der Bildhandlung verschiedene Ausdruckswerte, wie beispielsweise die verdächtige, ominöse oder Unheil verkündende Ruhe, die Stille des Abwartens (die Gegner taxieren ihre Kräfte), peinliche Stille voller Demütigung und Erniedrigung, ruhige Stille voller Behaglichkeit und Erholung, Todesstille, Stille der Einsamkeit, die Stille bei sensationellen Vorgängen und Darbietungen (ungewöhnliche Angebote an der Versteigerung) und die Stille als dramatischer Kontrapunkt zu lebhaften Bildszenen. Die Stille der Matrosen in gesunkenem Unterseeboot oder der sich in einem verschütteten Stollen befindlichen Kumpel, die an eine Hilfe warten, ruft Angst und Mitleid hervor. Im Allgemeinen erregt Stille in der Vertonung eher Gefühle wie Unsicherheit, Angst, Unleidlichkeit, Trauer und Depression und wirkt vorwiegend negativ, wie gespannte, verschämte, verdächtige, feindliche, bedrohliche oder Grabesstille. Plötzliche Stille nach dem Höhepunkt einer besonders bewegten Handlung und einem starken Klang, wie beispielsweise einer ausdruckvoller Musik, einem energischen Protest der Streikenden oder intensiven Motorendröhnen bewirkt einen ausserordentlichen Kontrast, der den Abschluss der vorherigen Handlung betont und dem Zuchauer Zeit zum Nachdenken gewährt. Eine Handlungssequenz zeigt zum Beispiel eine wahnsinnige Fahrt eines Motorradfahrers auf der kurvenreichen Strasse bei verminderter Sicht; ihr Tempo steigert sich und Zuschauer befürchten ein schlimmes Ende. Eine ausgefallene Musikbegleitung graduiert die spannende Bilderfolge bis sie plötzlich im Moment des schrecklichen Unfalls aufhört; die Stille oder leise Umweltgeräusche akzentuieren den tragischen Ausgang der halsbrecherischen Fahrt. Es erübrigt sich diese Szene mit Musik zu unterlegen. Mit der Stille lässt ich ein Höhepunkt des Geschehens einleiten. Vor einer Hinrichtung erregt eine Stille mehr Spannung als Musik. Stille wirkt durch ihre innere Dynamik und ihren Kontrast zu dargestelltem Milieu. Durch den Übergang in Stille verstärkt man die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das Bild. Die nun allein wirkende Bildsprache wird prägnanter. Von Zirkusvorstellungen ist bekannt, 1.7 Die wirksame Stille 65 dass das Musikspiel vor einem Hasardauftritt, beispielsweise einem Salto mortale aufhört, nur das schwache Wirbeln der kleinen Trommel betont die angespannte Stille, Konzentration und Erwartung wie die Aktion ausfallen wird. Nach ihrem erfolgreichen Abschluss spielt die Kapelle einen starken Tusch, Zuschauer atmen erleichtert auf und klatschen. Auf gleiche Art lassen sich ähnliche Szenen im Videofilm vertonen. Ein unerwartetes Aussetzen des Tonbestandteils kann ein abruptes Ende bestimmter Handlung symbolisieren. In vielen Kriminalgeschichten wird mit Vorliebe der Effekt des ungeahnten Verstummens der Stimme im Telefon verwendet. Die plötzlich entstandene Stille eindeutig informiert den Zuschauer darüber, dass am anderen Ende etwas Ernstes geschah. Derartige Szene wirkt überzeugender als eine bildliche Mitteilung. Die Stille hat in diesem Fall eine Vermittlungsfunktion, sie ist der Handlungsträger. Grundgeräusche der Stille In unserem Lebensraum existiert kaum eine absolute Stille; die übliche Stille ist eigentlich nie wirklich still. Sie enthält stets ein mehr oder weniger leises Grundgeräusch des Raumes; seine Atmosphäre bestimmt ein kaum definierbares und unwillkürlich empfundenes Geräusch, wie ein leises Surren des Ventilators, Sausen des Windes, Murmeln des Baches. Wenn dieses fehlt, wird die Empfindung der Umwelt nicht vollkommen sein, man hätte das Gefühl, dass man sich in einem toten, lautlosen Raum befindet. Der Mensch ist daran gewöhnt, immer einen wenn auch sehr leisen Grundton zu hören. Dieser Tatsache sollte man in der Videovertonung Rechnung tragen. Stille in der Vertonung bedeutet nicht, dass man den Ton einfach abschaltet. Dann würde der Ton völlig verschwinden und von den Zuschauern als akustisches Loch empfunden werden. Das Fehlen des Grundgeräuschs der Umwelt und auch des Grundrauschens von Verstärkeranlage würden die Wahrnehmung des Raumes und auch der Tonwiedergabe allein erheblich stören. Bei Gestaltung der Stille werden also alle Haupttöne unterdrückt und es bleiben nur ein leises Geräusch des Raumes und das atmosphärische Rauschen. Wenn man die Handlung durch Stille hervorheben will, dann erzielt man das am ehesten durch Zugabe von konkreten, jedoch leisen Nebenklängen. Sie entstehen aber nicht durch die Haupttätigkeiten, sondern sie kommen aus anderen angrenzenden Tonquellen. Beispiel: Zwei Personen führen einen Dialog und auf einmal verstummen sie. Man hört dann entfernte Musik, ein leises Geräusch des Ventilators oder Regens. Der Unterschied in der Lautstärke der Sprache und der Nebentöne unterstreicht die Stille des Haupttons. 66 1.7 Die wirksame Stille Akzentuierte Stille Absichtlich betonte Stille steigert intensiv die dramatische Spannung. Sie wird besonders bei anregenden Szenen angewendet, um Besorgnis auszudrücken oder ängstliche Stimmung zu erzeugen. Stille bildet eine Grundlage, aus der kurze und vereinzelte andere Töne, vorwiegend Geräusche, heraustreten. Diese dürfen jedoch die inhaltliche Kontinuität der Stille nicht voll zerstören oder aufheben. Düsterkeit und Gespenstigkeit der stillen Nachtszenen in der Umgebung eines einzeln stehenden Landhauses lässt sich durch zeitweiliges Aufheulen eines entfernten Hundes, Krächzten der Raben oder Knistern der Holzbalken unterstreichen. Diese vereinzelten Klänge sind jedoch nicht zu laut aufzuführen, sie sollten nur irgendwie nebenbei ertönen, damit sie die Aufmerksamkeit nicht besonders ablenken und die dramatische Situation stören. In Kriminalgeschichten sind abgesonderte Schritte, Geräusche, gedämpfte Bruchstücke der Sprache, die durch unerwarteten Klang wie Niederfall eines Gegenstands, Husten, Telefonklingen unterbrochen werden, sehr beliebt. Ein Beispiel: Die Bildhandlung zeigt, wie ein Schmuggler eine streng bewachte Grenze im Wald passieren will. Es ist dunkel und es herrscht Stille. Die Szene erzeugt Spannung, der Zuschauer verfolgt die Handlung mit erhöhtem Interesse und ist neugierig, ob das gefährliche Unternehmen gelingt. Plötzlich wird die Stille mit einem Knack von einem gebrochenen Ast und bald mit kurzem Geräusch von einem wegrollenden Stein unterbrochen. Dadurch wird die Aufmerksamkeit der Grenzwache geweckt. War es ein Mensch oder nur ein Tier, das vorbeilief? Die kurzen, sekundären Geräusche stören zwar die Stille, jedoch beeinflussen sie ihre formelle Einheit nicht; im Gegenteil, durch ihr nur vereinzeltes Vorkommen betonen sie die Geschlossenheit der Darstellung erheblich. Stille ist hier ein primäres Ausdrucksmittel, das durch zusätzliche Nebengeräusche gut zur Geltung gebracht wird. Tonübergänge Die Entstehung der Stille und ihr Ende, also die Art des Überganges vom klingenden Ton in Stille und umgekehrt, haben dramaturgische Bedeutung. Natürlich und folgerichtig wirkt Stille nach einem ausgeprägten Abschluss, einem tonlichen Höhepunkt, beispielsweise nach dem Finale einer Komposition. Eine plötzliche, scharfe Unterbrechung des Tons ruft Unruhe hervor und die überraschend aufgetretene Stille wirkt intensiver. Das allmähliche Einblenden eines neuen Tons in die Stille hat eine ganz andere Wirkung als ein harter Toneinsatz in voller Lautstärke. Im ersten Fall wird eine beruhigende Wirkung erreicht, behagliche Empfindungen werden geweckt. Die zweite Art wirkt aufrüttelnd und schockierend. Auf diese Weise werden oft zwei Sequenzen getrennt und der Anfang des neuen Handlungsabschnittes verdeutlicht. 1.7 Die wirksame Stille 67 Dauer der Stille Die zeitliche Entwicklung der Stille bestimmt ihren Ausdruck und ihre Wirkung. Eine kurze Pause nach dem Abschluss eines Tons wirkt als sein natürlicher Ausklang, der normalerweise nicht bewusst erfasst wird. Wenn diese Pause eine gewisse Länge überdauert, dann beginnt die dramatische Bindung der Stille mit der Bildhandlung. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wächst, die Stille kommt ihm zu Bewusstsein und er fängt an, nach ihrer Ursache zu forschen. Die dramatische Spannung steigt, der Zwiespalt zwischen Bildhandlung und Stille spitzt sich zu. Länge und Gradation dieser Phase hängen vom Zusammenhang der Stille mit dem Gesehenen und vom inneren Rhythmus der Handlung ab. Die Dauer der Stille und ihre dramatische Wirkung werden vom Szeneninhalt und vom Zusammenhang der optischen und akustischen Empfindungen beeinflusst. Das richtige Dosieren der Stille lässt sich kaum mechanisch festlegen, es wird meist intuitiv geschätzt. Dabei ist die gegenseitige Beziehung von Bild und Ton einander sinnvoll anzupassen. Es kann vorkommen, dass man die Bildszenen verlängern muss, damit die gewollte Spannung erzielt wird. In anderen Fällen kürzt man die Bildpassagen, damit die Stille nicht ermüdend ausfällt. Wenn die Stille einen gewissen Zeitraum überschreitet und nicht mehr mit dem Inhalt der Bildszenen konform ist, beginnt sie zu langweilen und den Gesamteffekt zu mindern. Stille bewusst einsetzen Stille, die als spezielle Art der Vertonung oft unterschätzt wird, spielt in der Tondramaturgie keine untergeordnete Rolle. Man soll mit ihr wie mit anderen Tonbestandteilen zielbewusst arbeiten und sie in die gesamte Konzeption des Videowerkes zweckmässig einreihen. Anderseits soll Stille gerade wegen ihres grossen emotionellen Gehalts vorsichtig und sparsam verwendet werden. Ihre Dauer muss stimmen, damit die Stille dem Zuschauer nicht bewusst wird und sie dadurch nicht ihren gefühlsbetonten Sinn verliert. Stille, die ohne tiefere Begründung nur als zufälliges Mittel zwischen zwei verschiedenen Tonfolgen verwendet wird, setzt die Gesamtwirkung herab. Es ist zweckmässig die Anwendung der Stille in der Vertonung bereits bei der literarischen Vorbereitung des Videofilms zu überlegen und einzuteilen. Dabei soll man die Gefahr meiden in abgedroschene Muster und häufige, unbegründete Wiederholungen abzugleiten. Passend eingereihte und zur Geltung gebrachte Stille hat eine grosse emotionelle Kraft.