1.7 Die wirksame Stille

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1.7 Die wirksame Stille
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1.7 Die wirksame Stille
Müssen Videofilme mit Musik und anderen Klängen ununterbrochen begleitet
werden? Nicht unbedingt. Sowohl im Leben als auch in Theaterstücken oder
Spielfilmen kommen Situationen vor, bei denen Ton völlig überflüssig und sogar
störend ist.
Erforderliche Pausen zwischen gesprochenen Wörtern und Sätzen, formale Unterbrechungen beim Wechsel verschiedener musikalischer Darbietungen sowie
natürliche Pausen beim Ausklang des vorangegangenen Tons, empfindet man als
selbstverständlich und logisch. Da derartige Stille - Atempause, expressives Verstummen der Rede, unerlässliche Ruhepause zwischen zwei Klängen - einen Bestandteil des anderen Tons bildet, wird sie kaum wahrgenommen. Art und Gesetzmässigkeit des Tons bestimmen den Einsatz, Sinn und Dauer solcher Pausen.
Je nach der gegebenen Situation kann ein Schweigen verschiedene Bedeutung
bekommen: das Suchen einer passender Antwort, Abwarten der Reaktion der beteiligten Personen, Bestürzung durch kritisches Ereignis, gespannte Erwartung
von bedeutungsvoller Aktion.
Dramatische Pause
Die Stille im Dialog in Form längerer Pausen, bedeutsam eingelegtes Verstummens oder unausgesprochener Worte stimuliert bestimmte Emotionen und damit
verstärkt, schwächt ab oder vervollkommnet den psychologischen Inhalt der Szene. Im Leben und auch in Dramen gibt es Situationen, während der man das, was
einen bewegt, nicht in Worten ausdrucken kann. Dadurch vermittelt eine Redepause ein Gefühl, für das es keine Worte gibt. Stille hat dann einen wesentlich
grösseren emotionellen Wert als Worte. Bekanntlich sind Menschen in kritischen
Situationen oft nicht dazu fähig, klar und fliessend zu sprechen und die einfachsten Sätze zu formulieren; sie sind „einfach sprachlos“. Der verborgene, unausgesprochene Teil des Dialogs einer Szene wird in diesem Augenblick zu einem
wirksamen Mittel, das den Ausdruck vertieft, die Spannung erhöht und akzentuiert.
Ein Beispiel, wie man den Zuschauer mit dem wirkungsvollen Einsatz der Stille
im Atem halten kann: Ein Junge möchte seine Probleme mit Selbstmord lösen. Er
geht ins Badezimmer, wo er den Ärmel hochstreift und eine Rasierklinge zur Ader langsam ansetzt. Der vorherige Ton verstummt, es ist nur das Tröpfeln des
undichten Hahns zu hören. Die Stille, die durch das Geräusch der Wassertropfen
unterbrochen wird, steigert übermässig die Erwartung was jetzt kommt. Wenn es
zum Durchschneiden der Ader kommt, kann diese Tat durch einen scharfen Ansatz vom starken und schrillenden Ton markant betont werden. In anderem Fall,
wenn der Junge nach einem Zögern die Rasierklinge doch weglegt, kann die Än-
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derung der ursprünglichen Absicht mit einem allmählichen Einsatz einer feinen,
optimistisch klingenden Musik unterstützt werden.
Die Stille als Ausdrucksmittel
In der Tondramaturgie nimmt die Stille eine Sonderstellung ein und kann zahlreiche, mannigfaltige und dramaturgisch wichtige Funktionen erfüllen. Absichtlich
eingesetzt, kann sie verschiedenste Emotionen hervorrufen, Seelenzustände ausdrücken und einen ästhetischen, darstellenden Wert erlangen. Als ein besonderes
Kunstmittel ruft Stille Unruhe hervor und in der Regel kommt sie vor der Kulmination der zugespitzten Situationen vor.
Eine in die Vertonung wissentlich eingefügte Stille kann die dramatische Spannung intensivieren und das Bildgeschehen potenzieren. Die an sich allein neutrale
Stille bekommt im Zusammenhang mit der Bildhandlung verschiedene Ausdruckswerte, wie beispielsweise die verdächtige, ominöse oder Unheil verkündende Ruhe, die Stille des Abwartens (die Gegner taxieren ihre Kräfte), peinliche
Stille voller Demütigung und Erniedrigung, ruhige Stille voller Behaglichkeit
und Erholung, Todesstille, Stille der Einsamkeit, die Stille bei sensationellen
Vorgängen und Darbietungen (ungewöhnliche Angebote an der Versteigerung)
und die Stille als dramatischer Kontrapunkt zu lebhaften Bildszenen. Die Stille
der Matrosen in gesunkenem Unterseeboot oder der sich in einem verschütteten
Stollen befindlichen Kumpel, die an eine Hilfe warten, ruft Angst und Mitleid
hervor. Im Allgemeinen erregt Stille in der Vertonung eher Gefühle wie Unsicherheit, Angst, Unleidlichkeit, Trauer und Depression und wirkt vorwiegend
negativ, wie gespannte, verschämte, verdächtige, feindliche, bedrohliche oder
Grabesstille.
Plötzliche Stille nach dem Höhepunkt einer besonders bewegten Handlung und
einem starken Klang, wie beispielsweise einer ausdruckvoller Musik, einem energischen Protest der Streikenden oder intensiven Motorendröhnen bewirkt einen ausserordentlichen Kontrast, der den Abschluss der vorherigen Handlung betont und dem Zuchauer Zeit zum Nachdenken gewährt. Eine Handlungssequenz
zeigt zum Beispiel eine wahnsinnige Fahrt eines Motorradfahrers auf der kurvenreichen Strasse bei verminderter Sicht; ihr Tempo steigert sich und Zuschauer befürchten ein schlimmes Ende. Eine ausgefallene Musikbegleitung graduiert die
spannende Bilderfolge bis sie plötzlich im Moment des schrecklichen Unfalls
aufhört; die Stille oder leise Umweltgeräusche akzentuieren den tragischen Ausgang der halsbrecherischen Fahrt. Es erübrigt sich diese Szene mit Musik zu unterlegen.
Mit der Stille lässt ich ein Höhepunkt des Geschehens einleiten. Vor einer Hinrichtung erregt eine Stille mehr Spannung als Musik. Stille wirkt durch ihre innere Dynamik und ihren Kontrast zu dargestelltem Milieu. Durch den Übergang in
Stille verstärkt man die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das Bild. Die nun allein wirkende Bildsprache wird prägnanter. Von Zirkusvorstellungen ist bekannt,
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dass das Musikspiel vor einem Hasardauftritt, beispielsweise einem Salto mortale
aufhört, nur das schwache Wirbeln der kleinen Trommel betont die angespannte
Stille, Konzentration und Erwartung wie die Aktion ausfallen wird. Nach ihrem
erfolgreichen Abschluss spielt die Kapelle einen starken Tusch, Zuschauer atmen
erleichtert auf und klatschen. Auf gleiche Art lassen sich ähnliche Szenen im Videofilm vertonen.
Ein unerwartetes Aussetzen des Tonbestandteils kann ein abruptes Ende bestimmter Handlung symbolisieren. In vielen Kriminalgeschichten wird mit Vorliebe der Effekt des ungeahnten Verstummens der Stimme im Telefon verwendet.
Die plötzlich entstandene Stille eindeutig informiert den Zuschauer darüber, dass
am anderen Ende etwas Ernstes geschah. Derartige Szene wirkt überzeugender
als eine bildliche Mitteilung. Die Stille hat in diesem Fall eine Vermittlungsfunktion, sie ist der Handlungsträger.
Grundgeräusche der Stille
In unserem Lebensraum existiert kaum eine absolute Stille; die übliche Stille ist
eigentlich nie wirklich still. Sie enthält stets ein mehr oder weniger leises Grundgeräusch des Raumes; seine Atmosphäre bestimmt ein kaum definierbares und
unwillkürlich empfundenes Geräusch, wie ein leises Surren des Ventilators, Sausen des Windes, Murmeln des Baches. Wenn dieses fehlt, wird die Empfindung
der Umwelt nicht vollkommen sein, man hätte das Gefühl, dass man sich in einem toten, lautlosen Raum befindet. Der Mensch ist daran gewöhnt, immer einen
wenn auch sehr leisen Grundton zu hören. Dieser Tatsache sollte man in der Videovertonung Rechnung tragen.
Stille in der Vertonung bedeutet nicht, dass man den Ton einfach abschaltet.
Dann würde der Ton völlig verschwinden und von den Zuschauern als akustisches Loch empfunden werden. Das Fehlen des Grundgeräuschs der Umwelt und
auch des Grundrauschens von Verstärkeranlage würden die Wahrnehmung des
Raumes und auch der Tonwiedergabe allein erheblich stören. Bei Gestaltung der
Stille werden also alle Haupttöne unterdrückt und es bleiben nur ein leises Geräusch des Raumes und das atmosphärische Rauschen. Wenn man die Handlung
durch Stille hervorheben will, dann erzielt man das am ehesten durch Zugabe von
konkreten, jedoch leisen Nebenklängen. Sie entstehen aber nicht durch die
Haupttätigkeiten, sondern sie kommen aus anderen angrenzenden Tonquellen.
Beispiel: Zwei Personen führen einen Dialog und auf einmal verstummen sie.
Man hört dann entfernte Musik, ein leises Geräusch des Ventilators oder Regens.
Der Unterschied in der Lautstärke der Sprache und der Nebentöne unterstreicht
die Stille des Haupttons.
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Akzentuierte Stille
Absichtlich betonte Stille steigert intensiv die dramatische Spannung. Sie wird
besonders bei anregenden Szenen angewendet, um Besorgnis auszudrücken oder
ängstliche Stimmung zu erzeugen. Stille bildet eine Grundlage, aus der kurze und
vereinzelte andere Töne, vorwiegend Geräusche, heraustreten. Diese dürfen jedoch die inhaltliche Kontinuität der Stille nicht voll zerstören oder aufheben.
Düsterkeit und Gespenstigkeit der stillen Nachtszenen in der Umgebung eines
einzeln stehenden Landhauses lässt sich durch zeitweiliges Aufheulen eines entfernten Hundes, Krächzten der Raben oder Knistern der Holzbalken unterstreichen. Diese vereinzelten Klänge sind jedoch nicht zu laut aufzuführen, sie sollten
nur irgendwie nebenbei ertönen, damit sie die Aufmerksamkeit nicht besonders
ablenken und die dramatische Situation stören. In Kriminalgeschichten sind abgesonderte Schritte, Geräusche, gedämpfte Bruchstücke der Sprache, die durch
unerwarteten Klang wie Niederfall eines Gegenstands, Husten, Telefonklingen
unterbrochen werden, sehr beliebt.
Ein Beispiel: Die Bildhandlung zeigt, wie ein Schmuggler eine streng bewachte
Grenze im Wald passieren will. Es ist dunkel und es herrscht Stille. Die Szene
erzeugt Spannung, der Zuschauer verfolgt die Handlung mit erhöhtem Interesse
und ist neugierig, ob das gefährliche Unternehmen gelingt. Plötzlich wird die
Stille mit einem Knack von einem gebrochenen Ast und bald mit kurzem Geräusch von einem wegrollenden Stein unterbrochen. Dadurch wird die Aufmerksamkeit der Grenzwache geweckt. War es ein Mensch oder nur ein Tier, das vorbeilief? Die kurzen, sekundären Geräusche stören zwar die Stille, jedoch beeinflussen sie ihre formelle Einheit nicht; im Gegenteil, durch ihr nur vereinzeltes
Vorkommen betonen sie die Geschlossenheit der Darstellung erheblich. Stille ist
hier ein primäres Ausdrucksmittel, das durch zusätzliche Nebengeräusche gut zur
Geltung gebracht wird.
Tonübergänge
Die Entstehung der Stille und ihr Ende, also die Art des Überganges vom klingenden Ton in Stille und umgekehrt, haben dramaturgische Bedeutung. Natürlich
und folgerichtig wirkt Stille nach einem ausgeprägten Abschluss, einem tonlichen Höhepunkt, beispielsweise nach dem Finale einer Komposition. Eine plötzliche, scharfe Unterbrechung des Tons ruft Unruhe hervor und die überraschend
aufgetretene Stille wirkt intensiver. Das allmähliche Einblenden eines neuen
Tons in die Stille hat eine ganz andere Wirkung als ein harter Toneinsatz in voller Lautstärke. Im ersten Fall wird eine beruhigende Wirkung erreicht, behagliche
Empfindungen werden geweckt. Die zweite Art wirkt aufrüttelnd und schockierend. Auf diese Weise werden oft zwei Sequenzen getrennt und der Anfang des
neuen Handlungsabschnittes verdeutlicht.
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Dauer der Stille
Die zeitliche Entwicklung der Stille bestimmt ihren Ausdruck und ihre Wirkung.
Eine kurze Pause nach dem Abschluss eines Tons wirkt als sein natürlicher Ausklang, der normalerweise nicht bewusst erfasst wird. Wenn diese Pause eine gewisse Länge überdauert, dann beginnt die dramatische Bindung der Stille mit der
Bildhandlung. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wächst, die Stille kommt ihm
zu Bewusstsein und er fängt an, nach ihrer Ursache zu forschen. Die dramatische
Spannung steigt, der Zwiespalt zwischen Bildhandlung und Stille spitzt sich zu.
Länge und Gradation dieser Phase hängen vom Zusammenhang der Stille mit
dem Gesehenen und vom inneren Rhythmus der Handlung ab.
Die Dauer der Stille und ihre dramatische Wirkung werden vom Szeneninhalt
und vom Zusammenhang der optischen und akustischen Empfindungen beeinflusst. Das richtige Dosieren der Stille lässt sich kaum mechanisch festlegen, es
wird meist intuitiv geschätzt. Dabei ist die gegenseitige Beziehung von Bild und
Ton einander sinnvoll anzupassen. Es kann vorkommen, dass man die Bildszenen
verlängern muss, damit die gewollte Spannung erzielt wird. In anderen Fällen
kürzt man die Bildpassagen, damit die Stille nicht ermüdend ausfällt. Wenn die
Stille einen gewissen Zeitraum überschreitet und nicht mehr mit dem Inhalt der
Bildszenen konform ist, beginnt sie zu langweilen und den Gesamteffekt zu mindern.
Stille bewusst einsetzen
Stille, die als spezielle Art der Vertonung oft unterschätzt wird, spielt in der Tondramaturgie keine untergeordnete Rolle. Man soll mit ihr wie mit anderen Tonbestandteilen zielbewusst arbeiten und sie in die gesamte Konzeption des Videowerkes zweckmässig einreihen. Anderseits soll Stille gerade wegen ihres grossen
emotionellen Gehalts vorsichtig und sparsam verwendet werden. Ihre Dauer
muss stimmen, damit die Stille dem Zuschauer nicht bewusst wird und sie dadurch nicht ihren gefühlsbetonten Sinn verliert. Stille, die ohne tiefere Begründung nur als zufälliges Mittel zwischen zwei verschiedenen Tonfolgen verwendet
wird, setzt die Gesamtwirkung herab.
Es ist zweckmässig die Anwendung der Stille in der Vertonung bereits bei der literarischen Vorbereitung des Videofilms zu überlegen und einzuteilen. Dabei soll
man die Gefahr meiden in abgedroschene Muster und häufige, unbegründete
Wiederholungen abzugleiten. Passend eingereihte und zur Geltung gebrachte
Stille hat eine grosse emotionelle Kraft.
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