Wissenschaft HIRNFORSCHUNG Störfall im Flaschenhals Wie funktioniert das menschliche Gedächtnis? Wie und wo im Gehirn werden Informationen gespeichert und abgerufen? Auf der Suche nach Antworten tasten sich die Gedächtnisforscher in ein Labyrinth vor. M it dem Fahrrad hatte sich der Gastwirt frühmorgens auf den Weg zum Bäcker gemacht. Dort war er nicht angekommen. Fünf Tage blieb der Familienvater, der Brötchen holen wollte, spurlos verschwunden. Dann tauchte er, mehr als 300 Kilometer weiter südlich, in der Bahnhofsmission einer fremden Stadt auf. Statt zum Bäcker zu fahren, war der Vermißte in panischer Unruhe rastlos den Rhein entlang geradelt. Fragen nach Namen, Herkunft und Reiseziel konnte der erschöpfte Irrfahrer nicht beantworten. Er wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Den Ärzten erklärte er immer wieder, er wisse nicht mehr, wer er sei. Irgendwo zwischen seiner Wohnung und dem Bäckerladen hatte der Radler sein Ich verloren. Wenn er in den Spiegel blickte, starrte ihn ein Fremder an. Körperlich krank war er offenbar nicht; einen Hirnschaden konnten die Mediziner bei dem Mann ohne Biographie nicht entdecken. Die Psychiater schickten ihn schließlich nach Köln ins Max-Planck-Institut (MPI) für neurologische Forschung, wo sich Professor Hans Markowitsch mit dem sonderbaren Fall beschäftigte. Markowitsch, Lehrstuhlinhaber für Physiologische Psychologie an der Uni Bielefeld und Mitarbeiter am Kölner MPI, gilt in Deutschland als Koryphäe auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung. Patienten, denen ein Großteil ihrer Erinnerung plötzlich abhanden kam, dienten Markowitsch und seinen Kollegen schon häufig als eine Art Forschungs-Pfadfinder, die den Gelehrten beim Vordringen in das Gedächtnislabyrinth weiterhalfen: Oft sind es Defekte im Gehirn der Patienten, die überraschende Einblicke in die überaus komplizierten Gedächtnisstrukturen gewähren. In welchen Hirnregionen Gedächtnisinhalte archiviert, wo und wie sie eingelesen, sortiert, abgerufen oder auch blockiert werden – das alles läßt sich mit den Detektorgeräten der modernen Gehirndiagnostik detailliert untersuchen. Studiert wird, etwa mit Hilfe von Positronen-Emissions-Tomographen (PET), das Gehirn in Aktion: Auf den Farbmonitoren der Geräte wird sichtbar, welche Hirnpartien ein Proband bei dem Versuch aktiviert, sich Erlerntes oder Erlebtes in Erinnerung zu rufen. 186 Erstaunlich viele Hirninstanzen, so hat sich dabei gezeigt, sind an der Datenverarbeitung speziell für das Langzeitgedächtnis beteiligt. Mindestens vier verschiedene Speichersysteme, jedes zuständig für bestimmte Inhalte, hält das Menschenhirn laut Markowitsch bereit: π Im „episodischen“ oder „autobiographischen“ Gedächtnis werden, chronologisch geordnet, alle persönlichen Erlebnisse aufbewahrt – besonders fest haften jene Ereignisse, die mit starken Emotionen verbunden sind. π Das „Wissenssystem“, gleichfalls in der Hirnrinde lokalisiert, enthält das allgemeine und eher gefühlsneutrale Weltund Faktenwissen – es umfaßt Vokabelschätze wie Verkehrsregeln, Geschichtskenntnisse oder Telefonnummern. π Im „prozeduralen“ Gedächtnis, das dem Kleinhirn und den Basalganglien zugeordnet wird, finden sich die Muster von Handlungs- oder Bewegungsabläufen, die oft mühsam erlernt wurden, später aber automatisch abgespult werden können – etwa beim Radfahren oder Skilaufen, Schwimmen, Tanzen und Klavierspielen. π „Priming“ nennen die Wissenschaftler schließlich jenes Gedächtnissystem, das Sinneseindrücke (Farben, Formen, Gerüche) festhält und bei der Begegnung mit ähnlichen Reizen mehr oder minder deutliche Erinnerungen freisetzt – das Priming, verankert in den sensorischen Feldern der Hirnrinde, erleichtert das Wiedererkennen schon einmal erlebter Situationen (siehe Grafik). Wie sich die Gedächtnisspuren („Engramme“) im Gehirn manifestieren, ist den Gelehrten bislang noch nicht klar. Sicher ist nur, daß alles bewußte Wissen in die Großhirnrinde eingraviert wird. Doch die Gedächtnisengramme sind dort nur zum Bei der Worterkennung aktivierte Hirnareale (beim Rechtshänder) Vordere Großhirnrinde Linke Gehirnhälfte Computer-Darstellung des Gehirns beim Erinnerungsvorgang: Vier Informationsspeicher von d e r s p i e g e l 1 2 / 1 9 9 7 EPISODISCHES GEDÄCHTNIS WISSE NSSYS TEM PRIMIN G ES URAL 113 x 8 = OZEDHTNIS R 0 P 71 x 3 12 C GEDÄ 142 = 17 x 100 X Hirnrinde Ein- und Abspeicherung der vier Gedächtnissysteme limbisches System Kleinhirn Basalganglien Hintere Großhirnrinde Rechte Gehirnhälfte schier unermeßlichem Fassungsvermögen d e r s p i e g e l D. HOPPE / NETZHAUT 1 Das episodische oder autobiographische Gedächtnis enthält persönliche, emotional gefärbte Erinnerungen an Ereignisse der individuellen Lebensgeschichte 2 Im Wissenssystem, dem Depot für allgemeines Faktenwissen, werden Schul- und Weltkenntnisse gespeichert 3 Im prozeduralen Gedächtnis finden sich die Programme für eintrainierte Bewegungsabläufe 4 Priming, das entwicklungsgeschichtlich älteste Gedächtnissystem, speichert Sinnesreize, die ähnlich erlebte Situationen in Erinnerung rufen Teil an scharf umgrenzte Regionen gebunden – selbst großflächige Verluste an Hirnmasse beeinträchtigen das Gedächtnis oft nur wenig. Entstanden, meint Markowitsch, sei das Erinnerungsvermögen im Lauf der Evolution vermutlich als „Mechanismus zur Lebenserhaltung und -verlängerung“: Als erstes wurden Geruchs- und Geschmackswahrnehmungen längerfristig gespeichert; das half bei der Nahrungssuche oder beim Aufspüren paarungsbereiter Geschlechtspartner. Mit dem Wachstum des Menschenhirns in Jahrmillionen wucherte der urtümliche Priming-Merker immer üppiger heran. Die vier Gedächtnissysteme, die sich dabei entfalteten, allesamt Informationsspeicher von schier unermeßlichem Fassungsvermögen, bilden jedoch keine strikt voneinander getrennten Erinnerungskammern; sie wirken vielmehr, wie Markowitsch betont, auf höchst komplexe Weise zusammen. So werden etwa beim Vorgang des Sprechens die Kehlkopfmuskeln vom prozeduralen Gedächtnis koordiniert, während das Wissenssystem Vokabeln, Grammatikregeln und Sachkenntnisse beisteuert. Kommt die Rede auf Persönliches, liefert das autobiographische Gedächtnis Gesprächsstoff, wobei das Priming ständig emotionale Untertöne mitschwingen läßt. Erst vor kurzem entdeckten die Forscher weitere Raffinessen der Gedächtnisarbeit: Jedes Gedächtnissystem, so zeigte sich, Gedächtnisforscher Markowitsch Poststelle im Stammhirn SCIENCE PHOTO LIBRARY / AGENTUR FOCUS Verteiltes Wissen 1 2 / 1 9 9 7 verfügt über spezielle Hirnstrukturen, die für das Einspeichern oder Abrufen von Informationen zuständig sind. Allgemeinwissen beispielsweise wird stets von der linken Hirnhälfte abgefordert, persönliche Erinnerungen dagegen von der rechten Hemisphäre. Bei der Eingabe passieren fast alle Informationen zunächst das sogenannte limbische System, eine entwicklungsgeschichtlich alte Hirnformation, die das Gefühlsleben beherrscht. Dort werden neu eintreffende Gedächtnisinhalte wie Briefe auf dem Postamt sortiert und dann weitergeleitet – emotionsgeladene Daten kommen ins biographische Fach, andere werden ins Wissenssystem oder ins Priming-Depot versandt. Auf dem Weg zum Bestimmungsort, aber auch auf dem Rückweg – beim Erinnern –, wird die Gedächtnispost durch einige Engpässe dirigiert, oftmals winzige Relaisstationen im weitverzweigten Leitungsnetz des Gehirns. Sowohl im limbischen System wie in der Hirnrinde finden sich Bündel von Nervenfasern, die für die Ein- oder Ausgabe von Informationen unentbehrlich sind. Störfälle in diesen neuronalen „Flaschenhälsen“ (Markowitsch) können riesige Löcher in das Gedächtnis der Betroffenen schlagen, wie die Forscher an Patientenbeispielen eindrucksvoll demonstrieren. Nur ein millimetergroßes Stück Nervengewebe in der Gehirnmitte war bei einem Medizinprofessor, den Markowitsch untersuchte, nach einem Schlaganfall zerstört worden. Der Minidefekt versperrte für immer die Eingangspforte zum Langzeitgedächtnis des Akademikers. Seit 15 Jahren dringt dorthin nichts Neues vor. Namen, Gesichter, Zahlen und Fakten vergißt der einstige Chefarzt spätestens nach einer Minute. Sein Altgedächtnis dagegen blieb ihm erhalten. Mühelos erinnert sich der Pro187 Wissenschaft Boten der Erinnerung US-Forscher entdeckten, daß ein Wachstumsfaktor bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses bestimmend ist. anderen biochemischen Abläufen geformt und modifiziert. Nervenwachstumsfaktoren, sogenannte Neurotrophine, stehen derzeit im Rampenlicht der Forschung. Sie können Nervenzellen beeinflussen und deren Aktivität verändern. Viele Forscher waren daher überrascht, daß gerade TGFβ die Gedächtnisleistung von Nervenzellen beeinflußt, gehört es doch gerade nicht zur Gruppe der Neurotrophine. Bislang hatte man das Protein lediglich als wichtigen Regulator von Wachstum und Differenzierung im Embryonalalter und als Hemmstoff des Zellwachstums bestimmter Zellen im Erwachsenenalter angesehen. Jetzt, da Wissenschaftler die Botenstoffe der Erinnerung entschlüsseln, deuten sich auch deren Nutzungsmöglichkeiten an: Krankhafte Veränderungen des Nervensystems, bei denen die Gedächtnisleistung nachläßt, wie zum Beispiel die Alzheimerkrankheit, lassen sich durch Wachstumsfaktoren wie TGFβ möglicherweise positiv beeinflussen. Die Pharmaindustrie hält sich bereit: TFGβ und andere Wachstumsfaktoren lassen sich mittels Gentechnologie in beliebiger Menge produzieren. Hirnforscher Galuske warnt jedoch davor, die Ergebnisse der US-Studie ohne weiteres auf den Menschen zu übertragen: Beim anatomisch simplen Versuchstier, der Meeresschnecke Aplysia, „kennt man jedes Neuron mit Vornamen“. Bei Menschen „ist das schon noch etwas komplizierter“. ULLSTEIN D Psychoanalytiker Freud* Gedächtnisschwund durch Moralschock? OKAPIA ie herkömmliche Neuroanatomie hat ausgedient: „Durch konsequentes Starren auf Gehirne“, meint Hirnforscher Dr. Ralf Galuske vom Max-Planck-Institut in Frankfurt, „kann man heute einfach nichts mehr rauskriegen.“ Wo Neuroanatomen früherer Zeiten im Alleingang das Wesen des Geistes mit Hilfe des Mikroskops zu begreifen suchten, arbeiten heute Anatomen, Physiologen und Biochemiker Hand in Hand. Methoden aus Biochemie, Molekularbiologie und molekularer Zellbiologie dienen als Werkzeug, um die molekularen Veränderungen im Gehirn, die als Basis unseres Gedächtnisses gelten, zu analysieren und zu erklären. US-Wissenschaftlern unter der Leitung des Neurobiologen John H. Byrne gelang dabei jetzt ein Durchbruch. Sie wiesen im Tierexperiment nach, daß ein Protein, der Wachstumsfaktor TGFβ (transforming growth factor beta), in Nervenzellen dieselben Veränderungen hervorruft, die als bestimmend für die Bildung von Langzeitgedächtnis gelten: eine Zunahme der Verbindungen zwischen sensorischen Neuronen (Nerven, die Impulse zum Muskel leiten) und Motoneuronen (Nerven, die den Muskel steuern). Die Arbeit der Forschergruppe aus Houston zeigt, so der Jenaer Zellbiologe Reinhard Wetzker, „die enorme Plastizität des Nervensystems“. Entgegen früherer Annahmen wird es lebenslang von Wachstumsfaktoren und Meeresschnecke: „Bei Aplysia kennen wir jedes Neuron mit Vornamen“ fessor an Ereignisse, Orte und Mitmenschen aus seiner Schul- und Studentenzeit. Auch das damals erworbene Fachwissen hält er noch parat. Doch seit dem Schlaganfall steht die Zeit für ihn still. Wer ihn nach der laufenden Jahreszahl fragt, bekommt stets zur Antwort: 1982. In anderen Fällen, die Markowitsch schildert, verkraftete das scheinbar so störanfällige Langzeitgedächtnis selbst ausgedehnte Hirnschäden. Das Speichersystem erwies sich als fähig, massive Erinnerungsverluste zumindest halbwegs auszugleichen – so bei einem Geschäftsmann, der beim Reiten vom Pferd gestürzt war und schwere Verletzungen vor allem am rechten Schläfenlappen des Großhirns erlitten hatte. Der Unfall löschte alle autobiographischen Daten aus dem Gedächtnis des Managers; er konnte sich weder an seine Familienangehörigen noch an seinen früheren Beruf erinnern. Intakt geblieben war jedoch sein Wissenssystem. Es half ihm bei der Rekonstruktion und der Fortschreibung seiner Biographie. Anders als der zerstreute Medizinprofessor, der nur noch in der Vergangenheit lebt, kann sich der verunglückte Reiter nicht nur Sachwissen (darunter auch den eigenen, vergessenen Lebenslauf) neu einprägen; auch persönliche Erlebnisse aus der Zeit nach dem Unfall behält er zuverlässig im Kopf. Nur wirkt er, selbst wenn er sich an Intimes erinnert, „merkwürdig unbeteiligt“, wie Markowitsch notiert; auch bewegende Ereignisse referiert er so emotionslos wie ein Nachrichtensprecher im Rundfunk. Offensichtlich, meint Markowitsch, verbuche das lädierte, seiner rechten Hemisphäre weitgehend beraubte Gehirn des * 1922, mit Enkel Stephen Gabriel. 188 d e r s p i e g e l 1 2 / 1 9 9 7 Unfallopfers jegliche Information wie trockenes Schulwissen – ein Erscheinungsbild wie bei jenem verstörten Familienvater, der auf der Fahrt zum Bäcker die Erinnerung an sich selbst verlor. Bei Untersuchungen mit dem PET-Gerät zeigte sich, daß der Mann beim Versuch, Erinnerungen aus seinem früheren Leben hervorzukramen, stets nur sein Linkshirn mobilisierte, die Anlaufstelle für Sachwissen. Rätselhaft blieb dabei, was die Blockade der rechten Hemisphäre ausgelöst hatte; ein Hirndefekt lag nicht vor – war ein Psychoschock schuld an dem plötzlichen Blackout? Dergleichen, so hatte einst der Psychoanalytiker Sigmund Freud gelehrt, widerfahre in der frühen Kindheit jedem Menschen: Ein elterlicher Machtspruch, der den „polymorph perversen“ Trieben des Kleinkinds moralische Schranken setzt, tilgt laut Freud ein für allemal jede Erinnerung an die ersten drei, vier Lebensjahre. Markowitsch und seine Fachkollegen glauben nicht an Freuds Theorie vom frühkindlichen Moralschock. Bei Kindern im Alter von vier Jahren, so haben die Forscher nachgewiesen, ist die Entwicklung der Großhirnrinde noch längst nicht abgeschlossen. Erst später formieren sich all- Mit der Erinnerung an das frühere Leben verschwand auch das Asthma mählich die nötigen Hirnstrukturen für das Langzeitgedächtnis, wobei der autobiographische Datenspeicher zuletzt eingerichtet wird. Eine Erklärung für den jähen Gedächtnisschwund des sonst kerngesunden Radlers hat das Markowitsch-Team bislang nicht finden können. Psychotherapeutische Behandlungsversuche schlugen fehl. Womöglich, vermutet Markowitsch, erfülle die Psychoblockade den unbewußten Wunsch des Patienten, sich von seinem bisherigen glücklosen Leben endgültig zu verabschieden. Das ist dem einstigen Gastwirt nur halb gelungen. Nach seiner Irrfahrt durch die Kliniken und Max-Planck-Labors ist er in den Schoß seiner Familie zurückgekehrt, die ihn über eine Vermißtenanzeige wiederfand. Anfangs sträubte er sich gegen die Zumutung, seine Ehefrau und die gemeinsamen Kinder als Angehörige zu akzeptieren; er hielt sie für Fremde. Auch die Wohnungseinrichtung daheim fand er scheußlich. Inzwischen hat er sich an die für ihn neue alte Umgebung gewöhnt. Seiner Gesundheit ist der Gedächtnisverlust gut bekommen. Mit den biographischen Erinnerungen ist auch sein Asthma verschwunden. ™ d e r s p i e g e l 1 2 / 1 9 9 7