Nr. 4, 24. Januar 1975, 100. Jg. Hunstein, Rehn: Tumocinduktion durch Zytostatika 155 ti bersichten Dtsch. med. Wschr. 100 (1975), 155-158 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart Die Frage nach der Häufigkeit von Tumoren im Gefolge der Zytostatika-Therapie läßt in einem Analogieschluß zu den Erfahrungen mit ionisierenden Strahlen (49, 73) die Abhandlung einer Fülle von Einzelbeobachtungen und statistischen Angaben hinsichtlich therapie-induzierter Tumoren erwarten. Die karzinogene und leukämogene Wirkung von Zytostatika scheint besonders nach den aufsehenerregenden Publikationen von Schmähl und Mitarbeitern (64, 65) auch für den Menschen so sicher bewiesen, daß es sich scheinbar kaum lohnt, diese Frage aufzugreifen. Wir wissen, daß Zytostatika in 25 Punkten die gleiche biologische Wirkung wie ionisierende Strahlen entfalten. Das hat ungeachtet aller Verschiedenheit zu ihrer pauschalen Bezeichnung »Radiomimetika« (15) geführt. Um so überraschter muß man feststellen, daß die Tumorerzeugung durch Zytostatika angesichts der großen Zahl behandelter Patienten noch immer die Ausnahme darstellt und keinesfalls die Regel. Im folgenden wird die akzelerierte und intensive Tumorinduktion bei Nierentransplantatempfängern nicht berücksichtigt, weil darüber an anderer Stelle berichtet ist (3, 17, 29, 38, 52, 53). Dabei handelt es sich um eine multifaktorielle Onkogenese. Es wirken Zytostatika, andere Immunsuppressiva, vielleicht eine »Graft-versus-Host«-Reaktion und, wie wir seit kurzem wissen, offenbar eine Infektion mit tumorerzeugenden Papova-Viren zusammen (20, 39). Daneben sind Fälle von Tumorübertragung durch die Transplantation bekanntgeworden (23, 31, 77), ferner wurde über die Bildung eines lokalen Sarkoms an der Injektionsstelle von Antilymphozytenserum berichtet (13). Einzelbeobachtungen Die meisten sekundären, angeblich therapie-induzierten Tumoren sind im Zusammenhang mit der Gabe von Cyclophosphamid (Endoxan®) beschrieben worden. Die angegebene Gesamtdosis liegt zwischen 7 und 140 g, die Induktionszeit zwischen 14 Monaten und 7 Jahren. Folgende Tumoren sind beschrieben: ein Rektumkarzinom (55), zwei Magenkarzinome (19, 22), ein Angiosarkom (47), jeweils bei Myelom; ein Ovarialkarzinom (55), ein Gallenblasenkarzinom (57), zwei akute Leukämien (12), jeweils bei Mammakarzinom, zum Teil nach kombinierter Behandlung, einmal nach Ovarialkarzinom (69); ein Fibrosarkom der Harnblase bei Morbus Hodgkin (60), ein Rektumkarzinom bei Morbus Waldenström (63), W. Hunstein und K. Rehn Medizinische Universitäts.Poliklinik Heidelberg (Direktor: Prof. Dr. W. Hunstein) drei lymphoretikuläre Sarkome bei Morbus Waldenström (33), eines bei multiplem Myelom (SO). Das Lost-Derivat Chlornaphazin gilt als Karzinogen der Harnblase mit einer kurzen Induktionszeit von 3-S Jahren nach Dosen von 80-100 g (37, 72). Es ist ein Dichlordiäthyl-Naphthylamin. Seine karzinogene Wirkung dürfte dem Naphthyl-Anteil zuzuschreiben sein. Demnach wirkt es als ein chemisches Karzinogen und nicht als Zytostatikum. Das 3-Naphthylamin und verwandte Substanzen sind jedenfalls bei Mensch und Tier potente Karzinogene der Harnblase (72). Das Busulfan (Myleran®) Soll folgende Tumoren hervorgerufen haben: einen Brustkrebs (51), ein Bronchiolarzellkarzinom (36), ein Bronchialkarzinom (63). Die Kombination von Myleran und Colcemid Soll bei einer anderen Patientin ein Uteruskarzinom hervorgerufen haben (70), die Kombination mit 6-Mercaptopurin ein Pankreaskarzinom (2). Tierexperimentell hat sich das Myleran als mäßig leukämogen erwiesen (30). Dem Triaziquon (Trenimon®), wegen eines Myosarkoms verabfolgt, wird die Entwicklung einer Monozytenleukämie nach dreijähriger Behandlungsdauer zugeschrieben (76). Nach Methotrexat (Amethopterin®) wurden ein epithelialer Tumor und eine reversible Retikulumzeilhyperplasie beschrieben (26, 32). Weitere Beobachtungen hat I. Penn (persönliche Mitteilung 1973) zusammengetragen. Ober das gehäufte Auftreten von akuten StammzellLeukämien nach Behandlung von Myelomen mit Melphalan (Alkeran®) haben Andersen und Videbaek (1) berichtet. Das Intervall betrug 18 Monate bis 4 Jahre. Seither sind von anderen Autoren ebenfalls derartige Beobachtungen publiziert worden, zum Beispiel nach Gabe von Cyclophosphamid (28, 35, 44, 58; bei Petersen [54] nach Morbus Waldenström). Eine statistische Aussage ist auch bei diesen Publikationen bislang nicht möglich, so daß die Frage ungeklärt bleibt, ob die akute Leukämie Folge der Therapie oder natürliches Endstadium des Plasmozytoms bei längerer therapiebedingter Lebensdauer ist (27). Ein multizentrisches Lungenkarzinom nach MelphaIan beschreibt Scheidegger (62). Statistisch ausgewertete Beobachtungen Zytostatika bei Tumorerkrankungen. Es liegt nur eine Untersuchung aus neuerer Zeit vor, die besondere Auf- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Tumorinduktion durch Zytostatika beim Menschen 1-lunstein, Rehn: Tumorinduktion durch Zytostatika Deutsche Medizinische Wochenschrift Tab. 1. Häufigkeit von sekundären Tumoren bei 425 Patienten mit M. Hodgkin, nach Arseneau et al. (4) Zweittumor Zahl Gruppe Radiotherapie allein Chemotherapie allein der FIl - - 0u ns.) - . - es es u ., t) O'..c 134 575 4 1,17 3,4 98 257 3 0,70 4,3 Radiotherapie und Chemotherapie 193 752 5 1,52 3,3 intensive Radiotherapie ohne intensive Chemotherapie 149 562 4 1,05 3,8 intensive Chemotherapie ohne intensive Radiotherapie 110 371 3 0,94 3,2 35 108 3 0,10 29,0 131 543 2 1,28 1,6 425 1584 12 3,38 3,5 intensive Radio- und Chemotherapie keine intensive Therapie , merksamkeit erfahren hat. Arseneau und Mitarbeiter (4) untersuchten 425 Hodgkin-Patienten hinsichtlich des Neuauftretens von weiteren Tumoren. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse: Strahlentherapie und Chemotherapie allein führen zu keiner signifikanten Erhöhung, wohl aber die kombinierte Therapie. Intensive Chemotherapie allein führt ebenfalls zu keiner Signifikanz. Den höchsten Anteil sekundärer Tumoren weist die Gruppe »kombinierte intensive Chemotherapie und intensive Röntgenbestrahlung« auf (vgl. hierzu 7, 9). In diesem Zusammenhang ist eine prospektive Studie von Berg (6) hinsichtlich der Häufigkeit von weiteren Karzinomen bei Patienten mit Hämoblastosen bedeutsam. Er beobachtete unter 1561 Leukämien, 1871 Lymphosarkomen, 1028 Lymphogranulomatosen und 207 Myelomatosen 95 weitere Karzinome, von denen allein 60 asynchrone Hautkarzinorne bei 43 Patienten gewesen sind. Berg kommt zu dem Schluß, daß für die einzelnen Fälle keine gemeinsame Ursache der Zunahme zu finden war, obwohl eine Reihe von Patienten angab, karzinogenen Noxen ausgesetzt gewesen zu sein1. In seiner Serie von immerhin 4600 Tumorpatienten war das Risiko, ein belangloses Zweitkarzinom zu bekommen, nicht viel größer als in der Allgemeinbevölkerung. Diese Studie steht im Gegensatz zum Ergebnis von Gunz und Angus (25), die bei Männern mit chronischer Lymphadenose eine dreizehnfache Erhöhung von Hautkarzinomen und eine 1,Sfache Erhöhung von anderen Karzinomen fanden (s. «No single common cause for this increase was found, though a number of patients reported specific exposures to carcinogenic 1 situations<'. auch SS), bei allerdings spärlichen Patientenzahlen ohne ausreichenden Anteil an Frauen oder Patienten mit verwandten Krankheitsbildern. In einer anderen Studie wurden unter 1057 zytostatisch behandelten Hämoblastosen zehn maligne Zweiterkrankungen gefunden. Das entspricht der statistischen Erwartung auch ohne Zytostatika (27). Über die Syntropie von Hämoblastosen liegen wenige Ubersichtsarbeiten vor. So ist das gemeinsame Auftreten von chronischer lymphatischer Leukämie (primär) und Hodgkinscher Krankheit (sekundär) für 21 Fälle als zufällig bezeichnet worden (42). Zwaan und Speck (78) haben 27 Fälle von akuter Leukämie im Gefolge einer Hodgkinschen Erkrankung zusammengestellt (s. auch 61). In einer Studie über multiple Karzinome bei Morbus Hodgkin konnte keine Zunahme sekundärer Karzinome über das für die Gesamtbevölkerung zu erwartende Maß hinaus festgestellt werden (75). Was besagen diese Ergebnisse? Nur die intensive, möglichst kombinierte Chemotherapie, möglichst kombiniert mit Röntgenbestrahlung, erhöht das Risiko »Zweittumor« bei Morbus Hodgkin. Intensive Melphalan-Therapie scheint das Risiko des Auftretens einer anderen akuten Hämoblastose beim multiplen Myelom zu erhöhen. Alle anderen Publikationen sind spärliche Einzelkasuistiken ohne Beweiskraft. Dieses an sich erfreuliche, für die tierexperimentellen Krebsforscher nur vordergründig überraschende Ergebnis liegt wahrscheinlich an der falschen Populationswahl: Die betroffenen, mit Zytostatika behandelten Tumorpatienten erleben die Neokanzerogenese nicht. Gegen eine solche Interpretation könnten jedoch die neueren Erfahrungen bei den Transplantatempfängern sprechen. Zytostatika bei nicht-tumorösen Erkrankungen. Umfängliche kontrollierte Studien laufen bei der Paul-Ehrlich-Gesellschaft hinsichtlich der zytostatischen Therapie von Immunprozessen, zum Beispiel dem Lupus etythematodes visceralis, dem Sjögren-Syndrom, der rheumatoiden Arthritis und anderen Kollagenosen (11, 48, 68, 74). Chlud (10) überblickt 720 einschlägige Kranke, die seit 1965 intermittierend mit Benzochinon- und Podophyllin-Präparaten behandelt wurden, ohne daß Neoplasmen aufgetreten waren. Daneben werden Patienten mit chronisch aggressiver Hepatitis teils kontrolliert, teils unkontrolliert mit Azathioprin behandelt, ebenso Patienten mit Colitis ulcerosa und Enteritis regionalis sowie Nephrosen (hierbei ein Zervixkarzinom nach Cyclophosphamid-Therapie [S]). McEwan und Petty (45) stellten dazu fest, daß bei der weltweiten Anwendung von Azathioprin, Transplantationen nicht mitgerechnet, drei Fälle von Neoplasmen unter mehr als 4000 Fällen und drei Fälle bei einer kleineren Placebo-Gruppe bekanntgeworden sind2. Dabei ist bemerkenswert, daß die Syntropie von immunologischen Erkrankungen und Tumo«The worldwide use of azathioprineinnontransplantsituatiortshas yielded 3 published cases of neoplasms in over 4000 cases and 3 in a smaller number of placebo controls::. 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. I 56 Hunstein, Rehn: Tumorinduktion durch Zytostatika Nr. 4, 24. Januar 1975, 100. Jg. Schlußfolgerungen Sind Zytostatika beim Menschen nicht im erwarteten Maße karzinogen? Diese Frage müssen wir objektiverweise offenlassen, aber alle Daten aus Tierversuchen und vor allem unserer Kenntnisse über die zumeist jahrzehntelange Induktionszeit von Tumoren bei ionisierenden Strahlen besagen: Onkogenese ist eine Spätwirkung der Bestrahlung und Alkylantiengabe. Wir können damit rechnen, daß noch statistisches »Material« auf uns zukommt von jenen Patientengruppen, die manche Kliniker bisweilen ohne strengste Indikation mit Zytostatika als »Immunsuppressiva« behandeln. Die Warnungen der experimentellen Onkologen werden von manchen Klinikern leichtfertig behandelt. Für diese Patienten gilt eben nicht in jedem Fall, was Holland (28) für die Plasmozytomkranken zutreffend formuliert hat: Ein später Tod an Leukämie nach eindeutiger Remission eines Myeloms ist einem frühen Tod ohne Remission vorzuziehen3. Ein Weiteres läßt sich festhalten: Es ist notwendig, ausgedehnte epidemiologische Studien einzuleiten. Alle Patienten, die Zytostatika erhalten oder erhalten haben, sollten, wie es in einer britischen Studie schon geschieht (14), erfaßt und möglichst zeitlebens weiterverfolgt werden. Nur so können wir den notwendigen statistischen Aufschluß erhalten. Dabei könnte auch die wesentliche Frage nach Mutation und Krebsentstehung (34) untersucht werden, ebenso die Frage der transplazentaren Karzinogenese (71). Wie es in einem Leitartikel des Lancet (40 formuliert wurde: Wenn wir Fortschritte in der Krebsverhütung machen wollen, muß zwischen dem experimentellen Forscher und dem Epidemiologen mehr Zusammenarbeit herrschen. .. Was wir benötigen, ist weit mehr Epidemiologie und ein besseres Dokumentationssystem, damit zumindest therapeutische Unglücksfälle verhütet werden können. (alf we are to make progress in cancer prevention there must be more cooperation between laboratory worker and epidemiologist». »What we need is far more epidemiology and better record linkage so that we can avoid at least the therapeutic disasters«.) «Late death from leukemia after a definite remission from myeloma without remission». is to be preferred to early death Literatur Gross, L.: Transmission of cancer in men. Cancer (Philad.( 28 (1971), 785. Andersen, E. A., Videbaek: A stem cell leukaemia in myelomatosis. Scand. J. Haemat. 7 (1970), 201. Angus, H. B., F. W. Gunz: Chronic Grundmann, E., H. P. Hobik: Lymphoretikuläre Sarkotne bei immunologisch geschädigten Mäusen. Z. Krebsforsch. 79 (1973), 298. granulocytic leukaemia and cancer. Gunz, F. W., H. B. Angus: Blood 22 (1963), 88. Leukemia and cancer in the same Arbus, G. S., R. H. Hung: Hepatopatient. Cancer (Philad.( 18 (1965) 145. carcinoma and myocardial fibrosis in Harris, C. 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