2 Re e l l e Z a hl en Die reellen Zahlen bilden das Fundament der gesamten Analysis. Es ist daher sinnvoll, sich zunächst Klarheit über dieses Fundament zu verschaffen. Der konstruktive – und historisch korrekte – Zugang beginnt bei den natürlichen Zahlen und führt über die Konstruktion der ganzen und der rationalen Zahlen zu den reellen Zahlen. Jedes Mal ist ein neues Zahlensystem auf dem vorangehenden aufzubauen, und es sind die gewünschten Eigenschaften nachzuweisen. Man erhält so ein tief gegründetes Fundament, doch ist die sorgfältige Ausführung langwierig, um nicht zu sagen langweilig. Auch trägt es unmittelbar wenig zum Verständnis der eigentlichen Analysis bei. Der axiomatische – und hier beschriebene – Zugang zu den reellen Zahlen ist direkter. Er besteht darin, eine endliche Anzahl von Postulaten – die sogenannten Axiome – über die reellen Zahlen zu formulieren, die den Ausgangspunkt für alle weiteren Schlüsse bilden. Diese Axiome werden nicht weiter hinterfragt. Sie mögen evident sein, wenn man sie auf eine bestimmte Vorstellung von den reellen Zahlen bezieht. Doch mathematisch gesehen ist dies unerheblich. Diese Axiome machen keine Aussage, was die reellen Zahlen sind. Sie legen nur fest, welche Eigenschaften sie haben. Und nur diese Eigenschaften sind für alles Folgende relevant. 1 Das hier beschriebene Axiomensystem der reellen Zahlen ist nicht das einzig mögliche. Doch es hat sich als tragfähig und zweckmäßig erwiesen. Alles, was wir über die reellen Zahlen wissen müssen, lässt sich aus ihm ableiten. Ziel dieses Kapitels ist die folgende 1 Euklid hat in seinen Axiomen der Geometrie noch versucht zu umschreiben, was man sich unter Punkt, Gerade und Fläche vorstellen soll. Hilbert stellte dem die Auffassung gegenüber, dass dies unerheblich ist. In allen geometrischen Sätzen müsse man statt Punkt, Gerade und Fläche ebensogut Tisch, Stuhl und Krug sagen können. J. Pöschel, Etwas Analysis, DOI 10.1007/978-3-658-05799-2_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 34 2 — Re e lle Z a hl en Charakterisierung der reellen Zahlen Die reellen Zahlen bilden einen vollständigen angeordneten Körper, der mit R bezeichnet wird. Im Einzelnen geht es um folgende Eigenschaften: (i) Die reellen Zahlen bilden einen Körper. (ii) Dieser Körper besitzt eine Ordnungsstruktur. (iii) Und er ist – in einem noch zu definierenden Sinn – vollständig. Die Tatsache, dass wir mit einer einzigen Bezeichnung für diesen Körper auskommen, impliziert noch eine vierte Eigenschaft: (iv) Es gibt im Wesentlichen nur einen Körper mit diesen Eigenschaften. Darum wird es in den nächsten Abschnitten gehen. 2. 1 D ie Körp era x i om e Zunächst einmal bilden die reellen Zahlen einen Körper. Das ist eine Menge, in der zwei Operationen erklärt sind, die üblicherweise als Addition und Multiplikation bezeichnet werden und die den folgenden Körperaxiomen genügen. Körperaxiome Eine Menge K mit zwei Operationen + und · , genannt Addition und Multiplikation, heißt Körper, wenn in ihm die folgenden Axiome gelten – die Axiome der Addition: (a-1) Die Addition ist assoziativ und kommutativ, (a-2) Es gibt ein Element 0 ∈ K , genannt neutrales Element der Addition, so dass x + 0 = x für alle x ∈ K , (a-3) Zu jedem Element x ∈ K existiert ein Element y ∈ K , genannt das additiv Inverse zu x , so dass x + y = 0 , die Axiome der Multiplikation: (m-1) Die Multiplikation ist assoziativ und kommutativ, (m-2) Es gibt ein Element 1 ∈ K verschieden von 0 , genannt neutrales Element der Multiplikation, so dass x ·1 = x für alle x ∈ K , (m-3) Zu jedem Element x ∈ K verschieden von 0 existiert ein Element y ∈ K , genannt das multiplikativ Inverse zu x , so dass x ·y = 1 , und das Distributivgesetz: (d) Für alle x, y, z ∈ K gilt x ·(y + z) = (x ·y) + (x ·z) . D ie Kö r p e r a x i o me — 2.1 35 Präziser gesagt ist ein Körper ein Tripel (K, +, · ) , bestehend aus einer Menge K mit zwei Operationen + und · mit den oben genannten Eigenschaften. Ist aber klar, welche Operationen gemeint sind, spricht man einfach vom Körper K . Um Klammern zu sparen, vereinbart man, dass ›Punktoperationen‹ stärker binden als ›Strichoperationen‹. Auch lässt man meistens den Punkt weg und schreibt xy für x ·y . Das Distributivgesetz lautet dann beispielsweise x(y + z) = xy + xz. 1 Beispiele für Körper a. Der kleinste Körper ist F = {0, 1} , wenn man 1+10 definiert und ansonsten wie üblich addiert und multipliziert. 2 b. Die Menge Q der rationalen Zahlen mit der üblichen Addition und Multiplikation bildet einen Körper. c. Dasselbe gilt für die Menge C der komplexen Zahlen. d. Die Menge √ √ Q( 2) a + b 2 : a, b ∈ Q bildet einen Körper mit den Operationen √ √ √ (a + b 2) + (c + d 2) (a + c) + (b + d) 2, √ √ √ (a + b 2) · (c + d 2) (ac + 2bd) + (ad + bc) 2. Das multiplikativ Inverse eines Elementes ungleich Null ist beispielsweise √ a b − 2 2. (a + b 2)−1 = 2 a − 2b2 a − 2b2 √ Der Nenner verschwindet nicht, da 2 nicht rational ist a-14 . e. Eine rationale Funktion mit rationalen Koeffizienten ist gegeben durch einen Ausdruck der Gestalt am x m + . . + a1 x + a 0 , bn x n + . . + b1 x + b0 m, n 0, mit a0 , . . , am , b0 , . . , bn ∈ Q und bn ≠ 0 . Die Menge M dieser Funktionen mit der üblichen Addition und Multiplikation bildet einen Körper. Zunächst bemerken wir, dass bereits aus den Axiomen folgt, dass die neutralen und die inversen Elemente immer eindeutig sind. Dies muss also nicht explizit gefordert werden. 2 Die Standardbezeichnung für diesen Körper ist F2 . 36 2 2 — Re e lle Z a hl en Lemma In einem Körper sind die neutralen und inversen Elemente eindeutig bestimmt. Beweis Sei 0̃ ein weiteres neutrales Element der Addition. Dann gilt Axiom (a-2) sowohl für 0 als auch für 0̃ . Zusammen mit Axiom (a-1) ergibt sich hieraus 0̃ = 0̃ + 0 = 0 + 0̃ = 0, also 0̃ = 0 . Damit ist die Eindeutigkeit des neutralen Elementes gezeigt. Ist ỹ neben y ein weiteres additiv Inverses zu x , so folgt aus x + y = 0 und x + ỹ = 0 und der Assoziativität und Kommutativität der Addition ỹ = ỹ + 0 = ỹ + (x + y) = y + (x + ỹ) = y + 0 = y. Also ist ỹ = y . — Entsprechend argumentiert man für die Multiplikation. −1 Man schreibt nun −x für das additiv Inverse zu x , und x oder 1/x für sein multiplikativ Inverses, falls x ≠ 0 . Ferner vereinbart man die Schreibweisen x − y x + (−y) und x x/y xy −1 y für y ≠ 0. Mit diesen Vereinbarungen erhalten wir die Lösungen der Gleichungen a+x = b und ax = b in vertrauter Form. 3 Satz In einem Körper K besitzt die Gleichung (i) a + x = b die eindeutige Lösung x = b − a , (ii) ax = b für a ≠ 0 die eindeutige Lösung x = b/a . Beweis Gilt b = a + x , so folgt nach Addition des Inversen −a von a mit (a-1) und (a-3) und den vereinbarten Schreibweisen b − a = b + (−a) = (a + x) + (−a) = (a + (−a)) + x = 0 + x = x. Entsprechend für die Multiplikation. Rechenregeln Die folgenden Rechenregeln sind für die reellen Zahlen wohlvertraut. Sie folgen unmittelbar aus den Körperaxiomen. Somit gelten sie in jedem anderen Körper ebenso. D ie Kö r p e r a x i o me — 2.1 4 Rechenregeln 37 In einem Körper K gilt: (i) −(−x) = x , (ii) (x −1 )−1 = x für x ≠ 0 , (iii) 0·x = 0 , (iv) (−1)·x = −x , (v) x(y − z) = xy − xz , (vi) xy = 0 ⇒ x = 0 ∨ y = 0 . Beweis (i) Aus (−x) + x = x + (−x) = 0 folgt, dass x das additive Inverse zu −x ist. Aufgrund der vereinbarten Notation ist somit x = −(−x) . (ii) Analog zu (i). (iii) Es ist 0 = 0 + 0 , und mit dem Distributivgesetz 0·x = (0 + 0)·x = 0·x + 0·x. Addition des additiv Inversen von 0·x ergibt 0 = 0·x . (iv) Mit (iii) ist 0 = 0·x = (1 + (−1))·x = 1·x + (−1)·x = x + (−1)·x. Also ist (−1)·x das additiv Inverse zu x , was die Behauptung ist. (v) Mit (iv) erhält man x(y − z) = x(y + (−1)·z) = xy + (−1)·xz = xy + (−xz) = xy − xz. (vi) Sei xy = 0 . Ist x = 0 , so sind wir fertig. Ist x ≠ 0 , so können wir die Gleichung mit x −1 multiplizieren, und mit (iii) folgt y = 0 . Mit (i) und (iv) folgt übrigens die wohlbekannte Rechenregel (−1)·(−1) = −(−1) = 1, die hiermit auch bewiesen ist. Wir werden alle diese Regeln im Folgenden verwenden, ohne explizit auf diesen Satz zu verweisen. Bemerkung In einem Körper ist ein Produkt also nur 0 , wenn wenigstens ein Faktor 0 ist. Man sagt, ein Körper ist nullteilerfrei. Bemerkung Wir haben etwas mühsam Dinge bewiesen, die wir über die reellen Zahlen ›immer schon‹ wussten. Der Satz gilt aber in jedem beliebigen 38 2 — Re e lle Z a hl en Körper, also auch dann, wenn dessen Elemente mit reellen Zahlen keine Ähnlichkeit haben, und die Zeichen + und · etwas völlig anderes bedeuten. Darin liegt die Stärke der axiomatischen Methode: Gelten die Körperaxiome, so gelten auch sofort eine Fülle weiterer Sätze, unabhängig davon, was man sich unter dem Körper vorstellt. In jedem Körper gelten die Regeln des Bruchrechnens, wie zum Beispiel a c ad + bc + = , b d bd Beweis (ab −1 falls bd ≠ 0. Aus den Axiomen folgt mit den vereinbarten Bezeichnungen + cd−1 )(bd) = ab−1 bd + cd−1 bd = ab−1 bd + cd−1 db = ad + bc. Somit ist ab−1 + cd−1 = (ad + bc)(bd)−1 , und das ist die Behauptung. 2.2 Die Anord n u n g s a x i om e Reelle Zahlen kann man nicht nur addieren und multiplizieren, man kann sie auch hinsichtlich ihrer Größe vergleichen. Sie bilden eine total geordnete Menge. Definition Eine total geordnete Menge ist eine Menge M mit einer Relation, üblicherweise mit < bezeichnet, mit folgenden Eigenschaften: (i) Für je zwei Elemente a, b ∈ M gilt eine und nur eine der drei Aussagen a < b, a = b, b<a (Trichotomie). (ii) Für a, b, c ∈ M gilt a < b ∧ b < c ⇒ a < c. (Transitivität). Genauer ist eine total geordnete Menge ein Paar (M, <) , bestehend aus einer Menge M und einer totalen Ordnung < auf ihr. Ist klar, welche Ordnung gemeint sind, spricht man einfach von der total geordneten Menge M . Bemerkung Diese Definition entspricht der Charakterisierung einer totalen Ordnung mithilfe der Relation < im Trichotomiesatz 1.13 . D ie A nor d n u n g s a x i o me — 2.2 39 Beispiel Die Mengen N , Z , Q mit dem vertrauten Größenvergleich < sind total geordnet. Eine totale Ordnung eines Körpers ist allerdings nur interessant, wenn sich diese auch mit den Körperoperationen verträgt. Dies wird in den folgenden Axiomen gefordert. Anordnungsaxiome Ein Körper K heißt angeordnet, wenn er durch eine Relation < total geordnet wird, so dass für alle a, b, c ∈ K gilt: (o-1) a < b ⇒ a + c < b + c , (o-2) 0 < a ∧ 0 < b ⇒ 0 < ab . Ein angeordneter Körper ist dann ein Quadrupel (K, +, · , <) , bestehend aus einem Körper K mit Addition + , Multiplikation · und totaler Ordnung < . Sind alle diese Bestandteile aus dem Kontext klar, sprechen wir einfach vom angeordneten Körper K . a. Der Körper Q mit der üblichen Ordnung ist angeordnet. b. Im Körper M der rationalen Funktionen mit rationalen Koeffizienten 1 wird eine totale Ordnung definiert, wenn man Funktionen mit an bm > 0 als positiv definiert. c. Die komplexen Zahlen werden durch a + bi ≺ c + di : (a < c) ∨ (a = c ∧ b < d) total geordnet. Man nennt dies die durch < induzierte lexikographische Ordnung auf C . Diese verträgt sich allerdings nicht mit den Körperoperationen. d. In der Tat kann C nicht angeordnet werden. Denn es ist i ≠ 0 , aber sowohl die Annahme i > 0 wie auch die Annahme i < 0 führen zu dem Widerspruch −1 = i 2 > 0 a-11 . e. Der Körper F = {0, 1} 1 kann ebenfalls nicht angeordnet werden. Denn wäre 0 < 1 , so wäre auch 1=0+1<1+1=0 wegen (o-1), ein Widerspruch. Dasselbe passiert mit der Annahme 1 < 0 . Noch etwas Notation und Terminologie. Man erklärt a b : a < b ∨ a = b sowie a > b : b < a und a B : b a . Ein Element a ∈ K heißt positiv im Fall a > 0 , nichtnegativ im Fall a 0 , nichtpositiv im Fall a 0 , und negativ im Fall a < 0 . Dies dürfte nicht weiter überraschen. 40 2 — Re e lle Z a hl en Rechenregeln Es folgen einige Rechenregeln für Ungleichungen in angeordneten Körpern, die für die reellen Zahlen ebenfalls wohlvertraut sind. 5 Rechenregeln In einem angeordneten Körper K gilt: (i) a > b a − b > 0 −a < −b , (ii) a > b ∧ c > 0 ⇒ ac > bc , (iii) a > b ∧ c < 0 ⇒ ac < bc , (iv) a ≠ 0 ⇒ a2 aa > 0 , (v) 1 > 0 , (vi) a > 0 ⇒ a−1 > 0 . Beweis (i) Addition von −b mit (o-1) ergibt a > b ⇒ a − b > b − b = 0. Addition von −a mit (o-1) ergibt dann a − b > 0 ⇒ −b > −a. Die umgekehrten Implikationen erhält man analog. (ii) Mit (i) ist a − b > 0 . Mit c > 0 und (o-2) folgt (a − b)c = ac − bc > 0 und damit ac > bc . (iii) Mit c < 0 ist −c > 0 wegen (i) und somit −ac > −bc mit (ii). Nochmalige Anwendung von (i) liefert die Behauptung. (iv) Ist a ≠ 0 , so ist entweder a > 0 oder a < 0 . Wegen (ii) folgt im ersten Fall a2 = aa > 0a = 0. Dasselbe erhält man im zweiten Fall mit (iii). (v) Dies folgt aus (iv) mit a = 1 und 1·1 = 1 . (vi) Wäre a > 0 und a−1 0 , so wäre wegen (ii) auch aa−1 = 1 0 , ein Widerspruch. Bemerkung Man beachte, dass wir 1 > 0 nicht als Axiom fordern mussten. Dies ist vielmehr bereits eine Folge der Axiome. Wir werden auch diese und ähnliche Regeln im Folgenden verwenden, ohne explizit auf den Satz zu verweisen. D ie A nor d n u n g s a x i o me — 2.2 41 Betrag Definition In einem angeordneten Körper ist der Betrag |a| eines Elementes definiert durch ⎧ ⎨ a für a 0, |a| ⎩ −a für a < 0. Der Betrag ist also eine Funktion |·| : K → K, a |a| . Für ihn gelten die folgenden Rechenregeln. 6 Rechenregeln für den Betrag Körper gilt: Für den Betrag |·| in einem angeordneten (i) |−a| = |a| 0 , (ii) − |a| a |a| , (iii) |a| = 0 a = 0 , (iv) |ab| = |a| |b| , (v) |x − a| < b a − b < x < a + b , (vi) |a + b| |a| + |b| (Dreiecksungleichung). Die Berechtigung der Bezeichnung Dreiecksungleichung wird sich erst im Kontext der komplexen Zahlen ergeben. Dort existiert eine ähnliche Betragsfunktion, auch wenn C nicht angeordnet ist. Beweis (i) Für a = 0 ist alles klar. Für a > 0 ist −a < 0 und somit |−a| = −(−a) = a = |a| > 0. Für a < 0 ist −a > 0 und deshalb |−a| = −a = |a| > 0. Für a = 0 ist wieder nichts zu tun. Für a > 0 ist (ii) |a| = a > 0 > −a = − |a| , Abb 1 |t| Graph der Betragsfunktion auf R 1 1 t 42 2 — Re e lle Z a hl en während für a < 0 |a| = −a > 0 > a = − |a| . Also folgt in allen Fällen die Behauptung. (iv) Dies folgt direkt aus (ii). (iii) Dies zeigt man mit den entsprechenden Fallunterscheidungen. (v) Mit (ii) angewandt auf |x − a| erhalten wir −b < − |x − a| x − a |x − a| < b. Addieren wir a und ignorieren den zweiten und vieren Term, so erhalten wir a − b < x < a + b. (vi) Für a + b 0 ist mit (ii) |a + b| = a + b |a| + |b| . Ist aber a + b < 0 , so ergibt sich ebenfalls mit (ii) und (i) |a + b| = −(a + b) = (−a) + (−b) |−a| + |−b| |a| + |b| . 7 Korollar Für den Betrag |·| gilt die umgekehrte Dreiecksungleichung |a| − |b| |a − b| . Wegen der Dreiecksungleichung ist |a| = |b + (a − b)| |b| + |a − b| und damit |a| − |b| |a − b| . Vertauschen wir a und b , so erhalten wir ebenso |b| − |a| |b − a| = |a − b| . Da einer der beiden linken Seiten gleich |a| − |b| sein muss, folgt die Behauptung. 2. 3 D as V olls t ä n d i g k e i t s a x i om Bisher haben wir über die reellen Zahlen nichts gesagt, was nicht auch für die rationalen Zahlen gilt – sowohl Q als auch R sind angeordnete Körper. Die rationalen Zahlen haben aber den großen Nachteil, dass es von ihnen ›nicht genug gibt‹. So gibt es keine rationale Zahl, deren Quadrat 2 ergibt 1.7 . D a s Vol l stä nd ig k e i t s a x i o m — 2.3 43 Es besteht somit die Notwendigkeit, die ›Löcher‹ zwischen den rationalen Zahlen ›auszufüllen‹. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen, zum Beispiel mit Hilfe von Dezimaldarstellungen, Cauchyfolgen, Intervallschachtelungen, oder dedekindschen Schnitten. Hier wollen wir jedoch nur das Ergebnis solcher Konstruktionen – also die Vollständigkeit der reellen Zahlen – axiomatisch beschreiben. Auch hier gibt es verschiedene Wege. Wir wählen den Weg über dedekindsche Schnitte, der nur wenig Aufwand benötigt und direkt zur Existenz von Infimum und Supremum führt. Dedekindsche Schnitte Für das Folgende ist es bequem, die < -Notation zu erweitern. Für Teilmengen A, B und Elemente c eines angeordneten Körpers K erklären wir A < c : a < c für alle a ∈ A, A < B : a < b für alle a ∈ A und b ∈ B. Entsprechend sind A c und A B erklärt. Definition Sei K ein angeordneter Körper. Ein Paar (A, B) nichtleerer Teilmengen von K heißt dedekindscher Schnitt, falls A ∪ B = K, A ∩ B = ∅, und A < B. Ein Element c ∈ K heißt Schnittzahl eines solchen Schnittes (A, B) , falls A c B. Die Mengen A und B bilden also eine Zerlegung von K : A ∪ B = K, A ∩ B = ∅. Sie bilden einen dedekindschen Schnitt, wenn außerdem beide Mengen nicht leer sind und A < B gilt. Eine Schnittzahl c ist ein Element von K , dass zwischen A und B ›passt‹. Aufgrund der Zerlegungseigenschaft gehört c entweder zu A oder zu B . Welche der beiden Mengen das ist, ist unerheblich. Ein Schnitt (A, B) muss keine Schnittzahl haben. Existiert sie aber, so ist sie eindeutig. Denn gäbe es zwei Schnittzahlen c1 ≠ c2 , so wäre d (c1 + c2 )/2 ebenfalls eine Schnittzahl, die strikt zwischen c1 und c2 liegt a-3 . Dann aber wäre A < d < B , ein Widerspruch zur Zerlegungseigenschaft von A und B . 44 2 — Re e lle Z a hl en a. Für jedes c ∈ K ist A {a ∈ K : a c } , B {a ∈ K : c < a} ein dedekindscher Schnitt mit Schnittzahl c . Dasselbe gilt, wenn < und vertauscht werden. b. Im angeordneten Körper Q definieren die Mengen A {r ∈ Q : r 0 ∨ r 2 < 2} , B {r ∈ Q : r > 0 ∧ r 2 > 2} , einen dedekindschen Schnitt. Dieser besitzt in Q allerdings keine Schnittzahl, denn diese wäre eine Lösung der Gleichung x 2 = 2 – siehe Abschnitt 4. Die Forderung, dass die reellen Zahlen keine ›Löcher‹ aufweisen, übersetzt sich nun in die Forderung, dass es dort keine dedekindschen Schnitte ohne Schnittzahl gibt. Man sagt dazu auch, die reellen Zahlen seien vollständig. Vollständigkeitsaxiom Ein angeordneter Körper K heißt vollständig, wenn jeder dedekindsche Schnitt eine Schnittzahl besitzt. Damit haben wir alle Axiome versammelt, die wir für die Beschreibung der reellen Zahlen benötigen. Charakterisierung der reellen Zahlen Die reellen Zahlen bilden einen vollständigen angeordneten Körper, der mit R bezeichnet wird. Dieser Körper ist, wie wir noch in Abschnitt 7 skizzieren werden, bis auf Isomorphie eindeutig. Daher ist es auch berechtigt, ihn mit einem einzigen Symbol, R , zu bezeichnen und von dem Körper der reellen Zahlen zu sprechen. Damit ist natürlich noch nichts über die Existenz der reellen Zahlen gesagt. Dies erfordert eine Konstruktion, die ausgehend von den natürlichen Zahlen N das Gebäude aus ganzen, rationalen und reellen Zahlen aufbaut. Dies werden wir, wie gesagt, hier nicht tun. Vielmehr gehen wir von der Existenz eines solchen Körpers R aus, und werden im nächsten Kapitel die natürlichen, ganzen und rationalen Zahlen in ihm ›wiederentdecken‹. Supremum und Infimum Die Vollständigkeit eines angeordneten Körpers steht in einem engen Zusammenhang mit der Existenz des Supremums und Infimums nichtleerer beschränkter Teilmengen. In der Tat sind dies zwei Seiten ein- und derselben Medaille. — Zunächst zwei Begriffe für beliebige total geordnete Mengen. D a s Vol l stä nd ig k e i t s a x i o m — 2.3 45 Definition Sei M eine total geordnete Menge. Eine Teilmenge A ⊂ M heißt nach oben beschränkt, wenn es ein Element t ∈ M gibt, so dass A t. Man nennt dann t eine obere Schranke von A . Unter allen oberen Schranken einer nach oben beschränkten Teilmenge gibt es nicht unbedingt eine kleinste 8 . Existiert sie aber, so nennt man sie das Supremum dieser Menge. Die genaue Definition ist folgende. Definition Sei M total geordnet und A ⊂ M . Existiert eine obere Schranke t0 von A , so dass jedes s ∈ M mit s < t0 keine obere Schranke von M ist, so heißt t0 die kleinste obere Schranke oder das Supremum von A . Das Supremum von A ist also eine obere Schranke von A , die von keiner anderen oberen Schranke von A unterboten wird. Für jede obere Schranke t von A gilt somit A sup A t, und für jedes t ∈ M mit t < sup A existiert ein a ∈ A mit t < a . Wenn ein Supremum existiert, so ist es offensichtlich eindeutig. Analog werden nach unten beschränkt und untere Schranke von A definiert. Existiert eine größte untere Schranke, so wird sie Infimum von A genannt und mit inf A bezeichnet. Für jede untere Schranke s von A gilt dann s inf A A, und für jedes t ∈ M mit t > inf A existiert ein a ∈ A mit a < t . 8 a. Jedes abgeschlossene Intervall 3 [a, b] ist nach oben und unten beschränkt, und es ist Beispiele a = inf [a, b] , b = sup [a, b] . In diesem Fall gehören Supremum und Infimum ebenfalls zu [a, b] . b. Für offene Intervalle (a, b) endlicher Länge gilt ebenfalls a = inf (a, b) , b = sup (a, b) , aber diese Punkte gehören nicht zu (a, b) . 3 Die folgenden Beispiele greifen auf die Intervallnotation vor, die wir in Abschnitt 6 einführen. 46 2 — Re e lle Z a hl en c. Das Intervall (−∞, 0) ist nach oben beschränkt mit sup (−∞, 0) = 0 und nach unten unbeschränkt. d. Im angeordneten Körper Q ist die Menge A = {r ∈ Q : r > 0 ∧ r 2 < 2} nach oben beschränkt. Sie besitzt aber in Q kein Supremum. Denn dieses wäre eine Lösung der Gleichung x 2 = 2 , die es in Q nicht gibt 1.7 . e. Die leere Menge ist in jeder total geordneten Menge nach oben und unten beschränkt. Supremumseigenschaft Betrachten wir nun wieder einen angeordneten Körper K , so ist die Existenz eines Supremums oder Infimums für jede nichtleere beschränkte Teilmenge äquivalent zur Vollständigkeit, wie der folgende Satz zeigt. 9 Satz In einem angeordneten Körper K sind folgende Aussagen äquivalent. (i) Jeder dedekindsche Schnitt besitzt eine Schnittzahl. (ii) Jede nichtleere, nach oben beschränkte Menge besitzt ein Supremum. (iii) Jede nichtleere, nach unten beschränkte Menge besitzt ein Infimum. Beweis (i) ⇒ (ii) Wir nehmen an, dass jeder dedekindsche Schnitt eine Schnittzahl besitzt. Zu zeigen ist, dass dann jede nach oben beschränkte, nichtleere Teilmenge von K ein Supremum besitzt. Sei also M eine solche Teilmenge. Dann ist die Menge aller strikten oberen Schranken von M , B {b ∈ K : M < b } , nicht leer, und es gilt M ∩ B = ∅ . Ferner ist auch die Menge AKB nicht leer, da M ⊂ A . Offensichtlich gilt A ∩ B = ∅, A ∪ B = K. Wir behaupten nun, dass A < B . Wäre dem nicht so, so gäbe es ein a ∈ A und ein b ∈ B mit a b . Da b eine obere Schranke von M ist, wäre auch a eine obere Schranke von M und damit Element von B , und nicht von A , ein Widerspruch. Also bilden A und B einen dedekindschen Schnitt. D a s Vol l stä nd ig k e i t s a x i o m — 2.3 47 Nach Voraussetzung existiert dazu eine Schnittzahl c , also ein c ∈ K mit A c B. Wegen M ⊂ A ist c eine obere Schranke von M , und wegen c B ist es die kleinste obere Schranke. Also ist c = sup M. Somit besitzt jede nach oben beschränkte Menge ein Supremum. (ii) ⇒ (i) Nun nehmen wir umgekehrt an, dass jede nichtleere, nach oben beschränkte Menge ein Supremum besitzt. Zu zeigen ist, dass jeder dedekindsche Schnitt eine Schnittzahl besitzt. Sei (A, B) ein dedekindscher Schnitt. Da B nicht leer ist, ist A wegen A < B nach oben beschränkt, und nach Annahme existiert c = sup A. Es gilt dann auch c B , denn andernfalls gäbe es ein b ∈ B mit b < c , und b wäre eine kleinere obere Schranke von A als c und c damit nicht das Supremum von A . Also gilt A c B. Somit besitzt jeder dedekindsche Schnitt eine Schnittzahl. (i) (iii) Diese Aussage ist symmetrisch zur Aussage (i) (ii) und wird genauso bewiesen. Die Existenz von Schnittzahlen ist also äquivalent zur Existenz des Supremums für jede nach oben beschränkte Menge. Das Vollständigkeitsaxiom wird daher auch oft wie folgt formuliert. 10 Äquivalentes Vollständigkeitsaxiom Ein angeordneter Körper K heißt vollständig, wenn jede nicht leere, nach oben beschränkte Teilmenge ein Supremum besitzt. Wir haben die Charakterisierung durch Dedekindsche Schnitte gewählt, da diese konzeptionell einfacher ist. Sie führt auch direkt zu einer Konstruktion der reellen Zahlen aus den rationalen Zahlen a-34 . Bemerkung In Abschnitt 5.7 werden wir noch eine weitere, wesentlich allgemeinere Charakterisierung der Vollständigkeit mithilfe von Cauchyfolgen kennenlernen, die nicht auf Anordnungen basiert. 48 2 — Re e lle Z a hl en 2. 4 Wurzel n Wir zeigen jetzt, dass jede positive reelle Zahl tatsächlich eine Wurzel hat. Die reellen Zahlen leisten also das, was die rationalen Zahlen nicht leisten. 11 Satz und Definition Zu jeder reellen Zahl a > 0 existiert genau eine reelle Zahl w > 0 mit w 2 = a . Diese wird mit a bezeichnet und Quadratwurzel oder kurz Wurzel von a genannt. Für diese gilt dann w = a w 2 = a ∧ w > 0. Beweis Für positive reelle Zahlen u und v gilt a-15 u < v u2 < v 2 . (1) Zwei verschiedene positive reelle Zahlen können daher nicht Wurzel derselben Zahl a > 0 sein. Dies zeigt die Eindeutigkeit der Wurzel. 4 Um ihre Existenz zu zeigen, bemerken wir zunächst, dass −1 a = 1/a , a > 0, denn die Quadrate beider Seiten sind gleich. Durch Betrachten des Kehrwertes können wir den Fall 0 < a 1 somit auf den Fall a 1 zurückführen. Es ist dann insbesondere a2 a 1 . Sei also a 1 . Betrachte die Menge A = x ∈ R : x 0 ∧ x2 a . Diese Menge ist nicht leer, denn wegen 02 = 0 < 1 a gilt 0 ∈ A . Sie ist auch beschränkt, denn aus x 2 a a2 folgt mit (1) auch x a . Somit ist A a . Also existiert w = sup A . Wir zeigen, dass w 2 = a . Dazu betrachten wir die reelle Zahl v=w− w2 − a . w +a (2) Eine kurze Rechnung ergibt v 2 = a + c(w 2 − a) (3) mit c= a2 − a 0. (w + a)2 4 Die Eindeutigkeit eines Objektes ist meist erheblich leichter zu zeigen als dessen Existenz. Daher erledigt man dies üblicherweise zuerst. D ie er weiter te Z ah le n g e r a d e — 2.5 49 Wäre nun w 2 > a , so folgt v < w mit (2) sowie a v 2 mit (3). Wegen x a v 2 und (1) wäre dann v eine bessere obere Schranke von A als dessen Supremum w , ein Widerspruch. Wäre andererseits w 2 < a , so folgt w < v wieder mit (2) sowie v 2 a mit (3). Somit wäre v ∈ A und w keine obere Schranke von A , ebenfalls ein Widerspruch. Bleibt also nur 2 w 2 = a, womit die Existenz der Wurzel aus a gezeigt ist. Bemerkung Derselbe Beweis zeigt übrigens auch, dass im angeordneten Körper Q die Menge A = x ∈ Q : x 0 ∧ x2 < 2 kein Supremum besitzt. Denn dieses wäre ja eine Lösung von x 2 = 2 , die es in Q nicht gibt 1.7 . 2. 5 D ie erwei t e r t e Z a hlen g e r a d e Ist eine nichtleere Teilmenge A der reellen Zahlen nach oben beschränkt, so existiert deren Supremum als Element in R . Dafür schreibt man auch sup A < ∞. Ist dagegen A nach oben unbeschränkt, so schreibt man dafür auch sup A = ∞. Analoges gilt für inf A > −∞ und inf A = −∞ . Auch in vielen anderen Situationen sind die Symbole ∞ und −∞ nützlich. Um deren Verwendung zu regeln, treffen wir daher folgende Vereinbarung. Definition Unter der erweiterten Zahlengerade versteht man die Menge R̄ R ∪ {−∞, ∞} zusammen mit der Vereinbarung −∞ < x < ∞ für alle x ∈ R . Achtung Das Rechnen mit den Symbolen ∞ und −∞ ist nur in speziellen Fällen möglich – siehe Abschnitt 5.6. Daher ist R̄ kein Körper und kann auch nicht dazu gemacht werden. 50 2 — Re e lle Z a hl en Der folgende Satz charakterisiert die Approximierbarkeit von sup A durch Punkte in A und gilt gleichermaßen für beschränkte und unbeschränkte Mengen. Vereinbaren wir außerdem sup ∅ −∞, inf ∅ ∞, so gilt er sogar für die leere Menge. 12 Approximationssatz Sei A ⊂ R eine beliebige Teilmenge. Dann existiert zu jeder reellen Zahl s < sup A ein a ∈ A mit s < a sup A, und zu jeder reellen Zahl t > inf A existiert ein a ∈ A mit inf A a < t. Beweis Wir betrachten das Supremum, der Beweis für das Infimum verläuft analog. Für A = ∅ ist nichts weiter zu zeigen, da es keine reelle Zahl kleiner als sup A = −∞ gibt. Sei also A ≠ ∅ und s < sup A eine beliebige reelle Zahl. Gäbe es kein a ∈ A mit a > s , so wäre A s < sup A. Falls sup A < ∞ , so widerspricht dies der Eigenschaft von sup A , die kleinste obere Schranke von A zu sein. Falls aber sup A = ∞ , so widerspricht dies der Unbeschränktheit von A . In jedem Fall erhalten wir einen Widerspruch. Also gibt es ein a ∈ A mit a > s . Ist also A ⊂ R eine beliebige Teilmenge, so wird jede reelle Zahl unterhalb von sup A durch ein Element in A übertroffen. Man kann also sup A innerhalb von A beliebig gut approximieren – daher der Name Approximationssatz. Später werden wir zeigen, dass es sogar Folgen von Punkten in A gibt, die gegen das Supremum konvergieren. Dasselbe gilt entsprechend für das Infimum. Abb 2 Zum Approximationssatz A s a sup A I n t e r v a lle — 2.6 51 2. 6 Intervalle Die wichtigsten Teilmengen der reellen Zahlen sind die Intervalle. Definition Ein Intervall ist eine Teilmenge der reellen Zahlen, die mit je zwei Punkten 5 auch alle dazwischen liegenden Punkte enthält. Beispiele a. Die leere Menge ∅ ist ein Intervall, denn die Voraussetzung, zwei Punkte in ihr zu finden, ist schon nicht erfüllt. b. Ebenso ist jede 1-Punkt-Menge {a} ein Intervall. c. Enthält ein Intervall I wenigstens zwei Punkte u < v , so enthält es auch jede reelle Zahl a mit u a v . Ist ein Intervall I nicht leer, so definieren wir a = inf I, b = sup I als dessen linken respektive rechten Endpunkt. Diese Punkte gehören zur erweiterten Zahlengerade R̄ , die Fälle a = −∞, b=∞ sind also möglich. Ebenso kann a = b sein. Ist a < b , so folgt aus dem Approximationssatz 12 und der Definition des Intervalls, dass auch die Menge {x ∈ R : a < x < b } zu I gehört. Intervalle unterscheiden sich daher nur darin, welche Endpunkte dazu gehören und welche nicht. Definition Ein nichtleeres Intervall I heißt links abgeschlossen, falls es seinen linken Endpunkt enthält, andernfalls heißt es links offen. Entsprechend sind rechts abgeschlossen und rechts offen erklärt. Es gibt somit vier Arten von Intervallen: das offene Intervall (a, b) {x ∈ R : a < x < b } , −∞ a b ∞, mit der Vereinbarung (a, a) = ∅ ; das abgeschlossene Intervall [a, b] {x ∈ R : a x b } , −∞ < a b < ∞, mit der Vereinbarung [a, a] = {a} ; und die halboffenen Intervalle 5 (a, b] {x ∈ R : a < x b } , −∞ a b < ∞, [a, b) {x ∈ R : a x < b } , −∞ < a b ∞. Punkt meint hier also Zahl. 52 2 — Re e lle Z a hl en Abb 3 Verschiedene Intervalle (−∞, a) {d} [b, c] a b c d (e, f ) e f Dabei sind die Symbole ∞ und −∞ genau dann zugelassen, wenn das betreffende Intervallende offen ist. Daher sind alle diese Intervalle Teilmengen von R . a. Das leere Intervall ∅ ist sowohl offen wie abgeschlossen. 6 b. Jede Ein-Punkt-Menge {a} ⊂ R ist ein abgeschlossenes Intervall. c. R = (−∞, ∞) ist ein offenes Intervall. d. R∗ R {0} ist kein Intervall. Ein Intervall heißt nichtentartet, wenn es mehr als einen Punkt enthält. Die Länge eines nichtleeren Intervalls I ist definiert als |I| sup I − inf I. Vereinbarungsgemäß nimmt |I| den Wert ∞ genau dann an, wenn I unbeschränkt ist. a. Ein Intervall I ist nichtentartet genau dann, wenn |I| > 0 . b. Es ist |[a, a]| = 0 , |[a, b]| = |(a, b)| = b − a, a < b. c. Ferner ist |(−∞, ∞)| = ∞ − (−∞) = ∞ + ∞ = ∞ 5.6 . 2. 7 Eindeut i g k e i t Wir haben erklärt, was es bedeutet, dass die reellen Zahlen einen vollständigen, angeordneten Körper bilden. Wir wollen jetzt noch kurz skizzieren, dass es im Wesentlichen nur einen solchen Körper gibt. Es ist durchaus möglich, ganz unterschiedliche Modelle der reellen Zahlen zu konstruieren – also total geordnete Mengen mit zwei Operationen, in denen 6 Im Unterschied zur Umgangssprache schließen sich ›offen‹ und ›abgeschlossen‹ also nicht gegenseitig aus. E in d e ut i g k e i t — 2 . 7 53 sämtliche geforderten Axiome gelten a-34 . Diese verschiedenen Modelle sind jedoch alle von derselben Gestalt – man kann sie mitsamt ihren Strukturen eins-zu-eins aufeinander abbilden. Mathematisch gesprochen sind sie isomorph. Im Fall der reellen Zahlen bedeutet dies Folgendes. 13 Isomorphiesatz Sind (R, +, ·, <) und (R , + , · , < ) zwei vollständige angeordnete Körper, so existiert eine bijektive Abbildung Φ : R → R derart, dass Φ(x + y) = Φ(x) + Φ(y), Φ(x ·y) = Φ(x) · Φ(y) (4) und x < y Φ(x) < Φ(y) für alle x, y ∈ R gilt. Es spielt also zum Beispiel keine Rolle, ob ich zwei Operanden zuerst in R addiere und das Ergebnis mit Φ abbilde, oder ob ich zuerst die Operanden mit Φ abbilde und danach in R addiere. Beweisskizze Für jede Abbildung Φ mit den geforderten Eigenschaften gilt notwendigerweise Φ(0) = 0 und Φ(1) = 1 , denn beispielsweise ist wegen (4) Φ(x) = Φ(x + 0) = Φ(x) + Φ(0) für alle x ∈ R und damit Φ(0) = 0 . Es ist daher notwendigerweise Φ(0) 0 , Φ(1) 1 zu definieren. Soll nun (4) gelten, so ist Φ damit auch für alle natürlichen, ganzen und rationalen Zahlen festgelegt 7 . Zum Beispiel ist Φ(2) = Φ(1 + 1) = Φ(1) + Φ(1) = 1 + 1 . Mit Hilfe der Vollständigkeit dehnt man die Definition von Φ schließlich auf ganz R aus. Bemerkung Die angeordneten Körper R und Q sind nicht isomorph, denn es gibt keine Bijektion zwischen R und Q – siehe dazu Abschnitt 3.3. 7 Diese Zahlen werden im nächsten Abschnitt eingeführt. 54 2 — Re e lle Z a hl en A u fgab en 1 Welche Aussagen sind wahr? a. Die reellen Zahlen sind vollständig, weil es mehr reelle als rationale Zahlen gibt. b. In einer beschränkten Menge A ⊂ R existiert immer ein Element a = inf A . c. Ein abgeschlossenes Intervall ist beschränkt. d. Aus ab = −ab folgt b = 0 . e. Es gibt kein leeres Intervall. f. In Q besitzt keine Teilmenge ein Supremum. g. R̄ ist ein vollständiger Körper. h. Jede Zerlegung von R besitzt eine Schnittzahl. 2 3 Warum hat in einem Körper die Null kein multiplikativ Inverses? Sei K ein angeordneter Körper und 2 1 + 1 . Zeigen sie: a. 0 < 1 < 2 . b. Ist a < b , so ist a < (a + b)/2 < b . 4 Zu jedem t ∈ [a, b] gibt es genau ein λ ∈ [0, 1] , so dass t = (1 − λ)a + λb . 5 Aus b > 0 , d > 0 und a/b < c/d folgt a a+c c < < . b b+d d 6 Ist (A, B) ein Dedekindscher Schnitt in R , so existiert genau eine reelle Zahl σ , so dass entweder A = (−∞, σ ] , B = (σ , ∞) oder A = (−∞, σ ) und B = [σ , ∞) . 7 Ist R mit den beiden Operationen a ⊕ b a + b, a b ab/2 ein Körper? 8 Sei K ein Körper und c ∈ K . Untersuchen sie die Abbildung τc : K → K, τc (a) = a − c auf Injektivität, Surjektivität und Bijektivität. 9 In einem Körper K mit Addition ! und Multiplikation " sei die Null und die ¯ bezeichnet. Zeigen sie, Eins. Das additiv Inverse zu einem Element werde mit dass ¯ " ¯ = . 10 Der Restklassenring Zp 11 Existieren in einem Körper K zwei Elemente a und b mit a2 + b2 = −1, a-1.24 bildet einen Körper genau dann, wenn p prim ist. Aufg a b e n — 2 55 so kann dieser Körper nicht angeordnet werden. 12 Eine Teilmenge P eines Körpers K heißt Positivbereich, wenn gilt: (p-1) Für jedes a ∈ K gilt genau eine der drei Aussagen a ∈ P , a = 0 , −a ∈ P . (p-2) Mit a, b ∈ P ist auch a + b ∈ P und ab ∈ P . Man zeige: Ist P ⊂ K ein Positivbereich, so wird K durch a < b : b − a ∈ P total geordnet. Ist umgekehrt K total geordnet, so ist P {a ∈ K : a > 0} ein Positivbereich. 13 Man zeige, dass es in R nur einen Positivbereich a-12 gibt. 14 Sei σ eine positive reelle Zahl derart, dass σ ∉ Q und σ 2 ∈ Q , und Q(σ ) {a + bσ : a, b ∈ Q} . Zeigen sie: a. Q(σ ) mit der von den reellen Zahlen geerbten Addition und Multiplikation bildet einen Körper, genauer einen Unterkörper von R . b. In diesem Körper bilden P+ {a + bσ : a + bσ > 0} , P– {a + bσ : a − bσ > 0} beides Positivbereiche 12 . c. Q(σ ) ist nicht vollständig. 15 Für zwei positive Elemente a, b eines angeordneten Körpers gilt 16 a < b a2 < b 2 . √ Für alle x ∈ R gilt x 2 = |x| . 17 Für jede reelle Zahl x gilt x = sup {t ∈ R : t < x } . 18 Seien A und B zwei nichtleere Teilmengen von R mit A B . Dann gilt auch sup A inf B . 19 Für beliebige Teilmengen A, B von R sei −A {−a : a ∈ A} , A + B {a + b : a ∈ A, b ∈ B } . Sind A und B nichtleer und beschränkt, so gilt sup (−A) = − inf A, sup (A + B) = sup A + sup B. Gilt Letzteres auch für die Multiplikation? 20 Seien M1 , M2 , . . nichtleere Teilmengen von R und M = sup M = sup (sup Mn ) . n 1 n 1 Mn . Dann gilt 56 21 2 — Re e lle Z a hl en Es sei M ⊂ R nicht leer und inf M > 0 . Dann ist die Menge M {1/x : x ∈ M } nach oben beschränkt ist, und es gilt sup M = 1/ inf M . 22 Ungleichung vom arithmetischen und geometrischen Mittel 23 ab Für a, b 0 gilt a+b . 2 Cauchyungleichung Für reelle Zahlen a, b und ε > 0 gilt 2ab εa2 + b2 /ε. 24 Für reelle Zahlen a, b ≠ 0 gilt a + b 2. b a 25 Beweisen sie für reelle Zahlen a, b die Identitäten Für welche a, b gilt Gleichheit? max {a, b } = a + b + |a − b| , 2 min {a, b } = a + b − |a − b| . 2 Was gilt für max {a, b } − min {a, b } ? 26 Für a, b, c ∈ R gilt |a + b| + |a − b| |a| + |b| und |a| + |b| + |c| + |a + b + c| |a + b| + |b + c| + |c + a| Wann gilt Gleichheit? 27 Sei I ⊂ R ein offenes Intervall. Welche Gestalt hat dann R I ? Diskutieren sie alle möglichen Fälle. 28 Sei A ⊂ R eine beliebige Teilmenge. Dann gilt für jedes s ∈ R mit inf A < s < sup A A ∩ (s, ∞) ≠ ∅, 29 A ∩ (−∞, s) ≠ ∅. Eine reelle, nicht rationale Zahl wird irrational genannt – was nicht mit unvernünftig zu übersetzen ist. Zeigen sie: Sind a, b, c, d rational mit ad − bc ≠ 0 , und ist x irrational mit cx + d ≠ 0 , so ist auch ξ ax + b cx + d irrational. 30 Zeigen sie, dass die Wurzelfunktion das Intervall [0, ∞) bijektiv auf sich selbst abbildet und streng monoton steigt: a < b. 0a<b ⇒ Aufg a b e n — 2 31 32 57 Seien r rational und z irrational. Zeigen sie, dass auch r + z und r z irrational sind. Eine Folge (In )n 1 nichtleerer abgeschlossener Intervalle heißt Intervallschachtelung, wenn In+1 ⊂ In für alle n 1 , und wenn zu jedem ε > 0 ein In mit |In | < ε existiert. Zeigen sie: a. Zu jeder Intervallschachtelung (In )n 1 existiert genau ein x ∈ R , so dass In = {x } . n 1 b. Zu jedem x ∈ R gibt es eine solche Intervallschachtelung mit rationalen Endpunkten. 33 In R sei eine Operation ∗ erklärt durch a∗b a+b+ ab λ mit einem festen λ ≠ 0 . a. Die Operation ∗ ist kommutativ, assoziativ und besitzt ein neutrales Element. b. Welche Elemente besitzen ein inverses Element? 34 Dedekindsche Konstruktion der reellen Zahlen Es sei R die Familie aller Teilmengen R von Q mit folgenden Eigenschaften: (d-1) ∅ ⊊ R ⊊ Q , (d-2) R c < R , (d-3) R besitzt kein minimales Element. Das heißt, es ist inf R ∉ R . Die Idee ist, dass jedes R ∈ R den ›oberen‹ Teil eines Dedekindschen Schnittes repräsentiert. Dann gilt Folgendes. a. Durch R < S : S ⊊ R wird R total geordnet. b. Durch R+S r +s : r ∈R∧s ∈S wird auf R eine Addition erklärt, die sämtliche Additionsaxiome erfüllt. Dabei sind O {r ∈ Q : r > 0} , −R s ∈ Q : s + R > O , die Null und das additiv Inverse zu R , respektive. c. Eine Multiplikation wird zuerst für R, S > O definiert durch RS r s : r ∈ R ∧ s ∈ S . Das neutrale Element dieser Multiplikation ist I r ∈Q: r >1 . (×) 58 2 — Re e lle Z a hl en d. Die Definition der Multiplikation wird vervollständigt durch OR O , RO O und ⎧ ⎪ ⎪ ⎪ −((−R)S), R < O < S, ⎨ RS −(R(−S)), S < O < R. ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ (−R)(−S), R, S < O. Auf der rechten Seite stehen nur Produkte positiver Elemente, die in (×) erklärt wurden. Es gelten dann alle Axiome der Multiplikation und das Distributivgesetz. e. Mit diesen Vereinbarungen wird (R, +, ·, <) ein angeordneter Körper. Insbesondere gelten auch die Anordnungsaxiome. f. Jede nach unten beschränkte Teilmenge M ⊂ R besitzt ein Infimum, nämlich inf M = R. R∈M Somit besitzt R die Infimumseigenschaft und ist deshalb vollständig 9 . g. Die Abbildung φ : Q → R, r R= s∈Q: r <s bettet den Körper Q in den Körper R ein, verträgt sich also mit der Anordnung und den Operationen wie im Isomorphiesatz 13 gefordert. Sie ist injektiv, aber nicht surjektiv. http://www.springer.com/978-3-658-05798-5