3. Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Im Verbalsystem der romanischen Sprachen ist der Ausdruck von Aspektualität eng mit dem Ausdruck von Temporalität verbunden. Wie im ersten Kapitel bereits dargestellt, gibt es in diesen Sprachen keine Verbform, die nur aspektuelle Qualitäten ausdrücken würde und die Existenz des Aspekts als solchem wurde außerdem vielfach angezweifelt. Allerdings mussten wir für bestimmte Verbformen feststellen, dass ihnen eher aspektuelle Merkmale zukommen als temporale (vgl. 2.3.3.). Im Folgenden soll zunächst das Verhältnis der Kategorie der Aspektualität zum grammatischen Aspekt geklärt werden. Danach werden wir uns verschiedenen Ausdrucksmitteln der Aspektualität zuwenden und ihre Interaktion beschreiben. 3.1. Aspektualität und Aspekt 3.1.1. Gibt es Aspekt in den romanischen Sprachen? Der Aspekt ist eine grammatische Kategorie des Verbs, die eine ganzheitliche Darstellung einer Situation oder eine Darstellung im Verlauf ermöglicht. Mit dem Aspekt wird die zeitliche Lage der vom Verb beschriebenen Situation ausgedrückt. Der Aspekt unterscheidet sich von der benachbarten Kategorie Tempus dadurch, dass ihm keine deiktische Qualität zukommt, er also kein Verhältnis einer betrachteten Zeit zur Sprechaktzeit ausdrückt. In einem kurzen Aufsatz hat Pottier (2012: 141) versucht, eine terminologische Klärung der Aspektproblematik durch unterschiedliche Schreibweisen herzustellen. Die auf die morphologische Klasse des Verbs konzentrierte grammatische Kategorie des Aspekts nennt er aspect, die universelle konzeptuelle Kategorie der Aspektualität ASPECT und die unterschiedlichen sprachlichen Mittel, die zum Ausdruck letzterer beitragen, aspectualisations. In der Tat scheint es sinnvoll, zwischen der in einigen Sprachen grammatikalisierten und als Korrelation perfektiver und imperfektiver Verben ausgeprägten Kategorie des Aspekts, der onomasiologisch definierten Kategorie der Aspektualität und den einzelnen, semasiologisch zu untersuchenden sprachlichen Mitteln, die eine Aspektualisierung bewirken, zu unterscheiden. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 182 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Wie bereits unter 2.2.5. festgestellt wurde, gibt es in den romanischen Sprachen keine Verbform, die – wie ansatzweise noch der altgriechische Aorist – nur aspektuelle Merkmale ohne Temporalität ausdrücken würde. Auch eine Korrelation von jeweils zwei Verben, die sich als imperfektiv bzw. perfektiv gegenüberstehen, wie sie in den slavischen Sprachen gegeben ist, ist in den romanischen Sprachen nicht vorhanden. Auch in den slavischen Sprachen handelt es sich bei den in Aspektkorrelation zueinander stehenden Verben meist nicht mehr wie in frühen indoeuropäischen Sprachstufen um unterschiedliche Stämme,25 sondern um morphologisch aufeinander bezogene Verben. Aus dem imperfektiven Verb entsteht zum Beispiel durch Präfigierung ein perfektives Verb: imperfektiv perfektiv jam (ям) izjam (изям) obersorbisch jěsć zjěsć niedersorbisch jěsć zjěsć polnisch jeść zjeść russisch jest’ (есть) s”jest’ (съесть) serbisch jesti (јести) pojesti (појести) tschechisch Jíst pojíst ukrainisch jisty (їсти) z”jisty (з’їсти) bulgarisch deutsch essen Andererseits können durch Suffigierung aus perfektiven Verben imperfektive gebildet werden. Ein Beispiel dafür ist das russische Suffix -ва-: сдать (‛ablegen’, perfektiv) → сдавать (‛ablegen’, imperfektiv) Auch eine solche auf morphologischen Kriterien beruhende Aspektkorrelation ist in romanischen Sprachen nicht vorhanden. Da es keine systematischen Züge in den romanischen Sprachen gibt, die Aspekt ausdrücken würden, und die Verbformen mit aspektuellen Merkmalen gleichzeitig auch Temporalität ausdrücken, wurde von einigen Autoren der Aspekt als für romanische Sprachen relevante Kategorie negiert oder es wurde auf ihn in ihrer Beschreibung verzichtet. _____________ 25 Zum Verbalsystem mit drei Aspekten vgl. Hewson & Bubenik (1997: 25–66), zur Entwicklung der Aspektproblematik im Verbalsystem indoeuropäischer Sprachen vgl. Hewson & Bubenik (1997: 209–350). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 183 Ein Autor wie Weinrich verzichtet zum Beispiel auf den Gebrauch der Begriffe ‛Aspekt’ und ‛Aspektualität’, obwohl er mit der Reliefgebung in Texten Sachverhalte beschreibt, die durchaus mit Aspektualität zu tun haben. Nach Weinrich (2001 [1964], 1973, 1982) gibt es drei Bedeutungsdimensionen, nach denen das Tempus-System organisiert ist. Diese beruhen auf folgenden semantischen Oppositionen (Weinrich 1982: 157): - Tempus-Perspektive: Rückschau vs. Vorausschau Tempus-Register: Besprechen vs. Erzählen Tempus-Relief: Vordergrund vs. Hintergrund Mit der Tempus-Perspektive unterscheidet er die Zeit, in der ein Text produziert wird (Textzeit) von der Zeit, in der sich die dargestellten Handlungen abspielen. Dabei kann der Sprecher dem Rezipienten aus der Perspektive seines Jetzt mitteilen, ob die Handlungszeit vor der Textzeit oder nach der Textzeit liegt. Die daraus resultierenden Perspektiven nennt er Rück-Perspektive und Voraus-Perspektive. Der Voraus-Perspektive ordnet Weinrich das Futur und den Konditional, der Rück-Perspektive das zusammengesetzte Perfekt, das Plusquamperfekt sowie das als „RückAorist“ bezeichnete passé antérieur zu. Wenn der Sprecher der Meinung ist, dass der Rezipient nicht ausdrücklich auf eine mögliche Differenz zwischen Textzeit und Handlungszeit aufmerksam gemacht werden muss, weil diese entweder nicht besteht oder nicht relevant ist, kann er auch eine Neutral-Perspektive gebrauchen. Diese setze den Hörer davon in Kenntnis, dass zur Zeit weder eine Rückschau noch eine Vorausschau angezeigt ist. Dieser Neutral-Perspektive ordnet Weinrich das Präsens, das Imperfekt und das als Aorist bezeichnete passé simple zu (Weinrich 1982: 159). Tempus-Perspektive Neutral-Perspektive Präsens Imperfekt Aorist („Passé simple“) Differenz-Perspektive Rück-Perspektive Voraus-Perspektive Perfekt Futur Plusquamperfekt Konditional Rück-Aorist (Passé antérieur) Als zweite Bedeutungsdimension im Tempussystem betrachtet Weinrich das Tempus-Register, durch dessen Wahl der Sprecher dem Hörer zu verstehen gebe, welche Rezeptionshaltung er für angemessen hält. Er ordnet die wichtigsten Tempora nach den in binärer Opposition stehen- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 184 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen den Merkmalen ʽbesprechenʼ und ʽerzählenʼ in zwei Gruppen ein (Weinrich 1982: 161): Tempus-Register besprechende Tempora Präsens Perfekt Futur erzählende Tempora Imperfekt/Aorist (passé simple) Plusquamperfekt/Rück-Aorist Konditional Mit den besprechenden Tempora weise der Sprecher den Hörer an „die Rezeptionshaltung gespannter Hinwendung zu wählen“ (Weinrich 1982: 161). Da diese Haltung gewöhnlich Handlungen gegenüber angenommen wird, werden besprechende Texte wie solche aufgenommen und auch mit Handlungen beantwortet. Durch erzählende Tempora bedeute der Sprecher dem Rezipienten hingegen, „dass der Text mit entspannter Gelassenheit aufgenommen werden darf“ (Weinrich 1982: 161). Eine unmittelbare Reaktion auf die Äußerung wird nicht erwartet, jedoch wird die Vorstellungskraft der Rezipienten stärker gefordert. Besprechende und erzählende Tempora können im Text gemischt auftreten, erscheinen jedoch nicht wahllos. Ein Sprecher kann sich ganz entweder für das eine oder das andere Tempusregister entscheiden, wodurch die Instruktionen dieser syntaktischen Signale besonders deutlich zu erkennen sind (Weinrich 1982: 162). Weinrichs Darlegungen zum Tempus-Register legen nahe, dass die Wahl der Verbformen allein für den Charakter des Textes bestimmend ist und rein subjektiv erfolgt. Ebenso wird auf der Seite der erzählenden Texte mit dem Tempus-Relief eine weitere binäre Opposition eröffnet, die die Vordergrund- und Hintergrund-Tempora betrifft und auf den Merkmalen ʽAuffälligkeitʼ und ʽUnauffälligkeitʼ beruht. Folgende Tempora der Vergangenheit ordnet Weinrich den Kategorien ʽVordergrundʼ (ʽAuffälligkeitʼ) und ʽHintergrundʼ (ʽUnauffälligkeitʼ) zu: Tempus-Relief Hintergrund Imperfekt Plusquamperfekt Vordergrund Aorist (passé simple) Rück-Aorist (passé antérieur) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 185 Auch aspekttheoretisch wird das Imperfekt als Tempus des Hintergrunds eingeordnet, bei Weinrich erscheint dieses Merkmal jedoch nicht als Folge seiner aspektuellen Qualität als unbegrenzt und imperfektiv, sondern in erster Linie aus einer subjektiven Entscheidung des Textproduzenten. Semantisch sei das Imperfekt durch die Merkmale Erzählen und Unauffälligkeit charakterisiert (Weinrich 1982: 184). In Bezug auf die Tempusperspektive ist das Imperfekt für Weinrich neutral. In reliefgebender Funktion alterniere es in schriftlichen Texten mit dem „Aorist“ und im mündlichen Sprachgebrauch mit dem zusammengesetzten Perfekt oder mit dem Präsens. Diese Funktion stellt er auch in syntaktischen Kleinstrukturen, wie mit Konjunktionen verbundenen Satzgefügen, fest. So bildet im folgenden Beispiel die Imperfektform trouvait den Hintergrund, vor dem das Ausbrechen der Studentenrevolte mit dem passé simple als im Vordergrund stehend dargestellt wird (vgl. Weinrich 1982: 184): (1) fr. Au mois de mai 1968, le général de Gaulle se trouvait en Roumanie, quand la révolte des étudiants éclata. In der besprochenen Welt, zum Beispiel in Alltagsdialogen, werde der Unterschied zwischen Hintergrund und Vordergrund nicht mit der Tempussyntax hergestellt, sondern er ergebe sich aus der Situation oder dem Argumentationszusammenhang. Wenn ein zeitlicher Kontrast ausgedrückt werden soll, kann jedoch ein Imperfekt zur Hintergrundbildung verwendet werden: (2) fr. Je vous avoue que pendant un certain temps j’étais partisan du centralisme politique, mais il m’arrive de plus en plus de penser qu’il faut s’orienter vers le régionalisme. (Weinrich 1982: 184–185) In diesem Beispiel dient das imparfait als Darstellung des nicht mehr aktuellen Hintergrunds. Die Inaktualität des Imperfekts kann so weit gehen, dass die mit ihm bezeichnete Situation als unwirklich dargestellt wird (Weinrich 1982: 185): (3) fr. Pendant toutes ces années il souffrait beaucoup, il mourait même de temps en temps, mais il n’a jamais fait à ses héritiers le plaisir de mourir pour de vrai. Aus solchen inaktuellen Möglichkeiten des Imperfekts erklärt Weinrich auch seine Verwendungsweisen, die wir als modal-evidentiell kennzeichnen (vgl. Kapitel 4.4.3). In seiner Textgrammatik der französischen Sprache (1982) beschreibt Weinrich textuelle Verwendungen der Tempora, die auf deren aspektuelle Qualitäten zurückgehen, verwendet jedoch den Begriff des Aspekts nicht. Auch das semantische Potential der Tempora beschreibt er nicht systematisch, sondern er geht von deren Verwendungen in typischen Texten aus und beschreibt die Wahl der verwendeten Mittel als von der Absicht des Textproduzenten abhängig. Damit wird eine Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 186 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen pragmatische, den Gebrauch der Sprache in den Mittelpunkt stellende Darstellung erreicht, die auf systematische Beschreibungen des Aspekts verzichten kann. Bemerkenswert ist jedoch gerade vor diesem Hintergrund die Verwendung des Terminus Aorist, der ursprünglich auf eine Verbform angewendet wurde, die aspektuell markiert, aber zeitlich unbestimmt war (vgl. 2.2.5 und 2.4.1). Weinrich gibt keine Erklärung für die Verwendung dieses Terminus und gebraucht selbst die Bezeichnung passé simple gelegentlich dahinter in Klammern. Er erwähnt, dass diese Tempusform mit den Mitteln der einfachen Tempus-Konjugation gebildet wird und beschreibt ihre Bedeutung als durch die semantischen Merkmale ʽerzählenʼ und ʽAuffälligkeitʼ gekennzeichnet. Bei der stark pragmatisch geprägten Herangehensweise in seiner Textgrammatik ist es denkbar, dass er das Attribut einfach vermied, weil es der Herausgehobenheit mit dem passé simple bezeichneter Handlungen widersprechen würde. In der Tempus-Perspektive weist er ihm allerdings, ebenso wie dem Präsens und Imperfekt, Neutralität zu (Weinrich 1982: 188). Diese Einordnung mag zunächst verwundern, da das passé simple prototypisch ganzheitlich betrachtete Handlungen in der Vergangenheit bezeichnet. Wie bereits erwähnt, zählt für Weinrich jedoch nicht das semantische Potential der Tempora zur zeitlichen Lokalisierung von Situationen, sondern ausschließlich ihre Verwendung ausgehend vom Sprechaktmoment. Gegenüber der Tempus-Perspektive des Sprechers verhält sich das passé simple tatsächlich neutral und bezeichnet keine Handlungen, deren Konsequenzen an den Sprechaktmoment heranreichen würden. Zum Imperfekt stehe das passé simple nur durch sein Relief-Merkmal ʽAuffälligkeitʼ in Opposition. Erzählungen könnten also dadurch ihr Relief erhalten, dass der Erzähler zwischen dem Imperfekt und dem einfachen Perfekt wechselt (Weinrich 1982: 188). So könne man den Übergang von einer handlungsärmeren Umgebung zur Darstellung des Ereignisses durch einen Wechsel vom Imperfekt zum einfachen Perfekt gestalten (4), während bei der umgekehrten Reihenfolge zunächst das Ereignis durch das einfache Perfekt eingeführt würde und sich die Darstellung im Imperfekt für den Hintergrund anschließe (5). Ereignisse könnten auch gerafft mit dem einfachen Perfekt dargestellt werden (6), was auch für eine Darstellung rascher Ereignisabläufe möglich wäre (Weinrich 1982: 188): (4) fr. Le ciel était livide quand soudain l’orage éclata. (5) fr. Finalement éclata l’orage qui nous enseignait le langage du tonnerre. (6) fr. Je le vis, je rougis, je pâlis à sa vue. (Racine, Phèdre) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 187 In seinem Buch Tempus. Besprochene und erzählte Welt (Weinrich 2001 [1964] und 1973) erwähnt Weinrich im Zusammenhang mit dem Tempus-Relief auch den Aspekt und die Aktionsart und geht auf die Auffassungen einiger Autoren kurz ein, um fehlende Übereinstimmung im Terminologiegebrauch festzustellen und den Aspekt in andere Bereiche der Linguistik, insbesondere die Slavistik, zu verweisen. Für sein Anliegen der Entwicklung einer textbezogenen Grammatik erklärt er den Aspektbegriff aus folgenden Gründen für unbrauchbar. Die Aspekttheorie sei auf einen zu engen Rahmen beschränkt, nämlich den Satz und die Mikrosyntax. Außerdem sei es schwierig, sie auf die Textebene auszuweiten, da die Verlaufsqualitäten und Phasen von Prozessen von einem Verb zum anderen variieren würden. Schließlich setze die Aspekttheorie notwendigerweise eine referentielle Auffassung von der Syntax voraus, d.h. sie sei auf außersprachliche Objekte, auf Stadien, Prozesse und Ereignisse orientiert. Was das subjektive Element betrifft, so erkenne die Aspekttheorie allenfalls an, dass bestimmte Phasen im objektiven Verlauf von Prozessen, zum Beispiel der Anfang oder das Ende, außer Acht gelassen werden können (Weinrich 1973: 107–108). Aspekttheoretische Ansätze, die nach einigen Autoren sogar die Subjektivität der Sicht des Sprechers auf die dargestellten Situationen betonen, sind Weinrich also nicht subjektiv genug. Er stellt ihnen seinen Ansatz gegenüber, der die temporalen Funktionen auf den Text und auf die Äußerungssituation bezieht. Wie alle syntaktischen Morpheme, sieht er die Tempora als nur im Text und in der Kommunikation erklärbar an und nicht durch ihre Inbezugsetzung auf die Objektwelt. Den fundamentalen Unterschied zwischen seinem textlinguistischen Ansatz und einer auf den Satz bezogenen Aspekttheorie verdeutlicht er in der Diskussion der Positionen von Pollak (1960). Dieser hatte für die folgenden Sätze ein „Inzidenzschema“ angenommen, nach dem der im ersten Teil mit dem Imperfekt beschriebene Prozess im Verlauf war, als der zweite, mit dem passé simple dargestellte, gewissermaßen „hineinfiel“. Die folgenden Beispiele aus Pollak verwendet Weinrich in seiner kritischen Auseinandersetzung (Weinrich 1973: 109): (7) fr. J’avais quinze ans lorsque j’eus ma première frayeur.26 (8) fr. Un jour je voyageais en Calabre…, quand arriva l’aventure que je vais vous conter. (9) fr. Il se hâtait lorsqu’il rencontra un paysan. _____________ 26 Die wegen ihrer aspektuellen Merkmale hervorgehobenen Verbformen kennzeichnen wir kursiv für das Merkmal ‛imperfektiv’ und fett für das Merkmal ‛perfektiv’. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 188 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Weinrich bemängelt an Pollaks Interpretation dieser Sätze, dass er sie mit einer Referenz in Beziehung setze. Auch das Konzept der ʽInzidenzʼ sei deutlich referentiell geprägt: es wäre ein Prozess angenommen, der eine Art Einschnitt in einen anderen darstellt. Schon vor über 1000 Jahren habe Remigius von Auxerre (ca. 841–908), der Autor des Commentum Einsidlense in Donati artem minorem ein ähnliches Beispiel verwendet, um die Inzidenz im Lateinischen zu zeigen (Quid faciebas heri? – Legebam versum quando me vocasti.). In äußerst polemischer Form stellt Weinrich die Frage, ob sich die Linguistik seither nicht verändert habe. Er stellte Pollaks Ansatz seine textlinguistische Betrachtungsweise entgegen, in der er den Wechsel der Tempora in Texten quantitativ und qualitativ untersuchte. Weinrichs Hauptargument läuft darauf hinaus, die Betrachtung isolierter Satzfolgen wie im Inzidenzschema abzulehnen und dafür größere Textzusammenhänge in Betracht zu ziehen, in denen die Wahl der Verbformen Vorder- und Hintergrund angibt. Die Ablehnung des Aspektkonzepts ist dabei durch seine sprecherzentrierte und textbezogene Betrachtungsweise bedingt, die sich mit einem innovativen Gestus verbindet. Auch Rojo & Veiga (1999) liefern in ihrem Kapitel der Gramática descriptiva zu den einfachen Verbformen des Spanischen eine vollständig aspektfreie Darstellung. Sie erklären die spanischen Tempora anhand eines zeitlich-vektoriellen Modells und nehmen primäre Tempora (presente, pretérito perfecto simple, futuro), sekundäre (pretérito imperfecto, pretérito perfecto compuesto, pretérito pluscuamperfecto, condicional, futuro perfecto) und tertiäre Tempora (condicional perfecto) an. Die Einbeziehung des Aspekts in ihr Modell sehen sie als unökonomisch an. Auch Coseriu (1976) versteht das romanische Verbalsystem hauptsächlich als temporal, verwendet allerdings nicht eine rein vektorielle Darstellung in Anlehnung an Reichenbach, sondern entwickelt ein komplexes System, das er in drei Untersysteme einteilt: (1) die Gestaltung der Zeiträume, (2) die Bestimmung der Zeitpunkte innerhalb der Zeiträume, (3) die Bestimmung spezieller „aspektiver“ Werte für jeden Zeitpunkt. Die Annahme von dreigliedrigen Einteilungen sprachlicher Phänomene ist bei Coseriu keine Seltenheit und folgt einem an Aristoteles angelehnten Denkstil (vgl. Haßler 2015a und 2015d). Zum ersten Untersystem zählt er die Kategorien der Zeitebene und der primären Perspektive, denen die einfachen Tempusformen entsprechen. Das zweite Untersystem beinhaltet die zusammengesetzten Tempusformen, die er der sekundären Perspektive zuordnet. Dem dritten Untersystem ordnet er schließlich die Kategorien der Dauer, der Wiederholung, der Vollendung, des Resultats und schließlich die durch verschiedene Verbalperiphrasen ausgedrückte Schau und Phase zu. Mit dem Terminus aspektiv bezeichnet er die Betrachtungsweise der Verbalhandlung in der Zeit, während er das Tempus als die Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 189 Aspektualität und Aspekt Stellung der Verbalhandlung in der Zeit definiert. Die Verwendung von aspektiv anstelle von aspektuell oder Aspekt scheint das Subjektive der Betrachtungsweise zu unterstreichen, dem in der Behandlung der Verbalphrasen auch der Terminus Schau entspricht. Die Einteilung der Verbformen in primäre und sekundäre wird außerdem von zwei Zeitebenen überlagert, der aktuellen und der inaktuellen. Der Kern der aktuellen Ebene ist das Präsens, Coseriu rechnet ihr aber auch das zusammengesetzte Perfekt und das Futur zu. Als Zentrum der inaktuellen Ebene betrachtet er das Imperfekt, betrachtet jedoch auch das Plusquamperfekt, das perfektivische Futur und den Konditional als ihr zugehörig. Das Imperfekt erklärt er vor allem als durch Inaktualität gekennzeichnet und er lehnt seine Charakteristik als Tempus der Vergangenheit ab. Mit der Perspektive, die er als retrospektiv, parallel oder prospektiv bestimmt, führt Coseriu eine Kategorie ein, die die Stellung des Sprechers zur verbalen Handlung berücksichtigt. Mit ihr bestimmt er Zeiträume auf jeder Zeitebene, die er dann nochmals als primär und sekundär unterteilt. Das Imperfekt entspricht nach Coseriu der parallelen Perspektive und ist eine Art inaktuelle Gegenwart. Das im Einzelnen schwer nachvollziehbare Schema von Coseriu (1976: 33) stellt Dessì Schmid (2014: 33) in der folgenden reduzierten Form dar: primär Aktuell sekundär primär Vergangenheit Gegenwart retrospektiv parallel Zukunft prospektiv it. feci fr. je fis sp. hice it. ho fatto fr. j’ai fait sp. he hecho (sp. hiciera) it. faccio fr. je fais sp. hago it. farò fr. je ferai sp. haré fr. je vais faire sp. voy a hacer it. facevo fr. je faisais sp. hacía it. farei fr. je ferais sp. haría it. avrò fatto fr. j’allais faire sp. habré hecho Inaktuell sekundär it. avevo fatto fr. j’avais fait sp. había hecho Das Schema verdeutlicht, dass es Coseriu um die Gestaltung zeitlicher Verhältnisse durch Verbformen geht, die er auf den Standpunkt des Sprechers bezieht. Die Einordnung des Imperfekts wird dem modalen Gebrauch des Imperfekts gerecht, der zwar häufiger vorliegt als es Grammatiken nahelegen, jedoch keinesfalls die einzige Bedeutung dieser Verbform Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 190 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen ist. Die aspektuellen Verhältnisse im System der romanischen Verben werden von Coseriu nicht erfasst. Auch unter den neueren Arbeiten gibt es einige, die die Betrachtung des romanischen Tempussystems unter dem Gesichtspunkt des Aspekts ausschließen. So ist zum Beispiel Gabilan (2011: 27–33) offensichtlich auf das „Nicht-abgeschlossen-Sein“ im Zusammenhang mit dem imperfektiven Aspekt fixiert und verwirft deshalb aspektbezogene Erklärungen, da das imparfait auch Handlungen bezeichnen kann, die abgeschlossen sind. Die Unterscheidung der beiden folgenden Sätze sieht er darin begründet, dass in Satz (10) der Sprecher den Bericht vorantreibt und den Rezipienten über den Erhalt des Briefes informiert, während in Satz (11) etwas Unausgesprochenes mitschwingt. In dem Moment, in dem die Äußerung produziert wird, gibt der Sprecher zu verstehen, dass der Gesprächspartner bereits geschlussfolgert haben sollte, dass der Brief erhalten wurde: (10) fr. Le lendemain je reçus une lettre de mon frère. (11) fr. Le lendemain je recevais une lettre de mon frère. Wir werden in Kapitel 4.4.3. sehen, dass eine Erklärung dieser modalevidentiellen Bedeutung des romanischen Imperfekts durchaus auf der Grundlage seiner aspektuellen Merkmale möglich ist. Diese von prominenten Vertretern der romanischen Sprachwissenschaft vorgenommene Ausklammerung des Aspekts als grammatischer Kategorie lässt sich für die romanischen Sprachen auf morphologischer Ebene rechtfertigen, wird jedoch dem Funktionieren dieser Sprachen beim Ausdruck von Situationen in ihrer Ganzheitlichkeit und in ihrem Verlauf nicht gerecht. Schon Bondarko (1967, 1984, 1987, 1996) und Comrie (1976) haben die funktionalen Charakteristika des Aspekts in Aspektsprachen als Vergleichskriterium für die typlogische Untersuchung in Sprachen ohne Aspektstämme und Aspektkorrelationen herangezogen.27 Dessì Schmid verweist auf die […] verbreitete Meinung, dass dem Aspekt verwandte Informationen in den Sprachen der Welt eindeutige semantische Ähnlichkeiten und Verbindungen untereinander zeigen und dabei mehr oder weniger evidente Regelmäßigkeiten aufweisen, auch wenn sie formal sehr unterschiedlich wiedergegeben werden und verschiedene sprachliche Ebenen betreffen. (Dessì Schmid 2014: 2–3) Über die am Verb grammatikalisierte Kategorie des Aspekts hinaus haben wir also sprachliche Mittel unterschiedlicher Art in Betracht zu ziehen, die in den einzelnen Sprachen aspektuelle Funktionen übernehmen. Sie kön_____________ 27 Vergleiche hierzu auch die Beiträge in der Festschrift für Bondarko: Barentsen & Poupynin (2001). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 191 nen mehr oder weniger spezialisiert auf diese Funktionen sein oder auch erst im Kontext als aspektuelle Mittel auffallen. Die Gesamtheit dieser Mittel zählen wir zur funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität. Dessì Schmid (2014: 3) betont den übereinzelsprachlichen und sogar universellen Charakter dieser Kategorie und kennzeichnet die Annäherung an sie als onomasiologisch. Dabei geht sie vor allem davon aus, dass der grammatische Aspekt und die lexikalische Aktionsart der Verben nicht als substantiell getrennte Ausdrucksmittel der Aspektualität fungieren, sondern dass sie auf konzeptueller Ebene bei der Versprachlichung aspektueller Inhalte ähnlich funktionieren. Mit dieser onomasiologischen Perspektive verbindet sich in der kognitiv-linguistischen Forschung eine Neukonzeption von Lexikon und Grammatik, nach der lexikalische und grammatische sprachliche Mittel „Pole einer als Kontinuum aufgefassten Ebene“ (Dessì Schmid 2014: 4) darstellen. Auch für Coseriu war die Unterscheidung von Grammatik und Lexik eine Differenz auf der status-relationalen Ebene und nicht der Semantik (Coseriu 1987: 125; vgl. Dessì Schmid 2014: 35). Für den Ausdruck der ganzheitlichen Darstellung einer Situation oder des Hineinversetzens in den Verlauf gibt es in Sprachen ohne grammatischen Aspekt andere Ausdrucksmittel. Wir fassen diese Ausdrucksmittel in der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität zusammen, die in Aspektsprachen um den Kern des Verbalaspekts gruppiert ist: Aktionsarten nichtverbale lexikalische Mittel satzsyntaktische Mittel Aspekt Aktanten des Verbs Adverbien Verbalperiphrasen textlinguistische Mittel Doch auch beim Fehlen der grammatischen Kategorie des Aspekts kann davon ausgegangen werden, dass die anderen Mittel der Aspektualität eine ganzheitliche Darstellung einer Situation ermöglichen oder in der Lage sind, sie im Verlauf und ihren Phasen darzustellen. Der Ausdruck von Aspektualität durch diese Mittel ist lediglich weniger systematisch, kann Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 192 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen aber gerade durch das Zusammenwirken unterschiedlicher sprachlicher Ebenen auch nuancenreicher und komplexer sein. Das oben dargestellte Schema wäre für die romanischen Sprachen insofern zu modifizieren, als der grammatische Kern der Aspektualität, der Aspekt, entfallen würde. An seine Stelle treten Verbformen, die Aspektualität grammatisch markieren und die zueinander in Opposition stehen, wie zum Beispiel das imparfait und das passé simple oder das passé composé im Französischen. Diese Verbformen haben jedoch zugleich temporale Qualitäten und sind nicht auf den Ausdruck von Aspektualität spezialisiert. Somit können sie nur bedingt als Kern der Kategorie der Aspektualität angesehen werden: Aktionsarten nichtverbale lexikalische Mittel satzsyntaktische Mittel aspektuell markierte Tempora Aktanten des Verbs Adverbien Verbalperiphrasen textlinguistische Mittel Böhm (2016: 19) ordnet die Ausdrucksmittel der Aspektualität einem Zentrum und einer Peripherie zu. Für das Spanische zählt sie folgende Aspektmarkierungen zum Zentrum: (a) die grammatische Opposition zwischen dem Imperfekt und dem einfachen Perfekt, (b) die zusammengesetzten Verbformen, (c) die progressive Verbalperiphrase estar+Gerundium. Da letztere im Spanischen einen hohen Grammatikalisierungsgrad erreicht hat und in einigen Kontexten sogar obligatorisch verwendet wird, erscheint für diese Sprache die Erweiterung des Zentrums um die progressive Periphrase angebracht. Zur Peripherie rechnet Böhm die lexikalischen aktionalen Typen der Verben (Aktionsarten), den Ablauf von Situationen kennzeichnende Adverbien (wie zum Beispiel siempre, de repente, durante), weitere Verbalperiphrasen (z.B. estar a punto de+Infinitiv; llevar+Gerundium, tener+Partizip) sowie weitere syntaktische und kontextuelle Mittel. Der Unterschied des Ausdrucks der Aspektualität durch aspektuelltemporal markierte Verbformen gegenüber Sprachen mit reinem Aspekt Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 193 lässt sich durch einen Vergleich eines Satzes in einer Aspektsprache mit einer romanischen Sprache verdeutlichen. Während das korrelativ verbundene Aspektpaar сдавать (‛abgeben, ablegenimpf’) / сдать (‛abgeben, ablegenpf’) im Russischen aufgrund der Aspektkorrelation allein im Stande ist, die Opposition von ‛Versuch’ und ‛Ergebnis’ zu tragen, reicht die Verwendung einer imperfektiven und einer perfektiven Verbform im französischen Satz dafür jedoch nicht aus. Die Zielgerichtetheit (Telizität) in der lexikalischen Bedeutung von passer würde hier die aspektuelle Bedeutung der Imperfektivität, die hier in ihrer konativen Spezialbedeutung auftritt, überlagern; ein sinnvolle Äußerung mit konativer Bedeutung von passait käme nicht zustande: (12) ru. Он сдавал экзамен, но не сдал er ablegen.3.S.IPFV Prüfung aber nicht ablegen.3.S.PFV ‛Er nahm an der Prüfung teil, hat sie aber nicht bestanden.’ (13) fr. *Il passait l’examen, mais il ne l’a pas passé. In Sprachen, die über eine Aspektkorrelation verfügen, scheint diese die lexikalische Bedeutung zu überlagern und nicht – wie hier im Französischen – umgekehrt. Allein das Vorhandensein lexikalischer und grammatischer Ausdrucksmittel der Aspektualität hat Anlass zu Verwirrungen und terminologischen Unsicherheiten gegeben. Es sei außerdem nochmals erwähnt, dass auch die slavischen Sprachen nicht den Prototyp des Aspekts repräsentieren, da die Aspektpartner in der Regel morphologisch auseinander abgeleitet sind. Schon Archaimbault (1999: 11–34) hat die Frage aufgeworfen, ob man nicht die Problematik des Aspekts entslavisieren sollte. In einer typischen Aspektsprache würden die unterschiedlichen aspektuellen Qualitäten durch unterschiedliche Stämme ausgedrückt. Die indoeuropäische Grundsprache war eine Aspektsprache, in der eine Verbalhandlung entweder als ganzheitlich und abgeschlossen (mit dem perfektiven Aspekt) oder als unabgeschlossen und im Verlauf befindlich (mit dem imperfektiven Aspekt) dargestellt wurde. Für den Ausdruck der Aspektkorrelation standen eigene Aspektstämme, die häufig fälschlicherweise Tempusstämme genannt werden (vgl. 2.2.5). Auf der Grundlage von Miguel (1999: 2993) lassen sich die verschiedenen Ausdrucksmittel der Aspektualität in romanischen Sprachen in folgender Tabelle zusammenstellen: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 194 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Aspektualität verbal Opposition der Formen eines Verbs Opposition Imperfekt / zusammengesetzte Verbformen; einfaches Perfekt diskursiv Derivations- Opposition bestimmte lexikalische morpheme von Kombinationen und funktio(z.B. re-) Verbklassen von Verben nale Marker Aktionsarten Verbalperiphrasen grammatischlexikalischer morphologischer Aspekt Aspekt Adverbien, Negation grammatische Charakteristika, Mitspieler der Äußerung semantische u. syntaktische Funktion, Determination, Quantifikation usw. lexikalisch-syntaktischer Aspekt Der Terminus Aspekt wird in dieser Darstellung von einer grammatischen Kategorie auf andere Ausdrucksmittel der Aspektualität übertragen. Dann wird zunächst zwischen Markierungen der Aspektualität am Verb (verbal) und Ausdrücken auf Satzebene (diskursiv) unterschieden. Zu den verbalen Ausdrucksmitteln werden auch diejenigen gerechnet, die oben als Ersatz für den Kern der Aspektualität hervorgehoben wurden, also die Opposition der zusammengesetzten Verbformen und des einfachen Perfekts zum Imperfekt. In dem Satz (14) kennzeichnet das imperfecto eine im Verlauf befindliche Handlung, während des pretérito perfecto simple eine einmalige, plötzlich eintretende Handlung bezeichnet. (14) sp. Mi hermano leía cuando llegué. (ʽMein Bruder lasimpf., als ich kampf.ʼ) Mit den Derivationsaffixen sind zum Beispiel solche gemeint, die Wiederholungen von Handlungen kennzeichnen, zum Beispiel releer ʽetwas noch einmal lesenʼ (15) sp. Tienes que releer este libro. (‘Du musst das Buch noch einmal lesen.ʼ) Ähnliche Effekte können auch mit Suffixen erzielt werden, fr. sautiller ʽhüpfenʼ, fr. feuilleter ʽblätternʼ. Die für die romanischen Sprachen häufig als lexikalischer Aspekt bezeichneten Aktionsarten sind lexikalische Eigenschaften der Verben, die eine bestimmte Aspektualität nahelegen. Zum Beispiel ist suchen ein durati- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 195 ves Verb, das eine Nähe zur imperfektiven Aspektualität nahelegt, finden dagegen als Bezeichnung einer punktuellen Handlung zur perfektiven Aspektualität. Diese auch als Aktionsarten bezeichneten lexikalischen Eigenschaften der Verben bestimmen die Kombinierbarkeit mit Dauer oder Punktualität von Situationen bezeichnenden Adverbien. Durative Verben (z.B. suchen) sind mit Adverbien, die sich auf punktuelle Verläufe beziehen (z.B. plötzlich), durchaus verbindbar und nehmen in Sätzen wie (16) inchoative Bedeutung an. Bestimmte telische Verben (z.B. finden) schließen hingegen Adverbien, die eine lange Dauer von Situationen bezeichnen, wie in (17) aus: (16) dt. Ich habe den Schlüssel plötzlich gesucht. (17) dt. *Ich habe den Schlüssel lange gefunden. Dass jedoch auch deutlich durch ihre Aktionsart markierte Verben eine zusätzliche aspektuelle Markierung durch die Flexion erfahren können, zeigen die folgenden Beispiele: (18) sp. El avión llegó a las diez. (‘Das Flugzeug kampf. um 10 an.’) (19) sp. El avión llegaba cuando se produjo el accidente. (‘Das Flugzeug kamimpf. (gerade) an, als der Unfall passierte’) Das telische Verb llegar kann sowohl im einfachen Perfekt gebraucht werden und eine abgeschlossene Handlung markieren als auch im Imperfekt einen im Verlauf befindlichen und vielleicht nie abgeschlossenen Prozess benennen. Die lexikalische Bedeutung als Aktionsart reicht also nicht aus, um die Aspektualität eines bestimmten Prädikats zu bestimmen. Bestimmte Verwendungen sind allerdings aufgrund der Aktionsartbedeutung ausgeschlossen, so zum Beispiel in (20) die Aussage, dass eine einmal abgeschlossene terminative Handlung danach noch fortgesetzt wird, was mit einem durativen Verb – wie in (21) – durchaus möglich wäre (vgl. Miguel 1999: 2982). (20) sp. *El avión ha llegado, pero seguirá llegando un rato más. (‘Das Flugzeug ist angekommen, es wird aber noch eine Weile länger ankommen.ʼ) (21) sp. Juan ha viajado por toda Europa, pero seguirá viajando un año más. (‘Juan ist durch ganz Europa gereist, er wird aber noch ein weiteres Jahr reisen.’) Die Beispiele (20) und (21) legen nahe, dass Verben mit durativer Aktionsart eher Modifikationen ihrer aspektuellen Bedeutung zulassen als telische Verben. Diese Hypothese werden wir im Kapitel über das Zusammenwirken der Mittel der Aspektualität und den kompositionellen Charakter dieser Kategorie (3.4.2.) überprüfen. Wichtig für den Ausdruck von Aspektualität in den romanischen Sprachen sind die Verbalperiphrasen, die ein breites Spektrum von Aus- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 196 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen drucksmöglichkeiten eröffnen (Yllera 1999). Verbalperiphrasen sind Verbindungen von zwei Verben, die eine einzige und semantisch einheitliche Prädikationseinheit bilden. Dabei wird ein Verb zum Hilfsverb (Auxiliar) und hat in der Periphrase nur noch die Funktion, bestimmte grammatische Kategorien wie Tempus, Aspekt oder Modus des Vollverbs anzuzeigen. Zum Beispiel drücken die folgenden Periphrasen Handlungen im Verlaufsstadium aus und dienen damit dem Ausdruck von Aspektualität: estar+Gerundium ‛gerade etwas tun’: (22) sp. Está haciendo mucho frío. llevar+Gerundium ‛seit bestimmter Zeit bis jetzt etwas tun’ (23) sp. Lleva lloviendo cuatro semanas. venir+Gerundium ‛immer wieder seit längerer Zeit etwas tun’ (24) sp. Me viene diciendo que tal cosa no se puede hacer. ir+Gerundium ‛etwas allmählich/langsam tun’ (25) sp. Va anocheciendo. seguir+Gerundium ‛etwas weiterhin tun’ (26) sp. Sigue cantando. Die folgenden Verbalperiphrasen drücken dagegen den Beginn einer Handlung aus: comenzar/empezar a+Infinitiv ‛beginnen etwas zu tun’ (27) sp. Ya comienza a hacer calor. ponerse a+Infinitiv ‛beginnen etwas zu tun’ (28) sp. ¡Ponte a estudiar! meterse a+Infinitiv ‛anfangen etwas zu tun’ (29) sp. Te metes a hablar de arquitectura sin tener la mínima idea. romper a+Infinitiv ‛anfangen etwas zu tun’ (30) sp. Su hijo rompió a andar a los diez meses. echar(se) a+Infinitiv ‛(schnell) anfangen etwas zu tun’ (31) sp. Los estudiantes se echaron a reír. Die Anzahl und Art der Aktanten des Verbs kann für die Aspektualität von maßgeblicher Bedeutung sein. So wird in (32) die Handlung des Schreibens durch die Hinzufügung des dabei entstehenden Produkts begrenzt, während sie in (33) unbegrenzt ist. In (34) wird die Begrenzung Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 197 durch die Determiniertheit des Objekts bewirkt, während in (35) keine Begrenzung vorliegt und einfach die Art der Tätigkeit näher spezifiziert wird: (32) sp. Juan escribe una novela. (‛Juan schreibt einen Roman’) (33) sp. Juan escribe. (‛Juan schreibt’) (34) sp. Su hermano compone una pieza de piano. (‛Sein Bruder komponiert ein Klavierstück’) (35) sp. Su hermano compone música japonesa. (‛Sein Bruder komponiert japanische Musik’) Obwohl die romanischen Sprachen über den Aspekt im eigentlichen Sinne nicht verfügen, stehen ihnen also vielfältige Mittel des Ausdrucks der Aspektualität zur Verfügung. Aus folgenden Gründen erscheint die Zusammenfassung der genannten Ausdrucksmittel unter dem Dach einer funktionalen Kategorie als sinnvoll: Erstens wird dadurch ihre Funktionsähnlichkeit – unabhängig davon, ob Grammatikalisierung vorliegt und in welchem Stadium sie sich befindet – deutlich. Zweitens wird auch das Zusammenwirken der Mittel einer funktionalen Kategorie im Kontext damit fassbar. Es können sogar gegensätzliche aspektuelle Merkmale in einem Satz zusammenwirken, wie zum Beispiel in der imperfektiven spanischen Periphrase aus estar+Gerundium, in der das Auxiliar in perfektiver und in imperfektiver Form verwendet werden kann (Haßler 2002a): (36) sp. María estuvo hablando con Jorge durante dos horas. ‛Maria verbrachte zwei Stunden im Gespräch mit Jorge.’ (37) sp. María estaba hablando con Jorge durante dos horas. ‛Maria war dabei, zwei Stunden mit Jorge zu sprechen.’ Solche aspektuellen Cluster erlauben das Überkreuzen von zwei Sichtweisen auf die Situation durch doppelte aspektuelle Markierung. In (36) bringt die imperfektive Periphrase eine Sicht in das Innere der Situation, während die perfektive Auxiliarform die Handlung als abgeschlossen kennzeichnet. Letzteres ist in (37) mit dem Auxiliar im Imperfekt nicht der Fall. Drittens bringt die Arbeit mit funktionalen Kategorien auch noch einen weiteren Vorteil. Es lassen sich auch solche Kategorien untersuchen, für die es in den untersuchten Sprachen keinen grammatikalisierten Kern gibt. Über die Aspektualität hinaus lassen sich noch weitere derartige funktionale Kategorien annehmen. Von besonderem Interesse ist dabei die Evidentialität, für die es zwar in den europäischen Sprachen keinen Kern gibt, Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 198 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen deren Ausdrucksmittel aber in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit erhielten (vgl. 4.4.). 3.1.2. Theoretische Positionen zum Verhältnis von Aspektualität und Aspekt Der Weg einer Ausweitung aspekttheoretischer Betrachtungen über den Bereich des Verbs hinaus wurde zunächst ausgehend von slavischen Sprachen und deren Vergleich mit Sprachen ohne ausgeprägten grammatischen Aspekt begonnen. Maßgeblich hierfür waren die Arbeiten der Leningrader aspektologischen Schule, für die insbesondere die Werke von Jurij Sergeevič Maslov (vgl. z.B. 1962; 1965; 1978) die Grundlage waren, auf der Aleksandr V. Bondarko (1984) seine Aspekttheorie entwickelte. Bondarko (1984: 9) wirft die Frage nach der Natur der Bedeutung grammatischer Formen auf und formuliert sie vor allem unter dem Gesichtspunkt der Polysemie: handelt es sich um einheitliche allgemeine Bedeutungen, die alle besonderen Bedeutungen und Verwendungstypen der gegebenen Form umfassen oder liegen Komplexe einzelner Bedeutungen vor, die teilweise miteinander verbunden sind, teilweise aber auch isoliert voneinander existieren und die nicht auf eine einheitliche allgemeine Bedeutung rückführbar sind? Er entscheidet sich für eine sehr allgemeine Charakterisierung der aspektuellen Verhältnisse anhand von Merkmalen, die sich in der Sprachverwendung in spezielleren Bedeutungen ausprägen. Die Opposition des perfektiven und des imperfektiven Aspekts bestimmt er auf dieser Basis mit dem Merkmal ‛Ganzheitlichkeit’ vs. ‛Nichtganzheitlichkeit’. Ausgehend von dem allgemeinen Merkmal der Nichtganzheitlichkeit einer nicht begrenzten Handlung nimmt er für den imperfektiven Aspekt mehrere konkrete Spezialbedeutungen an, z.B. die konkret-prozesshafte, die nicht begrenzte einmalige, die verallgemeinernd faktische. Die verschiedenen Bedeutungen des Aspekts werden in der Rede realisiert und machen ihr semantisches Potential aus. Wenn es jedoch um die Erfassung der Bedeutung einer Form als Systemeigenschaft geht, ist es nach Bondarko (1984: 11–12) sinnvoll, die dominanten Merkmale, die das Zentrum des semantischen Potentials ausmachen, zu erfassen und mit dem Begriff der kategorialen Bedeutung zu arbeiten. Neben dem Merkmal der ‛Ganzheitlichkeit’ vs. ‛Nichtganzheitlichkeit’ wird dabei auch mit dem der ‛Begrenzung’ (предельность) gearbeitet, die insbesondere in Sprachen ohne ausgeprägten grammatischen Aspekt relevant wird. In Sprachen ohne spezielles grammatisches System von Aspektformen, die das gesamte Verbalsystem umfassen, ist die höchste Stufe der Grammatikalisierung der Aspektbeziehungen in aspektuell-temporalen Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 199 Formen gegeben. Die zeitliche Begrenzung/Nichtbegrenzung einer Situation spielt dabei die entscheidende Rolle. Der Status der lexikalischgrammatischen Opposition ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ ist im Feld der Aspektualität beim Fehlen einer das Verb umfassenden Aspektkategorie höher ausgeprägt. Gleichzeitig kann sich die dominierende Rolle der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ bei der aspektuellen Charakteristik der Handlung in jeder konkreten Äußerung erhöhen (vgl. Bondarko 1984: 14– 15). Die Aspektualität bestimmen Bondarko und auch Schwall (1991: 3) als universale Kategorie, die sich in allen Sprachen finden lässt, die in ihnen jedoch unterschiedlich realisiert wird. Die Betrachtung der Mittel der Aspektualität in romanischen Sprachen reduziert sich damit nicht auf die Verbformen der Vergangenheit, sondern schließt z.B. auch Periphrasen, Adverbien, Präpositionalphrasen und lexikalische Bedeutungen der Verben ein. In diesem Sinne schreibt Schwall: Zu einer Beschränkung auf eine Deskription der Aspektualität der Vergangenheitsstufe sehen wir uns nicht mehr gezwungen […]. Bisher versuchte man, Aspektrelevanz der romanischen Vergangenheitstempora in der morphologisch differenzierten Opposition Imparfait / Passé simple (/composé) bzw. Imperfecto / Perfecto simple nachzuweisen und dann eine funktionale Solidarität im Aspektgebrauch zu belegen. (Schwall 1991: 198) Neben Schwall (1991) folgen auch Guzmán Tirado & Herrador del Pino (2000a, 2000b, 2002) der von Bondarko entwickelten Theorie der universellen funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität, die sprachspezifische morphologische, syntaktische, lexikalische und (kon)textuelle Mittel einschließt. Die Aspektualität ist dabei keine Kategorie des Gedachten, sondern sie beruht auf sprachbezogener Semantik (vgl. Schwall 1991: 99). Guzmán Tirado und Herrador del Pino haben in die Untersuchung der Aspektualität den Feldbegriff eingeführt und sprechen von einem funktional-semantischen Feld, zu dem sie alle sprachlichen Mittel zählen, die die Form, in der eine Handlung in der Zeit abläuft, ausdrücken (vgl. Böhm 2016: 102): Al hablar de la aspectualidad como CSF (campo semántico-funcional), nos referimos a una unidad cuyo contenido está constituido por los medios lingüísticos (morfológicos, de formación de palabras, sintácticos, léxicos, etc.), relacionados con la expresión de ‘la forma en que transcurre la acción verbal en el tiempo’. (Guzmán Tirado & Herrador del Pino 2000b: 13) In den romanischen Sprachen, die über keine selbstständige grammatische Kategorie des Aspekts verfügen, die in jeder beliebigen Verbform repräsentiert wäre, spielt die ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ die dominierende Rolle in der aspektuellen Charakteristik der Situationen, in welcher Verbform auch immer sie ausgedrückt werden. Damit wird eine breite Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 200 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen und vielseitige Untersuchung des Problems der aspektuellen Beziehungen angestrebt, die über die Betrachtung der Aspektformen oder aspektuelltemporalen Formen hinausgeht. Dieses Herangehen besteht darin, den ganzen Komplex der miteinander interagierenden sprachlichen Mittel und Bedeutungen, die an der aspektuellen Charakteristik von Situationen teilhaben, zu erfassen. Aspektualität wird dabei als funktional-semantische Kategorie aufgefasst, deren Kern in einigen Sprachen der Aspekt als grammatische Kategorie ist. In den romanischen Sprachen fehlt dieser Kern, dennoch hält Bondarko die Arbeit mit der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität auch für diese Sprachen für sinnvoll, da sie auch die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Sprachen ermöglicht. Referovskaja (1984) hat diese Überlegungen von Bondarko mit der Theorie von Guillaume verknüpft und auf das Französische angewandt. Sie geht davon aus, dass sowohl die innere Zeit, die Dauer einer Handlung (=Aspekt) als auch die äußere Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (=Tempus) im Französischen mit ein und denselben flektierten Verbformen bezeichnet werden. Für die zusammengesetzten Verbformen, die zur Bezeichnung der Abgeschlossenheit von Situationen verwendet werden, ist die aspektuelle Bedeutung die primäre, die temporale hingegen historisch gesehen die sekundäre. Als aspektuelle Formen entstanden, wurden sie allmählich zu Ausdrucksformen temporaler Beziehungen. Sie bezeichneten nicht absolute Zeit, sondern zeitliche Relationen zu anderen Situationen, später wurden sie auch zu reinen Ausdrucksmitteln von Zeit (Referovskaja 1984: 92). Der begrenzte oder nicht begrenzte Charakter, über den ein Verb bereits durch seine lexikalische Bedeutung verfügen kann, tritt mit der grammatischen Bedeutung der Verbform in Interaktion. Referovskaja (1984: 94) verweist auf die unterschiedlichen Bezeichnungen der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ bei verschiedenen Autoren (limitatif/alimitatif; verbe perfectif/imperfectif; limité/synthétisé; à terme fixe/sans terme fixe; déterminé/indéterminé) und betrachtet damit unterschiedliche lexikalische und grammatische Erscheinungsformen der Determination und situativen Begrenzung als gleichwertig. Die Begrenzung der Situation durch die lexikalische Bedeutung von Verben lässt sich anhand der folgenden Beispiele erklären. Das Verb sterben bezeichnet ein Überschreiten der Grenze zum Tod, bei einer mit dem Verb fallen bezeichneten Situation wird eine Grenze überschritten, wenn der Körper aufschlägt, hineingehen bedeutet das Überschreiten einer Grenze beim Eintritt. Nichtbegrenzte Verben bezeichnen dagegen Handlungen, Vorgänge und Zustände, deren Grenze außerhalb des von der Verbbedeutung Vermittelten liegt. Damit die Situation aufhört, muss sie durch etwas außerhalb des Verbs beendet werden. Mit den nichtbegrenzten Verben Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 201 treten somit andere Mittel der Aspektualität in Interaktion, um der Situationsdarstellung eine Begrenzung aufzuerlegen. ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ sind nach Referovskaja (1984: 98) keine grammatischen Kategorien, da es keine festen Bezeichnungen für sie gibt, obwohl sie Beziehungen ausdrücken, die für Grammatik typisch sind. In der Beschreibung der Funktionen des imparfait und des passé simple folgt Referovskaja (1984: 100) der Darstellung in Weinrichs Textgrammatik der französischen Sprache (1982), bringt sie aber im Gegensatz zu diesem mit dem aspektuellen Kriterium der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ in Zusammenhang. Nichtbegrenzte Verben im imparfait stellen Handlungen dar, die schon früher begonnen haben und noch nicht abgeschlossen sind. Begrenzte Verben im passé simple bezeichnen hingegen ganzheitlich betrachtete Handlungen. Interessant ist dabei die Darstellung des Zusammenspiels der lexikalischen Bedeutung mit der grammatischen Bedeutung der Verbformen. Die Verbformen imparfait und passé simple tragen aspektuelle Merkmale auch dann, wenn die ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ in ihrer lexikalischen Bedeutung ihnen widerspricht. Wenn eine einfache Perfektform eines unbegrenzten Verbs verwendet wird, kommt es zum Zusammenstoß der Aspektbedeutung der Verbform, die Abgeschlossenheit ausdrücken will, und der lexikalischen Bedeutung, die die Handlung außerhalb zeitlicher Begrenzungen bezeichnet. Aus diesem Zusammentreffen resultieren spezielle aspektuelle Nuancen: die Verbform kann sich partiell dem lexikalischen Charakter des Verbs unterordnen und eine mehr oder weniger lange Dauer der Handlung ausdrücken; dennoch fordert die Verbform, dass der Moment der Beendigung der Handlung angegeben wird. Eine solche Angabe der Abgeschlossenheit, die die Verbform selbst nicht dem lexikalisch nicht begrenzten Verb auferlegen kann, muss im Text durch eine adverbiale Bestimmung ausgedrückt werden. In diesem Fall ist die Anwesenheit einer solchen adverbialen Bestimmung obligatorisch: (38) fr. Il erra ENCORE DEUX JOURS dans les hauts pâturages désertiques des Franches-Montagnes. (Cendrars. Referovskaja 1984: 102) Wenn ein lexikalisch begrenztes Verb in der imparfait-Form verwendet wird, so wird die Handlung als eine Zeit lang andauernd dargestellt, was aus der Bedeutung der Verbform folgt. Aber die Handlung selbst setzt sich aus einer Serie sich wiederholender und jedes Mal abgeschlossener Handlungen zusammen, was sich aus der Bedeutung des Verbs ergibt. Die sich wiederholenden gleichartigen Handlungen bilden eine Kette, die als etwas Ganzes wahrgenommen wird. Der Zeitraum, in dem diese Wiederholung stattfindet, kann beliebig lang sein: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 202 (39) fr. Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Don Cesare passa cette nuit-là … comme il avait passé les nuits précédentes. Quand il ouvrait l’œil, Mariette tombait sous son regard. (Vailland. Referovskaja 1984: 103) Am interessantesten und am erstaunlichsten ist nach Referovskaja (1984: 104) die Verwendung des Imperfekts für die Bezeichnung abgeschlossener, in einem Moment verlaufender Handlungen. Dies sei natürlich nur bei begrenzten Verben möglich, außerdem sei die Erfüllung einiger Kontextbedingungen erforderlich. Diese Verwendung beruhe darauf, dass selbst die noch so kürzeste und abgeschlossene Handlung eine gewisse Zeit zu ihrer Vollführung benötigt. Die Bedeutung der Verbform stellt die Handlung als im Prozess befindlich und nicht begrenzt dar. Wenn es sich um eine momenthafte Handlung handelt, kann der Moment gedehnt werden. Diese Verwendungsweisen werden als bildhafte Darstellungen von Handlungen betrachtet, die insbesondere von den Autoren des Realismus und Naturalismus des 19. und des Beginns des 20. Jahrhunderts genutzt wurden. Für die Verwendung dieses imparfait pittoresque gebe es jedoch eine grammatische Forderung, die von den Autoren immer beachtet werde. Bei der gedehnten Bezeichnung einer kurzen Handlung mit dem Imperfekt wird der Eindruck des Fehlens eines Gleichgewichts erweckt. Um der Aufhebung des abgeschlossenen Charakters der Handlung durch die aspektuelle Perspektivierung entgegenzuwirken, muss es im Text in irgendeiner Weise einen Hinweis auf den Moment des Abschlusses der Handlung geben, der deren Kürze unterstreicht. Damit wird der begrenzte Charakter des Verbs gewissermaßen gegen die ihm entgegengesetzte imperfektive Verbform verteidigt: (40) fr. QUELQUES MINUTES PLUS TARD, un taxi s’arrêtait au bord du trottoir. M. Leloup, gras et important, payait le chauffeur et entrait dans le bistrot. (Simenon. Referovskaja 1984: 105) (41) fr. J’ai été projeté au-dehors, mais suis retourné dans l’avion pour te tirer de là, quand le Dacota a commencé à brûler, et j’ai réussi à te sortir. QUELQUES SECONDES DE PLUS et tu y restais. Je risquais gros, évidemment. (Gary. Referovskaja 1984: 106) Die Ungenauigkeit der „zeitlichen“ Charakteristik der Handlung, das Fehlen eines zeitlichen Rahmens und einer Begrenzung in der Vergangenheit seien der Grund dafür gewesen, weshalb sich das Imperfekt zu einer Form der „Höflichkeit“ verwandelte. Der Unterschied zwischen je veux vous demander und je voulais vous demander liege im Grad der Affirmation, im Grad der Nachdrücklichkeit und der Bitte (Referovskaja 1984: 107). Obwohl in der französischen Sprache den Verbformen mehr oder weniger Aspektbedeutung zukomme, ist diese nicht unabhängig von der Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 203 Aspektualität und Aspekt lexikalischen Bedeutung des Verbs. Die aspektuelle Bedeutung im Text wird als abhängig von der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ betrachtet, wobei letztere in erster Linie auf die Verbbedeutung zurückgeführt wird. Die Ausprägung der konkreten Verbbedeutungen bei begrenzten und unbegrenzten Verbformen lässt sich nach Referovskaja (1984: 107) folgendermaßen darstellen: Verbform begrenztes Verb nicht begrenztes Verb passé simple Systembedeutung: Vollzug einer Handlung in der Vergangenheit (in einem bestimmten zeitlichen Rahmen) 1. abgeschlossene Handlung als Ganzes. Erzählform. Charakter der Verbform und des Verbs fallen zusammen. 1. abgeschlossene Handlung von begrenzter Dauer. Ein Adverbial zur Markierung des Zeitrahmens der Handlung ist notwendig. 2. inchoative Bedeutung. Der Beginn der Handlung wird durch die Verbform angegeben, das Ende wird unter dem Einfluss des perspektivischen Charakters der Handlung selbst nicht angegeben. 3. abgeschlossene Handlung in einer Reihe von Handlungen. 1. progressive Bedeutung außerhalb zeitlicher Begrenzungen in der Vergangenheit imparfait Systembedeutung: Vollzug einer Handlung in der Vergangenheit (außerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens) 2. Handlung, die sich in einem bestimmten zeitlichen Rahmen als Reihe einzelner abgeschlossener Handlungen wiederholt. Die Anwesenheit eines Adverbials, das den zeitlichen Rahmen oder den iterativen Charakter der Handlung bekräftigt, ist notwendig. 1. progressive Bedeutung; im Unterschied zur durch die lexikalische Bedeutung des Verbs ausgedrückten Grenze. Dabei dominiert die Verbform. 2. wiederholte Handlung. Diese Bedeutung stützt sich auf einen Kontext, der auf ein Zeitintervall verweist, in dem die Handlung vollzogen wird. 3. gewohnheitsmäßige Handlung 4. „malerisches“ Imperfekt, Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 204 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen verlangsamte und gedehnte Darstellung einer abgeschlossenen Handlung 5. nicht vollzogene Handlung Durch diese Darstellung wird deutlich, dass im Französischen nicht nur die grammatische Kategorie des Aspekts fehlt, sondern auch der aspektuelle Charakter der Verbformen, der eine Komponente ihrer Bedeutung ist, weit davon entfernt ist, konstant zu sein. Unter dem Einfluss der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ äußert er sich unterschiedlich. Es besteht also eine Wechselwirkung mit der lexikalischen Bedeutung der Verben, der die entscheidende Rolle zukommt. Dies entspreche auch dem gesamten Charakter der französischen Sprache, in der die Morphologie nur in unbedeutendem Maße die Funktion des Ausdrucks grammatischer Charakteristika des Wortes trage. Auch die zusammengesetzten Verbformen, die zunächst scheinbar aspektuelle Formen waren, führten nicht zu ihrer Festigung als Ausdrucksformen von Aspekt. Allmählich gingen sie dazu über, zeitliche Relationen auszudrücken, zunächst als Mittel des Ausdrucks der Folge von Handlungen. Schließlich hat das zusammengesetzte Perfekt das einfache im alltäglichen Sprachgebrauch weitgehend ersetzt. Das Vorhandensein eines Aspekts im Französischen wird von Referovskaja (1984: 109) somit verneint. Der Aspekt stellt eine Art Mitbedeutung der Verbformen dar. In jedem konkreten Fall erweist sich die aspektuelle Charakteristik der Handlungsdarstellung nicht nur durch die Verbform bestimmt, sondern sie entsteht im Zusammenwirken dieser mit dem begrenzten oder unbegrenzten Charakter der Verbbedeutung. Diese Betrachtungsweise stellt die lexikalische Bedeutung der Verben in den Mittelpunkt und betrachtet die Charakteristik als ‛begrenzt’/ ‛nichtbegrenzt’ in erster Linie als auf diese beschränkt. Dabei kann Begrenztheit von Situationen jedoch auch durch adverbiale Bestimmungen (42) oder durch Aktanten von Verben (43) und nicht zuletzt durch die aspektuellen Merkmale der Verbformen (44) ausgedrückt werden: (42) fr. […] que toutes ces formes indécises de fantômes légers qui m' avaient poursuivie s’éclairaient, s’assemblaient SOUDAINEMENT, se dessinaient avec netteté, […] (Frantext. M348 – Soulié, Frédéric, Les Mémoires du diable, 1837: 265) (43) fr. Quelqu’un avait découvert qu’elle écrivait UN LIVRE. (44) fr. Il a lu ce livre de poche. Die Komplexität der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität wird somit von Referovskaja (1984) nicht voll berücksichtigt. Ein Vorteil ihrer Darstellung ist jedoch, dass sie das Zusammentreffen der grammati- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 205 schen Bedeutung der Verbformen und der lexikalischen Bedeutung der Verben als Konfliktfall darstellt und anhand von Texten untersucht. Auf die Verbalmorphologie beschränkt ist der Ansatz von Schlegel (1999), der zwischen innerer und äußerer Begrenzung unterscheidet. Die innere Grenze reduziert er auf drei Grundtypen: 1. eine bestimmte (aktualisierte) räumliche Lage des Subjekts oder Objekts der Handlung (zum Beispiel aufstehen, hinausgehen); 2. eine bestimmte (aktualisierte) Quantität des Subjekts oder Objekts, auf das eine gegebene physische oder geistige Aktivität gerichtet ist (z.B. einen Brief schreiben, ein Haus bauen); 3. ein bestimmter (aktualisierter) qualitativer Zustand des Subjekts oder des Objekts (zum Beispiel erblassen, erkranken). Mit der inneren Begrenzung werden somit lexikalisch-semantische und syntaktische Begrenzungen der Situation genannt, die sich auch verlagern können und somit eine Übercharakterisierung entstehen lassen (Schlegel 1999: 28). Die Bedeutung der inneren Grenze kann dabei durch völlig unterschiedliche sprachliche Einheiten getragen werden. Für das Russische nennt Schlegel dabei Verbalstämme, Präfixe, Objekte, Lokalbestimmungen und Kombinationen aus räumlichem Präfix und grammatischem Objekt bzw. Lokalbestimmung. Obwohl er die Bedeutung der inneren Grenze lexikalischen, morphologischen und syntaktischen Mitteln in den verschiedensten Kombinationen zuweist, erachtet er vor allem das Verb als verantwortlich für die Setzung der inneren Grenze (Schlegel 1999: 30–31). Für die äußere Begrenzung nimmt Schlegel (1999: 28) ebenfalls drei Grundformen an: 1. ein bestimmter (aktualisierter) Zeitpunkt im Verlauf der Handlung (losfahren, verstummen); 2. eine bestimmte (aktualisierte) Quantität (Dauer, Anzahl, Intensität) der Handlung (zum Beispiel ein wenig weinen, einen Schrei ausstoßen); 3. eine bestimmte (aktualisierte) Qualität der Umstände der (zum Beispiel sich müde laufen, ins Träumen versinken). Auch für die äußere Begrenzung werden wieder Überschneidungen angenommen. Die Betrachtung einer inneren und einer äußeren Begrenzung ist für verschiedene Aspekttheorien wichtig und liefert vor allem einen Ansatz für die Erklärung des Zusammenwirkens der unterschiedlichen Ausdrucksmittel der Aspektualität. Dennoch ist eine über die Unterscheidung des inneren Verlaufs und der äußeren zeitlichen Abgrenzung hinausgehende Differenzierung schwierig und erfordert einen hohen kategorialen Aufwand (vgl. Dessì Schmid 2014: 165–196). Bertinetto (1986) beschränkt sich in seiner Darstellung vor allem auf die Abgrenzung des Aspekts beim italienischen Verb vom Tempus und den Aktionsarten. Die aspektuellen Merkmale des Verbs treten für ihn vor allem dann hervor, wenn wir einen bestimmten Prozess ausgehend von einem ihm immanenten Gesichtspunkt betrachten, also seine innere Kon- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 206 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen stitution und seine Verlaufsweise im Blick haben. Die Lokalisierung des Prozesses in der Zeit und im Netz der temporalen Beziehungen steht dabei eher im Hintergrund. Zum Beispiel können wir eine Situation in ihrer Ganzheit (globalità) als nicht weiter analysierbar betrachten oder wir können eine bestimmte Phase ihres Ablaufs hervorheben. Se […] consideriamo un determinato processo da un punto di vista (per così dire) immanente, ossia avendo di mira la sua intima constituzione e le sue specifiche modalità di svolgimento (piuttosto che la sua localizzazione nel tempo e la rete di rapporti temporali in cui è inserito), allora quelle che vengono portate in primo piano non sono le proprietà specificamente temporali del verbo, bensì le sue proprietà aspettuali. Ad es. noi possiamo considerare una situazione nella sua globalità, come un singolo processo non ulteriormente analizzabile; oppure la possiamo cogliere in una certa fase del suo svolgimento; […] (Bertinetto 1986: 76) Bertinetto folgt der Zweiteilung des Aspekts in einen perfektiven und einen imperfektiven und ordnet den beiden Aspekten dann Spezialbedeutungen zu, in denen sich auch einige der von Referovskaja (1984) angenommenen Bedeutungen der französischen Verbformen wiederfinden. Interessant ist dabei das Aufgreifen des Terminus aoristico, mit dem er offensichtlich unterstreichen will, dass mit perfektiven Verbformen bezeichnete Handlungen nicht abgeschlossen sein müssen. Die inchoative (ingressive) Bedeutung ist dabei für Bertinetto ein Spezialfall des Aorists. Die folgende grafische Darstellung gibt das Aspektsystem nach Bertinetto in Anlehnung an Bertinetto (1986: 119) und Dessì Schmid (2014: 28) wieder: Aspekt (aspetto) Imperfekt (imperfettivo) habituell abituale progressiv progresivo kontinuierlich continuo Perfekt (perfettico) vollendet compiuto punktuell, einmalig aoristico inchoativ (ingressivo) Die Aspekte und ihre speziellen Bedeutungen lassen sich durch folgende Beispiele illustrieren (Dessì Schmid 2014: 29): (45) it. Di solito Leo a colazione mangiava un cornetto al cioccolato. (imperfektiv, habituell) (46) it. Leo mangiava il suo cornetto al cioccolato in cucina, quando Giulia entrò. (imperfektiv, progressiv) (47) it. Mentre Leo mangiava il suo cornetto al cioccolato, Giulia lo guardava interessata. (imperfektiv, kontinuierlich) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 207 (48) it. Avrei voluto un morso di quel bel cornetto al cioccolato che aveva comprato Giulia, ma l’ha mangiato Leo. (perfektiv und vollendet) (49) it. Leo mangiò il cornetto al cioccolato sporcandosi tutta la faccia. (perfektiv und einmalig) Eine herausragende Rolle spielt in der Darstellung des Aspekts bei Bertinetto (1986: 345–348) das Merkmal der ‛Bestimmtheit’/‛Unbestimmtheit’ (determinatezza/indeterminatezza) oder der ‛Delimitation’/‛Nicht-Delimitation’ (delimitazione/non-delimitazione), mit der er – ähnlich wie bei Referovskaja (1984)28 – das aspektuelle Merkmal der Begrenztheit ins Spiel bringt. Die Unbestimmtheit liegt in den einzelnen Werten des imperfektiven Aspekts in unterschiedlichen Bedeutungskomponenten. Der habituelle Wert drückt vor allem eine unbestimmte Häufigkeit aus, denn natürlich muss eine Situation abgeschlossen sein, um wiederholt werden zu können und dadurch habituellen Charakter anzunehmen. Beim progressiven und beim kontinuativen Wert des imperfektiven Aspekts liegt die Unbestimmtheit in der Unabgeschlossenheit der Situation, die progressiv in ihrem Verlauf und aus einem besonderen Punkt heraus betrachtet wird bzw. kontinuativ weder in ihrem Verlauf beschrieben noch als eine Gewohnheit dargestellt wird (Bertinetto 1986: 120–190). Dessì Schmid (2014: 29) merkt hierzu zu Recht kritisch an, dass Bertinetto damit sehr unterschiedliche Arten von Unbestimmtheit erfasst, die den gemeinsamen Nenner des Aspekt-Typs Imperfektiv darstellen sollen. Zu erwähnen wäre hier allerdings, dass die Beschreibung der Funktion des imperfektiven Aspekts mit positiven Merkmalen in allen bisherigen Arbeiten Schwierigkeiten bereitet. So ist es eigentlich auch nicht verwunderlich, dass Bertinetto (1986: 162–190; zur Kritik vgl. Dessì Schmid 2014: 29) die kontinuative Bedeutung, die als prototypische Verwendung des Imperfektivs gilt, per negationem als nicht habituell und nicht progressiv erklärt. In all seinen Arbeiten vertritt Bertinetto (z.B. 1986, 1991, 1997, Bertinetto & Lenci 2012) die Auffassung, dass Aspekt und Aktionsart nicht vermischt werden dürfen (Dessì Schmid 2014: 30, 34). Eine sehr weite Auffassung von Aspektualität wird unter dem Terminus aspecto in dem von Bosque (1990) herausgegebenen Band vertreten. Der Herausgeber selbst bezieht auch Betrachtungen zu den Adjektiven und den Partizipien ein. Während Adjektive wie bueno, alto, inteligente sich auf Eigenschaften von Subjekten beziehen und daher mit der Kopula ser verbunden werden, bezeichnen die Adjektive lleno, suelto, limpio keine Eigenschaften, sondern Zustände, die als Resultate einer Handlung oder _____________ 28 Auch Douay & Roulland (2012) gehen in ihrer Aspekttheorie von dem Konzept der Determiniertheit/Indeterminiertheit und damit implizit auch von Begrenzung/NichtBegrenzung aus. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 208 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen eines Prozesses interpretiert werden (Bosque 1990a: 178). Im selben Band liefert López García (1990: 160–175) eine Aspekttheorie, in der er von einem Begriff der ‛Aspektualität’ ausgeht. In der spanischen Gramática Descriptiva (Bosque & Demonte 1999), in der der grammatische Aspekt des Verbs im Kapitel zu den Verbformen von Rojo & Veiga (1999) nicht behandelt wird, findet sich ein bemerkenswertes Kapitel unter der Überschrift El aspecto léxico von Miguel (1999), das eine onomasiologische Darstellung der Aspektualität präsentiert. Obwohl Miguel in ihrem Beitrag den „lexikalischen Aspekt“, d.h. nach klassischem spanischem Verständnis die Aktionsarten, behandelt, geht sie jedoch weit darüber hinaus und gerät in einer für die Gramática Descriptiva nicht untypischen Weise in Widerspruch zum eigentlich für die Behandlung der Aspektproblematik prädestinierten Artikel von Rojo & Veiga. Während einige Autoren – implizit oder explizit – von einer übergeordneten Kategorie der Aspektualität ausgehen, nehmen andere zwei vollständig getrennte Komponenten an, die aspektuelle Informationen vermitteln. Smith (1991), die in ihrer Theorie dem Principles-and-Parametersbasierten Grammatikmodell folgt und für die formale Darstellung ihrer Analyse das Modell der Discourse Representation Theory verwendet, nennt diese beiden Komponenten situation type und viewpoint.. Unter situation type versteht sie die traditionell als Aktionsarten bezeichneten lexikalischen Ausprägungen der Aspektualität, die die grundsätzliche zeitliche Struktur einer Situation herstellen. Die mit dem traditionellen Aspekt vergleichbaren viewpoint aspects stellen eine Situation hingegen mit einer bestimmten Ausdehnung oder einem bestimmten Fokus dar, ähnlich wie eine Kamera Teile des Bildes fokussieren kann: Sentences present aspectual information about situation type and viewpoint. Although they co-occur, the two types of information are independent. […] situation type is signalled by the verb and its arguments, viewpoint signalled by a grammatical morpheme, usually part of the verb or verb phrase. Tense and adverbials may give additional temporal information. […] The viewpoint of a sentence presents an event with a particular extent and focus, rather as a camera lens may focus. In framing a sentence the speaker chooses situation type and viewpoint, subject to the pattern of the language. (Smith 1991: 5–6) Smith betont die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten des Menschen als Basis der Aspektualität, die sich entsprechend dem Muster (pattern) der jeweiligen Sprache ausprägen. Letztendlich schreibt sie aber dem Sprecher die Auswahl des situation type und des viewpoint zu, womit die Aspektualität zu einer pragmatischen Kategorie würde. Den viewpoint unterteilt Smith in drei Unterkategorien und folgt dabei dem Kriterium des Fokussierens des Anfangs- und des Endpunkts der Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 209 Situation. Der perfective viewpoint nimmt sowohl den Anfangs- als auch den Endpunkt in den Blick, während der imperfective viewpoint weder den Anfangs-noch den Endpunkt betrachtet, sondern nur eine Phase der Situation. Die von ihr eingeführte dritte Unterkategorie, der neutral viewpoint ist ein default viewpoint, der eine Phase des Sachverhalts fokussiert und den Anfangspunkt einschließen kann und in Sätzen ohne ausdrückliche morphologische aspektuelle Markierung verwendet wird. Diese dritte Unterkategorie leitet Smith aus dem Postulat ab, das alle Sätze einen viewpoint haben müssen. Beim Fehlen morphologischer Markierungen des Aspekts nimmt sie daher den neutral viewpoint an: The two component theory requires that all sentences have a viewpoint, since situation type information is not visible without one. This theoretical requirement has the interesting consequence that sentences with no explicit aspectual morpheme must have an aspectual viewpoint. I posit the Neutral viewpoint as a default for such sentences. The default viewpoint gives partial information, which allows for the interpretations that speakers make of such sentences. (Smith 1991: 93) Dessì Schmid (2014: 47) betont an Smiths Theorie vor allem die „Unterteilung des allgemeinen – universal-semantisch, kognitiv aufgefassten – aspektualen Bereichs in zwei Komponenten, die sich auch semantisch voneinander unterscheiden“ und stellt dieser Auffassung ihre Theorie eines monodimensionalen Ansatzes der Aspektualität entgegen. Das Konzept der Begrenzung spielt auch in Dessì Schmids Beschreibungs- und Klassifikationsmodell der aspektualen Informationen eine entscheidende Rolle, „das im Einklang mit der gewählten onomasiologischen Perspektive auf einer sehr allgemeinen sprachlichen Ebene angesiedelt ist und durch ein auf einer grundlegenden kognitiven Fähigkeit des Menschen basierendes Prinzip strukturiert ist: das Delimitationsprinzip“ (Dessì Schmid 2014: 4). Dessì Schmid (2014: 18) schreibt dem Aspekt folgende Eigenschaften zu: - Er ist grammatikalisch, flexiv, aber nicht-deiktisch. - Aufgrund seines grammatikalischen Charakters und seines Ausdrucks durch die Verbflexion ist er obligatorisch und wird von der Satz-Syntax verlangt. - Der Aspekt sei subjektiv, weil er „die vom Sprecher frei gewählte Perspektive ausdrückt, durch welche er die interne zeitliche Strukturierung des Sachverhalts darstellt“ (Dessì Schmid 2014: 18). Die subjektive Eigenschaft des Aspekts steht allerdings im Widerspruch zur zweiten genannten Eigenschaft, seinem obligatorischen Charakter. In vielen Fällen wird der Aspekt syntaktisch verlangt und es steht nicht im Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 210 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Benehmen des Sprechers, ihn nach seiner subjektiven Sichtweise auszuwählen. Auf diese Problematik werden wir unter 3.1.3. näher eingehen. Dessì Schmid fasst die Aspektualität als onomasiologisch gewonnene Inhaltskategorie auf, der sie ähnlich wie Bondarko den Aspekt im engeren Sinne und die Aktionsarten unterordnet. In der Aspektforschung stellt sie einen mehr oder weniger breiten Konsens im Hinblick auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen den einzelsprachlichen aspektuellen Kategorien und der universellen konzeptuellen Aspektualität fest. Auch in der Meinung, dass „der Inhalt der Aspektualität sich vor allem als die Delimitation oder Abgrenzung definieren lässt, d.h. sehr allgemein als Setzung von zeitlichen Grenzen in der Strukturierung von Sachverhalten und dass daher eine der fundamentalen Unterscheidungen zwischen den unterschiedlichen Typen von Sachverhalten gerade die zwischen abgegrenzten und nicht abgegrenzten sei“ stellt sie Übereinstimmungen zwischen den vorhandenen Ansätzen fest (Dessì Schmid 2014: 48). In Bezug auf die Beziehung zwischen Aspekt und Aktionsart als kategoriale Dimensionen der Aspektualität bemerkt sie jedoch zwei entgegengesetzte Ansätze, die sie als bidimensional und monodimensional bezeichnet. Die Vertreter des bidimensionalen Ansatzes gehen vom Vorhandensein eines fundamentalen Unterschieds von Aspekt und Aktionsart im formalen und semantischen Bereich aus (z.B. Bache 1982, 1995; Bertinetto 1986; Smith 1991). Ausgehend von einem monodimensionalen Ansatz werden dagegen auf einer allgemeinen kognitiven Ebene keine Unterschiede zwischen Aspekt und Aktionsart angenommen. Es wird davon ausgegangen, dass alle Phänomene der Aspektualität auf lexikalischer, morphologischer, syntaktischer und textueller Ebene anhand einer einzigen begrifflichen Dimension oder als kompakte Gruppe von elementaren Bedeutungen zu analysieren sind (Dessì Schmid 2014: 49). Neben Dessì Schmid vertritt vor allem Verkuyl (1972, 1993) einen monodimensionalen Ansatz. Die Grenzen des bidimensionalen Ansatzes werden deutlich, sobald man versucht, der Bestimmung der Aktionsart als rein lexikalische Kategorie zu folgen, denn die Zuordnung eines bestimmten Verbs zu einer bestimmten Aktionsart ist häufig nur im Kontext möglich. So wird die Aktionsart des durativen Verbs suchen durch das Zusammentreffen mit dem Adverb plötzlich inchoativ (plötzlich suchte er den Schlüssel). Das Hinzufügen eines Verbarguments kann zur Begrenzung der dargestellten Situation führen (er schrieb → er schrieb einen Brief). Zur Aspektualität in der Prädikation tragen also auch solche Phänomene bei, die eher der grammatischen Sphäre zuzuordnen sind, aber nicht an Verbmorpheme gebunden sind, wie zum Beispiel adverbiale Bestimmungen, die Präsenz oder die Absenz von Verbargumenten und der Grad ihrer Determination bzw. Definitheit, Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 211 die Satzstellung, die Negation und weitere Elemente, die nicht notwendigerweise aspektuelle Inhalte haben. Auch für eine Integration der Verbalperiphrasen in die Kategorie der Aspektualität bereitet der bidimensionale Ansatz Schwierigkeiten, da schwer zu entscheiden ist, ob es sich im Einzelfall um grammatische oder lexikalische Phänomene handelt, ob sie daher dem Aspekt oder der Aktionsart zuzurechnen sind (Dessì Schmid 2014: 53). Dessì Schmid entwickelt eine frame-basierte Interpretation der Aspektualität und geht dabei von einem Verständnis des Frames als eines strukturierten und zusammenhängenden Wissenskontexts aus, „der allgemein konzeptueller oder kulturspezifischer Natur sein kann, mittels dessen der Mensch verschiedene Alltagssituationen angeht“ (Dessì Schmid 2014: 70). Für die Untersuchung der Aspektualität stützt sie sich auf die Resultate der kognitiv orientierten Semantik, insofern sie die Sachverhalte, in denen sich Aspektualität ausdrückt, als Situationsframes auffasst und zu folgender Definition gelangt: Aspektualität ist die universale Inhaltskategorie, durch die die Sprecher die Art des Ablaufs und der Distribution eines Sachverhalts in der Zeit sprachlich strukturieren; sie beinhaltet jenen Komplex von Informationen, die sich auf die einem betrachteten Sachverhalt eigene, also vom Bezug zum Sprechzeitpunkt unabhängige, zeitliche Strukturierung beziehen. (Dessì Schmid 2014: 79) Dabei wird von semantischer Homogenität des aspektualen Bereichs ausgegangen und es wird nach einem Kriterium gesucht, das die „– traditionell in Aspekt und Aktionsart unterteilten – Informationen in ihrem gleichartigen semantischen Inhalt begründen und gleichzeitig zu einer Subklassifizierung dieser Arten von Informationen dienen“ (Dessì Schmid 2014: 84) kann. Ausgehend von der Annahme, dass Frames als Wahrnehmungs- oder Konzeptualisierungsgestalten aufgefasst werden können, erklärt Dessì Schmid aspektuale29 Inhalte, die in den als Situationsframes aufgefassten Sachverhalten dargestellt sind, als Figur-Grund-Konstellationen. Mit der Anwendung des Delimitationsprinzips ist das Setzen von Anfangs-, End- und Unterteilungsgrenzen im zeitlichen Ablauf einer Situation gemeint. Durch die aspektuale Delimitation wird die komplexe interne zeitliche Strukturierung eines Sachverhalts bestimmt. Die folgende Darstellung zeigt das Intervall, das sich zwischen zwei voneinander unterschiedlich gesetzten zeitlichen Grenzen tX und tY ergibt. Dieses Intervall wird als Differenz der Zeitpunkte dargestellt: I= │tY – tX│(Dessì Schmid 2014: 108). _____________ 29 Dessì Schmid verwendet das Adjektiv aspektual in Relation zu dem weiten Begriff der ‛Aspektualität’ und vermeidet das üblichere aspektuell, das sie als von Aspekt abgeleitet auffasst. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 212 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen tX tY Aspektuale Ebene I=│tY – tX│ Temporale Ebene E In dieser Skizze wird auf der aspektualen Ebene ein Intervall dargestellt, das sich zwischen den beiden gesetzten zeitlichen Grenzen ergibt. Auf der temporalen Ebene wird der Sachverhalt lediglich global situiert und es wird von seiner Ausdehnung sowie der Relation zum Sprechaktmoment und zu einem möglichen Referenzpunkt abstrahiert. Auf dieser Basis sieht Dessì Schmid (2014: 108) dieses Schema in den folgenden Sätzen realisiert, in denen die aspektuale Abgrenzung durch das zusammengesetzte Perfekt (50), durch das einfache Perfekt (51 und 52) und durch das periphrastische Perfekt (53) vorgenommen wird. Zusätzlich wird in (51) und (53) die Abgrenzung des Intervalls durch die determinierten Aktanten des Verbs unterstützt, während die Quantifizierung in (50) und (52) nicht zu einer Abgrenzung des Intervalls beiträgt: (50) it. Leo ha magiato tutte le ciliegie. (51) fr. Julie parla de ta mésavanture avec Marie. (52) sp. Carlos comió muchos caracoles. (53) kat. Rosina va escriure una novel.la molt maca. Das dargestellte Schema trifft sowohl auf Sätze mit telischen Verben als auch auf kontinuative Verben zu. Der Prozess der Delimitation erfolgt jedoch in einer komplexen Einheit verschiedener sich in Kontinuität zueinander befindlicher zeitlicher Einheiten. Dessì Schmid (2014: 111) unterscheidet zwischen drei Arten von Aspektualität. Die externe Aspektualität betrifft die Abgrenzung oder Nichtabgrenzung eines Sachverhalts zwischen einem Anfangspunkt tX und einem Endpunkt tY, während die umgebungsbezogene Aspektualität eines Sachverhalts angibt, ob dieser die nachkommende oder vorherige Umgebung in irgendeiner Art bestimmt oder beeinflusst, ihr zum Beispiel den Anfang oder das Ende vorgibt. Die interne Aspektualität schließlich betrifft die Frage, ob der Sachverhalt weiter in Phasen unterteilt ist. Aus der Kombinatorik der drei Dimensionen der Aspektualität leitet Dessì Schmid verschiedene Typen der aspektualen Determination ab, die sie als onomasiologische Grundlage für die Zuordnung sprachlicher Repräsentationen Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 213 von Situationen im Französischen, Italienischen, Spanischen und Katalanischen nutzt. Sie stellt dabei auch fest, dass es „keine unausweichliche Korrespondenz zwischen den hier vorgestellten Ausformungen der Aspektualität und den semasiologisch gewonnenen einzelsprachlichen Kategorien von Aspekt und Aktionsart“ (Dessì Schmid 2014: 162) gibt. Sie betrachtet in diesem Zusammenhang die sprachlichen Elemente nicht als einfachen und unmittelbaren Ausdruck von Konzepten, sondern als Werkzeuge, mit denen Sprecher und Hörer bestimmte Bereiche ihres Weltwissens aktivieren. Hierbei werden in unterschiedlichen Gebrauchskontexten jeweils unterschiedliche Bereiche aktiviert. Auf dieser Grundlage nimmt Dessì Schmid Aspektualitäts-Frames an, die aus in Kontiguität zueinander stehenden Elementen bestehen. Diese Elemente können jeweils unterschiedlich fokussiert und perspektiviert werden (Dessì Schmid 2014: 226). Als Beschreibungs- und Klassifikationsprinzip aspektualer Inhalte wählt sie das auf dem Figur-Grund-Prinzip und daher auf dem grundlegenden kognitiven Assoziationsprinzip der Kontiguität basierende Delimitationsprinzip, unter dem sie die „Setzung zeitlicher Anfangs-, End- und Unterteilungsgrenzen im zeitlichen Ablauf eines Sachverhalts“ (Dessì Schmid 2014: 226) versteht. Die am Delimitationsprozess teilhabenden Elemente – also die Grenzen selbst, die Umgebung vor und nach den gesetzten Grenzen und das Intervall, das von zwei gesetzten Grenzen umschlossen wird – werden nach drei verschiedenen Perspektiven (externe, umgebungsbezogene und interne Aspektualität) fokussiert. Die Ausformungen, die in jeder dieser als Figur im Verhältnis zu den beiden anderen wahrgenommenen Dimensionen zu finden sind, stellt Dessì Schmid (2014: 138–163) als aspektuale Basiskonzeptualisierungen dar, die sie dann auf ihre Repräsentation in verschiedenen Sachverhalten anwendet (Dessì Schmid 2014: 164–196). In der folgenden Darstellung geben wir lediglich die obere Ebene ihres Modells, in denen sie die drei Perspektiven der Aspektualität darstellt, wieder (Dessì Schmid 2014: 112): Externe Aspektualität Umgebungsbezogene Interne Aspektualität (Abgrenzung eines Aspektualität (Unterteilung eines Sachverhalts) (Umgebungsrelevanz Sachverhalts) eines Sachverhalts) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 214 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Die aspektualen Basiskonzeptualisierungen sind auf der Ebene des gesamten Sachverhalts kombinierbar und ergeben die Gesamtbedeutung eines Situationsframes. Dessì Schmid (2014: 227) erstellt auch ein Inventar der möglichen und unmöglichen Kombinationsmuster der aspektualen Basiskonzeptualisierungen. Das monodimensionale und onomasiologische Modell von Dessì Schmid ist gerade für den Vergleich der Ausformungen der Aspektualität in unterschiedlichen Sprachen sehr fruchtbar. Auch wir nehmen mit der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität einen onomasiologischen Ausgangspunkt für die Betrachtung der Aspektualität an (vgl. 3.1.1.), der sich jedoch in zwei Punkten von dem Dessì Schmids unterscheidet. Unter den Ausdrucksmitteln der als konzeptuelle Kategorie bestimmten Aspektualität erkennen wir den systematischen, auf grammatikalisierten Formen beruhenden, d.h. dem Aspekt im engeren Sinne in Aspektsprachen und den zueinander in Opposition stehenden Verbformen der „Vergangenheit“ in den romanischen Sprachen, einen besonderen Stellenwert zu. Das heißt nicht, dass lexikalische und syntaktische Ausdrucksmöglichkeiten des Aspekts deren Funktion nicht übernehmen könnten. In der Sprachverwendung sind sie jedoch optional, während die grammatikalisierten Mittel der Aspektualität in der Regel gebraucht werden müssen. Dem Sprecher steht es zwar in bestimmten Kontexten frei, zum Beispiel im Spanischen ein pretérito perfecto simple oder ein imperfecto zu verwenden und damit seine persönliche Sichtweise zu verdeutlichen, für den Ausdruck bestimmter typischer Bedeutungen ist aber die Verwendung einer der beiden Verbformen obligatorisch. So kann eine im Verlauf befindliche Handlung (descansábamos ‛wir erholten uns’) nicht durch das pretérito perfecto simple ausgedrückt werden, ebenso wie Verbformen, die das plötzliche Eintreten (conocimos ‛wir lernten kennen’) oder die Ganzheitlichkeit einer über eine bestimmte Zeitspanne erstreckten Situation (acompañó ‛begleitete uns’) nicht durch das imperfecto ersetzt werden können (55): (54) sp. Mientras descansábamos en una posada conocimos a un pastor que nos acompañó durante el último tramo del viaje. (55) sp. *Mientras descansamos en una posada conocíamos a un pastor que nos acompañaba durante el último tramo del viaje. Zwar wirken in den ersten beiden Verbformen in Satz (54) die imperfektive Verbform und die durative Aktionsart des Verbs (descansabamos) bzw. die perfektive Verbform und die inchoative Aktionsart des Verbs (conocimos) zusammen, für den Ausdruck der entsprechenden Aspektualität reicht jedoch die Aktionsart der Verben nicht aus, was am Beispiel (55) nachweisbar ist. Die Durativität eines Verbs kann sich sogar einer perfektiven Verbform unterordnen (acompañó) und von dieser gemeinsam mit Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 215 einer adverbialen Bestimmung (durante el último tramo del viaje) delimitiert werden. Die Verwendung der Verbformen ist hier also obligatorisch und nicht durch subjektive Entscheidungen des Sprechers motiviert. In der Einschränkung der Freiheit, mit der durch den Aspekt eine bestimmte Perspektive ausgedrückt werden kann, liegt der zweite Unterschied zum Modell von Dessì Schmid, die argumentiert, dass der Sprecher genauso eine Verblexie wählen muss, wie eine flektive Markierung gewählt werden müsse, damit die Syntax funktioniert. Natürlich ist eine Verblexie „ebenso mit einer Aktionsart (also einem lexikalischen aspektualen Inhalt) verbunden wie eine flektive Markierung mit Aspekt“ (Dessì Schmid 2014: 55). Obwohl der Sprecher zur Realisierung seiner kommunikativen Absicht beides, das Verb mit einer bestimmten Aktionsart und die Flexionsendung mit temporal-aspektuellen Merkmalen verwenden muss, ist die Verwendung eines bestimmten Verbs nicht obligatorisch, er könnte auch Synonyme verwenden, auf ein Verb ohne diese Aktionsart zurückgreifen oder seine Äußerungen ganz anders formulieren. Bei den Flexionsendungen hat der Sprecher, wie wir am Beispiel (55) gesehen haben, jedoch keine Wahl. Wir operieren bei der Unterscheidung des Aspekts und der anderen Ausdrucksmittel der Aspektualität nicht mit diskreten semantischen Kategorien und gehen durchaus von Kontinua in der diachronen Entwicklung und kognitiven Gemeinsamkeiten der Elemente einer funktional-semantischen Kategorie in der Sprachverwendung, also von derselben „semantischen Gussform“ (Dessì Schmid 2014: 221) aus. Wir ordnen den Unterschied zwischen dem grammatischen Aspekt und den Aktionsarten auch nicht einfach in die Polarität von Grammatischem und Lexikalischem ein. Natürlich ist die Hinzufügung von Adverbien, Aktanten des Verbs oder deren Determinanten auch ein grammatisches Phänomen, diese sprachlichen Mittel tragen aber zur Markierung von Aspektualität bei und sind nicht auf deren Ausdruck spezialisiert. Insofern könnte man unseren Ansatz multidimensional nennen, da wir nicht wie in bidimensionalen Theorien von zwei die Aspektualität ausmachenden Phänomenen, einerseits dem Aspekt oder den aspektuell-temporal markierten Verbformen und andererseits den Aktionsarten, ausgehen, sondern alle zum Ausdruck von Aspektualität beitragenden sprachlichen Mittel in Betracht ziehen und ihren Beitrag als unterschiedlich analysieren. Im Ensemble dieser sprachlichen Phänomene räumen wir allerdings für Sprachen mit Aspektkorrelation dem Aspekt und für die romanischen Sprachen den aspektuell-temporal markierten Verbformen eine zentrale Stellung ein, da sie in der Regel den aspektuellen Charakter der Prädikation bestimmen. Abstrahiert man jedoch von der Spezifität der verschiedenen Ausdrucksmittel der Aspektualität und bezieht man einen universellen Standpunkt, der auch den Vergleich mit aspektlosen Sprachen ermöglicht, stellen sich lexikalische wie Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 216 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen grammatische Markierungen der Aspektualität als gleichartig dar, was eine monodimensionale Betrachtung ermöglicht. Die Frage, ob der Aspekt wirklich bis zu einem gewissen Grad subjektiv ist, bedarf der weiteren Erörterung. Ihr ist das folgende Unterkapitel gewidmet. 3.1.3. Ist der Aspekt subjektiv? Dem Aspekt bzw. aspektuell-temporal markierten Verbformen wird häufig die Eigenschaft zugeschrieben, ausgehend vom subjektiven Standpunkt des Sprechers wählbar zu sein. So bezeichnet García Fernández (1998: 10) die Aktionsarten als aspecto objetivo und den grammatischen Aspekt als aspecto subjetivo, weil letzterer dem Sprecher erlauben würde, seinen Standpunkt in die Prädikation einzubringen: „permite al hablante, en términos generales, adoptar un punto de vista u otro con respecto a los predicados“ (García Fernández 1998: 10). Tatsächlich unterscheiden sich die beiden folgenden Sätze lediglich durch die Verbform und der Sprecher bringt in Satz (56) zum Ausdruck, dass der Aufenthalt im vergangenen Jahr sowohl begonnen als auch geendet hat, während er in Beispiel (57) bereits vorher begonnen haben kann und noch nicht beendet sein muss: (56) sp. El año pasado estuvo en Nueva York. (57) sp. El año pasado estaba en Nueva York. Mit dem pretérito perfecto simple wird also eine zeitliche Begrenzung der Dauer markiert, die in Beispiel (56) zusätzlich durch die adverbiale Bestimmung präzisiert wird. Mit der Verwendung des imperfecto in Beispiel (57) limitiert der Sprecher die Dauer der Situation nicht; auch das Adverbial vermag hier keine Grenze zu bestimmen, es gibt lediglich eine temporale Einordnung einer Zeitspanne während der bezeichneten Situation an. Die Wahl der Verbformen in diesen beiden Sätzen ist jedoch nicht subjektiv, denn der Sprecher gibt Informationen über die ihm bekannte Dauer des Aufenthalts, die sich durchaus kalendarisch einordnen ließen und der zeitlichen Struktur des Sachverhalts entsprechen. In (56) wird die Situation des Aufenthalts ganzheitlich dargestellt, während in (57) nur eine Information über eine Zeitspanne in ihrem Verlauf gegeben wird. Für einen der beiden objektiv bestimmbaren Inhalte ist eine Verbform obligatorisch. Auch die Aufeinanderfolge von Handlungen in der Vergangenheit sowie die Parallelität von Situationen sind objektive Gegebenheiten der Realität, für deren sprachliche Darstellung der Sprecher nicht beliebig Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 217 Aspektualität und Aspekt Verbformen auswählen kann. So steht in den romanischen Sprachen das zusammengesetzte oder das einfache Perfekt für nacheinander ablaufende Handlungen, während das Imperfekt deren gleichzeitigen Verlauf angibt: (58) fr. D’abord il a téléphoné, PUIS il a lu le journal et ENSUITE il est sorti de la maison. (59) fr. Nous étions à la maison. Papa lisait le journal, maman tricotait et nous regardions la télé. Die Wahl des Imperfekts zu einer Subjektivierung der Darstellung in Satz (58) würde zu der absurden Annahme führen, dass jemand gleichzeitig telefonierte, die Zeitung las und aus dem Haus ging, abgesehen davon, dass sie mit den eine Abfolge markierenden Adverbien nicht kompatibel wäre. Gegen die Subjektivität des Aspekts und der aspektuell-temporalen Verbformen spricht auch die Tatsache, dass die Wahl der Verbform häufig durch den Kontext oder das Verb selbst vorgegeben ist. In Aspektsprachen kann der Aspekt sogar in den meisten Fällen nicht vom Sprecher gewählt werden, um subjektive Nuancen über Ablauf oder die Begrenzung einer Situation auszudrücken. Auch in den romanischen Sprachen ist die Wahl der aspektuell-temporal markierten Verbformen nicht immer beliebig möglich. So sind zum Beispiel Adverbien, die das plötzliche Einsetzen einer Handlung bezeichnen, im Französischen Auslöser für das passé composé (oder in der geschriebenen Sprache für das passé simple) und können nicht ohne Weiteres mit dem imparfait verbunden werden, ebenso wie Gewohnheiten bezeichnende Adverbien das imparfait fordern. Das passé composé würde den Zeitraum, in dem eine Handlung gewohnheitsgemäß stattfand, limitieren: (60) fr. TOUT A COUP il a vu un accident. ?TOUT A COUP il voyait un accident. (61) fr. Il prenait TOUJOURS le petit déjeuner très tôt le matin. ?Il a pris TOUJOURS le petit déjeuner très tôt le matin. (62) fr. Nous regardions la télé soirs. TOUS les soirs. ?Nous avons regardé la télé TOUS les Dennoch sei bereits hier auf bestimmte Möglichkeiten der Subjektivierung unter Nutzung einzelner Verbformen in sekundärer, nicht prototypischer Bedeutung verwiesen. In den folgenden beiden Beispielen erscheint das spanische imperfecto im unabhängigen Satz, ohne dass es Gleichzeitigkeit zu einer anderen Situation in der Vergangenheit oder den Verlauf einer Handlung ausdrücken würde. Es stellt vielmehr ganzheitlich betrachtete Handlungen dar, die auch zeitlich begrenzt sind. In dieser gerade in der Pressesprache sehr häufigen Verwendungsweise des Imperfekts kennzeichnet es den Verweis auf eine nicht näher benannte Quelle und nimmt Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 218 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen damit modalisierende und zugleich evidentielle Funktionen an, vgl. Böhm (2013), (2015) und (2016): (63) sp. El Papa Francisco recibía el lunes en el Palacio Apostólico a la última tanda de prelados de las provincias eclesiásticas del sur de España, incluidas las Islas Canarias, Ceuta y Melilla. (GlossaNet, ABC, 13/03/2014) (64) sp. Wall Street abrió hoy sin tendencia definida y el Dow Jones de Industriales bajaba un 0,07 %, con los mercados cautelosos a la espera del inicio de la temporada de resultados trimestrales. (GlossaNet, El País, 10/04/2014) Diese Verwendungen des Imperfekts lassen sich zu Recht als subjektiv kennzeichnen. Der Sachverhalt als solcher hätte auch mit dem pretérito perfecto simple dargestellt werden können. Mit dem Imperfekt nimmt der Journalist Distanz zum mitgeteilten Sachverhalt und kennzeichnet ihn als aus fremder Quelle erhalten. Obwohl diese subjektivierende Darstellungsweise in der spanischen Presse sehr häufig anzutreffen ist, gibt es auch vergleichbare Darstellungen von Sachverhalten mit dem objektiveren pretérito perfecto simple: (65) sp. Este lunes, Bachelet recibió a los presidentes de los partidos de la Nueva Mayoría, que la felicitaron por el triunfo y manifestaron su compromiso para trabajar en su programa de gobierno. (GlossaNet, El Mundo, 19/12/2013) (66) sp. Así, a nivel nacional, la compraventa de viviendas bajó un 15,9% el pasado mes de noviembre respecto al mismo mes de 2012, hasta un total de 21.847 operaciones, registrando así la segunda cifra más baja del año tras la de marzo (22.100 transacciones) y una de las menores de toda la serie, iniciada en 2007. (GlossaNet, El Mundo, 16/01/2014) Während der Sprecher in den genannten Beispielen also die Wahl zwischen zwei Verbformen hat und durch das imperfecto sich selbst als Übermittler der Nachricht einbringen kann, steht in vielen Fällen nur eine aspektuell-temporale Verbform zur Realisierung seiner Kommunikationsabsicht zur Verfügung. Die obligatorische Verwendung entsprechender aspektuell-temporaler Verbformen zur Darstellung bestimmter Situationen beruht auf objektiven Kriterien und lässt dem Sprecher häufig keine Wahl für subjektive Nuancen. Wir argumentierten nicht gegen den subjektiven Charakter der aspektuell-temporalen Verbformen, um daraus den Schluss zu ziehen, dass sie in der Objektivität den Aktionsarten nahe kämen und deshalb genau wie diese zu behandeln seien. Vielmehr spricht der weitgehend objektive und obligatorische Charakter des Aspekts für seine Systematizität und legt seine Behandlung als zentrales Ausdrucksmittel der Aspektualität nahe. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 219 3.1.4. Aktionsarten als Ausdrucksmittel von Aspektualität Aktionsarten sind nach ihrer lexikalischen Bedeutung zu unterscheidende Verbklassen, die nach der Art des zeitlichen Ablaufs und der Begrenzung des vom Verb ausgedrückten Sachverhalts eingeteilt werden. Es handelt sich somit um eine semantische Kategorie des Verbs, die den verbalen Vorgang in seinem Verlauf charakterisiert und daher der Kategorie des Aspekts nahe steht, aber im Gegensatz zu diesem auf lexikalisch-semantischer Ebene verbleibt und keine Paradigmen ausgebildet hat. Aktionsarten sind nicht systematisch ausgeprägt und sie benennen die dargestellten Situationen nicht unter Bezugnahme auf die Stellung des Textproduzenten in Raum, Zeit und Ort. Gerade in aspektlosen Sprachen wie dem Deutschen spielen Aktionsarten eine wichtige Rolle beim Ausdruck der Aspektualität (vgl. Nicolay 2007).30 Während bei der Aspektkorrelation die gleiche Situation perfektiv oder imperfektiv bezeichnet wird, gliedern Aktionsarten die Verben nach semantischen Kriterien und bedeuten unterschiedliche Handlungen und Vorgänge. Pollak (1988) sieht keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Aspekt in slavischen und den Aktionsarten in germanischen und romanischen Sprachen. Er verkennt dabei jedoch, dass beim Aspekt der Ausdruck von ‛Begrenzung’/‛Nichtbegrenzung’ systematisch und unabhängig von der speziellen lexikalischen Bedeutung vorgenommen wird. Die Zahl und Benennung der Aktionsarten wechselt in der Literatur; geläufig sind zum Beispiel die folgenden: definitiv, determiniert, diminutiv (attenuativ), durativ, egressiv (finitiv), faktitiv, imperfektiv, inchoativ (ingressiv), indefinitiv, indeterminiert, iterativ, kausativ, konativ, perfektiv, progressiv, punktuell, repetitiv, resultativ (effektiv), semelfaktiv, terminativ. Nicht alle Aktionsarten treten dabei in allen Sprachen auf. So kommt die Eigenschaft, determiniert oder indeterminiert zu sein, russischen Verben der Fortbewegung zu: determiniert indeterminiert gehen идти ходить fahren ехать ездить laufen бежать бегать fliegen лететь летать tragen нести носить Dieser Unterschied zwischen determinierten und indeterminierten Verben ist nicht etwa mit der Opposition zwischen fr. aller und venir zu vergleichen, die auf den Merkmalen ‛Entfernung vom’ bzw. ‛Annäherung an den _____________ 30 Zum Verhältnis von Aspekt und Aktionsart im deutschen Verbalsystem vgl. Abraham (1991). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 220 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen lokalen Bezugspunkt’ beruht. Mit den determinierten Verben kann eine einmalige Bewegung in einer Richtung (Мы едем домой. ‛Wir fahren nach Hause’) oder eine mehrmalige Bewegung in einer Richtung (Утром я обычно иду пешком в университет. ‛Morgens gehe ich gewöhnlich zu Fuß zur Universität’) ausgedrückt werden. Die indeterminierten Verben der Bewegung lassen vier spezielle Bedeutungen zu: die mehrmalige Bewegung hin und zurück (Он часто летает в Москву. ‛Er fliegt oft nach Moskau’), die einmalige Bewegung hin und zurück (Вчера мы ходили в кино. ‛Gestern sind wir ins Kino gegangen’), die Bewegung in keine bestimmte Richtung (Дети бегают по двору. ‛Die Kinder laufen auf dem Hof herum’), die Bewegung als Eigenschaft, Fähigkeit, Gewohnheit (Ребёнок уже ходит. ‛Das Kind läuft schon’). Mit dem Ausdruck von Aspektualität haben die determinierten und indeterminierten Verben auch insofern zu tun, als die determinierten die Basis für die Präfigierung zu perfektiven Verben bilden, während von den indeterminierten Bewegungsverben imperfektive Verben gebildet werden, z.B. ‛vorbeigehen’: pf. пройдти, impf. проходить; ‛wegfliegen’: pf. улететь, impf. улетать. Wie das Beispiel der determinierten und indeterminierten Verben des Russischen zeigt, sind Aktionsarten nicht einfach ein Ausgleich für das Fehlen des Aspekts in aspektlosen Sprachen, wie dem Deutschen, sondern sie sind auch in Sprachen mit einer Aspektkorrelation ausgeprägt. Aktionsarten sind in den einzelnen Sprachen offensichtlich unterschiedlich verteilt und folgen keinem typologischen Kriterium. Als lexikalische Mittel kann der Sprecher sie frei zur Realisierung seiner kommunikativen Absicht nutzen und zum Beispiel für Hans hustete unter Verwendung der attenuativen Aktionsart sagen Hans hüstelte. Auch im Lateinischen und in romanischen Sprachen gibt es Aktionsarten, die das Deutsche nicht kennt. So drücken einige Verben, wenn sie im Imperfekt gebraucht werden, den Versuch einer Handlung aus (konative Aktionsart): (67) lat. Flumen transibant. ‛sie versuchten, den Fluss zu überqueren’ (68) sp. La cogía, pero no la cogió. ‛er versuchte, sie zu fangen, erreichte sie aber nicht’ Für das Zustandekommen der konativen Bedeutung ist hier allerdings nicht allein die lexikalische Bedeutung des Verbs mit dem Merkmal ‛Erreichen eines Ziels’ maßgeblich, sondern auch die imperfektive Bedeutung der Verbform. Insbesondere im Deutschen sind Aktionsarten häufig an der morphologischen Struktur der Verben zu erkennen. So dient das Präfix er- zur Bildung inchoativer Verben, die den Beginn einer Situation kennzeichnen (erblühen, erblassen, erröten), während das Ende einer Situation durch mit Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 221 dem Präfix ver- gebildete egressive Verben gekennzeichnet werden kann (verblühen). Faktitive oder kausative Verben werden häufig mit einem Umlaut (ä, ö, ü) gebildet (schärfen ‛scharf machen’, tränken ‛trinken machen’, füllen ‛voll machen’; lösen ‛los machen’) und iterative oder auch attenuative Verben sind mitunter am Suffix –eln zu erkennen (sticheln ‛wiederholt stechen’, kränkeln ‛häufig krank sein’, hüsteln ‛ein bisschen husten’). Auch in romanischen Sprachen sind Aktionsarten bei einigen Verben morphologisch erkennbar, so zum Beispiel die inchoative Aktionsart von sp. enrojecer ‛rot werden, erröten’ am Präfix en- und am Suffix -ecer und der französischen Entsprechung rougir am Ausgang des Infinitivs auf -ir. Die iterative Aktionsart erkennt man in sp. golpear ‛klopfen, pochen’ am Suffix -ear, sowie in fr. sautiller ‛hüpfen’ und feuilleter ‛blättern’ am Suffix -iller bzw. -eter. Dennoch ist keines dieser Affixe so produktiv, dass es eine von den Verbalstämmen unabhängige und mit einer bestimmten Aktionsart verbundene morphologische Reihe bilden würde. Auch morphologisch betrachtet durchziehen Aktionsarten somit nicht das gesamte Verbalsystem, sondern sind lexikalische Ausdrucksmittel der Aspektualität. Die mangelnde Systemhaftigkeit der Aktionsarten hat zu verschiedenen Klassifizierungen und Einteilungen geführt, die jedoch aufgrund fehlender Kriterien fragwürdig sind. Eine auf den ersten Blick brauchbare Klassifizierung der Verben nach den Kriterien ‛Dauer’, ‛Telizität’ und ‛Dynamis’ hat Vendler in seiner Studie Verbs and Times (1957; vgl. auch Vendler 1967) vorgeschlagen. Die genannten Kriterien werden dabei nach dem Vorbild der strukturellen Linguistik als binäre Oppositionen gehandhabt: durative Situationen setzen sich aus mehreren aufeinanderfolgenden Zeitpunkten zusammen, während nicht-durative nur auf einen Zeitpunkt bezogen sind. Telische Sachverhalte neigen sich einem dem Sachverhalt eigenen Ziel zu, nach dessen Erreichen sie definitiv abgeschlossen sind, während nicht-telische Sachverhalte kein solches Ziel aufweisen. Dynamische Situationen weisen jeweils qualitativ verschiedene Phasen auf, nichtdynamische hingegen nicht. In Anlehnung an Vendler gelangt Dessì Schmid (2014: 21) zu folgender Darstellung der aktionalen Klassen: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 222 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen achievements (Ergebnisse, Zustandswechsel ohne zeitlichen Verlauf) + telisch - durativ + dynamisch accomplishments (Zustandswechsel mit zeitlichem Verlauf, Ausführungen) + telisch + durativ + dynamisch activities (Vorgänge, Tätigkeiten) - telisch + durativ + dynamisch states (Zustände) - telisch + durativ - dynamisch Italienisch tagliare il traguardo Französisch trouver Spanisch arribar Deutsch ankommen mangiare una mela traverser la rue envejecer von Rom nach Paris fahren camminare fumer correr schlafen sapere être grand(e) habitar wissen Achievements bezeichnen dabei Ereignisse, die nur zu einem Zeitpunkt stattfinden oder Zustandswechsel ohne zeitlichen Verlauf, während accomplishments Zustandswechsel mit zeitlichem Verlauf oder Handlungen und Ereignisse sind, die für mehrere aufeinanderfolgende Phasen feststellbar sind, die aber nicht weitergeführt werden können, wenn sie ihr Ziel erreicht haben. Activities sind Situationen, die in ihrem Verlauf qualitativ verschiedene Zeitpunkte einschließen, während bei states der Zustand zu jedem Zeitpunkt der gleiche ist (Dessì Schmid 2014: 22). Die Klassifizierung der Aktionsarten nach Vendler hat allerdings den Nachteil, dass sie allein die lexikalische Bedeutung des isolierten Verbs zugrunde legt. Auf diese Weise lassen sich dt. essen, fr. manger, sp. comer, it. mangiare ohne Weiteres als activities und damit als atelisch charakterisieren, während sie jedoch in Kombination mit einem direkten Objekt (dt. einen Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 223 Apfel essen, fr. manger une pomme, sp. comer una manzana, it. mangiare una mela) zu telischen Verben würden und als accomplishments einzuordnen wären. Auf diese Tatsache hat zuerst Verkuyl (1972) hingewiesen und vorgeschlagen, die aspektuelle Interpretation einer Prädikation auf den gesamten morpho-syntaktischen Komplex aus dem Verb und seinen Argumenten zu beziehen (vgl. Dessì Schmid 2014: 25). Eine Klassifizierung wie die von Vendler erlaubt es, nicht nur morphologisch abgeleitete Verben, wie zum Beispiel rougir oder enrojecer, als Aktionsarten zu betrachten, sondern auch andere Verben im Hinblick auf ihren Beitrag zur Aspektualität zu untersuchen. Dies ist zum Beispiel in der Liste der Aktionsarten (modes d’action), die Grevisse in seinem Bon Usage gibt, eindeutig der Fall. Grevisse geht von einem umfassenden Aspektualitätsbegriff aus, den er aspect nennt und mit Beispielen belegt, in denen die lexikalischen Aktionsarten eine besondere Rolle spielen. Dennoch definiert er den aspect folgendermaßen: L’aspect du verbe est le caractère de l’action considérée dans son développement, l’angle particulier sous lequel le déroulement (le « procès ») de cette action est envisagé, l’indication de la phase à laquelle ce « procès » en est dans son déroulement ; c’est donc, en somme, la manière dont l’action se situe dans la durée ou dans les parties de la durée. (Grevisse 1980: 702) Damit wird als Verbalaspekt der spezifische Blickwinkel bestimmt, unter dem eine Handlung betrachtet wird, oder auch die Phase, in der sich der dargestellte Prozess befindet. Grevisse folgt dabei Guillaume (1965 [1929]), der unter Aspekt die Art und Weise der Situierung einer Handlung im Ablauf der Zeit verstand. Als wichtigste Aspekte nennt Grevisse (1980: 702) die folgenden: l’instantanéité (‛momentaner Aspekt’): La bombe éclate. la durée (‛durativer Aspekt’): Je suis en train de lire. Je le pourchasse. l’entrée dans l’action (‛inchoativer oder ingressiver Aspekt’): Il se met à rire. Il s’endort. la répétition (‛iterativer Aspekt’): Je relis la lettre. Il buvote son vin. la continuité, la progression (‛progressiver Aspekt’): Il ne fait que rire. Le mal va croissant. l’achèvement (‛perfektiver Aspekt’): Elle a vécu, Myrto. J’ai trouvé. l’inachèvement (‛imperfektiver Aspekt’): Je cherche une solution. la proximité dans le futur (‛nahe Zukunft’): Il va lire. Il est sur le point de lire. La proximité dans le passé (‛nahe Vergangenheit’): Je viens de le voir. Binnick (1991: 146) vermerkt als positiv zu dieser Auffassung, dass sie über das Verb hinaus syntaktische Kollokationen einbezieht und dadurch der Beschreibung der dargestellten Situationen mit dem Aspektbegriff näherkommt als die Darstellung von Vendler, nach der das Verb schwimmen als Tätigkeit (activity) einzuordnen wäre, wobei aber durch den Fluss Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 224 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen schwimmen ein Zustandswechsel mit zeitlichem Verlauf (accomplishment) wäre. Er bemängelt an diesen Kategorien von Grevisse jedoch das Fehlen formaler und kategorialer Ähnlichkeit. Offensichtlich spielen für Grevisse die aspektuell markierten Verbformen hier keine große Rolle. Die letzten beiden Kategorien ordneten wir bereits als Ausdrucksmittel der Temporalität ein, wobei für Grevisse die ‛Nähe’ ein Grund gewesen sein mag, hier von Phasen und damit von Aspektualität auszugehen. In den angeführten Beispielen wird Aspektualität durch Verbalperiphrasen und/oder die lexikalische Aktionsartsbedeutung der Verben ausgedrückt. In der Tat sind diese beiden Mittel des Ausdrucks von Aspektualität in besonderem Maße geeignet, eine Situation als äußerlich begrenzt oder nicht begrenzt darzustellen. Wir verstehen unter Aktionsart eine Kategorisierung, die bereits in der Verbbedeutung angelegt ist und nach dem Kompositionalitätsprinzip in die aspektuelle Bedeutung einer Äußerung eingeht. Das Verb in dem Satz La bombe éclate setzt bereits eine auf einen Zeitpunkt begrenzte Grenze und lässt keine Erweiterung zu (*La bombe éclate pendant dix minutes). Dagegen ist im folgenden Satz eine Begrenzung durch das Adverbial pendant une heure und durch die perfektive Verbform (ai cherché), die für die ganzheitliche Sicht der Situation steht, ausgedrückt, nicht jedoch durch die Aktionsart des durativen Verbs chercher: (69) fr. J’ai cherché ma clé pendant une heure. Dass die Aktionsart der Verben in romanischen Sprachen einen wichtigen Beitrag zur Aspektualität leistet und der aspektuellen Bedeutung von Verbformen nicht nachgeordnet sein muss, lässt sich anhand von Einschränkungen in bestimmten Verbalparadigmen erkennen. So haben die italienischen Verben splendere (‛glänzen’) und stare (in der Bedeutung ‛bleiben’) kein Perfektpartizip und können nicht in zusammengesetzten Tempora konjugiert werden. Auch einige, wenn auch nicht sehr häufige französische Verben sind „unvollständig“, so haben die Verben gésir ‛(begraben) liegen’, messeoir ‛sich nicht ziemen, unangemessen sein’ und paître (‛abgrasen’) kein Perfektpartizip und können auch nicht in zusammengesetzten Verbformen verwendet werden. Andererseits kann das Verb déchoir ‛verfallen, verwahrlosen’ nicht im imparfait konjugiert werden. Wie Begioni (2012: 11–27) nachgewiesen hat, hängt diese „Defizienz“ der Verben mit ihrer Aktionsartbedeutung zusammen. In seiner Erklärung geht Begioni im Anschluss an Guillaume von drei Merkmalen der Aktionsarten aus: erstens, das Sem [+durativ] als grundlegende und obligatorische Konstituente; zweitens, die semantischen Merkmale der Opposition [+begrenzend/-begrenzend], die festlegen, ob die Grenze der Handlung betrachtet wird und in der Bedeutung verankert ist; Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 225 drittens, die semantischen Merkmale, die die Phase des Prozesses in Bezug auf seinen Ablauf charakterisieren (Begioni 2012: 13). Während die imperfektiven Verben keine ihrer Bedeutung innewohnende Grenze besitzen, weisen die perfektiven Verben – unabhängig von weiteren Einflüssen in der Äußerung – eine Begrenzung auf. Ein von ihnen bezeichneter Prozess wird notwendigerweise bis an sein Ende geführt. In diesem Sinne sind die Verben naître und mourir perfektiv, da der Prozess des Geborenwerdens und des Sterbens nach seinem Abschluss nicht mehr fortgeführt werden kann. Die der lexikalischen Bedeutung innewohnende Perfektivität liegt also in dem Konzept einer globalen Aktion begründet, die konzentriert und kondensiert dargestellt wird. Die folgenden französischen und italienischen Verben sind nach dieser Begründung perfektiv: fr. abbattre, aboutir, arracher, arriver, atteindre, assommer, casser, couper, dire, entrer, fermer, mourir, naître, tomber, trouver, tuer, etc.; it. abbattere, arrivare, cadere, chiudere, dire, entrare, nascere, preparare, raggiungere, rompere, strappare, tagliare, trovare, uccidere, etc. (Begioni 2012: 14). Im Gegensatz dazu bringen die imperfektiven Verben Äußerungen über Situationen hervor, die ohne Begrenzung fortgeführt werden können. Bei der Verwendung dieser Verben im Diskurs können gegenüber den Verben äußere Bedingungen zu Begrenzungen führen. So haben die Verben manger und travailler in ihrer Bedeutung keine Begrenzung der von ihnen bezeichneten Handlungen des ‛Essens’ und des ‛ Arbeitens’; das Hinzufügen eines direkten Objekts oder einer adverbialen Bestimmung kann aber zu einem perfektiven Charakter der Äußerung führen. Folgende imperfektive Verben nennt Begioni (2012: 15): fr. admirer, adorer, aimer, briller, conserver, chercher, courir, dormir, durer, exister, habiter, manger, marcher, méditer, parler, régner, songer, travailler, venir, vivre, voyager; it. abitare, adorare, amare, ammirare, brillare, camminare, cercare, conservare, correre, dormire, durare, esistere, lavorare, mangiare, meditare, parlare, regnare, sognare, venire, viaggiare. Die Verwendung der Bezeichnungen perfektiv und imperfektiv für Aktionsartbedeutungen von Verben bezieht sich jedoch auf ihre lexikalische Eigenschaft, Begrenzungen einer Situation vorzunehmen oder nicht. Sie darf nicht mit der Aspektkorrelation in Aspektsprachen verwechselt werden, die auf jeden Fall die dominante Komponente der Aspektualität darstellt. So lassen sich zwar unter den genannten Verben einige Verbpaare ausmachen, die in aspektueller Opposition zueinander stehen, jedoch nur punktuelle Erscheinungen und keine systematische Korrelation darstellen (fr. venir/arriver, it. cercare/trovare). Bei einigen Verben ist das Konzept der Begrenzung sowohl auf semantischer als auch auf diskursiver Ebene ausgeschlossen. Diese bereits erwähnten Verben it. splendere ‛glänzen’, it. stare in der Bedeutung ‛bleiben, existieren’, it. bisognare ‛benötigen’, fr. gésir ‛(begraben) liegen’, fr. messeoir Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 226 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen ‛sich nicht ziemen, unangemessen sein’ und fr. paître ‛abgrasen’ sind vollkommen durativ und können nur in imperfektiven Kontexten verwendet werden. Das geht sogar so weit, dass keine zusammengesetzten perfektiven Verbformen von ihnen gebildet werden können und ihr Konjugationsparadigma im Indikativ auf drei Tempora reduziert ist (Begioni 2012: 25): (70) it. Il sole splende. (71) it. Il sole splendeva. (72) it. Il sole splenderà. (73) it. Il sole *ha / è ??splenduto / ??spleso. Als sehr dominierend erweist sich die Aktionsart auch bei einigen Verben mit stark ausgeprägter Begrenzung. Die Verwendung von Verben wie tomber/cadere, naître/nascere, trouver/trovare im Imperfekt und mit einer Dauer bezeichnenden adverbialen Bestimmung führt in den folgenden Konstruktionen zu nicht akzeptablen Sätzen (vgl. Begioni 2012: 25): (74) fr. */?? Il tombait pendant des heures. (75) fr. */?? Il naissait pendant des années. (76) fr. */?? Je trouve pendant des années. (77) it. */?? Cadeva per ore. (78) it. */?? Nasceva per anni. (79) it. */?? Trovo per anni. Mit einem Subjekt, das die Iterativität des benannten Vorgangs bewirkt, würde sich jedoch ein durchaus möglicher Satz ergeben: (80) fr. La neige tombait pendant des heures. Unter den perfektiven Verben gibt es einige, die eine Situation nahe an der Grenze bezeichnen, die nur einen kurzen Augenblick dauert. Nach dem Abschluss der Handlung, die imminent ist, dauert der aus ihr resultierende Zustand an. Aus diesem Grunde bilden diese Verben die zusammengesetzten Verbformen mit dem Auxiliar être: tomber, mourir, naître, partir (vgl. je suis tombé, je suis parti, il est mort). Solche Verben mit einer nahen Grenze neigen auch eher als andere dazu, mit ihren Präsensformen die nahe Zukunft zu bezeichnen. Mit der Konstruktion tu tombes wird der unmittelbar bevorstehende Vorgang des Hinfallens benannt, vor dem gewarnt wird. Verben mit einer starken Begrenzung stehen damit – wenn auch nicht sprachsystematisch – den perfektiven Verben in Sprachen mit Aspektkorrelation nahe, die nicht ge- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 227 genwärtige Situationen bezeichnen können und deren Konjugationsformen in der Zukunft abgeschlossene Handlungen und Prozesse benennen (vgl. ru. Упадёшь. ‛du wirst fallen’). Das Lateinische verfügte über ein inchoatives Infix -sc- (amo ‛ich liebe’ > ama-sc-o ‛ich verliebe mich’), das sich in seiner Form in den französischen Verben auf -ir und den italienischen auf -ire wiederfindet. Im Französischen kommt es in den Konjugationsformen des Plurals im Indikativ Präsens, im imparfait und in den einfachen Formen des subjonctif vor: nous rempli-ss-ons, je rougi-ss-ais, qu’ils jauni-ss-ent. Im Italienischen findet man Reste dieses Infixes im Indikativ bei den Singularformen des Präsens und der 3. Person Plural sowie im Subjunktiv: fini-sc-o, fini-sc-i, che io fini-sc-a (Begioni 2012: 29). Obwohl das Suffix seine ursprüngliche Bedeutung weitgehend verloren hat, ist die inchoative Bedeutung in einigen Verwendungen noch spürbar: nous rougissons (‛wir erröten, beginnen rot zu werden’). Inchoative Bedeutungen können Verben auch durch Präfigierung erhalten: fr. s’endormir, it. addormentarsi, fr. s’enfuir. Durch Präfigierung können neben inchoativen Verben auch Verben weiterer Aktionsarten entstehen: progressive Verben (fr. pourchasser, fr. poursuivre, it. perseguire), Verben mit iterativer Aktionsart (fr. refaire, fr. recommencer, it. rileggere), terminative Verben (it. svuotare). Das vor allem in der spanischen Linguistik gebräuchliche Konzept des ‛lexikalischen Aspekts’ (aspecto léxico) ist nicht mit dem der Aktionsart identisch. Insbesondere bei Miguel (1999: 2982) schließt es alle aspektuellen Informationen ein, die in lexikalischen Einheiten der Prädikation enthalten sind. Die Art dieser aspektuellen Information wird vor allem in der Begrenzung/Nichtbegrenzung der Prädikate gesehen. Diese Bestimmung geht streng genommen über die Aktionsartklassen der Verben hinaus und schließt alle lexikalischen Bestandteile eines Satzes ein. So drücken die Adjektive inteligente und madrileño eine dem Bezugswort inhärente Eigenschaft aus, die unabhängig von der unmittelbaren Erfahrung und von einem Vorgang ist. Sie werden daher mit der Kopula ser verbunden, die aspektuell imperfektiv markiert ist, und sind inkompatibel mit der Kopula estar, die eine Begrenzung beinhaltet, also perfektiv ist (Miguel 1999: 2983): (81) sp. Juan es madrileño. / *Juan está madrileño. Dagegen bezeichnen Adjektive vom Typ desnudo oder enfermo Zustände des Subjekts, die aus unmittelbarer Erfahrung wahrgenommen werden können und in Beziehung zu einem Ereignis, in das das Subjekt involviert ist, stehen. Sie ergeben daher nur mit Bezug auf ein begrenztes zeitliches Intervall wahre Aussagen. Desnudo und enfermo beschreiben Zustände von Subjekten, die im Ergebnis der Vorgänge des Sich-Ausziehens und des Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 228 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Krank-Werdens entstanden sind. Sie können daher als aspektuell begrenzt betrachtet werden, weshalb sie mit der perfektiven Kopula estar verbindbar sind und die Konstruktion mit ser ausschließen (Miguel 1999: 2983): (82) sp. Juan está desnudo. / *Juan es desnudo. Die Verwendbarkeit der begrenzenden (estar) oder nicht begrenzenden (ser) Kopula hängt davon ab, ob eine Eigenschaft des Subjekts oder ein Zustand, in dem das Objekt sich befindet, bezeichnet wird. Die Länge des abgegrenzten Intervalls spielt dabei keine Rolle. Ein so dauerhafter Zustand wie ‛tot sein’ wird mit estar verbunden (está muerto) und eine vorübergehende Eigenschaft, wie ‛Student des ersten Semesters sein’ wählt im Gegensatz dazu die Kopula ser aus (Elena es estudiante de primer curso). Außerdem gibt es Adjektive wie desagradable und joven, die beide Kopulaverben zulassen, je nach dem, ob sie einen Zustand (83) oder eine Eigenschaft (84) ausdrücken: (83) sp. El tiempo está desagradable. (84) sp. Su marido es muy desagradable. Auch deverbal abgeleitete Substantive tragen durch ihre Bedeutung zur Aspektualität der Prädikation bei. In Abhängigkeit von der Wurzel können zum Beispiel mit dem Suffix -dor gebildete Substantive die Bezeichnung einer Funktion oder einer habituellen Tätigkeit des Ausführenden ergeben. Die Substantive nadador und corredor drücken zum Beispiel Eigenschaften des Subjekts aus, die zeitlich nicht begrenzt sind (Miguel 1999: 2984): (85) sp. Martin López Zubero es nadador y Roberto Parra es corredor. Andere Substantive auf -dor werden von begrenzenden Verben abgeleitet, die keine habituelle Tätigkeit bezeichnen. In diesem Fall bezieht sich das Substantiv auf einen isolierten Vorgang und bezeichnet daher eine Eigenschaft, die nur in einem abgeschlossenen Intervall gilt. So ist zum Beispiel libertador keine Bezeichnung einer Eigenschaft eines Individuums, sondern es bezeichnet eine infolge von Ereignissen entstandene Eigenschaft. Daher ist eine nicht determinierte Verwendung dieses Substantivs nicht möglich (Miguel 1999: 2984): (86) sp. San Martín es el libertador del Perú. (87) sp. *Juan es libertador. Nach Miguel (1999: 2984) ist die Aspektualität auch für die Ambiguität bestimmter Substantive des Spanischen verantwortlich. Zum Beispiel kann das Substantiv auf eine Handlung mit einer bestimmten limitierten Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 229 Dauer bezogen sein (88) und andererseits das Resultat einer vorangegangenen Handlung bezeichnen (89): (88) sp. La construcción de este edificio fue muy lenta. (89) sp. La construcción fue demolida. Mit dem Konzept des lexikalischen Aspekts wird somit die Grenze zwischen lexikalischen und grammatischen Ausdrucksmitteln der Aspektualität aufgehoben und es wird die Basis dafür geschaffen, ihre Zusammenwirkung ins Blickfeld zu rücken. 3.1.5. Einige Anmerkungen zur Terminologiegeschichte des Aspekts Bis heute bereitet die Definition und Abgrenzung der Begriffe ‛Aspekt’ und ‛Aktionsart’ in Grammatiken romanischer Sprachen Schwierigkeiten. Da diese häufig mit Bezeichnung und Darstellungstraditionen zusammenhängen, soll hier ein Überblick über die Geschichte des Aspektbegriffs und des Begriffs der ‛Aktionsarten’ sowie der entsprechenden Bezeichnungen gegeben werden. Wenn wir die Aufnahme des Begriffs ‛Aspekt’ in die Beschreibung europäischer Einzelsprachen betrachten, so scheint es naheliegend, mit den Sprachen zu beginnen, die eine ausgeprägte Aspektkorrelation besitzen. Auch die Grammatiken dieser Sprachen folgten jedoch dem lateinischen Vorbild oder dem anderer, gut beschriebener europäischer Sprachen, die von der Erkenntnis des Aspekts als Verbalkategorie wegführten. Pollak (1988: 20–21) sieht den Ursprung der Berücksichtigung des Aspekts in der Beschreibung der modernen europäischen Sprachen bei dem Prager Gelehrten Benedikt Vavrinec von Nedožier (1555–1615), der 1603 in seiner in lateinischer Sprache verfassten Grammatik des Tschechischen Grammaticæ Bohemicæ ad leges naturalis methodi conformatae et notis numerisque illustratæ ac distinctæ libri duo erstmals das Verbalsystem einer slavischen Sprache umfassend dargestellt hatte. Wenige Jahre später verwendete Meletij Smotrickij (ca. 1578–1633), der in seiner Grammatiki Slavenskaja Pravilnoe Syntagma (1619) das noch heute in der russisch-orthodoxen Kirche gültige Neukirchenslavische kodifizierte, das Wort видь für den Aspekt. Es handelt sich um eine Lehnübersetzung, die auf das Wort εἶδος (‛Bild, Ansicht, äußere Form’) aus der altgriechischen Grammatik des Dionysios Thrax aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zurückgeht. Für Smotrickij war видь jedoch ein morphologischer Begriff, der das Verhältnis von Grundform und abgeleiteter Form eines Verbs erfasste. Die Betrachtung der morphologischen Ableitung der beiden Aspekte auseinander durch Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 230 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Präfigierung bzw. Suffigierung spielte auch in späteren russischen Grammatiken eine wichtige Rolle.31 Die erste Grammatik des Russischen (1696) von Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1710) erwähnt unter der klassischen Verbklasse der abgeleiteten Verben das Suffix -ва und beschreibt es als frequentativ, nimmt allerdings nur drei Tempora des Russischen an (Präsens, Präteritum und Futur). Ludolf führt jedoch perfektive und imperfektive Verben paarweise in Listen an und konstatiert sogar Zusammenhänge zwischen Aspektpaaren, die von Verben mit unterschiedlichen Stämmen gebildet werden (брать – взать ‘nehmen’). Das Korrelieren von Aspektpaaren scheint bei Ludolf auf seiner genauen Beobachtung des Sprachgebrauchs zu beruhen, aus der er jedoch keine Konsequenzen für den Aspektbegriff zieht. Die Präfigierung der Verben, die in der Regel den Aspekt verändert (нести ‘(in einer bestimmten Richtung) tragen, imperfektiv’, принести ‘herbeitragen, perfektiv’), ist ihm in dieser Funktion nicht bewusst. In der Grammatik des königlichen Dolmetschers für slavische Sprachen Jean Sohier (1724) finden sich vier Tempora, das Präsens, das Imperfekt, das Perfekt und das Futur, wobei er das Perfekt als von präfigierten Verben gebildete Formen annimmt (z.B. я оценил ‘ich habe geschätzt’) und das Imperfekt als eine frequentative Form, die vom Perfekt mit Hilfe eines Infixes (une syllabe au milieu du mot) gebildet wird, definiert (z. B. вставал von встал ‘ich bin aufgestanden’). Auch beim Futur unterscheidet er drei Formen: die vom präfigierten Verb gebildete (сделаю ‘ich werde tun’) und die mit den Hilfsverben буду und стану und imperfektiven Verben gebildeten (буду читать, стану читать ‘ich werde lesen’). Die Darstellung der Tempora mit der Gegenüberstellung perfektiver und imperfektiver Formen und dem synthetischen ebenso wie den im 17. Jahrhundert zur Norm gewordenen analytischen Formen stellt zwar eine beachtliche Innovation dar, bewegt sich jedoch noch ausschließlich in temporalen Kategorien. In der Rossijskaja grammatika (1755) von Michail Vasil’evič Lomonosov nimmt das Verb mit 62 Seiten einen gewichtigen Platz ein, der vor allem seiner reichen Morphologie geschuldet ist. Lomonosov behandelt die Präfigierung und Suffigierung der Verben ausführlich, verwendet dabei jedoch keine Kategorien des Verbs, sondern betrachtet sie ausschließlich als lexikalische Angelegenheit. Für die von ihm ausführlich behandelten Modi hatte er zunächst zwei konkurrierende Termini verwendet: вид ‘Sichtweise, später grammatischer Aspekt’ und наклонение ‘Modus’. Of_____________ 31 Zur Entwicklung des Aspektbegriffs in der russischen Grammatikographie vgl. Archaimbault (1999). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 231 fensichtlich hielt er die Modi für Möglichkeiten des Ausdrucks eines Standpunkts zum Inhalt der Aussage. In den frühen Fassungen seiner Grammatik findet sich eine Liste solcher vom Verb durch seine morphologische Gestalt ausgedrückten Standpunkte, die sich nach moderner Terminologie teilweise als Aktionsarten erweisen: учашчательный ‘frequentativ’, начинательный ‘inchoativ’, величивательный ‘augmentativ’, умалительный ‘diminutiv’, кончательный ‘terminativ’, удовольственый ‘saturativ’ (vgl. Archaimbault 1999: 125). In einer weiteren Liste, die zehn Tempora mit Beispielen enthält, nimmt er unter den Begriffen ‘bestimmt vs. unbestimmt’ eine aspektuelle Differenzierung vor: 1. настоящее ‘Präsens’ пишу ‘ich schreibe’ 2. прoшедшее неопределенное ‘unbestimmte Vergangenheit’ писал ‘ich schrieb (imperfektiv)’ 3. прoшедшее определенное ‘bestimmte Vergangenheit’ написал ‘ich schrieb (perfektiv)’ 4. давно прoшедшее I ‘entfernte Vergangenheit I’ писывал ‘ich schrieb/hatte geschrieben (imperfektiv)’ 5. прoшедшее щчетное ‘unerfüllte Vergangenheit’ я было написал ‘ich wollte gerade schreiben’ 6. давно прoшедшее II ‘entfernte Vergangenheit’ я бывало писал ‘ich pflegte zu schreiben’ 7. начинательное прoшедшее ‘inchoative Vergangenheit’ я стал писать ‘ich begann zu schreiben’ 8. давно прoшедшее II составленное ‘zusammengesetztes Plusquamperfekt’ 9. будущее неопределенное ‘unbestimmte Zukunft’ буду писать ‘ich werde schreiben (imperfektiv)’ 10. будущее определенное ‘bestimmte Zukunft’ напишу ‘ich werde schreiben (perfektiv)’. (Archaimbault 1999: 128–129) Obwohl Tempora, für die Lomonosov keinen Namen gefunden hatte (z.B. мне будет писать ‘ich werde schreiben müssen’) oder die, wie die ‘unerfüllte Vergangenheit’ oder die ‘inchoative Vergangenheit’, völlig aus dem Rahmen der lateinischen Grammatik fielen, letztlich nicht in die Grammatik aufgenommen wurden, ist hier ein deutlicher Schritt in Richtung der Berücksichtigung des Aspekts sichtbar. Die Charakteristik des perfektiven Aspekts als ‛bestimmt’ und des imperfektiven als ‛unbestimmt’ wird auf die entsprechenden Formen sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft bezogen. Interessant ist, dass er auch die periphrastische inchoative Vergangenheit einbezieht und mit der unerfüllten bzw. entfernten Vergangenheit Formen aufnimmt, die mit einer Art temporal-aspektu- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 232 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen ellen Partikeln gebildet werden und die auch zur funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität zu rechnen wären. Die zwischen 1783 und 1788 redigierte Rossijskaja Grammatika (Barsov 1981) von Anton Aleksejevič Barsov (1730–1791) war als Schulgrammatik in Auftrag gegeben worden und berücksichtigt Lomonosovs zehn Tempora. Barsov nimmt folgende Eigenschaften (принадлежности) des Verbs an: (1) вид ‘Aspekt’, (2) начертание ‘Bildung der Verben’, (3) знаменование или залог ‘Diathese’, (4) качество ‘Qualität’, (5) лицо ‘Person’, (6) число ‘Numerus’, (7) время ‘Tempus’, (8) род ‘Genus’, (9) наклонение ‘Modus’, (10) спряжение ‘Konjugation’. Die Erwähnung des Genus als eigene Kategorie trägt hier den Gegebenheiten der russischen Sprache Rechnung, die in der Vergangenheit maskuline, feminine und neutrale Formen unterscheidet (писал vs. писала vs. писалo). Mit der Kategorie der ‘Qualität’ wird die Unterscheidung in Verba Substantiva (существительныя, ‛Kopula’) und Verba Adjectiva (прилагательныя) aufgenommen, wobei im Normalfall im Russischen keine Kopula verwendet wird, die Verben also alle zu den Verba Adjectiva gehören. Während Lomonosov den Terminus вид ‘Aspekt’ nur in seinen Skizzen und eher mit der Bedeutung ‘Modus’ verwendete, greift Barsov auf die slavische Tradition zurück und gibt dem Terminus die Bedeutung, die er bereits bei Smotrickij hatte, der in seiner Grammatiki Slavenskaja Pravilnoe Syntagma (1619) der Wortbildung der Verben große Aufmerksamkeit geschenkt hatte und einen ursprünglichen oder vollendeten (первообразный или совершенный) und einen abgeleiteten (производный) Aspekt unterschieden hatte. Letzteren hatte er in den inchoativen und den iterativen Aspekt eingeteilt. Barsov führt nun den Aspekt nicht als solchen, sondern als Klassifikationsmerkmal ein. Die ursprünglichen (первообразные) Verben könnten auch als vollendete gekennzeichnet werden, die abgeleiteten Verben werden wie bei Smotrickij in inchoative und frequentative eingeteilt. Für beide gibt Barsov morphologische Kennzeichen: die inchoativen Verben enden auf -jeju, die frequentativen haben die Suffixe -a, -ja, -va. Im Hinblick auf die Tempora wirft Barsov Lomonosov vor, die Unterscheidung zu weit getrieben zu haben und das Tempusschema der antiken Grammatiken aufgegeben zu haben. Er selbst nimmt lediglich sechs Tempora an (vgl. Archaimbault 1999: 153): 1. Präsens (настоящее, z.B. двигаю ‘ich bewege’) 2. Imperfekt (проходящее ‛wörtl. das Vorübergehende’, z.B. двигал ‘ich bewegte’) 3. Präteritum (прошедшее ‛wörtl. das Vorübergegangene’, z.B. двинул ‘ich bewegte einmal’) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 233 4. Plusquamperfekt (давнопрошедшее, z.B. двигивал ‘ich hatte bewegt’) 5. Futur (будущее, z.B. двину ‘ich werde einmal bewegen’) 6. Futurum indefinitum (будущее неопределенное, z.B. я стану двигать ‘ich werde bewegen’). Barsov zählt hier Formen des perfektiven und des imperfektiven Verbs zu einem Verbalparadigma und vermischt somit die Flexion mit der Wortbildung. Bei aller Erkenntnis aspektueller Werte der Verben erscheint die Kategorie des Aspekts in den russischen Grammatiken des 18. Jahrhunderts noch von untergeordneter Bedeutung zu sein. Entweder werden aspektuelle Bedeutungen aus der Wortbildung abgeleitet (Barsov) oder den Tempora untergeordnet (Lomonosov). Als entscheidende Kategorie des Verbs erscheint somit auch in den russischen Grammatiken das Tempus. Erst 1827 verwandte Nikolaj Ivanovič Greč (1787–1867) den ‛Aspekt’ als autonomen Begriff in der russischen Grammatik. Für die Entwicklung des Aspektbegriffs ist es auch bemerkenswert, dass die griechische Grammatik dafür nicht den auf die Morphologie festgelegten Terminus eidos entsprechend umdeutete, sondern zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit opsi, das klar einen Gesichtspunkt bezeichnet, einen neuen Terminus einführte. Wie wir gesehen haben, verfügen die romanischen Sprachen nicht über eine eigene Aspektkorrelation, und so taucht der Begriff des ‛Aspekts’ im Sinne einer eigenständigen grammatischen Kategorie auch erst spät in deren Beschreibungen auf. Allerdings wurden aspektuelle Merkmale in Grammatiken des Französischen (vgl. 2.4.3 und Fournier 1991; 2013) schon im 17. Jahrhundert in der Beschreibung des Tempussystems verwendet. Ähnlich konnten wir in spanischen Grammatiken feststellen, dass aspektuelle Merkmale seit den frühen Grammatiken immer wieder in die Beschreibung der Tempora einflossen und zu mehr oder weniger geglückten Benennungen und Beschreibungen führten (vgl. 2.4.5.–2.4.7. und Haßler 2012a; 2015c). Die „Entdeckung“ des Aspekts als selbständige Kategorie, die insbesondere seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts verwendet wurde, führte dazu, dass selbst für das Spanische, das zwar aspektuelle Merkmale in den Verbformen der Vergangenheit, aber keine vollständige Aspektkorrelation aufweist, in der grammatischen Beschreibung zeitweise der Aspekt den Tempora übergeordnet wurde. Nach Auroux (1991: 80) findet man den ausgeprägten Aspektbegriff erstmalig in einem französischen Text 1818 bei Michel de Neuville, der den Terminus aspect mit Bezug auf die vom Verb bezeichnete Zeitspanne verwendet hat. 1829 erscheint der Aspektbegriff elaborierter in der französischen Übersetzung der russischen Grammatik von Greč. Der Übersetzer Charles-Philippe Reiff (1796–1876?) bezeichnet ihn mit branches, gibt jedoch in Klammern das russische Wort (виды) an, und kennzeichnet Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 234 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen diese ‛Zweige’ als unterschiedliche Gesichtspunkte, die sich in den Verbformen ausprägen: Ces modes et ces points présentent plusieurs points de vue sous lesquels leur signification peut être envisagée ; de là dans les verbes russes les branches (виды), qui sont les différentes formes qui caractérisent ces différents points de vue. (Reiff 1829: 110) Der unbestimmte Zweig (branche indéfinie, неопределенный) drücke nur die Tatsache der Handlung aus, ohne dabei einen Bezug zu einem bestimmten Zeitraum herzustellen. Als Beispiele werden Konjugationsformen typischer Verben des imperfektiven Aspekts genannt (я буду писать ‛ich werde schreiben’, хожу ‛ ich gehe’). Als bestimmte (branche définie, определенный) werden jedoch nicht perfektive, sondern in ihrer zeitlichen Einordnung bestimmte Verbformen genannt, wobei das Bestimmte eher in im Kontext auftretenden Adverbien liegen kann: я идуimpf. теперь в театр ‛ich gehe jetzt ins Theater’. Das Verb идти bezeichnet eine gerichtete Bewegung des Gehens und steht als solches dem ungerichteten ходить gegenüber, beide Verben gehören jedoch zum imperfektiven Aspekt. Neben dem bestimmten und dem unbestimmten Zweig werden auch semelfaktive und iterative Bedeutungen genannt (Reiff 1829: 111): (90) ru. молния блеснула ‛es hat geblitzt’ semelfaktiv (91) ru. я хаживал ‛ich ging mehrfach’ iterativ Außer diesen Aktionsarten, die typischerweise mit den Aspekten vermischt dargestellt werden, führt Reiff jedoch im Französischen das Oppositionspaar parfait/imparfait ein und belegt es mit Verben aus der Aspektkorrelation: La branche imparfaite (несовершеный), qui exprime une action non consommée ; ex. я сказывал, je disais; я буду переписывать до семи часов, je m’occuperai à copier jusqu’à sept heures. La branche parfaite (совершеный), qui exprime une action entièrement accomplie ; ex. я сказал, j’ai dit, j’ai fini de dire ; я перепишу всё это до семи часов, à sept heures j’aurai achevé de copier tout cela. (Reiff 1829: 111) Eine solche Vermischung der Betrachtung des Aspekts mit den Tempora und den Aktionsarten, die hier erstmals in französischer Sprache am Beispiel einer slavischen Sprache vorgenommen wird, sollte für beinahe zwei Jahrhunderte auch die Grammatikographie der romanischen Sprachen bestimmen. Es sollte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dauern, bis der wissenschaftliche Aspektbegriff in einem Werk von Franz Miklošič (1813–1891, Vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen, 1852–1875) verwendet wurde. Bis zum Erscheinen von Roman Jakobsons (1896–1982) Arbeit Zur Struktur des Russischen Verbums (1932; vgl. Jakobson 1971) war der Begriff Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität und Aspekt 235 jedoch nicht voll etabliert. Der Terminus Aspekt und seine Entsprechungen in romanischen Sprachen (fr. aspect, it. aspetto, sp. aspecto, pt. aspecto, rum. aspect) weist – nicht zuletzt auch wegen des umgangssprachlichen Gebrauchs dieses Wortes – Probleme auf, weshalb auch Alternativen eingebracht und diskutiert wurden. So schlug Georg Curtius (1846) den Terminus Zeitart vor, mit dem er die enge Verbindung zum Ausdruck von Temporalität verdeutlichte, den er jedoch von der Zeitstufe unterschied. Wilhelm Meyer-Lübke (1861–1936) verwendet in seiner Grammatik der romanischen Sprachen den Terminus Aktionsart im Anschluss an Karl Brugmann (1849–1919), der durch diesen 1885 Zeitart ersetzt hatte (vgl. Dessì Schmid 2014: 19). Der Terminus der Aktionsarten wird auch in romanischen Ländern sehr häufig mit dem in der deutschen Linguistik des 19. Jahrhunderts entstandenen Begriff assoziiert, so dass man ihn mitunter für die Benennungen modes d’action, modos de acción oder tipo dell’azione findet, die sich offensichtlich nicht vollständig durchgesetzt haben. Darauf weist die Bezeichnungsvielfalt hin: fr. ordre de procès, caractère de l’action, mode d’action oder modalité d’action; it. azione, azionalità, qualità dell’azione, tipo dell’azione oder modo dell’azione; sp. modo de acción, aspecto léxico, carácter de la acción). Neben Uneinigkeit in der Frage, ob Aspekt und Aktionsart überhaupt grundsätzlich zu trennen seien – die spanische Bezeichnung aspecto léxico deutet auf eine Geringschätzung dieser Trennung hin – könnte auch das Wort mode, modo zur Ersetzung der romanischen Termini durch das deutsche Aktionsarten beigetragen haben. Mode, modo legt eine Beziehung zum Modus nahe, die bei der Betrachtung der Aktionsarten in der Regel vermieden wurde. Es greift jedoch zu kurz, wenn man den Beginn der Aktionsartforschung erst mit der Einführung des Terminus durch Brugmann ansetzen würde. Schon Aristoteles hatte zwischen kineseis und energeiai unterschieden (Aristoteles, Metaphysik, 1048a, 25–1048b, 18–35; vgl. Dessì Schmid 2014: 20) und war damit unserer heutigen Unterscheidung zwischen telischen und atelischen Prädikaten nahe gekommen. Bei der Betrachtung der Geschichte der Behandlung der Tempora in französischen und spanischen Grammatiken (Kapitel 2.4) haben wir mehrfach festgestellt, dass inchoative und terminative Darstellungen von Handlungen schon früher an die Verbbedeutung gebunden worden waren. Streitberg (1891) gebrauchte den Terminus Aktionsarten unspezifisch für vom Verb ausgedrückte aspektuelle Bedeutungen, wie zum Beispiel die inchoative (erblassen) und die resultative (erschlagen), die imperfektive oder durative, die iterative, aber auch die intensivierenden Verben betrachtet er unter den Aktionsarten. Zu letzteren zählt er zum Beispiel das Verb schnitzen, dessen Bedeutung er mit ‛kräftig schneiden’ erklärt. Wie Binnick (1991: 145) feststellt, hat die Kategorie der Intensität kaum etwas mit As- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 236 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen pektualität zu tun, es ist aber schwierig, sie von den anderen Aktionsarten zu trennen. In vielen Sprachen unterscheiden sich Intensitätsmarkierungen weder morphologisch noch syntaktisch von Kategorien wie der Perfektivität. Streitberg wandte den Terminus Aktionsart jedoch auf solche deutsche Verbpaare, wie lieben und liebeln, lachen und lächeln an, die sich tatsächlich in der Intensität, jedoch nicht in der Verlaufsqualität unterscheiden. Mit dem Titel von Agrells Aspektänderung und Aktionsartbildung beim polnischen Zeitwort (1908) wurde bereits eine Differenzierung von Aspekt und Aktionsart nahegelegt. Er betrachtet den Aspekt als eine Kategorie, die im slavischen Verbalsystem die unvollendete und die vollendete Handlungsform ausdrückt. Als Aktionsarten sieht er hingegen die Bedeutungsfunktionen der Verbalkomposita, die genauer ausdrücken, wie die Handlung vollbracht wird (Agrell 1908: 78–85; vgl. Dessì Schmid 2014: 19–20). 3.2. Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen 3.2.1. infectum und perfectum im Lateinischen In der lateinischen Verbalmorphologie steht ein infectum einem perfectum gegenüber, wobei sich diese Opposition darin manifestiert, dass für das infectum die Wurzel ohne Infix verwendet wird und im Verlauf befindliche Situationen bezeichnet (ama-t ‛er liebt’) und für das perfectum eine Wurzel mit dem Infix -v- die an ihrem Ende angekommene Situation benennt (ama-v-i ‛ich habe geliebt’) (vgl. Rocchetti 2012: 39). Holt (1943: 4) stellt die Symmetrie des lateinischen Verbalsystems im Hinblick auf dem infectum und dem perfectum zugeordneten Verbformen anhand des Verbs pungere (‛stechen’) folgendermaßen dar: Vergangenheit Gegenwart Zukunft infectum perfectum pungēbam (Imperfekt) pungō (Päsens) pungam (Futur) pupugeram (Plusquamperfekt) pupugī (Perfektpräsens) pupugerō (Perfektfutur) Bereits im Lateinischen gab es jedoch Verbformen, die im Hinblick auf die tatsächliche Abgeschlossenheit einer Situation ambivalent waren. So Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen 237 konnte die Form fuerat ‛er ist gewesen’ oder ‛er wäre gewesen’ bedeuten. Die zweite dieser Bedeutungen, die sich als perfectum der Virtualität bezeichnen ließe, kommt in folgenden Sätzen von Cicero vor (Rocchetti 2012: 39): (1) lat. Volumnia id potuit diligentius facere. ‛Volumnia hätte das mit mehr Sorgfalt machen können.’ (2) lat. Melius fuit perisse quam hoc videre. ‛Es wäre besser gewesen, tot zu sein, als das zu sehen.’ (3) lat. Lucullus tardius quam debuerat triumphauit. ‛Lucullus triumphierte später als er es hätte tun sollen.’ Die als infectum/perfectum zueinander in Opposition stehenden Paare von Verbformen erat/fuerat, potebat/potuerat, debebat/debuerat sind durch folgende Beziehungen miteinander verbunden. Das infectum erweckt den Eindruck von im Verlauf befindlichen Handlungen, die noch nicht an ihrem Zielpunkt angelangt sind, während das perfectum Handlungen bezeichnet, die ihren Endpunkt erreicht haben. Im Moment des infectum profiliert sich das perfectum als Perspektive des erwarteten Abschlusses einer Handlung. Wenn das perfectum erreicht ist, so ist das infectum notwendigerweise bereits präsent, denn es wurde nur verlängert und an seinen Endpunkt gebracht. Das perfectum beruht somit auf dem Mechanismus des infectum. Dieser ist nun seinerseits nicht homogen; da die ausgedrückte Handlung im Verlauf ist, beinhaltet er einen realisierten, aber auch einen noch zu realisierenden Teil. Mit dem infectum wird der Berührungspunkt der beiden Teile erfasst (Rocchetti 2012: 44): erat infectum realisierter Teil zu realisierender Teil Da das infectum aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen besteht, kann der Sprecher mit dem perfectum, dessen Funktion in der Angabe des Erreichens des Zielpunktes des infectum besteht, sowohl den Abschluss des realisierten Teils als auch den nicht realisierten Teil erfassen. In letzterem Fall bleibt der ausgedrückte Prozess vollkommen virtuell und es wird nur der Anfangspunkt erfasst. Nach Rocchetti (2012: 44–45) ließe sich diese doppelte Funktion des perfectum folgendermaßen darstellen: fuerat (‛er war gewesen’) Endpunkt fuerat (‛er wäre gewesen’) Anfangspunkt Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 238 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen In den romanischen Sprachen ist die Fähigkeit, ein virtuelles perfectum auszudrücken, verloren gegangen. Während im Lateinischen das perfectum innerhalb des Verbalprozesses bleibt, referiert das Plusquamperfekt der romanischen Sprachen auf einen Punkt außerhalb des vom Verb bezeichneten Prozesses. Das neue, romanische System beruht auf der Opposition zwischen einer einfachen Form und einer Verbform, die mit einem Auxiliar gebildet wird. Das Plusquamperfekt befindet sich somit auf der Zeitachse jenseits vom Imperfekt und ist kein internes perfectum mehr. Damit ist auch die Möglichkeit des perfectum der Virtualität verloren gegangen. 3.2.2. Verbformen als Ausprägung der Opposition imperfektiv/perfektiv Sofern sie mit dem Begriff des Aspekts arbeiten, besteht Konsens unter den Linguisten, dass durch einfache und zusammengesetzte Verbformen ein aspektueller Unterschied vermittelt wird. Während in den folgenden Sätzen die kursiv hervorgehobenen einfachen Verbformen keine Grenzen setzen und die Situationen daher imperfektiv darstellen, erfolgt mit den zusammengesetzten, hier fett markierten Verbformen eine Begrenzung und damit eine perfektive Darstellung: (4) it. Sara è a Milano. (5) fr. Il marchait tranquillement dans la rue. (6) sp. Pepe leía muchos tebeos cuando era pequeño. (7) it. Ieri sono andato alla stazione. (8) fr. Ils avaient suivi les routes du ciel entre les vagues des dunes. (9) sp. Yo saldré al escenario y tu ya habrás subido el telón. Die in Satz (4) mit dem Präsens und in Satz (5) mit dem Imperfekt vorgenommene Situationsdarstellung ist unbegrenzt und erstreckt sich entsprechend der temporalen Markierung auf eine erweiterte Gegenwart (4) bzw. auf die Vergangenheit (5). In Satz (6) erfolgt mit dem Nebensatz eine zeitliche Einschränkung, die jedoch die durch das Imperfekt ausgedrückte Situation nicht weiter limitiert. Die Handlung des Lesens von Comics wird als im Zeitraum der Kindheit immer wieder vollzogen dargestellt. Die mit den zusammengesetzten Verbformen gebildeten Prädikationen im Perfekt (7), im Plusquamperfekt (8) und im Perfektfutur (9) begrenzen die dargestellten Situationen in unterschiedlichen Zeiträumen und stellen sie als ganzheitlich und abgeschlossen dar. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen 239 Darüber hinaus ist das einfache Perfekt eine perfektive Verbform, über deren Verwendung im Unterschied zum Imperfekt und zu den zusammengesetzten Verbformen bereits in Kapitel 2.3.4. geschrieben wurde.32 Wenn ein Prozess aus einer Innensicht dargestellt werden soll, also seine innere Konstituierung und die Art und Weise seines Ablaufs und nicht seine zeitliche Verankerung fokussiert wird, treten die aspektuellen Merkmale der Verbformen in den Vordergrund. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Opposition zwischen dem Imperfekt und dem einfachen Perfekt. Im ersten der beiden folgenden Sätze (10) wird der Vorgang des zur Schule Gehens aus einer Innensicht beschrieben, in Satz (11) wird dieselbe Situation jedoch aus einer ganzheitlichen Sicht dargestellt (vgl. Bertinetto 1991: 24): (10) it. Quel mattino, Giovanni andava a scuola. (11) it. Quel mattino, Giovanni andò a scuola. Insbesondere im Spanischen hat die grammatische Kategorie der aspektuellen Markiertheit der Flexionsformen des Verbs unterschiedliche Bezeichnungen erhalten. Beginnend mit dem einfachen aspecto über die präzisierenden Benennungen aspecto flexivo, aspecto gramatical, aspecto morfológico, aspecto verbal bis hin zur einschränkenden Bezeichnung als aspecto stricto sensu im Unterschied zu aspecto lato sensu, wobei zu letzterem alle Ausdrucksmittel der Aspektualität gezählt werden (vgl. Miguel 1999: 2987). Verbformen können durch ihre Flexionsmorpheme unabhängig von ihrer lexikalischen Bedeutung angeben, ob eine Situation begrenzt oder nicht begrenzt ist. In den Beispielen (12) und (13) wird durch das zusammengesetzte bzw. das einfache Perfekt die Situation des Ankommens als begrenzt dargestellt, während in Beispiel (14) eine Darstellung als unbegrenzte Situation erfolgt, d.h. das Flugzeug hatte die Landung noch nicht abgeschlossen, als der Unfall eintrat: (12) fr. L’avion est arrivé. (13) sp. El avión llegó a las diez. (14) sp. El avión llegaba cuando se produjo el accidente. Mit wenigen Ausnahmen (vgl. 3.1.4.) werden die Verben unabhängig von ihrer aktionalen Bedeutung in den aspektuell markierten Tempora konjugiert. Schon Bello (1847: § 626) hat interessante Effekte der Überlagerung der aspektuellen Markierung durch die Verbformen und die Aktionsartbedeutung der Verben festgestellt. Für ihn ist ver ein nicht begrenzendes Verb, das im pretérito perfecto simple zwei Interpretationen ermöglicht: _____________ 32 Vgl. hierzu auch García Fernández (2004) und (2007). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 240 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen (15) sp. Luego que vimos la costa nos dirigimos a ella. Einerseits kann die Situation mit der Verbform vimos ingressiv dargestellt werden, womit der Satz (15) folgendermaßen zu verstehen wäre: ‛ wir haben begonnen, die Küste zu sehen, die danach auch noch sichtbar war, aber nur dieser erste Moment des Sehens geht dem Richtungswechsel in Richtung der Küste voran’. Andererseits kann aber die aspektuelle Bedeutung der Verbform die durative Bedeutung des Verbs ver vollkommen überlagern und die Handlung des Sehens als abgeschlossen darstellen, bevor der Richtungswechsel eingeleitet wurde. Aspektuelle und temporale Bedeutungen sind in den romanischen Sprachen immer eng miteinander verbunden, obwohl sie einen unterschiedlichen Zugriff auf das reale Phänomen der Zeit haben. Tempora lokalisieren Situationen auf der Zeitachse und orientieren sich dabei am Sprechaktmoment, zu dem sie die Ereigniszeit in Bezug setzen (vgl. 2.3.). Mit dem Aspekt wird hingegen die Zeit als eine der Situation innewohnende Eigenschaft erfasst; ihr Ablauf oder ihre Verteilung wird in der Zeit gezeigt, ohne dass ein Bezug zum Sprechaktmoment erfolgen muss. In der spanischen Grammatikographie war die aspektuelle Differenz zwischen dem pretérito perfecto simple und dem imperfecto ein lange diskutierter Gegenstand des Streits (vgl. 2.4.8.). In der Nueva gramática de la lengua española wird schließlich das imperfecto als imperfektive Verbform aufgefasst, mit der eine Situation im Verlauf und ohne Bezug auf ihren Anfangs- oder Endpunkt dargestellt wird. Dagegen wird das pretérito perfecto simple als perfektive Verbform betrachtet, die eine Situation in ihrer Gesamtheit ausdrückt und damit auch bedeutet, dass sie zu einem Ende gekommen ist (RAE 2009: 1688). Zur Veranschaulichung des aspektuellen Unterschieds zwischen diesen beiden Verbformen sei das folgende Beispiel angeführt (vgl. Miguel 1999: 2991): (16) sp. Cuando volvíamos en tren, {veíamos / vimos} los almendros en flor. Unabhängig davon, ob das Prädikat im Hauptsatz im imperfecto oder im pretérito perfecto simple steht, bleibt die Bedeutung der Gleichzeitigkeit, die durch die temporale Konjunktion cuando und die Imperfektform im Nebensatz bewirkt wird, erhalten. Mit der Verwendung des imperfecto oder des pretérito perfecto simple ändert sich jedoch die Art und Weise, in der das ‛Sehen’ konzipiert wird: mit dem imperfecto erscheint es als eine wiederholte oder gewohnheitsmäßige Handlung, mit dem pretérito perfecto simple als abgegrenztes und einmaliges Sehen. Diese aspektuelle Information, die von den beiden Verbformen gegeben wird, ist vollkommen unabhängig von ihrem temporalen Wert, der in beiden Fällen gleich ist. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen 241 Auch die Nichtakzeptabilität des folgenden Satzes spricht dafür, dass die Wahl des imperfecto oder des pretérito perfecto simple aspektuell motiviert ist (Miguel 1999: 2992): (17) sp. *Le dolió la cabeza hasta que tomaba una aspirina. Die Imperfektform tomaba signalisiert, dass die Situation der Aspirineinnahme nicht abgeschlossen ist, was Inkompatibilität mit der Konstruktion hasta que bewirkt, die den Referenzpunkt für den Abschluss einer Situation und den Beginn einer neuen fixiert. In diesem Kontext ist dagegen die Form des einfachen Perfekts durchaus möglich, da sie das Ende der Situation markiert: (18) sp. Le dolió la cabeza hasta que tomó una aspirina. Wenn die Situation als ‛wiederholt in der Vergangenheit stattgefunden’ konzipiert wird, ist die Imperfektform durchaus akzeptabel. Sie gewinnt dabei distributive Bedeutung und spielt auf die Wiederholung aufeinanderfolgender Ereignisse an. Die Flexionsmorpheme mit aspektueller Bedeutung können mit beliebigen Verbstämmen verbunden werden. Auch im Spanischen gibt es dabei einige Einschränkungen durch aktionale Bedeutungen, ähnlich wie wir sie unter 3.1.4. für das Französische und das Italienische bereits erwähnt haben (vgl. Miguel 1999: 3046–3047). So schließt zum Beispiel ein statisches Prädikat, das eine Eigenschaft eines Individuums angibt, Perfektformen aus, z.B.: (19) sp. *El portero del equipo fue chileno. Anhand des Beginns der folgenden Textstelle hatte sich Weinrich (1973: 111) gegen die Integration des Aspektbegriffs in eine textlinguistische Betrachtungsweise gewandt und ihre Deutung anhand seines TempusReliefs begründet: (20) fr. Une mouche maigre tournait, depuis un moment, dans l’autocar aux glaces pourtant relevées. Insolite, elle allait et venait sans bruit, d’un vol exténué. Janine la perdit de vue, puis la vit atterrir sur la main immobile de son mari. Il faisait froid. La mouche frissonnait à chaque rafale du vent sableux qui crissait contre les vitres. Dans la lumière rare du matin d’hiver, à grand bruit de tôles et d’essieux, le véhicule roulait, tanguait, avançait à peine. Janine regarda son mari. Des épis de cheveux grisonnants plantés bas sur un front serré, le nez large, la bouche irrégulière, Marcel avait l’air d’un faune boudeur. à chaque défoncement de la chaussée, elle le sentait sursauter contre elle. (Frantext, K344 – Albert Camus, “La femme adultère”. L’Exil et le royaume, 1957: 1557) Im Folgenden soll verdeutlicht werden, dass das Konzept der Aspektualität durchaus über den eng begrenzten Rahmen des Satzes Erklärungsmög- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 242 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen lichkeiten liefert, und dies umso mehr als über die aspektuell markierten Verbformen hinaus alle Marker der Aspektualität berücksichtigt werden können. Tatsächlich beginnt diese Textstelle mit der Beschreibung des Flugs einer Fliege, die zweifellos einen Hintergrund für dann beschriebene Ereignisse darstellt und in der Imperfektformen verwendet werden (tournait, allait, venait). Der Wechsel der Blickrichtung auf die Hauptpersonen der Novelle, Janine, die femme adultère, wird dann von Verben im passé simple begleitet (perdit, vit), die die damit beschriebenen Handlungen vordergründig werden lassen. Danach werden weitere Hintergrundsituationen beschrieben, die das Wetter, das Verhalten der Fliege, die Bewegung des Autobusses und den Ehemann von Janine betreffen. Die Gliederung in Vordergrund und Hintergrund in diesem Text wird zwar durch die Verbformen vollzogen, aber auch durch die Semantik der Verben unterstützt. Mehr als die Hälfte der Hintergrund-Verben sind Bewegungsverben, was eine Isotopie eröffnet und auf den Hintergrund festlegt. Weinrich erhebt den Einwand gegen das auf dem Aspektbegriff basierende Inzidenzschema, dass bei isolierter Betrachtung eines Satzes das Einfallen der Handlung durch ein den Bruch markierendes Temporaladverb oder eine Konjunktion (vgl. Il se hâtait lorsqu’il rencontra un paysan) angezeigt werde und weniger durch die Verbformen. Dieser Einwand erscheint dadurch geschwächt, dass die Vordergrund- und Hintergrundgestaltung durchaus auch in Texten durch andere sprachliche Mittel als die Verbformen gestützt wird, wie hier durch die Festlegung einer semantischen Hintergrundisotopie. Außerdem kommen in literarischen Texten mit klassischer Vordergrund- und Hintergrundgestaltung auch Inzidenzschemata vor, die in diese eingebettet sind. Ein Beispiel dafür ist der erste Satz von Flauberts Madame Bovary: (21) fr. Nous étions à l’étude, quand le proviseur entra, suivi d’un nouveau habillé en bourgeois et d’un garçon de classe qui portait un grand pupitre. (Frantext M734 – Flaubert, Gustave, Madame Bovary, 1857: 1) Tatsächlich scheint in romanischen Sprachen im Vergleich zu den lateinischen Verbformen der Aspekt hinter der temporalen Relation der Anteriorität zurückgetreten zu sein. In der doppelten Strukturierung der Verbalsysteme der romanischen Sprachen überlagern sich die Oppositionen einfache/zusammengesetzte Formen und imperfektiv/perfektiv. Nur das einfache Perfekt (fr. passé simple, it. passato remoto, sp. pretérito perfecto simple, pt. pretérito perfeito simples) durchbricht die Parallelität dieser beiden Oppositionsreihen. Das Verschwinden des einfachen Perfekts im gesprochenen Französischen und Norditalienischen zeigt die Kraft der systematischen Kohäsion, die mit dem Gleichgewicht zwischen den einfachen und zu- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen 243 sammengesetzten Formen verbunden ist (Begioni 2012: 22). In den zusammengesetzten Formen trägt das Partizip zwar die lexikalische Bedeutung, aber es hat seinen Verbalcharakter verloren und an das Auxiliar abgegeben. 3.2.3. Infinite Verbformen und der Ausdruck von Aspektualität Aus den bisherigen Ausführungen könnte der Eindruck entstehen, dass lediglich die Flexionsformen von Verben Aspektualität ausdrücken können und dass der Beitrag der Nominalformen der Verben (Partizip, Gerundium, Infinitiv) sich auf die Aktionsartbedeutung beschränkt. Im Folgenden sollen einige Beispiele dafür genannt werden, dass dies nicht der Fall ist. Schon Schwarze (1988: 177) hat festgestellt, dass aus dem Fehlen der morphologischen Information zu Tempus, Modus, Person und Numerus nicht folgt, dass die infiniten Formen notwendigerweise Sachverhalte bezeichnen, die semantisch infinitiv wären. Aus dem Kontext können die Merkmale, die normalerweise von finiten Verbformen getragen werden, ergänzt werden. Das Partizip Präsens kommt heute nur noch in wenigen Wendungen mit Eigenschaften des Verbs vor und tendiert durch die Bezeichnung von Gleichzeitigkeit zur imperfektiven Aspektualität: (22) it. vivente il padre Einige transitive Verben erscheinen im bürokratisch-offiziellen Stil noch als echte Präsens-Partizipien: (23) it. Il documento riportante le generalità del candidato deve essere compilato e spedito entro il 30 giugno. Auch das Partizip Perfekt hat mit dem Verb gemeinsam, dass es aspektuell und zeitreferenziell gedeutet wird. Im Italienischen ist dabei die Verwendung absoluter Konstruktionen mit Partizipien möglich wie im Lateinischen (Begioni 2012: 23): (24) lat. Cæsar paulum a castris progressusPart.perf. aciem instruxit. (‛Nachdem Cäsar vom Lager aus ein kleines Stück vorgerückt war, brachte er die Schlachtreihe in Stellung’) (25) it. Finite le vacanze, gli alunni sono tornati a scuola. (26) it. Arrivato il treno, i passeggeri scendono. (27) it. Mangiato il formaggio, siamo passati al dessert. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 244 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Der letzte Satz wäre im Französischen inakzeptabel, da manger ein nichttelisches Verb ist und trotz der durch das Objekt le fromage auferlegten Begrenzung eine perfektive Verbform braucht, um den Inhalt des italienischen Satzes ausdrücken zu können (Begioni 2012: 23): (28) fr. *Mangé le fromage, nous sommes passés au dessert. (29) fr. ?Le fromage mangé, nous sommes passés au dessert. (30) fr. Après avoir mangé (ayant mangé) le fromage, nous sommes passés au dessert. Nur einige telische Verben, die durch ihre Aktionsart bereits deutlich perfektiv markiert sind, können die perfektive aspektuelle Bedeutung ohne die obligatorische Anwesenheit einer zusammengesetzten Verbform ausdrücken (Begioni 2012: 23): (31) fr. Le moment venu, il sortit son cadeau. (32) fr. Les vacances finies (finies les vacances), les élèves ont repris l’école. Im Deutschen ist eine Verwendung des Perfektpartizips in solchen absoluten Konstruktionen auf eine geringe Zahl von Verben beschränkt, die vor allem sachverhaltskommentierende Bedeutung haben (z.B. abgesehen von, offen gestanden, ehrlich gesagt, anders gesagt, einmal angenommen, den günstigsten Fall vorausgesetzt). Als „periphere Partizipialkonstruktionen ohne Orientierung“ (Habermann 2007: 305) stehen sie in syntaktischer Hinsicht relativ unabhängig zur Restinformation des Satzes. Im toskanischen (literarischen) Italienisch besteht eine abweichende Tendenz im Gebrauch des zusammengesetzten Perfekts, die eher dem Lateinischen nahesteht als dem heutigen Französischen. Das italienische Partizip hat hier seine „Verbalität“ nicht vollständig verloren und funktioniert noch häufig wie das lateinische Partizip. In diesem Sinne unterscheidet Begioni (2012: 23) die folgenden Äußerungen, in denen caricato das Resultat der Handlung des Beladens ausdrückt, während carico als Verbaladjektiv einen dauerhaften Zustand benennt: (33) it. Il camion è caricato. (34) it. Il camion è carico. Das Gerundium hat als adverbiale Form des Verbs mit dem Verb die Valenzverhältnisse gemeinsam und drückt Gleichzeitigkeit mit der vom Verb bezeichneten Situation aus. Daher erlegt es keine Grenzen auf und fungiert als Mittel imperfektiver Aspektualität, das eine HintergrundSituation oder eine begleitende Handlung angibt: (35) fr. L'écrivain hausse les épaules en souriant. (Frantext. R968 – Bienne, Gisèle, Les Jouets de la nuit, 1990: 80) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen 245 Häufig werden Gerundialkonstruktionen konsekutiv als vom Bezugssachverhalt verursacht (36) oder kausal als Ursache des Bezugssachverhalts (37) interpretiert (vgl. Schwarze 1988: 190): (36) it. L’albero cadde, trascinando con sé arbusti e alberi più piccoli. (37) it. Non avendo la chiave, non poté aprire. Die Grundlage für diese Deutungen scheint in der Bedeutung der Gleichzeitigkeit mit der vom Verb bezeichneten Situation zu liegen, die entsprechend dem Weltwissen als Folge oder als Ursache interpretiert wird. Im Rumänischen ist das Gerundium eine häufig absolut verwendete Konstruktion, die nicht die Gesamtheit der Situation umfasst, sondern nur den Moment des Übergangs vom Unvollendeten zum Vollendeten. Nach einer an Guillaume angelehnten Darstellung von Timoc-Bardy (2012: 55) ließe sich dies folgendermaßen veranschaulichen: făcând Der im Verlauf befindliche Prozess wird vom Gerundium nicht als gegenwärtig dargestellt, sondern als partiell gleichzeitig mit einem temporalen Referenzpunkt, der durch eine andere Verbform oder ein Adverbial angegeben wird: (38) rum. Îl văd plecând. ‛Ich sehe ihn weggehen.’ (39) rum. Îl voi vedea plecând. ‛Ich werde ihn weggehen sehen.’ (40) rum. Îl vedeam plecând. ‛Ich sah ihn weggehen.’ Eine aspektuelle Besonderheit des rumänischen Gerundiums besteht darin, dass es nicht in zusammengesetzten Formen verwendet werden kann, was zum Beispiel im Französischen möglich ist (ayant travaillé, ayant vu): (41) rum. A venit azi, ieri fiind ocupé. (wörtlich: ‛Er ist heute gekommen, gestern beschäftigt seiend.’ Die Nominalformen des Verbs tragen somit auch unabhängig von ihrer lexikalischen Bedeutung zu Aspektualität der Prädikation bei. Als solche treten sie auch in den aspektuellen Verbalperiphrasen auf, die eine wichtige Komponente der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität darstellen. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 246 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen 3.3. Aspektuelle Verbalperiphrasen 3.3.1. Definition der Verbalperiphrasen in romanischen Sprachen und ihres Beitrags zur Aspektualität Besondere Beachtung sollen im Folgenden diejenigen Verbalperiphrasen finden, die nach der Terminologie von Dessì Schmid (2014) Aspektualität eines nicht extern abgegrenzten, sondern intern unterteilten Sachverhalts ausdrücken, also eines der konstitutiven Momente der Situation hervorheben und weiter fokussieren. Nach der traditionellen Terminologie werden diese Periphrasen auch progressive genannt. Es handelt sich dabei vor allem um die Periphrasen sp. estar+Gerundium, it. stare+Gerundium und frz. être en train de+Infinitiv, die in sehr unterschiedlichem Grade grammatikalisiert sind und auch unterschiedliche Verwendungsbeschränkungen aufweisen. Aspektuelle Verbalperiphrasen drücken Inhalte aus, die sich auf die zeitliche Strukturierung von Sachverhalten beziehen. Obwohl es bereits im Lateinischen Ansätze von Verbalperiphrasen gab, stellen diese Konstruktionen in ihrer Analytizität und Häufigkeit ein wichtiges typologisches Unterscheidungsmerkmal der romanischen Sprachen vom Lateinischen dar (vgl. Haspelmath 2000). Die Untersuchung romanischer Verbalperiphrasen hat eine lange, bis Friedrich Diez (1794–1876) zurückgehende Forschungstradition, die hier nicht aufgearbeitet werden kann.33 Hervorgehoben sei lediglich der Beitrag der Schrift von Coseriu Das romanische Verbalsystem (1976), in der der typisch romanische Charakter der durch Periphrasen ausgedrückten aspektuellen Kategorien betont wird. Coseriu nähert sich dem Aspektproblem unter Nutzung der beiden als Schau und Phase bezeichneten Kategorien an. Unter Schau versteht er die Betrachtung der Handlung in ihrer Gesamtheit oder in ihrem Ablauf. Die Phase ist hingegen eine Kategorie, die das Verhältnis zwischen dem Augenblick der Betrachtung und dem Entwicklungsgrad des betrachteten Vorgangs in Betracht zieht. Für die Verbalperiphrase gibt Coseriu eine stark vereinfachende Definition: Eine „Periphrase“ ist nämlich im eigentlichen Sinn ein sprachliches materielles mehrgliedriges Zeichen, das eine einheitliche, eingliedrige Bedeutung hat, d.h. ein gegliedertes „Signifiant“, dem aber ein einfaches „Signifié“ entspricht. (Coseriu 1976: 201) _____________ 33 Vgl. Diez (1836–1844), Bertinetto (1991, 1995, 1995b, 1996 1998). Böckle (1979, 1984), Coseriu (1976), Dietrich (1973, 1985, 1996), Gavarrò & Laca (2002), Giacalone Ramat (1995), Fernández de Castro (1999), Gómez Torrego (1999), Gougenheim (1929), Haspelmath (2000), Laca (1995, 1998, 2002, 2004, 2004b), Mitko (1999, 2000), Pusch (2003a, 2003b), Roca Pons (1958), Olbertz (1998), Schlieben-Lange (1971), Squartini (1990, 1998), Veyrat Rigat (1993), Werner (1980). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektuelle Verbalperiphrasen 247 Coseriu definiert hier den Begriff der Periphrase sowohl für lexikalische als auch grammatische mehrgliedrige Elemente. Bei den lexikalischen mehrgliedrigen Bezeichnungen handelt es sich um Bedeutungen, die nicht direkt aus ihren konstitutiven Elementen abgeleitet werden können: eine fr. belle-sœur ‛Schwägerin’ ist keine schöne Schwester und eine it. tavola calda ‛Mittagstisch, kleines Restaurant’ ist kein Tisch, der heiß ist. Unter den grammatischen Periphrasen fasst Coseriu solche wie fr. j’ai parlé, sp. voy a leer, kat. vaig partir, pt. vou fazer oder it. stiamo facendo. Er stellt darin den Verlust der Bedeutung der ersten Konstituente fest, die nicht mehr ‛besitzen’, ‛gehen’ oder ‛stehen’ bedeutet, sondern lediglich als Hilfsverb fungiert und die allgemeinen Verbalkategorien trägt, während die nominale Komponente (das Partizip, der Infinitiv oder das Gerundium) ihre lexikalische Bedeutung behält. Coseriu unterscheidet dabei nicht zwischen vollständig grammatikalisierten periphrastischen Konstruktionen, die als Tempora fest in das Verbalparadigma eingebunden sind (fr. j’ai parlé, kat. vaig partir) und solchen Verbalperiphrasen, die sich auf unterschiedlichen Stationen des Weges der Grammatikalisierung befinden und synthetische Formen nur teilweise in bestimmten Varietäten der jeweiligen Sprache ersetzt haben (sp. voy a leer, pt. vou fazer) bzw. das Merkmal der Aspektualität ergänzend ausdrücken it. stiamo facendo). Die Postulierung eines „einfachen Signifiés“ in Coserius Definition ist auch schon deshalb problematisch, weil die mit Verbalperiphrasen ausgedrückten Inhalte sich durchaus als zusammengesetzt erweisen können, was auch Dessì Schmids Delimitationsmodell berücksichtigt. So gibt es in dem folgenden Satz sechs Elemente, die zur Aspektualität der Prädikation beitragen: (1) sp. Estuve escribiendo la novela durante los tres últimos años. (a) Mit der Verbalperiphrase estar+Gerundium wird keine Begrenzung der Situation vorgenommen und es wird der Verlauf der Handlung fokussiert. (b) Das Gerundium als solches trägt ebenfalls zur Darstellung der Situation im Verlauf bei und nimmt keine Begrenzung vor. (c) Auch die lexikalische Bedeutung des Verbs escribir legt – für sich betrachtet – Durativität nahe. (d) Die Verbform des Auxiliars (pretérito perfecto simple) setzt eine aspektuelle Begrenzung und gibt die Betrachtung der Situation als Ganzes vor. (e) Der determinierte Aktant la novela begrenzt das Intervall des Schreibens auf den für einen Roman notwendigen Zeitraum. (f) Schließlich wird dieser Zeitraum mit durante los tres últimos años auch noch genau benannt und damit begrenzt. In diesem Satz wird also eine begrenzte, damit perfektive Situation ausgedrückt, zu der die imperfektive Verbalperiphrase zugleich eine Innenperspektive beiträgt. Ob dabei die perfektive oder die imperfektive Sicht dominiert, kann ohne Kenntnis des weite- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 248 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen ren Kontextes und/oder der Absicht des Sprechers nicht entschieden werden. Sowohl die Begrenztheit der Situation als auch die Darstellung ihres Verlaufs können als Hintergrund betrachtet werden, ebenso wie sie fokussiert werden können. Selbst wenn wir die Betrachtung auf die Verbalperiphrase reduzieren und den Rest des Satzes außer Acht lassen würden, wäre das diskutierte Beispiel aufgrund der Bedeutungskomponenten (a), (b), (c) und (d) kaum als semantisch einheitlich und „einfaches Signifié“ zu betrachten. Um das Konzept der Phase von Situationen in die Verbalperiphrasen integrieren zu können, muss man außerdem berücksichtigen, dass der lexikalische Bedeutungsverlust bei den konjugierten Verben nicht vollständig sein muss. In den folgenden Beispielen haben die Verben sp. salir und it. cominciare die Bedeutungsmerkmale ‛Bewegung (herauskommen)’ bzw. ‛anfangen’ durchaus beibehalten (Dessì Schmid 2014: 203): (2) sp. En aquel momento, saliò diciendo que era la mujer de su vida. (3) it. Cominciò a raccontare a tutti che voleva andare a vivere a Londra. Der Nachweis des Vorliegens einer Periphrase ist in diesen beiden Sätzen durch die Auflösung der Konstruktion Auxiliar (+Präposition) +Nominalform des Verbs in zwei konjugierte Verben möglich, die in diesen Fällen zu keinem akzeptablen Ergebnis führen würde: (2’) sp. *En aquel momento, saliò y dijo que era la mujer de su vida. (3’) it. *Cominciò e raccontò a tutti che voleva andare a vivere a Londra. Wenn die in ihrer Form gleichen Konstruktionen mit den konjugierten Verben als Vollverben verwendet werden, liegen keine Verbalperiphrasen vor und die Auflösung in ein zweigliedriges Prädikat ist möglich: (4) sp. Antonio salió corriendo de su despacho. (4’) sp. Antonio salió de su despacho y corrió. (5) it. Maria comminciò la lezione parlando di Cesare. (5’) it. Maria comminciò la lezione e parlò di Cesare. Die semantische Komplexität der Verbalperiphrasen, die sich einerseits aus dem differenzierten Beitrag der einzelnen Komponenten zur aspektuellen Begrenzung bzw. Nichtbegrenzung und andererseits aus dem nicht vollständigen semantischen Verblassen des Auxiliars ergibt, hat zu verschiedenen Modifikationen von Coserius Definition der Verbalperiphrasen geführt. So definieren Pusch & Wesch Verbalperiphrasen als Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektuelle Verbalperiphrasen 249 […] eine Verbindung von zwei (oder, in Ausnahmefällen, mehr) Verbalformen, die eine einzige und semantisch einheitliche (nicht-kompositionelle) Prädikationseinheit bilden und deren Auxiliarelement bei sehr stark abgeschwächtem semantischen Gehalt als Träger der flexiv markierten Verbalkategorien dient, während ein zweites nicht finites Verbalelement, das also (in den romanischen Sprachen) als Infinitiv, Gerund bzw. Partizip vorliegen kann, die semantische Hauptinformation der Prädikationseinheit beisteuert. (Pusch & Wesch 2003: 2–3) Dessì Schmid hat diese Definition unter Einbeziehung des auf Squartini (1990; 1998) zurückgehenden definitorischen Kriteriums der skalaren Periphrastizität folgendermaßen präzisiert: Aus der synchronen Perspektive soll unter Verbalperiphrase eine semantisch zusammenhängende Konstruktion verstanden werden, die als Prädikationseinheit fungiert und formal aus zwei (oder mehreren) Verbalformen besteht. Deren eine erscheint in finiter Form, übt die Funktion eines Hilfsverbs aus und steuert die grammatikalischen und – indirekt proportional abhängig vom Grad ihrer Auxiliarisierung – auch einen Teil der lexikalischen Informationen der gesamten Konstruktion bei. Die andere, die in der Regel in einer nicht-finiten Form erscheint (in den romanischen Sprachen insbesondere in den Varianten Infinitiv, Partizip und Gerundium), übt die Funktion des Hauptverbs der gesamten Konstruktion aus und steuert – direkt proportional abhängig vom Grad der Auxiliarisierung des ersten Glieds der Periphrase – einen mehr oder weniger großen Teil der lexikalischen Information der Prädikationseinheit bei. (Dessì Schmid 2014: 206) Wir schließen uns dieser Begriffsbestimmung der Verbalperiphrasen an, verweisen jedoch auf die potentielle semantische Selbständigkeit des „Auxiliars“, das in einigen Fällen weit noch nicht vollständig als Träger der Verbalmerkmale grammatikalisiert ist. 3.3.2. Aspektuelle Verbalperiphrasen und ihre Struktur In Kapitel 2.2.4. haben wir bereits gesehen, dass einige mit ursprünglichen Bewegungsverben gebildete temporale Verbalperiphrasen einen hohen Grad der Grammatikalisierung erreicht haben und in einigen Varietäten romanischer Sprachen sogar die synthetischen Verbformen der Zukünftigkeit bereits ersetzt haben. Da der Aspekt in romanischen Sprachen generell nicht vollständig grammatikalisiert vorliegt, erscheint es nicht verwunderlich, dass die aspektuellen Periphrasen diesen Stand der Grammatikalisierung nicht erreicht haben. Insbesondere die Phasen von Situationen bezeichnenden Verbalperiphrasen erfüllen diese Funktion aufgrund der Bedeutung des flektierten Verbs, das nicht nur die Konjugationsmerkmale trägt. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 250 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen (6) it Leo finsice di mangiare la pasta. (7) fr. Marie-Rose se met à chanter. (8) sp. Termino de trabajar a las tres. (9) kat. Acabo de parlar amb el president de la república italiana. In diesen von Dessì Schmid (2014: 207) übernommenen Beispielen trägt die lexikalische Bedeutung des jeweils ersten Glieds der Konstruktion zur Semantik der Prädikationseinheit bei. Die Bedeutungselemente ‛beenden’ in (6), (8) und (9) und ‛anfangen’ in (7) bleiben in der Gesamtbedeutung der Periphrase erhalten. Das konjugierte Verb übernimmt insofern die Funktion eines Auxiliars, als es der gesamten Konstruktion dazu verhilft, prädikationsgründend zu wirken. Die eigentliche Handlung wird von einem nominalen Element, hier von Infinitiven, bezeichnet. Am weitesten fortgeschritten ist in den romanischen Sprachen die Grammatikalisierung der Periphrasen vom Typ STARE+Gerundium, die imperfektive Aspektualität ausdrücken und Situationen im Verlauf darstellen. Wie wir bereits gesehen haben, können durch Verbbedeutungen, Flexionsformen des Auxiliars und Aktanten weitere aspektuelle Merkmale hinzukommen. In den iberoromanischen Sprachen ist der Grammatikalisierungsprozess des periphrastischen Ausdrucks der imperfektiven Aspektualität durch eine deutliche Präferenz des STARE+Gerundium-Typs gegenüber Verbalperiphrasen mit Bewegungsverben gekennzeichnet. Letztere Konstruktionen verschwinden dabei nicht, sie werden aber auf den Ausdruck spezieller Aktionsarten und modale Bedeutungen eingeschränkt. Dieser Prozess wird in den iberoromanischen Sprachen durch die Existenz eines doppelten Kopulasystems begünstigt, in dem die STARE-Kopula bereits einen Stand der Angelegenheiten ausdrückt, während die ESSEKopula mit allgemeinen Eigenschaften verbunden wird, vgl. Juan está cansado/María es inteligente. Bybee & Dahl (1989) und Bybee, Perkins & Pagliuca (1994) haben nachgewiesen, dass progressive Verbalperiphrasen meist von lokativen Konstruktionen abgeleitet werden und dazu tendieren, zu Markierungen der Imperfektivität zu werden. Im Italienischen und Französischen sind Periphrasen vom STARE-Typ ( [Auxiliar<lat.stare] + [Gerundium oder a+Infinitiv]) synchron auf imperfektivische Kontexte beschränkt, in denen die Situation als zu einer bestimmten Zeit im Verlauf befindlich angesehen wird. Das Rumänische ist ein Spezialfall unter den romanischen Sprachen, da es die progressive Form nur zum Ausdruck von Emphase verwendet (vgl. Coseriu 1976: 108). In iberoromanischen Sprachen kann die STARE-Typ-Periphrase mit einer perfektiven Verbform des Auxiliars (einfaches Perfekt oder zusammengesetztes Perfekt) verbunden werden: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektuelle Verbalperiphrasen 251 (10) sp. María estuvo hablando con Jorge durante dos horas. Die Überkreuzung in derartigen Aspektclustern ermöglicht eine zweifache Sicht auf die Situation durch doppelte aspektuelle Markierung als perfektiv und als imperfektiv. Mit der imperfektiven Markierung durch die Verbalperiphrase wird die Situation als unbegrenzt dargestellt und von innen betrachtet; mit der perfektiven Form des Auxiliars wird sie jedoch von außen betrachtet und der gesamte Prozess, einschließlich seines Endes, wird fokussiert. In diesem Sinne steht Satz (10) im Kontrast zu (11): (11) sp. María estaba hablando con Jorge durante dos horas. Im amerikanischen Spanisch ist die STARE-Typ-Periphrase nicht einmal auf aktionale Bedeutungen beschränkt, sondern sie ist mit durativen und nicht-durativen Situationen kompatibel (vgl. auch Otálora de Fernández 1992). Gili Gaya (1948: 114) erwähnt die folgenden Konstruktionen, die er auf den Einfluss von Übersetzungen englischer Handbücher der Wirtschaftskommunikation zurückführt: (12) sp. Estamos enviándole esta carta para comunicarle... statt: Le enviamos esta carta. In den anderen iberoromanischen Sprachen verhält sich die STARE-TypPeriphrase ähnlich wie im Spanischen, d.h. die periphrastische Konstruktion wird nicht nur für imperfektive, im Verlauf befindliche Handlungen verwendet, sondern auch überhaupt in durativen Kontexten. Diachronische Daten für das Portugiesische zeigen, dass in den meisten älteren Texten Gerundialformen überwiegen und dass die Häufigkeit der Periphrase mit Infinitiv (estar+a+Infinitiv) erst in jüngerer Zeit zunahm. Die Unterscheidung zwischen den beiden Periphrasen estar+Gerundium und estar+a+Infinitiv ist diatopisch und diaphasisch bedingt: estar+Gerundium ist die Standardform im brasilianischen Portugiesisch und in einigen Regionen Portugals, während estar+a+Infinitiv im europäischen Standardportugiesischen überwiegt, obwohl estar+Gerundium trotzdem in literarischen Texten vorkommt. Beide periphrastische Formen können mit perfektiver Morphologie auftreten: (13) pt. Ontem estive a trabalhar todo o dia. (14) pt. Escute, estive pensando, se você precisa tanto saber alguma coisa sobre ele, por que não procura a família (CdP, Bernardo Carvalho, As Iniciais, 1999) Im Galicischen werden die Konstruktionen estar+Gerundium und estar+a+Infinitiv beide benutzt und ihre Distribution zeigt geographische und stilistische Variation. Sie sind nicht auf imperfektive Kontexte beschränkt, sondern können auch mit perfektiver Morphologie auftreten oder für durative imperfektive Situationen ohne Fokussierung auf eine bestimmte relevante Zeit auftreten (vgl. Squartini 1998: 116): Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 252 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen (15) gal. Inda estiveron discutindo unha boa hora. Im Katalanischen ist die estar+Gerundium-Periphrase weniger häufig, was der geringeren Frequenz des Verbs estar im Allgemeinen und nicht nur im periphrastischen Gebrauch geschuldet ist.34 Sieht man von den Häufigkeitsunterschieden ab, ist der Gebrauch im Katalanischen ähnlich wie in anderen iberoromanischen Sprachen. Die Periphrase ist mit imperfektiver und mit perfektiver Morphologie vereinbar: (16) kat. vaig estar cantant (‛ich sangperf’, wörtl. ‛ich warperf singend’) 3.3.3. Die Periphrase vom Typ STARE+Gerundium und ihre Grammatikalisierung in romanischen Sprachen Ein wichtiges Problem für das Verstehen der Grammatikalisierung der iberoromanischen STARE+Gerundium-Periphrase scheint die Erklärung der Aspektcluster, in denen das Auxiliar in der perfektiven Form auftritt, zu sein. Dieses Problem wurde in unterschiedlichen theoretischen Kontexten diskutiert. Comrie (1976: 21–24) erwähnt das Verhalten der spanischen und der entsprechenden portugiesischen Konstruktionen als Beispiel für eine Kombination von Imperfektivität und Perfektivität. Die perfektive Morphologie des Auxiliars stelle die Situation als ein abgeschlossenes Ganzes dar, dennoch hat die Situation eine gewisse Zeit gedauert und kann auch in einer Reihe unterschiedlicher Phasen bestanden haben (vgl. Comrie 1976: 21). Man könnte hier dagegenhalten, dass die Imperfektivität der STARE+Gerundium-Periphrase nicht genügend von der Durativität und der Iterativität unterschieden wird. Rohrer (1977: 123–128) betrachtet ein anderes aktionales Phänomen, nämlich das Verschwinden des telischen Charakters des Verbs, das durch die Perfektform des Auxiliars bewirkt wird. Es scheint möglich, Durativität und Atelizität als zwei strikt miteinander verbundene Erscheinungen zu betrachten, was durch den intrinsischen Aktionsartwert des Auxiliars hervorgebracht wird. Beim Ausdruck telischer Prozesse bewirkt die Kombination aus einem perfektiven Tempus des Auxiliars und der STARE+Gerundium-Periphrase die Interpretation, dass das Ende des Prozesses noch nicht erreicht wurde. Dies kann durch die von Laca verwendeten spanischen und katalanischen Beispiele gezeigt werden (Laca 1998: 212): (17) sp. Ayer estuve corrigiendo los ejercicios, pero no terminé de corregirlos. _____________ 34 Zum Gebrauch der Periphrase estar+Gerundium im Altkatalanischen vgl. Roca Pons (1961). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektuelle Verbalperiphrasen 253 (18) kat. Ahir vaig estar corregint els exercicis, però no vaig acabar de corregir-los. Die Substitution der Periphrase durch eine Perfektform des Verbs führt zu einem nicht akzeptablen Satz: (17’) sp. *Ayer corregí los ejercicios, pero no terminé de corregirlos. (18’) kat. *Ahir vaig corregir els exercicis, però no vaig acabar de corregir-los. Dessì Schmid (2014) zeigt, dass im heutigen Spanisch und Katalanisch die STARE+Gerundium-Periphrase sehr ähnliche Möglichkeiten hat, verschiedene Typen der externen Aspektualität auszudrücken. Sie führt folgende Beispielsätze an, anhand derer sie diese Möglichkeiten erklärt: (19a) sp. Leo está[pres] comiendo con Julia. (19b) sp. Leo ha estado[perf. comp.] comiendo con Julia. (19c) sp. Leo estaba[impf] comiendo con Julia, cuando Juan salió de su casa. (19d) sp. Leo estuvo[perf. simple] comiendo con Julia. (20a) kat. El Leo está[pres] menjant amb la Julia. (20b) kat. El Leo avui ha menjant[pret. indef.] amb la Julia. (20c) kat. El Leo estava[impf] menjant amb la Julia, quand van trucar a la porta (20d) kat. El Leo estiguà[perf. simple] / va estar[perf. per.] menjant amb la Julia. Mit dem Hilfsverb im Präsens unterstreicht die spanische und katalanische Periphrase die Situation in ihrem Ablauf und stellt sie aus einem Moment dieses Ablaufs dar. Weder der Anfangs- noch der Endpunkt werden in den Sätzen (19a) und (20a) fokussiert. Auch mit dem Auxiliar im Imperfekt (19c und 20c) wird der innere Ablauf der Situation in den Blick genommen, das Auxiliar verortet die Situation in der Vergangenheit, grenzt sie aber nicht ab. Mit perfektiven Verbformen wird jedoch eine äußere Abgrenzung der Situation gesetzt, was in den Beispielen (19b), (19d), (20b) und (20d) zu sehen ist. In diesen Fällen werden der Anfangs- und der Endpunkt des Essens von Leo und Julia fokussiert und der Sachverhalt wird als abgegrenzt dargestellt (vgl. Dessì Schmid 2014: 211). Mit der estar+Gerundium-Periphrase ist es also möglich, zusätzlich zur Fokussierung des Ablaufs einer Situation deren zeitliche Begrenzung anzugeben. Für letztere sind die prototypischen Bedeutungen der Tempora, in denen das Auxiliar verwendet wird, entscheidend. Wie Laca (1995: 496–498) gehen wir davon aus, dass der imperfektivische Charakter der Periphrase trotz ihrer Verwendbarkeit mit perfektiven Verbformen erhalten bleibt. Laca verweist zur Begründung ihrer Auffassung von der durchgängig gegebenen Imperfektivität der estar+GerundiumPeriphrase auf die Analogie mit dem Imperfekt von telischen Verben, die Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 254 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen gleichzeitig durch die lexikalische Bedeutung eine Begrenzung vornehmen und dennoch einen Prozess als im Verlauf befindlich darstellen. Das Phänomen des Perfective Progressive wurde in mehreren anderen Zusammenhängen bereits mit ähnlichen Resultaten diskutiert.35 Comrie (1976: 21–24) erwähnt das Verhalten spanischer und portugiesischer Konstruktionen als eine Kombination von Imperfektivität und Perfektivität. In einem Beispiel wie toda la tarde estuvieron entrando visitas stelle die perfektive morphologische Markierung des Auxiliars die Situation als abgeschlossenes Ganzes dar, während sie jedoch gleichzeitig in ihrem zeitlichen Verlauf und ihrem Bestehen aus verschiedenen Phasen vorgeführt werde. Rohrer (1977: 123–128) betrachtet dagegen die Tilgung der Telizität des Verbs bei Kombination mit einer perfektiven Auxiliarform als den grundlegenden Vorgang, der Aufschluss über das Wesen der Periphrase gibt. Das Ende des vom Verb benannten telischen Prozesses wird in diesen Fällen als nicht erreicht dargestellt: sp. Ayer estuve corrigiendo los ejercicios, pero no terminé de corregirlos; kat. Ahir vaig estar corregint els exercicis, però no vaig acabar de corregir-los. Das Ersetzen der Periphrase durch die Verbform des Perfekts (sp. *Ayer corregí los ejercicios, pero no terminé de corregirlos; kat. *Ahir vaig corregir els exercicis, però no vaig acabar de corregir-los) würde keine akzeptablen Sätze ergeben, was deutlich auf den vordergründig imperfektiven Charakter der Periphrase hinweist. Außerdem lässt sich zeigen, dass die Verbreitung und Systematizität der STARE-Periphrasen in den romanischen Sprachen mit der Spezialisierung der von lat. stare abgeleiteten Kopula auf den Ausdruck von Lokalisierungen und vorübergehenden Charakterisierungen zusammenhängt. Gomez Torrego (1988: 141) betont die Überschneidung der perfektiven und der imperfektiven Aspektualität in dieser Periphrase. Die Kombination der imperfektivischen Bedeutung des Gerundiums mit einem perfektiven Auxiliar vermittelt das Konzept einer durativen Situation, die als zu einem bestimmten Moment abgeschlossen dargestellt wird: (21) sp. Estuvo estudiando toda la noche. In diesem Satz wird die Handlung des Studierens als lange andauernd dargestellt, zugleich wird aber die Dauer auf die ganze Nacht begrenzt. Es liegt also ein Wechselspiel zweier Ausdrucksmittel der Aspektualität vor, die beide in ihrer prototypischen Bedeutung verwendet werden: die Periphrase estar+Gerundium für den Ausdruck der inneren Qualität der Situation des im-Verlauf-befindlich-Seins und das pretérito perfecto simple für den Ausdruck der Abgeschlossenheit. Zugleich schwingt in diesem Satz die Bedeutung des Erfolgs der ausgeführten Handlung mit: er hat die ganze _____________ 35 Vgl. zum Beispiel die neuere vergleichende Studie von De Wit, Patard & Brisard (2013). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektuelle Verbalperiphrasen 255 Nacht ein Problem studiert und es letztlich gelöst. Mit der Verwendung des imperfecto des Auxiliars (Estaba estudiando toda la noche) würde jedoch die Erfolglosigkeit des Studierens nahegelegt: jemand hat die ganze Nacht studiert, das Problem aber nicht gelöst oder eine Prüfung nicht bestanden.36 Squartini (1998: 35–151) gibt eine andere, auf der Interaktion von Aspekt und Aktionsart beruhende Erklärung. Er betrachtet die STARE+ Gerundium-Periphrase als einen morphologischen Marker, der semantisch mit den Aktionsarten vergleichbar ist. Das Merkmal ‛progressiv’ wird dabei als Aktionsartmerkmal betrachtet, das zum intrinsischen Charakter der bezeichneten Situation gehört und das keinen aspektuellen Gesichtspunkt beinhaltet. STARE+Gerundium-Periphrasen mit einem perfektiven Auxiliar werden daher als Interaktion zwischen Aspekt und Aktionsart behandelt. Squartini vergleicht die STARE+Gerundium-Periphrasen in den iberoromanischen Sprachen und im Italienischen, wo die Möglichkeit der Verwendung eines perfektiven Auxiliars verloren gegangen ist. Er leitet aus diesem Vergleich die Schlussfolgerung ab, dass die STARE+Gerundium-Periphrase in den iberoromanischen Sprachen als Marker der Imperfektivität weniger grammatikalisiert als im Italienischen sei. Im Italienischen habe sich diese Periphrase zu einem Imperfektivitätsmarker spezialisiert, so dass sie nicht wie in den iberoromanischen Sprachen Begrenzungen durch die Aktionsart unterliege, sondern einfach ein Ausdrucksmittel des Aspekts sei (Squartini 1998: 72): (22) it. Ieri Giulio stava parlando con Marco, quando arrivò Giacomo. (23) it. *Ieri Giulio stette parlando con Marco per due ore. Squartini geht hier offensichtlich von einer bi-dimensionalen Auffassung der Aspektualität aus und betrachtet das gleichzeitige Auftreten im engeren Sinne aspektueller und aktionsartbezogener Merkmale als Widerspruch und Einschränkung des grammatischen Status der Periphrase. Bis zum 19. Jahrhundert war die Periphrase aus STARE+Gerundium wie im Spanischen auch im Italienischen mit perfektiver Morphologie möglich (Durante 1981: 179–181; Bertinetto 1986: 137; Squartini 1998: 73): (24) it. Sono stato[perf. comp] un poco pensando meco (Aretino, Talanta, 16. Jh.; aus Durante 1981: 180) (25) it. Dopo queste e altre simili parole, il conte Attilo uscì, per andare a caccia; e don Rodrigo stette[perf. sempl.] aspettando con ansietà il ritorno del Griso. (Manzoni, I promessi sposi, 1840-1842; aus Squartini 1990: 193) _____________ 36 Zur progressiven Verbalperiphrase vgl. auch Espunya (1999). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 256 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Wie Bertinetto (1995a) und Squartini (1998: 74) feststellen, wurden jedoch solche Formen bereits im 19. Jahrhundert als archaisch empfunden und kamen nur noch in obsoleten literarischen Texten vor. Außerdem wiesen sie eine lexikalische Spezialisierung auf, insofern sie immer mit denselben Verben auftraten (aspettare ‛warten’, ascoltare ‛zuhören’, guardare ‛anschauen’). Die Frequenz der Perfektformen des Auxiliars in der Periphrase nahm in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts schnell ab. Die Änderungen in der Verwendung der italienischen Periphrase betreffen über die Jahrhunderte einerseits die deutlich zunehmende Verwendung in progressiver imperfektiver Bedeutung und die Abnahme der durativen Verwendung bei gleichzeitiger Begrenzung der Situation durch Verwendung eines perfektiven Auxiliars. Damit ging auch eine Reduktion ihrer morphologischen Kombinatorik einher (Dessì Schmid 2014: 217). Bertinetto (1995a) und Squartini (1998: 74) haben die folgende Darstellung der Grammatikalisierung der STARE+Gerundium-Periphrase im Italienischen vorgeschlagen: Lokalisierung > Durativität > imperfektive Progressivität > ? [+Aktionalität]37 > [-Aktionalität] [-Aspekt] > [+Aspekt] Squartini sieht den Pfad der Grammatikalisierung der italienischen STARE+Gerundium-Periphrase also ausgehend von einem Lokalisierung vornehmenden Vollverb (stare) über eine die Aktionsart der Durativität ausdrückende zu einer den imperfektiven Aspekt bezeichnenden Periphrase. Während in früheren Entwicklungsstadien die Periphrase nur mit nichttelischen Verben, aber sowohl mit imperfektiven als auch perfektiven Formen des Auxiliars kombinierbar war, ist sie heute mit fast allen Aktionsarten kompatibel, aber nur mit einem imperfektiven Auxiliar. Deutlich wird die Wirkung des imperfektiven Auxiliars insbesondere in Beispielen wie dem folgenden, in denen sowohl der telische Charakter des Verbs finire als auch das Argument una lettera eine aspektuelle Begrenzung nahelegen könnten. Das Fertigschreiben des Briefes wird jedoch durch die mit einem imperfektiven Auxiliar verbundene Periphrase als nicht erreicht dargestellt:38 (26) it. Francesca stava[impf.] giusto finendo di scrivere una lettera, quando ha telefonato Giulia. _____________ 37 38 Aktionalität (actionality) wird hier im Sinne des Aktionsartcharakters verwendet. Wie Dessì Schmid (2014: 218) feststellt, setzt diese Analyse „natürlich die Annahme voraus, dass man das Verb an sich betrachtet, das heißt unabhängig vom konkreten Sachverhalt, in dem es erscheint, also von der besonderen Kombination mit anderen Elementen und von der Bedeutung, die es dort dadurch annimmt“. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektuelle Verbalperiphrasen 257 Im Italienischen ist der Wandel in der semantischen Funktion der STARE+Gerundium-Periphrase von einer klaren Tendenz zur Erhöhung der absoluten Frequenz begleitet. Dietrich (1985: 204–206) stellt fest, dass von den ersten italienischen Texten bis ins 19. Jahrhundert die STARE+Gerundium-Periphrase immer weniger frequent als die ANDARE+GerundiumPeriphrase war. Die Erhöhung ihrer Frequenz war möglicherweise mit dem Wandel im aspektuellen Wert der Periphrase und mit ihrer Spezialisierung zu einer imperfektiven Form verbunden (Squartini 1998: 87). Wie Hopper & Traugott (1993: 110) gezeigt haben, ist Frequenz ein Zeichen für den Grammatikalisierungsgrad: „sheer textual frequency is prima facie evidence of degree of grammaticalization“. Wenn die STARE+GerundiumPeriphrase ein spezialisierter Marker des imperfektiven Aspekts geworden war, stärkte sie ihre Position im Verbsystem, erreichte einen höheren Grammatikalisierungsgrad und erhöhte daher ihre Frequenz im Vergleich zu anderen gerundialen Periphrasen. Das Spanische und das Italienische unterscheiden sich auch in der Kompatibilität der Periphrase mit dem Infinitiv des Auxiliars. Im Italienischen wird die STARE+Gerundium-Periphrase nur selten mit dem Infinitiv gebildet. Mit Modalverben wie dovere ‛müssen’ und potere ‛können’, die sowohl deontische als auch epistemische Bedeutung haben können, fordert die italienische Verbalperiphrase notwendigerweise die epistemische Interpretation. Die epistemische Lesart erlaubt eine Sicht der Situation als zu einer bestimmten Zeit imVerlauf befindlich: (27) it. A quest’ora Paolo deve star viaggiando verso Madrid. (epistemisch: ‛Zu dieser Zeit muss Paolo gerade unterwegs nach Madrid sein.’ Im Spanischen sind deontische und epistemische Modalverben mit der STARE+Gerundium-Periphrase ohne irgendwelche Einschränkungen im Hinblick auf den Charakter der Situation akzeptabel: (28) sp. es un hombre que siempre tiene que estar haciendo algo, algo fuera de lo común (Lima Habla Culta Corpus 158) Auch im Imperativ kann im Spanischen das Auxiliar verwendet werden. Dies ist im Italienischen nicht möglich, da dort die Situation nicht als in einem bestimmten Zeitpunkt vollzogen konzeptualisiert wird, sondern einfach als durativ: (29) sp. No estés creyendo otra cosa (J.A. Ramos, Tembladera, 79) Im Hinblick auf die Kompatibilität mit ‛immer’ bezeichnenden Adverbien verhalten sich das Spanische und das Italienische unterschiedlich. Während eine solche Verbindung im Italienischen nur sehr eingeschränkt möglich ist, ist sie im Spanischen durchaus anzutreffen (vgl. Yllera 1980: 25): Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 258 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen (30) sp. ¡Siempre te estás quejando! Die Grammatikalisierung der STARE+Gerundium-Periphrase zeigt, dass die Beziehung von Aktionsart und Aspekt als diachronischer Prozess interpretiert werden muss. Die progressive Bedeutung entstand diachron betrachtet aus einer Aktionsart. Squartini erkennt eine semantische Ähnlichkeit zwischen Aspekt und Aktionsart an, da der Aspekt und die Aktionsart aus dem gleichen kognitiven Konzept entstehen. Dennoch sind die beiden Kategorien nach Squartini (1998: 18) zu trennen. Da sich verschiedene imperfektive Formen aus stativen Standortkonstruktionen entwickelten, hat diese stative Bedeutung offensichtlich Einfluss auf die progressive Bedeutung. Das Hauptargument Squartinis (1998: 37–40) in der Diskussion der Beziehung zwischen Aspekt und Aktionsart besteht darin, dass die STARE+Gerundium-Periphrase zu häufigem gemeinsamem Auftreten mit Adverbien der Dauer tendiert, die eine Begrenzung des Zeitraums der Situation auferlegen. Auch wenn es verlockend erscheint, diese lineare diachrone Entwicklung der STARE+Gerundium-Periphrase von der Aktionsart zum Aspekt anzunehmen, erscheint sie uns zu selektiv und zielorientiert. Wenn die italienische STARE+Gerundium-Periphrase einen hohen Grammatikalisierungsgrad erreicht hat, weil sie auf den Ausdruck von Imperfektivität spezialisiert ist und nicht mit einem perfektiven Auxiliar verwendet werden kann, könnte das auch auf die französische Periphrase être en train de+Infinitiv zutreffen, die auch hochspezialisiert ist. Wie wir im Folgenden noch zeigen werden, schließt jedoch die lexikalische Bedeutung der Elemente der französischen Periphrase einen hohen Grammatikalisierungsgrad aus. Außerdem zeigen Sprachen mit Aspektkorrelation durchaus auch aspektuelle Clusterbildungen, die den iberoromanischen STARE+ Gerundium-Periphrasen ähneln. Wie Bondarko (1971: 14–16) festgestellt hat, ist der imperfektive Aspekt im Russischen kompatibel mit Markern, die der zeitlichen Lokalisierung und sogar der Darstellung von Abfolgen von Situationen dienen: (31) ru. Прихожу я вчера домой, ужинaю и принимаюсь за работу. kommeimperf ich gestern nach Hause, esseimperf, und macheimperf mich an Arbeit ʽgestern bin nach Hause gekommen, habe zu Abend gegessen und mich an die Arbeit gemacht.ʼ Während der perfektive Aspekt den Prozess als Ganzheit fokussiert, besitzt der imperfektive Aspekt nicht das Merkmal der Ganzheit und stellt daher eine innere Sicht des Prozesses dar. Die Funktion der spanischen STARE+Gerundium-Periphrase scheint dem imperfektiven Teil der As- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektuelle Verbalperiphrasen 259 pektkorrelation im Russischen sehr nahe zu kommen. Es kann sogar als ein Zeichen eines hohen Grammatikalisierungsgrades angesehen werden, dass Konstruktionen mit jeder beliebigen Form des Auxiliars auftreten können: María hablaba / María estaba hablando; María habló / María estuvo hablando etc. Es gibt keinen Grund, diese Paare von Sätzen als nicht durch aspektuelle Oppositionen markiert zurückzuweisen. Es scheint möglich, dem Auxiliar die Funktion einer Art Aktionsart zuzuweisen, zum Beispiel die repetitive, die inchoative oder Phasen eines Prozesses. Dies stimmt auch mit dem Verhalten von Aspekt und Aktionsart in Sprachen mit voll grammatikalisierten Aspektkorrelationen überein. So kann eine geringe Intensität einer Handlung ausdrückendes Präfix mit einem Stamm verbunden werden, der dadurch perfektiv wird (греть ʽaufwärmenimpfʼ > подогреть ʽaufwärmenpfʼ); dieses perfektive Verb kann dann seinerseits durch ein Suffix zu einem imperfektiven werden und Iterativität ausdrücken (подогреть ʽaufwärmenpfʼ> подогревать ʽaufwärmenimpfʼ): (32) ru Мне это надоело. Три раза подогревала тебе обед. (Bondarko 1971: 31) ʽMir reicht’s. Dreimal habe ich Dir das Mittagessen aufgewärmt.ʼ Es scheint sinnvoll, an Coserius (1976: 109) und Dietrichs (1973) Erklärung der progressiven Verbalperiphrasen zu erinnern, die mit einer funktionalen Beschreibung einer Form wie estuve haciendo beginnen und dieser Form dann neben dem Ausdruck einer bestimmten Schau einen doppelten aspektuellen Wert zuweisen: Sie charakterisieren sie als komplexiv und kursiv. Das Problem der Kompatibilität der STARE+Gerundium-Periphrase mit perfektiven Formen des Auxiliars kann durch die Annahme einer teilweise grammatikalisierten aspektuellen Periphrase gelöst werden, der die Möglichkeit der Markierung von Aktionsart, insbesondere von Phasen eines Prozesses, zugestanden wird. Ein weiterer Faktor, den Squartini (1998: 87) nur kurz erwähnt, scheint für die Erklärung des unterschiedlichen Verhaltens der STARE+Gerundium-Periphrasen im Italienischen und in den iberoromanischen Sprachen wichtig zu sein: die Funktion des Auxiliars ist in diesen Sprachen sehr unterschiedlich. Im Italienischen wird stare außer in der progressiven Periphrase sehr eingeschränkt gebraucht. Meistens findet man es in Konstruktionen wie sto bene ʽmir geht es gutʼ. Das Verb, das mit prädikativen Adjektiven gebraucht wird, ist essere (Maria è malata. ʽMaria ist krankʼ). Im Spanischen ist die Distribution von estar viel breiter: dieses Verb wird in lokalisierenden Prädikaten (Pilar está en casa ʽPilar ist zu Hauseʼ) und vor allem in Zustandsprädikaten (Pilar está enferma. ʽPilar ist krankʼ) verwendet. Zur Angabe von dauerhaften Eigenschaften oder der Herkunft wird das Verb ser verwendet (Pilar es madrileña. ʽPilar ist aus Madridʼ). Aus dieser Distribution ergibt sich, dass die progressive Periphrase Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 260 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen mit demselben Verb gebildet wird, mit dem auch ein prädikatives Adjektiv oder Partizip verbunden wird. Im Italienischen ist das als Auxiliar verwendete Verb nicht dasselbe, das zur Einführung eines prädikativen Adjektivs genutzt wird: (33) sp. María estaba hablando. (34) it. Maria stava parlando. (35) sp. María estaba enferma. (36) it. Maria era malata. Im Spanischen ist das Verb, das in einer perfektiven Form zur Angabe der Dauer eines Zustands verwendet wird, dasselbe, das als perfektives Auxiliar in progressiven Periphrasen Verwendung findet: (37) sp. María estuvo enferma durante dos días. (38) sp. María estuvo hablando durante dos horas. Im heutigen Italienischen sind progressive Konstruktionen, wie auch Dessì Schmid (2014: 213–214) feststellt, auf die sogenannte fokussierte Progressivität spezialisiert und nicht für den Ausdruck abgegrenzter externer Aspektualität verfügbar. Insofern steht die italienische stare+GerundiumPeriphrase funktional der französischen Periphrase être en train de+Infinitiv nahe. Dies lässt sich anhand der folgenden von Dessì Schmid (2014: 214) angeführten Beispiele zeigen: (39a) it. Leo sta[pres] mangiando con Giulia. (39b) it. *Leo è stato[perf. comp.] mangiando con Giulia. (39c) it. Leo stava[impf.] mangiando con Giulia. (39d) it. *Leo stette[perf. sempl.] mangiando con Giulia. (40a) fr. Léo est[prés.] en train de manger avec Julie. (40b) fr. *Léo a été[pass. comp.] en train de manger avec Julie. (40a) fr. Léo était[impf.] en train de manger avec Julie. (40a) fr. *Léo fut[pass. simpl.] en train de manger avec Julie. Im Italienischen und Französischen ist es also nicht möglich, die von den imperfektiven Periphrasen stare+Gerundium bzw. être en train de+Infinitiv ausgedrückte Aspektualität zusätzlich durch eine perfektive Verbform zu begrenzen. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektuelle Verbalperiphrasen 261 3.3.4. Diachronische Entwicklung der Periphrasen vom STARE-Typ im Spanischen und Französischen Der Ausgangspunkt der Entwicklung von estar als Auxiliar ist sein Gebrauch als Vollverb, das die Existenz oder das Dasein von etwas in der Zeit ausdrückt. Wie wir am Beispiel des Spanischen gesehen haben, war das binäre Kopulasystem ein wichtiger Faktor im nachfolgenden Grammatikalisierungsprozess im iberoromanischen Verbalsystem. Die Kopula vom STARE-Typ drückt immer einen Zustand aus, im Gegensatz zum ESSE-Typ, der für den Ausdruck allgemeiner Eigenschaften verwendet wird. In Beispiel (41) ist die Eigenschaft des krank Seins nur ein vorübergehender Zustand, während in (42) die Fußballleidenschaft als dauerhafte Eigenschaft zugeordnet wird: (41) sp. Juan está enfermo. ʽJuan ist krankʼ (42) sp. Juan es un enfermo del futbol. ʽJuan ist ein Fußballfan (wörtlich: krank nach Fußball)ʼ Im Cantar de mi Cid erscheint estar schon neun Mal als Ortsangabe, während es nur eine Okkurrenz von ser in dieser Funktion gibt. In einigen Äußerungen nimmt estar eine Lokalisierung vor und beschreibt eine Handlung, die am angegebenen Ort stattfindet. Diese Gebrauchsweisen können die erste Stufe der Grammatikalisierung der Konstruktion als Periphrase gewesen sein: (43) sp. Mio Cid don Rodrigo en Valencia está folgando (Cid, 1243) ʽMein Cid Rodrigo erholt sich gerade in Valencia.’ Die durch die im Spanischen vorhandene Opposition zwischen ser und estar gegebenen Bedingungen beeinflussen sowohl die Integration der STARE+Gerundium-Periphrase in das Verbalsystem als auch die Festigung des lexikalisch-semantischen Wertes periphrastischer Konstruktionen mit Bewegungsverben. Dies kann leicht durch einen Vergleich des Französischen und des Spanischen veranschaulicht werden. Wie Frequenzuntersuchungen gezeigt haben, ist die spanische Periphrase estar+Gerundium ebenso wie ihre Entsprechungen in anderen iberoromanischen Sprachen häufiger als die französische Periphrase être en train de+Infinitiv, die eine komplexere Konstruktion vor dem Infinitiv benutzt. Außerdem ist der Infinitiv nicht für den Ausdruck von Aspektualität als solcher spezialisiert. Neben den synchronen Daten gibt es einen interessanten diachronen Nachweis für den unterschiedlichen Grammatikalisierungsgrad der periphrastischen Aspektualität im Französischen und in den iberoromanischen Sprachen. Der Gebrauch der STARE+Gerundium-Periphrase ist im Spanischen bereits im 16. Jahrhundert üblich: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 262 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen (44) sp. Eso me parece – respondió el galeote – como quien tiene dineros en mitad del golfo y se está muriendo de hambre, sin tener adonde comprar lo que ha menester. (Cervantes I, Cap 22, 0238.27) Die Frequenz dieser Konstruktion in der direkten Rede könnte darauf hindeuten, dass sie als typisches Merkmal gesprochener Sprache galt. Es gibt aber auch einige Okkurrenzen in narrativen Passagen, wie die folgende, in der der Gebrauch von drei Nominalformen hintereinander besonders interessant ist: (45) sp. Todo lo cual se me representa a mí ahora en la memoria de manera que me está diciendo, persuadiendo y aun forzando que muestre con vosotros el efecto para que el cielo me arrojó al mundo y me hizo profesar en él la orden de caballería que profeso [...] (Cervantes I, Cap 22, 024420) Die französische Periphrase être en train de+Infinitiv ist ihrerseits stärker kontextabhängig.39 In den Beispielen aus Frantext ist eine Dominanz der Konstruktion mettre en train de im 16. und 17. Jahrhundert feststellbar: (46) fr. Voici, ma chère bonne, qui est un peu long et ennuyeux, je le sens, mais il est dangereux de me mettre en train de parler. (Sévigné. Mme de, Correspondance, 1680–1696 p. 730 (1689)) Die Okkurrenzen der Konstruktion mettre en train de, die in Texten des 17. Jahrhunderts zu finden sind, können als Beschreibungen von Resultaten von Handlungen betrachtet werden. Das Verb mettre tritt häufig in perfektiven Konjugationsformen auf und der Infinitiv kann auch durch ein Substantiv, das Handlungen bezeichnet, ersetzt werden: (47) fr. Je vous diray, en verité, que cela n’est point beau, de veoir un homme d’eglise ou de justice mis en train de friponnerie. (Frantext, Q753 – François Béroalde de Verville, Le Moyen de parvenir, 1610: 315) Die Konstruktion en train de+Infinitiv findet sich auch ohne Auxiliar zur Bezeichnung einer im Verlauf befindlichen Handlung. So wird mit ihr in Satz (48) ein Objektsprädikativum eingeleitet, das vom Verb trouver abhängt. Häufig werden solche Konstruktionen als Objektsprädikativa auch von dem Verb voir regiert (49 und 50). Schließlich findet sich die Konstruktion en train de+Verb ohne Auxiliar auch als attributive Ergänzung zu Substantiven (51): (48) fr. Il revient de la promenade et trouve le roi déjà en train de dîner (Frantext, E049 - Jean Héroard, Histoire particulière de Louis XIII (1605-1610), 16051610: 429) _____________ 39 Zum Verhältnis der être en train de-Konstruktion zum imparfait vgl. Lebas-Fraczak (2010). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektuelle Verbalperiphrasen 263 (49) fr. Bristol voyait les choses en train de lui donner bonne opinion de son projet; (Frantext, S532 - Antoine Hamilton, Mémoires de la vie du comte de Gramont, 1713: 135) (50) fr. Tu montres de l’esprit, et je te vois en train de trancher avec moi de l’homme d’importance. (Frantext, R383 - Molière, Amphitryon, 1668: 374) (51) fr. Quel travail de fermer la bouche à une femme en train de parler ! (Frantext, N888 - Alexis Piron, Arlequin-Deucalion, 1722: 335) Es gibt jedoch auch frühe Belege für das Funktionieren der Konstruktion être en train de+Infinitiv, die in ihnen eindeutig imperfektive Aspektualität ausdrückt und die Handlung als im Verlauf befindlich darstellt: (52) fr. Outre les trafics susdits que nous avons perdus, ou que nous sommes en train de perdre, il en reste encor deux que nous prenons de dehors. (Frantext, S591 - Antoine de Montchrestien, Traicté de l’oeconomie politique, 1615: 367) (53) fr. Il mit la compagnie ou elle estoit en train de danser aux chansons (Frantext, Q737 - Charles Sorel, Les Nouvelles françaises où se trouvent divers effets de l’amour et de la fortune, 1623: 276) (53) fr. Il était bien en train de discourir aujourd’hui. (Frantext, R224 - Madame de Sévigné, Correspondance: t. 1: 1646-1675, 1675: 728) In Beispiel (52) wird mit der resultativen Verbform des passé composé das verloren-Haben eingeführt und dann mit dem im-Begriff-Sein zu verlieren kontrastiert. Die perfektive und die imperfektive Perspektive werden hier deutlich gegenübergestellt. In den Beispielen (52) und (53) wird auch der Verlauf der Handlung betont, wobei in (52) das Tanzen schon im Gange war, bevor die Gesellschaft eintraf und möglicherweise auch nach ihrem Weggehen noch andauerte. In (53) ist die absolute und bestätigende Aussage, die mit der Periphrase getroffen wird, bemerkenswert. Im 18. Jahrhundert trat die Periphrase être en train de+Infinitiv noch häufiger auf; es besteht aber weiterhin eine Beziehung zur resultativen Bedeutung der Konstruktion mit dem Verb mettre, das in vielen Kontexten mit en train de vorkommt: (54) fr. On étoit en train de déchirer un honnête homme de notre connoissance [...] (Frantext, Denis Diderot, Lettres à Sophie Volland,T.1, 1762: 231) (55) fr. Savez-vous qu’il n’est pas bien de mettre les gens en train de nous aimer et de les planter là ? (Frantext, M437 - Gabriel Sénac de Meilhan, L’Émigré, 1797: 1713) Der Charakter der Periphrase être en train de+Infinitiv als von einer transitiven Konstruktion mit dem Verb mettre herrührend wird auch durch Konstruktionen wie die folgende bestätigt, in denen en train de die Beschreibung eines Prozesses einleitet, der dem Objekt des Satzes (le) als Handlungsträger zugeordnet wird: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 264 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen (56) fr. Je le crois en train de faire une petite fortune, car les manufactures vont très bien. (Frantext, Voltaire, Correspondance, T.90–92, 1775: 188) In diesem Beispiel wird die Periphrase être en train de+Infinitiv durch eine prädikative Konstruktion mit einem Verb des Glaubens ersetzt. Das Agens, das das Subjekt der Periphrase wäre, wird zu einem direkten Objekt dieses Verbs und die en train de faire-Konstruktion wird zu seiner Prädikatsphrase. In diesem Beispiel kann man auch die Beziehung zwischen der Periphrase vom STARE-Typ und dem Gebrauch des Verbs mettre sehen. Der Zustand, der von der mit diesem Verb bezeichneten Handlung geschaffen wird (on le met en train de faire qc. → Il est en train de faire qc.), wird zur lexikalischen Basis der Periphrase, die erst spät in einen Grammatikalisierungsprozess eingetreten ist. 3.4. Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität In diesem Kapitel (vgl. insbesondere 3.1.4. und 3.3.3.) wurde bereits dargestellt, dass für die Beurteilung der Akzeptabilität von Kombinationen mehrerer, auch widersprüchlicher Markierungen der Aspektualität der Kontext maßgeblich ist. Die Gesamtheit der aspektuellen Bedeutung kommt durch das Zusammenwirken dieser Markierungen zustande, wobei eine Komponente dominieren oder auch andere ausschließen kann. 3.4.1. Verkuyls kompositionelle Erklärung der Aspektualität Die Absicht, die Aspektualität als morpho-syntaktischen Komplex zu erklären, führt Verkuyl zu einem kompositionellen Ansatz, der im Folgenden dargestellt werden soll.40 Auf der Basis semantischer Informationen, die um spezifische syntaktische Elemente ergänzt werden, lässt sich der aspektuelle Charakter einer Prädikation bestimmen. Verkuyl interessiert dabei in erster Linie der Ausdruck von Begrenztheit (boundedness), den er mit terminativer Aspektualität (terminative aspect) verbindet und dem Ausdruck von Unbegrenztheit durch durative Aspektualität (durative aspect) gegenüberstellt. Den englischen Terminus aspect benutzt er dabei im Sinne einer übergreifenden Kategorie der ʽAspektualitätʼ und nicht im engeren _____________ 40 Zu diesem Ansatz vgl. Verkuyl (1972, 1993, 1999, 2005, 2008) und Verkuyl, Swart & Hout (2005). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität 265 Sinne von ‛Aspekt’, weshalb wir bei der Wiedergabe seiner Darstellungen auch den Terminus Aspektualität verwenden. Vendlers Klassifizierung der Verben nach Aktionsarten betrachtet Verkuyl als nicht linguistisch, da sie von Situationstypen ausgeht und keine linguistischen Kriterien zur Unterscheidung der einzelnen Klassen verwendet. Die Bestimmung der Aspektualität anhand lexikalischer Kriterien weist er eindeutig zurück: wenn der Ausdruck von Aspektualität ein Prozess auf struktureller Ebene ist, könne eine lexikalische Einteilung nicht aufrechterhalten werden. Im Unterschied dazu weist Verkuyl der Interaktion von temporalen und atemporalen Strukturen einen zentralen Platz zu. Atemporale Quantifizierer werden in die Aspekttheorie einbezogen und erklären den perfektiven (terminativen) Charakter von Sätzen wie Judith ate three sandwiches. Setzt man diesen Satz in die Verlaufsform (Judith was eating three sandwiches), so falle der aspektuelle Unterschied zwischen diesen beiden Sätzen mit der Opposition des ʽObjektivenʼ und des ʽSubjektivenʼ zusammen. Mit der Auswahl von was …-ing stellt der Sprecher den Hörer mitten in das beschriebene Ereignis hinein, während er im Satz Judith ate three sandwiches den Vorgang von außen und daher als begrenzt betrachtet. Dieser Satz wäre „objektiv“ perfektiv (terminativ), weil das Essen von drei Sandwiches durch eine Person inhärent zeitlich begrenzt ist. Dagegen wäre ein Satz wie Judith ate sandwiches inhärent und objektiv unbegrenzt (Verkuyl 1993: 10). Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Formen der Aspektualität werde häufig durch die terminologische Unterscheidung zwischen Aspekt und Aktionsart abgebildet. Trotz des Unterschieds der Sätze mit und ohne Verlaufsform verwirft Verkuyl eine Unterscheidung zwischen Aspekt und Aktionsart, die nur auf den Kriterien der Subjektivität und der Objektivität beruhen würde. Damit werde ein ontologisches Kriterium linguistisch verkleidet eingeführt (Verkuyl 1993: 11: „an ontological wolf in linguistic sheepʼs clothing“). Dass der Aspekt keinesfalls immer subjektiv wählbar ist, wurde unter 3.1.3. bereits dargestellt. Aufgrund seines sprachsystematischen Charakters ist er auch keine lexikalische Kategorie, die in Beziehung zu ontologischen Sachverhalten stehen würde. Verkuyl (1993: 11) spricht sich nicht gegen eine praktische Unterscheidung zwischen Aspekt und Aktionsart aus, auf theoretischer Ebene sei dieser Unterschied jedoch irrelevant. Verkuyl unterscheidet zwischen innerer und äußerer Aspektualität, was er an den folgenden Beispielsätzen erläutert: (1) en. Judith ate a sandwich. (2) en. Judith ate sandwiches. (3) en. Judith ate bread. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 266 (4) en. Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Judith ate no sandwich. Der Satz (1) ist terminativ (perfektiv), da die Situation durch das Argument a sandwich begrenzt ist. Die Sätze (2) bis (4) sind imperfektiv, da ihre Argumente entweder nicht determiniert oder negiert sind. In den folgenden Sätzen sind adverbiale Bestimmungen hinzugekommen, die den aspektuellen Charakter des Satzes verändern. In (5) bleibt die Begrenzung, die das Prädikat durch das Argument a sandwich erhält, bestehen, es kommt jedoch eine Innenperspektive hinzu, durch die die Dauer des Essens fokussiert wird (in an hour). Auch in den Sätzen (6) bis (8) haben sich die aspektuellen Bedeutungen geändert. Zwar begrenzen der Plural in (6) und die unbestimmte Mengenangabe in (7) die Handlung des Essens nicht, durch die adverbiale Bestimmung wird jedoch der Zeitraum determiniert. In (8) wird der Zeitraum, in dem Judith keine Sandwiches isst, abgegrenzt, nach einer Stunde beginnt sie wieder, welche zu essen. (5) en. Judith ate a sandwich in an hour. (6) en. Judith ate sandwiches for an hour. (7) en. Judith ate bread for an hour. (8) en. Judith ate no sandwiches for an hour. Ziel von Verkuyl (1993; vgl. auch Verkuyl 1999; 2005) ist es, ein formales aspekttheoretisches Modell für das Zusammenwirken der durch das Verb eingebrachten kategoriellen Knoten (categorial nodes, [+ADD TO]), wie zum Beispiel ʽBewegungʼ, ʽNehmenʼ, ʽHinzufügenʼ, und der komplexen Kategorie der spezifizierten Quantität (Specified Quantity [+SQA]) zu entwickeln. Das Zusammenwirken der verschiedenen Komponenten der Aspektualität lässt sich an dem folgenden Schema nach Verkuyl (1993: 18) verdeutlichen: a. [-ADD TO] und [±SQA] (ʽkeine Bewegungʼ) (9) en. → Durativität Judith wants to eat a sandwich. b. [+ADD TO] und [-SQA] (ʽBewegung mit Unbestimmtheitenʼ) → Durativität (10) en. John gave badges to a congress-goer. Thema unbestimmt (11) en. Nobody gave a badge to a congress-goer. Quelle unbestimmt (12) en. John gave a badge to congress-goers. Ziel unbestimmt c. [+ADD TO] und [+SQA] (ʽbegrenzte Bewegungʼ) → Terminativität (13) en. Judith ate three sandwiches. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität 267 3.4.2. Kompositionelle Konstituierung der Aspektualität von Prädikationen Auch ohne eine formale Darstellung der Aspektualität anzustreben, lässt sich der kompositionale Charakter der aspektuellen Bedeutung von Äußerungen anhand der folgenden Beispiele veranschaulichen. In den beiden Beispielen (14) und (15) aus Begioni (2012: 23) verfügt das Verb fr. délibérer; it. deliberare ‛diskutieren’ über keine Begrenzung und würde nach seiner Aktionsart damit eher imperfektive Aspektualität ausdrücken. Das zusammengesetzte Perfekt als perfektive Verbform bewirkt jedoch eine Begrenzung und die Betrachtung der Handlung in ihrer Ganzheit. Eine zusätzliche Präzisierung der Dauer wird durch das Adverbial (fr. pendant quatre heures; it. per quattro ore) bewirkt; schließlich erfolgt noch eine kalendarische Einordnung auf der Zeitachse: (14) fr. Le parlement a délibéré pendant quatre heures, le 5 février 1999. (15) it. Il parlamento ha deliberato per quattro ore, il 5 febbraio 1999. Würde man in diesen Sätzen die Verbform durch das imparfait/imperfetto ersetzen, wäre die Handlung nicht vollendet und würde sich über die durch das Adverbial gesetzte Grenze hinaus erstrecken. Die beiden folgenden Äußerungen würden also bedeuten, dass das Parlament an dem benannten Tag vier Stunden debattiert hat, aber keine Lösung gefunden hat, was die Fortsetzung der Diskussion nahelegt: (16) fr. Le parlement délibérait pendant quatre heures, le 5 février 1999. (17) it. Il parlamento deliberava per quattro ore, il 5 febbraio 1999. Wie durative Verben durch perfektive Verbformen eine Grenze auferlegt bekommen können, kann auch bei telischen und sogar punktuelle Handlungen bezeichnenden Verben durch imperfektive Verbformen diese Grenze in den Hintergrund treten und die Dauer der beschriebenen Situation kann fokussiert werden. Die ‛fallen’ bezeichnenden Verben in den beiden folgenden Sätzen beschreiben eine begrenzte Situation von kurzer Dauer mit einer nahen Grenze; dennoch ist die Darstellung des Fallens durch die Verwendung des imperfetto/imparfait durativ, wodurch die dargestellte Situation in ihrem Verlauf fokussiert wird: (18) it. Cadeva rovinosamente a terra. (19) fr. Il y a 27 ans, le mur de Berlin tombait. Die Kombination der Aktionsartbedeutung der Verben und der aspektuellen Bedeutung der Verbalformen erlaubt in den romanischen Sprachen eine große Flexibilität der Kombinationen und mitunter subtile Nuancen. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 268 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen So befindet sich in den beiden folgenden Sätzen die Aktionsartbedeutung des eine punktuelle, begrenzte Situation bezeichnenden Verbs naître/nascere in Übereinstimmung mit der perfektiven Verbform, dem passé simple (Begioni 2012: 23): (20) fr. En 1802, naquit Victor Hugo. (21) it. Nel 1802 nacque Victor Hugo. Während in diesen Sätzen die Situation in ihrer Gesamtheit erfasst wird und das Ereignis als punktuell begrenzt dargestellt wird, erfolgt in den Sätzen mit dem imparfait/imperfetto eine Aufhebung der Begrenzung: (22) fr. En 1802, naissait Victor Hugo. (23) it. Nel 1802 nasceva Victor Hugo. Die Aktionsart tritt in diesen Beispielen in Konflikt mit der aspektuellen Bedeutung der Verbform, die in gewissem Sinne eine Ausweitung der Situation bewirkt. Die Kombination eines begrenzten Verbs mit einer imperfektiven Verbform öffnet die Grenzen des beschriebenen Prozesses, indem sie außerhalb des propositionalen Gehalts weitere Möglichkeiten der Mitteilung gibt. In den genannten Beispielsätzen könnte es sich um ein Unterstreichen der Bedeutung, die die Geburt Victor Hugos für die kommende Zeit hatte, handeln. Die Verwendung des Imperfekts für die Darstellung begrenzter Situationen gibt die Möglichkeit vielfältiger Subjektivierungen, die bis zur Übernahme modaler Funktionen gehen können (vgl. 4.4.3). Die Akzeptabilität der Kombinierbarkeit von bestimmten Aktionsarten mit aspektuell markierten Verbformen war Gegenstand umfangreicher Diskussionen und führte in formal orientierten Arbeiten zu einer Unterscheidung der Zustände (states) in Stadienprädikate und Individuenprädikate (vgl. Carlson 1977). Beide lassen sich durch die Hinzufügung situationsbezogener lokaler Modifikationen unterscheiden, die nur bei Stadienprädikaten möglich ist, nicht jedoch bei Individuenprädikaten. Durch diese Modifikationen wird ein Rahmen gesetzt, der in Widerspruch zu den Individuenprädikaten tritt (vgl. Dessì Schmid 2014: 23): (24) fr. Julie fut fâchée. – Julie est fachée dans la cuisine. (Stadienprädikat) (25) fr. Julie fut intelligente/belle. – *Julie est intelligente/belle dans le bus. (Individuenprädikat) Die Eigenschaft, verärgert zu sein, lässt sich leicht als auf ein bestimmtes Stadium begrenzt begreifen, was eine Kombinierbarkeit mit einem abgrenzenden Element wie dem passé simple ermöglicht. Auch die Eigenschaften ‛intelligent’ und ‛schön’ können für einen abgegrenzten Zeitraum Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität 269 zugewiesen werden, möglicherweise für die Dauer eines ganzen Lebens. Allerdings variiert die Akzeptabilität der Kombinierbarkeit mit perfektiven Tempora auch innerhalb der Individuenprädikate, wie Dessì Schmid (2014: 23) an folgenden Beispielen zeigt: (26) fr. Julie fut fâchée. (27) fr. ?Julie fut blonde. (28) fr. ?Le soleil fut lumineux. Der Unterschied dieser Sätze liegt nicht in ihrer grammatischen Wohlgeformtheit, sondern in ihrer unterschiedlichen Bewertung auf der Basis des Weltwissens der Sprecher und Hörer. Dass verschiedene essenzielle Eigenschaften, die durch Individuenprädikate ausgedrückt werden, als unterschiedlich permanent wahrgenommen werden, ist ein pragmatischer Sachverhalt, der sich in den Sätzen (27) und (28) als pragmatische Anomalie auswirkt. Offensichtlich wird die Eigenschaft eines Individuums, blond zu sein, als sehr dauerhaft empfunden; ebenso wird das Leuchten der Sonne permanent zugeschrieben, was in diesen Sätzen die Kombinierbarkeit mit dem passé simple fragwürdig macht. Auch für die Verwendung von Verbalperiphrasen mit semantisch sehr durch ihre Aktionsart geprägten Verben gibt es Restriktionen. Verbalperiphrasen, die das Einsetzen, den Verlauf oder den Abschluss einer Handlung bezeichnen, setzen voraus, dass die in ihnen verwendete Nominalform des Verbs eine Konzipierung von Phasen der Situation zulässt. Stark begrenzte Verben sind zum Beispiel in Periphrasen, die den Handlungsanfang markieren, problematisch: (29) it. ?Incomincia a cadere. (30) fr. ?Il commence à tomber. Die Periphrasen être sur le point de+Infinitiv und stare per+Infinitiv bezeichnen das unmittelbare Bevorstehen einer Handlung. Das italienische stare lässt dabei jedoch nur ein Auftreten in imperfektiven Verbformen zu: (31) it. Stavo per partire. (32) it. *Sono stato per partire. Die Nichtakzeptabilität des Satzes (32) ergibt sich bereits daraus, dass das Partizip stato nicht zum Verb stare, sondern zu essere gehört (Begioni 2012: 29). Im Rahmen einer statistischen Untersuchung konnte Mitko (2000) eine Affinität bestimmter Situationstypen mit bestimmten aspektuell markierten Verbformen nachweisen. So zeigen Zustände „natürliche Affinität zum imperfektiven Verbalaspekt, der sich bezüglich möglicher Grenzen Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 270 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen des Geschehens analog verhält: Auch er blendet Anfangs- und Endpunkt des Geschehens aus der Betrachtung aus“ (Mitko 2000: 112). Wie bereits Weinrich mit der Zuordnung des Imperfekts zu den Hintergrundtempora festgestellt hatte (vgl. 3.1.1.), entstehen mit statischen Verben im Imperfekt Situationsbeschreibungen, die außerhalb des Haupterzählstrangs stehen und nicht zum Fortschritt des Handlungsverlaufs beitragen. Folgendes Beispiel aus der Analyse von Mitko (2000: 113) zu Balzacs Le Père Goriot belegt dies anhand von drei Verbformen: (33) fr. Elle était coiffée avec des fleurs de pêcher, elle avait au côté le plus beau bouquet de fleurs, des fleurs naturelles qui embaumaient. (Goriot, nach Mitko 2000: 113) Erwartungsgemäß wird die Funktion des Anzeigens von Fortschritten der Handlung und Situationsänderungen von perfektiven Verbformen erfüllt. Im folgenden Beispiel wird mit dem passé simple eine Folge von Handlungen dargestellt: (34) fr. La comtesse pâlit d’abord en voyant l’impatience de son mari, puis elle rougit, et fut évidemment embarassée ; elle répondit d’une voix qu’elle voulut rendre naturelle, et d’un air faussement dégagé : « […] » Elle s’interrompit, regarda son piano, […], et dit : […] (Goriot 74, nach Mitko 2000: 117) In der direkten Rede werden dynamische Situationstypen mit dem passé composé verbunden, was der Übernahme der Vordergrundgestaltung in Erzählungen in gesprochener Sprache entspricht: (35) fr. Oui, j’ai rencontré il y a quelques jours un monsieur dans la rue, qui m’a dit : […] Moi j’ai dit : […] J’ai donc dit ça à monsieur Vautrin, qui m’a répondu : « tu as bien fait, mon garçon ! Réponds toujours comme ça […] » (Goriot 74, nach Mitko 2000: 117) Nach den Untersuchungen von Mitko entsprechen über 70% der Vorkommen des imparfait und sogar über 90% der Okkurrenzen des passé simple und des passé composé in dem von ihr untersuchten Text Le père Goriot diesen prototypischen Verwendungen der Verbformen. Dennoch gibt es Fälle, in denen Situationstypen und aspektuell markierte Verbformen in Konflikt zueinander treten. So führen Äußerungen mit dem Imperfekt häufig auch neue Informationen ein. Mitko (2000: 115) sieht eine Erklärung dafür in der kataphorischen Funktion des Imperfekts. Die imperfektive Aspektualität bereitet den Boden für einsetzende perfektive Handlungen und verweist auf diese in kataphorischer Richtung auf das „Nachher“ im Text. Das Imperfekt erweckt den Eindruck, dass Informationen unvollständig sind und ergänzt werden müssen. So würde ein Satz wie (36) die Rückfrage (37) hervorrufen: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität (36) fr. L’année dernière, je passais mes vacances en Suisse. (37) fr. Et qu’est-ce qui s’est passé alors ? 271 Das Imperfekt eröffnet gerade durch seine Unbegrenztheit eine Vielfalt von Verwendungsmöglichkeiten, in denen seine prototypische Bedeutung des Bezeichnens einer im Verlauf befindlichen, nicht begrenzten Situation in den Hintergrund tritt. So kann eine aus einem Subjekt und einer Imperfektform von leer (X leía) bestehende Konstruktion durch Kontextelemente unterschiedliche Bedeutungen erhalten. In den Sätzen (38) und (39) werden das imperfecto und das pretérito perfecto simple in ihren prototypischen Bedeutungen verwendet und stehen in aspektueller Opposition zueinander. In Satz (38) wird die Handlung des Lesens zeitlich unbegrenzt und in der Vergangenheit situiert dargestellt, während in Satz (39) das Lesen eines langen und überladenen deutschen Textes ganzheitlich und als erfolgreich abgeschlossen präsentiert wird, wobei eine Begrenzung sowohl durch die Verbform als auch durch das Objekt vorgenommen wird: (38) sp. […] Monika Zgustová leía fragmentos a sus amigos. (CREA, La Vanguardia, Literatura, 03/04/1995) (39) sp. López leyó con grandes dificultades -pero con buena voluntad- un largo y farragoso texto en alemán. (CREA, La Vanguardia, Empresa, 02/06/1995) Die Situationsdarstellung mit dem Imperfekt ermöglicht es, eine Handlung als nur begonnen oder versucht darzustellen. So würde das Hinzufügen weiterer Kontextelemente, wie in (40) und (41) den Vollzug der Handlung des Lesens ausschließen (vgl. Böhm 2016: 21): (40) sp. Monika Zgustová leía fragmentos a sus amigos, MAMÁ Y TUVO QUE SALIR DE EMERGENCIA. CUANDO LA LLAMÓ SU (41) sp. Monika Zgustová leía fragmentos a sus amigos, PERO LE DIO UN ATAQUE DE TOS Y TUVO QUE IR AL DOCTOR. Eine solche Interpretation wäre mit diesen Zusätzen zu einem Satz im einfachen Perfekt nicht möglich. Hier würde die Handlung des Lesens als zuerst abgeschlossen interpretiert und die nachfolgenden Handlungen würden sich daran anschließen: (42) sp. Monika Zgustová leyó fragmentos a sus amigos, cuando la llamó su mamá y tuvo que salir de emergencia. Neben dieser in den Bereich der Modalität gehörenden Verwendung des Imperfekts lässt der nicht begrenzende und die Durativität der Situation fokussierende Charakter dieser Verbform auch den Ausdruck von Wiederholung und Kontinuität (43) sowie gewohnheitsmäßiger Handlungen (44) zu (vgl. Böhm 2016: 20–21): Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 272 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen (43) sp. Su padre, Webster Todd, fue un contratista millonario que construía edificios para los Rockefeller. […] (CREA, El Mundo, Política, 31/03/1995) (44) sp. Asunción se levantaba a las 6,30 de la mañana; a partir de las 7 leía la Prensa, y a las 8,30, fresco como una rosa, estaba listo para recibir la llamada diaria de Belloch […] (CREA, El Mundo, Gobierno, 15/01/1996) Der kompositionelle Charakter der Aspektualität zeigt sich auch an einer Erscheinung, die narratives Imperfekt (imparfait narratif, Bres 1998, 1999, 2000a, 2000b, 2005: imperfecto narrativo, Böhm 2016) genannt wird. In den folgenden Beispielen hat das Imperfekt seine Rolle als Hintergrundtempus verloren und bezeichnet Situationen, die durchaus begrenzt sind und ganzheitlich betrachtet werden: (45) fr. Je… dit-il tout contre son oreille, et, à ce moment, comme par erreur, elle tourna la tête et Collin lui embrassait les lèvres. Ça ne dura pas très longtemps. (Boris Vian, L’Écume des jours, nach Bres 2005: 7) (46) sp. A la hora que indicó Novaliches, más bien un poquito antes, paraba el coche de Beramendi en la Puerta del Príncipe (Pérez Galdós, La de los tristes destinos). Bres erklärt den Gebrauch des narrativen Imperfekts anstelle einer perfektiven Verbform durch die Interaktion mit einem Kontext, der eine perfektive Verbform nahelegen würde. Das Imperfekt behalte dabei seine Merkmale bei und trete in Konflikt mit diesem Kontext. In Beispiel (45) reiht sich das mit dem imparfait (embrassait) bezeichnete Küssen in eine Abfolge von Handlungen ein, die ansonsten alle mit dem passé simple bezeichnet sind. Außerdem wird noch auf die Kürze des Augenblicks hingewiesen, was die ganzheitliche und begrenzte Erfassung der Situation zusätzlich nahelegt. Mit der auffälligen Verwendung des Imperfekts wird jedoch gerade der Verlauf dieser einen Handlung fokussiert. Ebenso ist das Abstellen des Wagens an einem bestimmten Ort in dem spanischen Beispiel (46) natürlich eine ganzheitliche, begrenzte und abgeschlossene Handlung, die aber durch die Benennung mit dem Imperfekt gewissermaßen „angehalten“ und dadurch zusätzlich in ihrem Ablauf betrachtet wird. Als der Erwartungshaltung des Rezipienten entsprechend hätte sich für (45) folgende Formulierung angeboten, mit der die Ganzheitlichkeit und Abgegrenztheit aller aufeinanderfolgenden Handlungen konventionell ausgedrückt würde: (47) fr. Je… dit-il tout contre son oreille, et, à ce moment, comme par erreur, elle tourna la tête et Collin lui embrassa les lèvres. Der Kontext der Handlungsfolge erlaubt jedoch den Effekt der Dehnung einer Handlung, ohne dass der Zusammenhang verloren gehen oder das Imperfekt womöglich in den Hintergrund eingeordnet würde. Bres argu- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen 273 mentiert in diesem Zusammenhang nicht ausgehend von der Annahme einer Polysemie der Verbform. Er geht vielmehr davon aus, dass sie ihre Merkmale einbringt und durch die weiteren Kontextelemente ergänzt wird. Die Bedeutung des narrativen Imperfekts, das ganzheitlich betrachtete und abgegrenzte Situationen darstellt, dabei aber seine Durativität und Unbegrenztheit markierenden Eigenschaften behält, lässt sich somit kompositionell erklären. Auch das Zusammenwirken der aktionalen Bedeutungen der Verben mit Aktanten, der Verbalperiphrasen mit den Auxiliaren sowie der aspektuell markierten Verbformen mit begrenzenden oder Begrenzungen öffnenden Adverbien lässt sich kompositionell erklären. Besonders relevant wird dieses Zusammenwirken der aspektuellen Mittel bei der Übersetzung zwischen Sprachen, die eine grundsätzlich unterschiedliche Architektur der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität aufweisen. 3.5. Aspektualität in deutsch-romanischen und romanischdeutschen literarischen Übersetzungen 3.5.1. Problemstellung Seinen Eröffnungsbeitrag auf dem französischen Colloque d’Agrégation hat der schwedische Germanist Sven Gunnar Andersson 2003 mit der Frage „gibt es Aspekt im Deutschen?“ eröffnet. Dieselbe Frage hatten wir zu Beginn dieses Kapitels mit Blick auf die romanischen Sprachen gestellt und eine doppelte Antwort darauf gefunden. Während es eine grammatikalisierte Aspektkorrelation in den romanischen Sprachen nicht gibt, lässt sich onomasiologisch eine Kategorie der Aspektualität bestimmen, die unterschiedliche grammatische, lexikalische und syntaktische Mittel umfasst, die geeignet sind, eine Situation als begrenzt oder unbegrenzt darzustellen, Prozesse als ganzheitlich oder in ihrem Verlauf zu betrachten, Anfangs- und Endpunkte zu fokussieren oder die Handlungen lediglich als versucht darzustellen. In dieser Betrachtungsweise waren wir von Funktionen ausgegangen, die wir als onomasiologisches Kriterium für die Zuordnung einzelner sprachlicher Mittel zur Kategorie der Aspektualität verwendet haben. Dabei wurde auch die Frage betrachtet, welche dieser sprachlichen Ausdrucksmittel systematisch auftreten, d.h. aspektuelle Bedeutungen in abstrakter, von konkreten lexikalischen Einzelbedeutungen unterschiedlicher Weise ausdrücken. Wir konnten feststellen, dass die Verbformen der „Vergangenheit“ und nach der Maßgabe ihres Vorhandenseins auch die Opposition zwischen dem Futur und dem Perfektfutur Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 274 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen solche Ausdrucksmittel von Aspektualität sind, obwohl sie mit Ausnahme des Imperfekts nicht darauf spezialisiert sind. Bei der Betrachtung des Deutschen als Objektsprache stellte sich die Frage, ob es Aspekt gibt, für Andersson jedoch ganz anders. Hinzu kommt, dass er die ontologische Frage nach dem Aspekt gleich noch komplizierter formuliert, indem er nach systematischen Manifestationen des Aspekts im Deutschen sucht. Mit dem Wort „systematisch“ möchte er verhindern, dass die Fragestellung ins Außersprachliche verlegt wird, und erreichen, dass „die Sprachbeschreibung von dem Sprachsystem auszugehen habe und nicht von dem, was mit ihm alles gesagt werden kann“ (Andersson 2011: 2). Er beruft sich dabei auf eine von Bierwisch schon 1961 geäußerte Kritik an der Untersuchung von Sprachmitteln, die einen bestimmten Zweck – hier die Vorgangsgliederung – erfüllen: Wenn man in die Linguistik einmal die Frage einbezieht von der Art: welche Mittel stehen einem Sprecher zur Bezeichnung der Vorgangsgliederung zur Verfügung? – Dann ist nicht einzusehen, warum man auch nicht fragen soll nach den Mitteln für die Geschwindigkeit oder der Einzahl und käme stets zu Gruppierungen, die nur mit dem Sprachsystem nichts mehr zu tun haben. (Bierwisch 1961: 147; vgl. Andersson 2011: 2) Bierwisch lehnt damit die onomasiologische Frage nach den Mitteln zur Bezeichnung der Vorgangsgliederung, also modern formuliert die Untersuchungsrichtung vom Begriff der ʽAspektualitätʼ zu den Ausdrucksformen, ab. Doch auch wenn Andersson, Bierwischs Aussage entsprechend, von der Form zum Inhalt geht, stößt er im deutschen Verbalsystem auf „Erscheinungen, die mit der ʽArt und Weiseʼ zu tun haben, ʽwie die Handlung des Verbums vor sich gehtʼ, und sei es als verdeckte Kategorien, die inhaltliche Subvarianten oder Sub-Subvarianten bei den Partizipien und bei Periphrasen mit dem Partizip II bedingen, z.B. bei dem Zustandspassiv und bei den Perfekttempora“ (Andersson 2011: 2). Andersson räumt dabei ein, dass es im Deutschen kombinatorische Erscheinungen auf Satzund Textebene gibt, durch die die aspektuellen Inhalte ʽHandlung in ihrem Verlaufʼ/ʽHandlung in ihrer Totalitätʼ mehr oder weniger eindeutig festgelegt werden können. Hierzu gehören Konjunktion, Adverbien, Periphrasen, Definitheit/Indefinitheit von Nominalphrasen, aktionale Klassenzugehörigkeit der Verbalphrase, semantisch oder pragmatisch begründete Taxisbeziehungen zwischen Satzinhalten, wie zum Beispiel Parallelität, Aufeinanderfolge, Inzidenzschema (Andersson 2011: 2–3). Der Komplex dieser Ausdrucksmittel berechtigt nach Anderssons Auffassung jedoch nicht dazu, die Frage nach der Existenz von Aspekt im Deutschen zu bejahen. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen 275 Andersson begründet die Schwierigkeiten, dem Deutschen Aspekt zuzugestehen mit der Mehrdeutigkeit der zur Aspektualität gehörenden Mittel. Eindeutig aspektuell seien lediglich Periphrasen, wie am/beim+Infinitiv+sein. Konjunktionen (während) und Adverbien (gerade) sind mehrdeutig; Perfekt, Plusquamperfekt und Zustandspassiv sind zwar aspektuelle Ausdrucksmittel, sie sind jedoch von der Semantik der Verbalphrase abhängig. Die Opposition ʽHandlung in ihrem Verlaufʼ/ ʽHandlung in ihrer Totalitätʼ sei eine onomasiologische begriffliche Opposition, die weniger in sprachlichen Elementen des Komplexes der Aspektualität verankert sei, sondern „zumeist und letztendlich über nichtsprachliche Wissenssysteme wie Ereignislogik und Weltwissen kognitiv festgelegt wird“ (Andersson 2011: 3). Die Bezeichnung des deutschen Tempus Perfekt legt irrtümlicherweise Perfektivität nahe. Das deutsche Perfektsystem verfügt zwar über die Merkmale [+abgeschlossen] bzw. [+vollzogen], jedoch im temporalen Sinne. Temporal ist eine Situation abgeschlossen oder vollzogen, wenn sie vor einem Punkt auf der Zeitachse liegt. Dabei ist es unerheblich, ob der Sachverhalt als im Verlauf befindlich oder als zusammengefasste Totalität gesehen wird, ob die dargestellte Situation begrenzt oder nicht begrenzt ist. Das Perfekt setzt eine Situation zu einem außerhalb ihres Zeitverlaufs liegenden Punkt auf der Zeitachse in Beziehung. Zu diesem später liegenden Referenzpunkt steht die mit dem Perfekt ausgedrückte Situation im Verhältnis der Anteriorität, also in einer temporalen Beziehung zwischen dem Sachverhalt und dem späteren Bezugspunkt. Perfektiv im aspektuellen Sinn wäre eine Situation, die als solche begrenzt ist und als Totalität gesehen wird. Dies ist jedoch im Deutschen nicht einmal bei transformativen Verben möglich (vgl. Andersson 2011: 7): (1) dt. Während sie das Haus abgerissen haben/hatten, haben/hatten sie die ganze Zeit auf Spuren der ursprünglichen Bauweise geachtet. (vgl. Andersson 2011: 7) Wie das Beispiel zeigt, ist das Taxisschema Parallelität im Deutschen mit dem Perfektsystem realisierbar. Beim Erzählen in der Retrospektive kann Parallelität sogar durch das Plusquamperfekt ausgedrückt werden, wobei der Nachzustand nicht obligatorisch realisiert wird. Entscheidend dafür, ob eine Situation als perfektiv oder imperfektiv, abgegrenzt oder nicht abgegrenzt verstanden wird, ist also der Kontext: Perfektiver Aspekt ist in dem Subsystem des Perfekts und Plusquamperfekts also nicht einmal in dem Sub-Subsystem ʽPerfekt und Plusquamperfekt bei transformativer Propositionʼ festgelegt. (Andersson 2011: 8) Auch eine Aufteilung des Verbparadigmas des Deutschen in „Verlaufsstufe“ (Präsens und Präteritum) und „Vollzugsstufe“ (Perfekt und Plus- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 276 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen quamperfekt)41 hat laut Andersson (2011: 8–9) trotz der aspektträchtig anmutenden Benennungen nichts mit dem Aspekt zu tun. Da das Merkmal der sogenannten „Vollzugsstufe“ ʽfrüher liegend im Verhältnis zu einem Zeitpunktʼ ist, müsste sie eigentlich dementsprechend Vorzeitigkeitsstufe genannt werden. Wenn sich das Präteritum wirklich einer „Verlaufsstufe“ zurechnen ließe, müsste zum Beispiel er öffnete die Tür immer die Handlung in ihrem Verlauf bezeichnen, ähnlich wie en. he was opening the door (vgl. Andersson 2011: 9). Mit dem Präteritum können jedoch auch begrenzte und ganzheitlich betrachtete Situationen ausgedrückt werden, zum Beispiel auch aufeinanderfolgende Handlungen: (2) dt. Er öffnete die Tür und trat hinaus. Auf die Frage nach dem Aspekt im Deutschen gibt Andersson eine Antwort, die unserer für die romanischen Sprachen gegebenen sehr ähnelt: Im Deutschen gibt es keinen Aspekt als grammatische Kategorie, wohl aber Aspektualität als funktional-semantische, konzeptuelle Kategorie, die sich auch im grammatischen System als verdeckte Kategorie, wenn auch peripher, auswirkt. (Andersson 2011: 10) Noch weniger als in den romanischen Sprachen ist also im Deutschen der Aspekt als vordergründige, systematische Kategorie ausgeprägt. Der onomasiologische und textuelle Aspektansatz, den Andersson im Anschluss an Bierwisch als nicht linguistisch genug dargestellt hatte, eignet sich allerdings vorzüglich zur kontrastiven und translationslinguistischen Zwecken. Man könnte auf diese Weise untersuchen, wie im Deutschen das in einer Aspektsprache durch die grammatische Aspektkategorie Ausgedrückte vermittelt wird. Es wären also Mittel für die Realisierung der zentralen Opposition der onomasiologischen Kategorie der Aspektualität ʽHandlung im Verlaufʼ/ʽHandlung in ihrer Totalitätʼ zu betrachten und im Hinblick auf ihre Systematizität und innere Strukturiertheit zu untersuchen (Andersson 2011: 3). Dem Übersetzungsvergleich als Verfahren innerhalb der synchron vergleichenden Sprachwissenschaft ist vorgeworfen worden, dass er weder die Zufälligkeit der ihm zugrundeliegenden Korpora noch die Transferenz ausgangssprachlicher Verbalisierungen in die Zielsprachen ausschließen kann. In gewissem Sinne lassen sich die Gefahren, die sich aus diesen beiden Ausgangsbedingungen ergeben, jedoch ins Positive wenden. Gerade weil der Übersetzer (zumindest eines literarischen Textes) das Ziel hat, einen in der Zielsprache eigenständig rezipierbaren und ästhetisch wertvollen Text zu schaffen, muss er kategorial bedingte Verbalisierungspräferenzen der Ausgangssprache auflösen und dabei möglicherweise andere _____________ 41 Diese Aufteilung des deutschen Verbparadigmas in eine „Verlaufsstufe“ und eine „Vollzugsstufe“ ist von Brinkmann (1971) und Flämig (1971) übernommen. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen 277 Regularitäten herstellen. Gerade darin liegt das Interessante des Übersetzungsvergleichs für linguistische Zielstellungen, und nur um diese soll es im Folgenden gehen. Die Fülle der kulturhistorischen und kulturvergleichenden Bezüge, die in Mario Wandruszkas Arbeiten (1959, 1969, 1976, 1984, 1991, 1998) deutlich werden, können dabei nur partiell berücksichtigt werden. Wir wollen dabei nicht einfach – wie Andersson (2011: 3) es nahelegt – untersuchen, wie das in einer Aspektsprache durch die grammatische Aspektkategorie Ausgedrückte in Sprachen mit schwächerer Präsenz des grammatischen Aspekts vermittelt wird, sondern wir gehen von einem onomasiologischen tertium comparationis aus, das wir an alle verglichenen Sprachen anlegen. Als ein solches tertium comparationis betrachten wir die Funktion, die eine durch das Verb ausgedrückte Handlung durch Endpunkte begrenzt oder in einer Innensicht darstellt (Verkuyl 1993: XI). Die verschiedensten Spezialbedeutungen, die bei der Verarbeitung dieser Funktion in den einzelnen Sprachen durchaus im Vordergrund stehen mögen (z.B. Bondarko 1971, Coseriu 1976: 81–89), eignen sich schlecht als Ausgangspunkt für einen vergleichenden Ansatz. Coseriu (1976: 13) hat darauf hingewiesen, dass aspektuelle Bedeutungen nicht unbedingt auf derselben Ebene des Verbalsystems erscheinen. Sie können bereits an den Verbalbegriff als solchen gebunden sein, beim Erscheinen von Tempus obligatorisch auftreten, in einer zweiten Perspektive als periphrastisches System erscheinen oder noch weiteren Perspektiven vorbehalten sein. Auch der Terminus „funktionale Kategorie“ ist in diesem Zusammenhang möglicherweise erklärungsbedürftig. Es soll damit der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Funktionen, die in bestimmten Sprachen Kategorien42 darstellen, auch als sekundäre Nebenbedeutungen anderer Kategorien oder als Kombinationen von lexikalischer und grammatischer Bedeutung gegeben sein können. Die Komplexität der funktionalen Kategorien des Verbs erweist sich beim Übersetzen aus romanischen Sprachen ins Deutsche immer wieder als Problem.43 Kommentare und Übersichten dazu fehlen in guten Einführungen in die Übersetzungswissenschaft nicht, es ist jedoch nicht möglich, direkte Korrespondenzen zwischen den Verbalsystemen des Deutschen, Englischen, Französischen und Spanischen herzustellen, wie die Übersichtstabelle in García Yebra (1997: 147) es nahelegt: _____________ 42 43 Coseriu (1976: 71): „Die grammatischen Kategorien sind Typen oder Arten von Funktionen, in bezug auf welche die in einer Sprache funktionierenden Oppositionen eintreten, die allgemeinen Begriffe, die die Oppositionen betreffen, also die Arten der Unterschiede, die die Oppositionen der Wortformen (und Wortkonstruktionen) darstellen.“ Eine kontrastive Untersuchung zum Deutschen und zum Französischen liefert Confais (2002 [1990]). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 278 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen deutsch Präsens englisch Present französisch Présent Präteritum Present continuous Simple Past spanisch Presente (Presente continuo) Imparfait Imperfecto (Imperfecto continuo) Pret. perf. simple (Pret. perf. simple cont.) Pret. perf. compuesto (Pret. perf. comp. contin.) Pluscuamperfecto Pluscuamperf. continuo Pretérito anterior Past continuous Passé simple Perfekt Present perfect Passé composé Plusquamperfekt Past perfect Past perfect continuous Plus-que-parfait Passé antérieur Wenn ein Übersetzer diesem Schema vertraute, würde er unter anderem die Folgen des Fehlens grammatisch-systematischer Züge des Aspekts im Deutschen verkennen. Das Präteritum und das Perfekt stehen nicht in aspektueller Opposition zueinander, in der Mehrzahl ihrer Verwendungen unterscheiden sie sich vielmehr durch stilistische und diatopische Merkmale. Dementsprechend würde die mechanische Übersetzung des Präteritums mit dem imparfait bzw. dem imperfecto und des Perfekts mit dem passé composé oder dem pretérito perfecto compuesto nicht nur die gewünschte Reliefgebung verfehlen, sondern wahrscheinlich auch zu grammatisch falschen Sätzen führen. Zwischen dem passé simple und dem pretérito perfecto simple besteht zwar aspektuelle und temporale Korrespondenz, aber ein Verkennen ihrer grundlegenden diaphasischen Differenz und der Einschränkungen im Gebrauch des passé simple würde zu nicht akzeptablen Äußerungen führen. Die mit dieser Tabelle schematisch veranschaulichten Verhältnisse einer stärkeren Differenzierung auf der Seite der romanischen Sprachen legen nahe, dass beim Übersetzen aus der aspektuell wenig differenzierten deutschen Sprache in eine romanische Angaben über Handlungsverläufe hinzuerfunden werden, wenn sie obligatorisch ausgedrückt werden müssen. Betrachten wir diese notwendige aspektuelle Überspezifizierung zunächst am Beispiel einer französischen Übersetzung von Franz Kafkas Verwandlung (1912). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen 279 3.5.2. Thematisch erwartungsgesteuerter Vergleich Original-Übersetzung Warum gerade dieser Text einen idealen Ausgangspunkt für einen textbasierten Vergleich zur Aspektualität bildet, liegt auf der Hand. Von der Erzählung der alltäglichen, realen Welt des Kleinbürgermilieus hebt sich ein einziges, ganzheitlich erlebtes und zur Voraussetzung des weiteren Geschehens werdendes Ereignis ab: die Metamorphose Gregor Samsas zum Insekt. Es schließt sich eine langsame Verwandlung der Familie an, in deren Ergebnis Gregor schließlich ausgestoßen wird. Mir erscheint es gerechtfertigt, bei der Betrachtung solcher Texte mit vorher feststehenden Zielen von thematisch erwartungsgesteuertem Textvergleich zu sprechen. Die Hypothese einer notwendigen Überspezifizierung der Aspektualität beim Übersetzen vom Deutschen ins Französische findet sich gleich im ersten Abschnitt der Verwandlung/Métamorphose bestätigt: (3) dt. Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, einen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. (Kafka 1983: 112) (3) fr. En se réveillant un matin après des rêves agités, Gregor Samsa se retrouva, dans son lit, métamorphosé en un monstrueux insecte. Il était sur le dos, un dos aussi dur qu’une carapace, et, en relevant un peu la tête, il vit, bombé, brun, cloisonné par des arceaux plus rigides, son abdomen sur le haut duquel la couverture, prête à glisser tout à fait, ne tenait plus qu’à peine. Ses nombreuses pattes, lamentablement grêles par comparaison avec la corpulence qu’il avait par ailleur, grouillaient désespérément sous ses yeux. (Kafka/Lortholary 1988: 23) Die resultative Konstruktion, die bei Kafka zur Bezeichnung des Schlüsselereignisses steht, findet sich in der Übersetzung als se retrouva métamorphosé en un monstrueux insecte wieder. Der Gemeinsamkeit in der aus der lexikalischen Bedeutung des Verbs finden/retrouver ersichtlichen Aktionsart steht jedoch bereits hier ein aspektueller Unterschied gegenüber. Während bei Kafka die Möglichkeit eines allmählichen Sich-Findens zumindest offenbleibt, steht in der Übersetzung der Prozess als Ganzes mit seinem Endpunkt vor Augen. Noch deutlicher wird die Überspezifizierung bei der aspektuellen Differenzierung der im Deutschen gleichermaßen im Präteritum verwendeten Verben lag und sah in der französischen Übersetzung: Il était sur le dos kennzeichnet einen anhaltenden Zustand, während mit il vit nicht ein ebenso anhaltendes betrachtendes Sehen, sondern ein plötzliches Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 280 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Erkennen der physischen Veränderung in ihrer ganzen Tragweite nahegelegt wird. Gerade der variationslose Gebrauch der Präteritumformen semantisch wenig komplexer Verben ist ein Charakteristikum der Erzählweise Kafkas, das in der französischen Übersetzung nicht beibehalten werden kann. In Beispiel (4) wird der Gleichklang von drei Präteritumformen aufgelöst in zwei passé-simple-Formen, zwischen denen ein imparfait steht. Diese Imperfektform unterstreicht den iterativen Charakter des Aufschlagens der Regentropfen, der natürlich auch dem deutschen Leser aufgrund seines Weltwissens zugänglich ist: (4) dt. Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. (Kafka 1983: 112) (4) fr. Le regard de Gregor se tourna ensuite vers la fenêtre, et le temps maussade – on entendait les gouttes de pluie frapper le rebord de zinc – le rendit tout mélancolique. (Kafka/Lortholary 1988: 23) Dabei handelt es sich zweifellos nicht um eine zufällige Entscheidung des Übersetzers. Die durchgängige Verwendung des imparfait würde in diesem Fall eine iterative Handlungsfolge nahelegen, die Verwendung des passé simple auch im eingeschobenen Satz ein plötzliches Wahrnehmen des Regens, der jedoch die Situation dauerhaft als Hintergrund begleiten soll. Offensichtlich genügen für eine angemessene Darstellung des Handlungsverlaufs im Deutschen kontextuelle Bezüge, auf Weltwissen basierte Verstehenspräferenzen und einige lexikalische Anhaltspunkte, wie dann für die Kennzeichnung der Aufeinanderfolge von Handlungen. Die größere Differenzierung der Verbformen im aspektuellen Bereich fordert dagegen im Französischen die Verwendung der spezifischen Form, die mit anderen kontrastiert. Beispiele einer im Originaltext nicht vorhandenen aspektuellen Kontrastierung, die durch die sprachlichen Voraussetzungen im Französischen erzwungen wird, finden sich in der Kafka-Übersetzung erwartungsgemäß gehäuft. Besonders interessant an Beispiel (5) erscheint, dass der lexikalische Ausdruck der Iterativität in Er versuchte es wohl hundertmal im Französischen zwar beibehalten wird, durch die Verwendung der passé simple-Form des Modalverbs aber zugleich die Abgeschlossenheit der Handlungsfolge unterstrichen wird: (5) dt. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloß die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann. (Kafka 1983: 113) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen (5) fr. 281 Quelque énergie qu’il mît à se jeter sur le côté droit, il tanguait et retombait à chaque fois sur le dos. Il dut bien l’essayer cent fois, fermant les yeux pour ne pas s’imposer le spectacle de ses pattes en train de gigoter. et il ne renonça que lorsqu’il commença à sentir sur le flanc une petite douleur sourde qu’il n’avait jamais éprouvée. (Kafka/Lortholary 1988: 24) Die epistemische Modalität als solche war im Deutschen auch nicht wie in der Übersetzung durch eine Periphrase (Il dut bien l’essayer cent fois), sondern adverbial durch wohl ausgedrückt worden. Auf verstärkte Differenzierungsnotwendigkeiten im Französischen verweist auch die formal analog gebildete inchoative Periphrase zu fühlen begann/commença à sentir. Während die lexikalische Benennung der Handlung gleichermaßen mit dem Infinitiv (fühlen/sentir) erfolgt und das finite Verb ebenso analog die Anfangsphase dieser Handlung bezeichnet, besteht in der aspektuellen Sicht im Französischen durch die Verwendung des passé simple Eindeutigkeit. Das Beispiel deutet darauf hin, dass es sinnvoll sein kann, gerade im periphrastischen Bereich zwischen Aspekt und Aktionsart zu unterscheiden. In Beispiel (6) lässt die Häufung von adverbialen Benennungen des langsamen und vorsichtigen Handlungsverlaufs auf dem Hintergrund der aspektuellen Indifferenz durchaus eine prozessuale Lesart zu, die in der Übersetzung, bedingt durch den klaren Ausdruck der Handlungsfolge, mit der Wahl des passé simple jedoch aufgegeben wird: (6) dt. Er versuchte es daher, ZUERST den Oberkörper aus dem Bett zu bekommen, und drehte VORSICHTIG den Kopf dem Bettrand zu. Dies gelang auch leicht, und trotz ihrer Breite und Schwere folgte SCHLIEßLICH die Körpermasse LANGSAM der Wendung des Kopfes. (Kafka 1983: 116) (6) fr. Il essaya donc de commencer par extraire du lit le haut de son corps, et il tourna PRUDEMMENT la tête vers le bord. Cela marcha d’ailleurs sans difficulté, et FINALEMENT la masse de son corps, en dépit de sa largeur et de son poids, suivit LENTEMENT la rotation de la tête. (Kafka/Lortholary 1988: 2829) Die Bestimmung der Reihenfolge, die im deutschen Text adverbial erfolgte (zuerst, schließlich), bedient sich im Französischen auch der gegebenen periphrastischen Möglichkeiten (commencer par extraire). Als Ergebnis des thematisch erwartungsgesteuerten Übersetzungsvergleichs ließe sich festhalten, dass bei einem Differenzierungsanstieg von der Ausgangssprache zur Zielsprache Überspezifizierung erfolgt, die ihrerseits eine Einschränkung der möglichen Lesarten zur Folge haben kann. Letztere Aussage ist selbstverständlich dahingehend zu überprüfen, ob nicht schon im Ausgangstext eine entsprechende Einschränkung durch andere Mittel als verbale Kategorien, also etwa durch Adverbien vorgegeben ist. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 282 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Differenzierungsanstieg Folge für Text der Übersetzung Ø Überspezifizierung Ø möglicherweise Einschränkung der Lesarten Ausgangssprache Präteritum Zielsprache Imparfait vs. passé simple, p. composé Periphrasen Dass sich der umgekehrte Fall bei einem Differenzierungsgefälle zwischen Ausgangs- und Zielsprache im aspektuellen Bereich durchaus feststellen lässt, soll zunächst am Beispiel des Anfangs einer deutschen Übersetzung der Misterios de Madrid von Antonio Muñoz Molina gezeigt werden: (7) sp. Daban las once de la noche en el reloj de la plaza del General Orduña, ahora de Andalucía, cuando Lorencito Quesada, corresponsal en nuestra ciudad de Singladura, el diario de la provincia, se detuvo ante la puerta de la sacristía del Salvador, en un callejón a espaldas de la plaza Vázquez de Molina, sin atreverse a golpear el llamador, aunque había luz dentro y sabía que lo estaban esperando. (Muñoz Molina 1992: 7) (7) sp. Genau elf Uhr schlug es gerade an der Plaza del General Orduña, der heutigen Plaza de Andalucía, als Lorencito Quesada, der in unserer Stadt ansässige Korrespondent des Provinzblatts Singladura., in einer Gasse hinter der Plaza Vázquez de Molina vor der Tür der Sakristei der Erlöserkirche stehenblieb und sich nicht traute, den Türklopfer zu betätigen, obwohl drinnen Licht war und er wußte, daß man ihn erwartete. (Muñoz Molina/ Hofmann 1995: 9) Im Spanischen finden wir hier den in Grammatiken dargestellten typischen Fall eines Inzidenzschemas: eine Verbalhandlung wird im Verlauf dargestellt, d.h. Spanisch im imperfecto (daban), eine zweite, punktuell und perfektiv betrachtete kommt hinzu und steht im pretérito perfecto simple (se detuvo). Im Deutschen fehlt diese Differenzierung im Verbalbereich, das im Verlauf befindlich-Sein der Handlung wird lexikalisch ausgedrückt. Dennoch ergibt sich gerade durch die durchgängige Verwendung des Präteritums im Deutschen zu Beginn der Eindruck einer gewissen aspektuellen und temporalen Unschärfe. Schlug die Uhr noch, als Quesada stehenblieb, traute er sich erst dann nicht, zu klopfen, als er stehengeblie- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 283 Aspektualität in literarischen Übersetzungen ben war, hatte das Licht schon vorher gebrannt? Betrachten wir nur die Entsprechungen der Verbformen im spanischen und im deutschen Text, so ergibt sich für die ersten Zeilen folgendes Bild: dabanimpf (las once) se detuvopps sin atreverseinf. a golpear habíaimpf. luz sabíaimpf. estabanimpf. esperandoGerund schlug es stehenblieb sich nicht traute, den Türklopfer zu betätigen Licht war wußte erwartete Vier verschiedenartigen Verbformen im Spanischen (imperfecto, perfecto simple, Infinitiv mit Präposition und schließlich aspektuelle Verbalperiphrase) steht hier im Deutschen eine einzige, das Präteritum, gegenüber. Die extreme Reduzierung der aspektuellen und temporalen Möglichkeiten im Verbalbereich im Deutschen wird teilweise durch lexikalische ausgeglichen: das Adverb gerade, die Aktionsartbedeutung von erwarten gegenüber warten (die allerdings zu einer anderen Bedeutung führt als die durative Periphrase estaban esperando), den Türklopfer betätigen statt einfach klopfen. Auch die Wortstellung kann dazu beitragen, von den Verbformen nicht vermitteltes auszugleichen: Genau elf Uhr schlug es gerade (nicht: Es schlug gerade elf Uhr). Differenzierungsgefälle Ausgangssprache Zielsprache imperfecto, perfecto simple, Infinitiv + Präp. , aspektuelle Verbalperiphrase Präteritum Folge für Text der Übersetzung Ø aspektuelle und temporale Unschärfe Ø lexikalischer und syntaktischer Ausgleich Im Folgenden soll der Umgang mit Markierungen der Aspektualität bei einem Differenzierungsgefälle von der Ausgangssprache Französisch zur Zielsprache Deutsch an der Novelle Sarrasine (1831) von Balzac, an Le grand voyage (1963; dt. Die große Reise, 1964) von Jorge Semprún und Les mains sales (1948; dt. Die schmutzigen Hände) von Jean-Paul Sartre gezeigt Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 284 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen werden. Auf quantitative Auswertungen wird dabei verzichtet werden, es sollen jedoch Tendenzen in der Nutzung der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel aufgezeigt werden. Bei der Übersetzung ins Deutsche, das weniger Ausdrucksmittel im Bereich des Verbalaspekts hat, stehen dem Übersetzer neben den Aktionsarten vor allem Adverbien zur Vermittlung aspektueller Markierungen der Ausgangssprache zur Verfügung. Betrachten wir zunächst die Übersetzung von Sätzen mit den Verbformen imparfait, passé simple und passé composé in Balzacs Sarrasine ins Deutsche. Der Übersetzer hat sich hier offensichtlich ausschließlich von der äußeren Form der einfachen oder zusammengesetzten Verbformen leiten lassen. So hat er das imparfait fast durchweg mit dem Präteritum wiedergegeben (8 bis 10) und auch für das passé simple diese aspektuell unmarkierte Verbform gewählt (11 bis 13). Für das passé composé steht hingegen fast durchweg das zusammengesetzte Perfekt (14 bis 16), das aspektuell ebenso unmarkiert ist, jedoch dem nähesprachlichen Charakter der bei Balzac auftretenden Sätze mit dem passé composé besser entspricht. Die aspektuelle Markiertheit durch Verbformen geht im deutschen Text damit verloren. Natürlich kann der Übersetzer auf das Weltwissen der zielsprachlichen Leser bauen, das es ihnen zum Beispiel erlaubt zu erkennen, dass das schwache Sich-Abheben der Bäume ein dauerhafter Zustand ist oder das Lächeln und das Sich-Trennen aufeinanderfolgende abgeschlossene Handlungen sind: Honoré de Balzac, Sarrasine (1830): (8) fr. Les arbres, […] se détachaient faiblement... (Balzac: 35) (9) fr. Assis dans l’embrasure d’une fenêtre, […] je pouvais contempler à mon aise le jardin de l’hôtel où je passais le soirée. (Balzac: 35) (10) fr. […] ils ressemblaient vaguement à des spectres[...] (Balzac: 35) (11) fr. Elle sourit, et nous nous sépa râmes [...] (Balzac: 52) (12) fr. Un peu! Dit la marquise. (Bal zac: 64) (13) fr. Bientôt l’exagération naturelle aux gens de la haute société fit naître et accumuler les idées les plus plaisantes […] (Balzac: 40). (8) dt. Die […] Bäume hoben sich schwach von dem graugetönten Hin tergrund ab. (Balzac/Hoch: 217). (9) dt. In einer Fensternische sitzend, [...] konnte ich nach Belieben der Garten der Villa betrachten, in deren Räumen ich den Abend verbrachte. (Balzac/Hoch: 217). (10) dt. In dieser phantastischen Umge bung schienen sie irgendwie... (Balzac/Hoch: 217) (11) dt. Sie lächelte und wir trennten uns, […] (Balzac/Hoch: 229) (12) dt. Ein wenig nur! Sagte die Mar quise. (Balzac/Hoch: 238) (13) dt. Bald ließ die bei Leuten aus ferner Gesellschaft so verbreitete Übertrei bungssucht die amüsantesten Ideen, […] aufkommen. (Balzac/Hoch: 220). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen (14) fr. Je n‘ai consenti à vous tromper que pour faire plaisir à mes camarades, […] (Balzac: 75) (15) fr. […] tu m’as dépeuplé la terre de toutes ses femmes. (Balzac: 76) (16) fr. J’ai conçu trop de respect pour ton caractère pour me livrer ainsi. (Balzac: 67) 285 (14) dt. Ich habe mich zu dieser Täuschung nur meinen Freunden zuliebe hergegeben, […] (Balzac/Hoch: 247) (15) dt. […] du hast für mich die Erde von allen Frauen entvölkert. (Balzac/Hoch: 247) (16) dt. Ich habe zu viel Achtung vor deinem Charakter gewonnen, als dass ich mich so preisgeben könnte. (Balzac/Hoch: 240) Eine von dieser schematischen Übersetzung abweichende Lösung hat der Übersetzer in einigen Fällen gewählt. So übersetzt er zum Beispiel il n’a jamais voulu in Satz (17) mit daß noch nicht einmal seine Aufwartung in meinem Hause machen wollte und trägt damit den Charakter des narrativen Textes Rechnung, in dem im Deutschen das Präteritum vorherrscht: (17) fr. Eh bien, il a si peu de reconnaissance du service que je lui ai rendu, qu’il n’a jamais voulu remettre les pieds chez moi. (Balzac 1995 [1830]: 74) (17) dt. Wohlan, er zeigt sich für den Dienst, den ich ihm erwiesen habe, so wenig erkenntlich, daß er noch nicht einmal seine Aufwartung in meinem Hause machen wollte. (Balzac/Hoch: 245) Auch in verblosen Satzteilen wird gelegentlich das Präteritum in der deutschen Übersetzung eingefügt: (18) fr. (18) dt. Moi, sur la frontière de ces deux tableaux si disparates, […] (Balzac 1995 [1830]: 36). Ich selbst, der ich mich auf der Grenze zwischen zwei so ungleichen Bildern befand, […] (Balzac/Hoch: 217). Für die Übersetzung von Verbalperiphrasen treten auch Adverbien auf: (19) fr. Minuit venait de sonner à l'horloge... (Balzac 1995 [1830]: 35) (19) dt. Die Uhr des Elysée-Bourbon hatte (Balzac/Hoch: 217) GERADE Mitternacht geschlagen. In Les mains sales von Jean-Paul Sartre dominiert dagegen deutlich das passé composé und wird auch zumeist mit dem deutschen Perfekt übersetzt: (20) fr. J’ai lutté, je me suis humilié, j’ai tout fait pour qu’ils oublient, je leur ai répété que je les aimais, que je les enviais, que je les admirais. (Sartre 2005 [1948]): 284) (20) dt. Ich habe gekämpft, ich habe mich demütigen lassen, ich habe alles getan, damit sie es vergessen, immer wieder habe ich ihnen gesagt, ich liebe euch, ich bewundere euch, ich beneide euch. (Sartre/Baerlocher: 56) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 286 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Das Präteritum wird jedoch nicht schematisch für die Wiedergabe des imparfait genutzt. So findet sich das Perfekt, wenn es sich um nähesprachliche Äußerungen handelt: (21) fr. Et vous disiez: il s’en est bien tiré, il a fait sa besogne proprement et sans compromettre personne. (Sartre 2005 [1948]): 250) (21) dt. Und dann habt ihr gesagt: Gut hat er seine Sache gemacht, den Auftrag sauber erledigt, keinen verpfiffen. (Sartre/Baerlocher: 15) Für die Wiedergabe des narrativen imparfait verwendet die Übersetzerin durchweg das Präteritum: (22) fr. Ils arrivaient la nuit sur leurs vélos, […] ils s’asseyaient autour de la table, Louis bourrait sa pipe et quelqu’un disait : [...] (Sartre 2005 [1948]): 250) (22) dt. Sie kamen nachts auf ihren Fahrrädern an, […] setzen sich um den Tisch, Louis stopfte seine Pfeife, und einer sagte dann: [...] (Sartre/Baerlocher: 14) In der Übertragung imperfektiver Aspektualität werden in der deutschen Übersetzung auch präpositionale Wortgruppen verwendet, die das Andauern einer Handlung kennzeichnen: (23) fr. En principe, elles traversaient pour aller en Hongrie. (Sartre 2005 [1948]): 250) (23) dt. Eigentlich waren sie 14) AUF DURCHMARSCH nach Ungarn. (Sartre/Baerlocher: Verbalperiphrasen werden in der deutschen Übersetzung durchweg mit Adverbien wiedergegeben: (24) fr. As-tu fini par comprendre ? (Sartre 2005 [1948]): 257) (24) fr. Hast du es SCHLIEßLICH begriffen? (Sartre/Baerlocher: 23) (25) fr. Hugo finit par lui arracher le revolver pendant que le rideau tombe et qu’elle crie. (Sartre 2005 [1948]): 293) (25) fr. Hugo entwindet ihr SCHLIEßLICH den Revolver, während der Vorhang fällt und sie schreit. (Sartre/Baerlocher: 67) (26) fr. […] que les troupes allemandes sont en train de perdre la guerre ? (Sartre 2005 [1948]): 307) (26) dt. [...] und die deutschen Truppen (Sartre/Baerlocher: 84) (27) fr. il a bien failli me prendre à son piège. (Sartre 2005 [1948]): 345) (27) dt. Aber er, er hätte mich 132) BEINAHE DABEI sind, den Krieg zu verlieren? in seine Falle gelockt. (Sartre/Baerlocher: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen 287 Insgesamt ist die Wiedergabe der Aspektualität in der deutschen Übersetzung von Les mains sales sehr systematisch vorgenommen worden, wobei auf alle Ebenen des Ausdrucks von aspektuellen Merkmalen im Deutschen zurückgegriffen wurde. Es liegt nahe, hier von einer Bewusstheit der Gestaltung der aspektuellen Verhältnisse im Zieltext auszugehen. In der Übersetzung von Le grand voyage von Semprún fällt auf, dass die imparfait-Formen weitgehend mit dem Präteritum wiedergegeben wurden: (28) fr. Nous vivions toutes choses à travers les livres. (Semprún 1999 [1963]: 36) (28) dt. Alles erlebten wir nur durch Bücher. (Semprún/Christaller: 34) Jedoch auch im passé composé erscheinende Verbformen werden im Deutschen häufig mit dem Präteritum übersetzt. Diese Entscheidung des Übersetzers scheint aus stilistischen Erwägungen erklärbar. Eine Häufung von Perfektformen im deutschen Text könnte diesem einen umgangssprachlichen Charakter geben: (29) fr. Il a été pris dans une raffle générale, quand les allemands ont voulu nettoyer la région. (Semprún 1999 [1963]: 31) (29) dt. Bei einer Razzia, als die Deutschen die Gegend säubern wollten, wurde er festgenommen. (Semprún/Christaller: 28) (30) fr. Il a essuyé le sang sur son visage et son visage était celui de la haine. (Semprún 1999 [1963]: 33) (30) dt. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht, und auf diesem Gesicht lag Haß. (Semprún/Christaller: 30) (31) fr. L’évasion a raté. (Semprún 1999 [1963]: 33) (31) dt. Aus der Flucht wurde nichts. (Semprún/Christaller: 30) Auffällig ist außerdem, dass im deutschen Text an einigen Stellen das Plusquamperfekt erscheint, womit eine weiter zurückliegende temporale Ebene eingeführt wird: (32) fr. Le gars de Semur m’a regardé et je lui ai fait oui de la tête. (Semprún 1999 [1963]: 32) (32) dt. Der junge aus Semur hatte mich angeschaut, und ich hatte ihm zugenickt. (Semprún/Christaller: 29) (33) fr. Mais cette phrase-là a soulevé un concert de protestations. (Semprún 1999 [1963]: 32) (33) dt. Aber da hatte sich ein Sturm der Entrüstung erhoben. (Semprún/Christaller: 29) Mit der Nutzung des Plusquamperfekts wird zugleich verdeutlicht, dass die bezeichneten Handlungen vor einem Referenzpunkt in der Vergan- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 288 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen genheit abgeschlossen sein mussten. Damit wird bis zu einem gewissen Grade auch die Aspektualität der Verbform passé composé beibehalten. Wie wir gesehen haben, waren die Strategien der Übersetzer im Umgang mit der Aspektualität in den drei französischen Texten sehr unterschiedlich. Während bei der Übersetzung des Balzac-Textes lediglich formale Kriterien eine Rolle spielten, nutzte die Übersetzerin des Textes von Sartre die aspektuellen Möglichkeiten des Deutschen systematisch. In der Übersetzung des Textes von Semprún spielte offensichtlich die Wahrung der stilistischen Invarianz eine übergeordnete Rolle. Diese Analyse beabsichtigte keine Übersetzungskritik, sondern lediglich einen Überblick über Möglichkeiten des Umgangs mit mehr oder weniger stark grammatikalisierten Mitteln der Aspektualität. Es wurde deutlich, dass in allen Sprachen Möglichkeiten des Ausdrucks von Aspektualität bestehen. Wenn wir unsere Analyse auf die Verben beschränken würden, wäre bei der Übersetzung ins Deutsche in jedem Fall ein Differenzierungsgefälle beim Ausdruck der Aspektualität festzustellen. 3.5.3. Vergleich mehrerer Übersetzungen eines Textes in dieselbe Zielsprache Wenn in den bisherigen Beispielen der erwartungsgesteuerte bilaterale Übersetzungsvergleich jeweils nur an einem Textpaar durchgeführt wurde, so bietet der Vergleich mit mehreren Übersetzungen desselben Textes in eine Zielsprache Korrekturmöglichkeiten. Versuchen wir also individuelle Entscheidungen des einzelnen Übersetzers weitgehend auszuschließen und überprüfen wir die Hypothese der Notwendigkeit aspektueller Überspezifizierungen beim Übersetzen vom Deutschen ins Französische anhand mehrerer französischer Übersetzungen von Goethes Die Leiden des jungen Werther. Ziel einer solchen Untersuchung könnten durchaus quantitative Aussagen zur Verwendung einzelner Verbformen als Entsprechungen des deutschen Präteritums in spezifischen Kontexten sein. Wir beschränken uns hier jedoch auf die Betrachtung einiger Beispiele, die gerade die Wege der textuell-semantischen Spezifizierung illustrieren sollen. Beispiel (34) stellt einen gesamten Brief dar, in dem im ersten Abschnitt gewohnheitsgemäße und wiederholte Verhaltensweisen dargestellt werden, im letzten Abschnitt dagegen ein konkretes Ereignis: Werther trifft ein Dienstmädchen am Brunnen und hilft ihm. In beiden Fällen wird das Präteritum verwendet, das im deutschen Text mit einer Perfektform kontrastiert (was ich schon oft bemerkt habe), die ganz dem klassischen Gebrauch entsprechend eine abgeschlossene und an die Gegenwart heranreichende Folge von Handlungen bezeichnet. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen (34) dt. 289 Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich, besonders die Kinder. Wie ich im Anfange mich zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte über dies und das, glaubten einige, ich wollte ihrer spotten, und fertigten mich wohl gar grob ab. Ich ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste: Leute von einigem Stande werden sich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie, durch Annäherung zu verlieren; und dann gibt’s Flüchtlinge und üble Spaßvögel, die sich herabzulassen scheinen, um ihren Übermut dem armen Volke desto empfindlicher zu machen. Ich weiß wohl, daß wir nicht gleich sind, noch sein können; aber ich halte dafür, daß der, der nötig zu haben glaubt, vom sogenannten Pöbel sich zu entfernen, um den Respekt zu erhalten, ebenso tadelhaft ist als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde verbirgt, weil er zu unterliegen fürchtet. Letzthin kam ich zum Brunnen und fand ein junges Dienstmädchen, das ihr Gefäß auf die unterste Treppe gesetzt hatte und sich umsah, ob keine Kamarädin kommen wollte, ihr es auf den Kopf zu helfen. Ich stieg hinunter und sah sie an. „Soll ich Ihr helfen, Jungfer?“ sagte ich. Sie ward rot über und über. „O nein, Herr!“ sagte sie. „Ohne Umstände.“ Sie legte ihren Kringen zurecht, und ich half ihr. Sie dankte und stieg hinauf. (Goethe 1966 [1774]: 10–11) Die französischen Übersetzer verwenden erwartungsgemäß übereinstimmend im ersten Absatz überwiegend das imparfait und im letzten das passé simple. Sie folgen damit der Vereinbarkeit mit den kontextuell markierten Merkmalen ‛gewohnheitsmäßiges Verhalten’ bzw. ‛einmalige und als herausragend beschriebene Ereignisfolge’. Die Ereignisdarstellung gewinnt außerdem im letzten Abschnitt durch die Kontrastierung der Imperfektform cherchait des yeux une compagne gegen die im passé simple ausgedrückte Handlungsfolge an Relief. Die Übereinstimmung aller drei Übersetzungen in diesen Merkmalen kann sicher als deutlicher Hinweis auf systemhafte Regularitäten und Normen der Textgestaltung betrachtet werden. In anderen, insbesondere lexikalischen Merkmalen weichen die Übersetzungen durchaus erheblich voneinander ab, wobei der Übersetzung 3 offensichtlich die Übersetzung 2 als Hintergrund diente, dem jedoch weit nicht überall gefolgt wird: (34/1) fr. Les bonnes gens du pays me connaissent déjà et ils m’aiment bien, en particulier les enfants. Au début, lorsque je me joignais à eux et leur posais d’amicales questions sur tel ou tel sujet, quelques-uns croyaient que je voulais me moquer d’eux et il leur arrivait de m’éconduire fort grossièrement. Je ne me laissais [!] point rebuter, mais je sentais [!] de la façon la plus vive ce que j’ai déjà souvent remarqué [!]: les personnes d’un certain rang se tiennent toujours avec froideur à distance des gens du commun, comme s’ils croyaient perdre à leur contact ; et puis il est des êtres sans cervelle et de mauvais plaisants qui feignent la condescendance pour que leur arrogance ne soit ensuite que plus sensible aux pauvres gens. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 290 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Je sais bien que nous ne sommes pas égaux, que nous ne pouvons pas l’être ; mais je soutiens que celui qui, pour maintenir le respect, croit nécessaire de s’éloigner de ce qu’on appelle le peuple, est tout aussi blâmable que le poltron qui devant l’ennemi se cache de peur d’avoir le dessous. Récemment, quand j’arrivai à la fontaine, je trouvai une jeune servante qui, sa cruche posée sur la dernière marche, cherchait des yeux une compagne capable de l’aider à la mettre sur sa tête. Je descendis et la regardai: « Puis-je vous être utile, mademoiselle? » demandai-je. Elle rougit jusqu’aux oreilles. « Oh! non, monsieur, dit-elle. – Sans façons » Elle arrangea son coussinet et je lui vins en aide. Elle me remercia, puis remonta les marches. (= Goethe/ Angelloz: 50/51) (34/2) fr. Les bonnes gens du hameau me connaissent déjà ; ils m’aiment beaucoup, surtout les enfants. Il y a peu de jours encore, quand je m’approchais d’eux, et que, d’un ton amical, je leur adressais quelque question, ils s’imaginaient que je voulais me moquer d’eux et me quittaient brusquement. Je ne m’en offensai [!] point, mais je sentis [!] plus vivement la vérité d’une observation que j’avais déjà faite [!]. Les hommes d’un certain rang se tiennent toujours à une froide distance de leurs inférieurs, comme s’ils craignaient de perdre beaucoup en se laissant approcher ; et il se trouve des étourdis et de mauvais plaisants qui n’ont l’air de descendre jusqu’au pauvre peuple qu’afin de le blesser encore davantage. Je sais bien que nous ne sommes pas égaux, que nous ne pouvons l’être ; mais j’estime que celui qui se croit obligé de se tenir éloigné de ce qu’on nomme la populace, pour s’en faire respecter, ne vaut pas mieux que le poltron qui, de peur de succomber, se cache devant son ennemi. Dernièrement je me rendis à la fontaine, j’y trouvai une jeune servante qui avait posé sa cruche sur la dernière marche de l‘escalier, elle cherchait des yeux une compagne qui l’aidât à mettre le vase sur sa tête. Je descendis, et je la regardai : « Voulez-vous que je vous aide, mademoiselle? » lui dis-je. Elle devint rouge comme le feu. « Oh! monsieur, répondit-elle... – Allons, sans façons ». Elle arrangea son coussinet et j’y posai la cruche. Elle me remercia, et remonta les marches. (= Goethe/Groethuysen: 37) (34/3) fr. Les gens modestes du pays me connaissent déjà ; ils m’aiment beaucoup, surtout les enfants. Il y a peu de jours encore, quand je m’approchais d‘eux et que d’un ton amical je leur adressais quelque question, ils s’imaginaient que je voulais me moquer d’eux, et me quittaient brusquement. Je ne m’en offensai [!] point, mais je sentis [!] plus vivement la vérité d’une observation que j’avais déjà faite [!]. Les hommes d’un certain rang se tiennent toujours à une froide distance de leurs inférieurs, comme s’ils craignaient de perdre beaucoup en approchant d’eux; et il se trouve des étourdis et des mauvais plaisants qui n’ont l’air de descendre jusqu’au pauvre peuple qu’afin de le blesser encore davantage. Je sais bien que nous ne sommes pas tous égaux, que nous ne pouvons l’être ; mais je soutiens que celui qui se croit obligé de se tenir éloigné de ce qu’on nomme le peuple, pour s’en faire respecter, ne vaut pas mieux que le poltron qui, de peur de succomber, se cache devant son ennemi. Dernièrement je me rendis à la fontaine, j‘y trouvai une jeune servante Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen 291 qui avait posé sa cruche sur la dernière marche de l‘escalier, elle cherchait des yeux une compagne qui l’aidât à mettre le vase sur sa tête. Je descendis, et je la regardai : « Voulez-vous que je vous aide, mademoiselle? » lui dis-je. Elle devint rouge comme le feu. « Oh! monsieur, répondit-elle... – Allons, sans façons ». Elle arrangea son coussinet et j’y posai la cruche. Elle me remercia, et partit aussitôt. (= Goethe/Leroux: 46–47) Interessant sind in unserem Zusammenhang die in den Texten mit Ausrufezeichen gekennzeichneten Fälle, in denen die Übersetzer den durch die aspektuelle Unspezifik des deutschen Präteritums eröffneten Deutungsspielraum unterschiedlich nutzten und zu gegensätzlichen Lösungen in der im Französischen notwendigen Überspezifizierung kamen. Dies betrifft die Übersetzung des Satzes Ich ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste. Während die Übersetzung 1 das Präteritum von ließ und fühlte im Französischen ins Imperfekt transponiert und somit in die Reihe der wiederholt auftretenden Verhaltensweisen einordnet, wählen die Übersetzungen 2 und 3 das passé simple, das zumindest eine ganzheitliche, wenn nicht gar eine semelfaktive Deutung vorgibt. Im gleichen Satz wird das deutsche Perfekt vom ersten Übersetzer einfach in das französische passé composé transkodiert (j’ai déjà souvent remarqué), während es in der 2. und 3. Übersetzung allein schon aufgrund der Relation zum passé simple im Satz nicht passen würde. Auch der funktional ausgedehnte Gebrauch des passé composé im heutigen Französischen entspricht nicht dem bei Goethe vorauszusetzenden Sinn. Der genaue Ausdruck der Vorzeitigkeit erfordert hier des plus-que-parfait; außerdem wird der einfache Komplementierer was nicht zu ce que, sondern als Objekt von sentis erscheint eine komplexe Nominalgruppe mit zweifacher syntaktischer Unterordnung und erheblicher semantischer Überspezifizierung gegenüber dem deutschen Original: la vérité d’une observation que j’avais déjà faite. Als Entsprechung des Perfekts im deutschen Original wird das passé composé in den französischen Übersetzungen vor allem verwendet, um die Realität und Lebendigkeit einer vergangenen Handlung zu unterstreichen. Kontextuell tritt dabei ein Kontrast zum passé simple als der neutralen Erzählform von ganzheitlich dargestellten Handlungen auf. Aber auch in der Nutzung dieses Kontrasts verfahren die Übersetzer unterschiedlich, was mit Anlehnungen an den heutigen französischen Sprachgebrauch zusammenhängen mag, jedoch in der Verwendung des passé composé anstelle des passé simple gerade nicht typisch für neuere Goethe-Übersetzungen ist: (35) dt. Aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. [...] Vor wenigen Tagen traf ich einen jungen V. an, einen offenen Jungen mit einer gar glücklichen Gesichtsbildung. (Goethe 1966 [1774]: 12) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 292 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen (35/1) fr. Mais je l’ai connue, j’ai senti ce cœur, cette âme noble, en présence de laquelle j’avais le sentiment d’être plus que dans la réalité, parce que j’étais tout ce que je pouvais être. [...] Il y a peu de jours, j’ai rencontré (!) un jeune homme du nom de V..., adolescent d’esprit ouvert et doté d’une très heureuse physionomie. (Goethe/Angelloz, 51/52) (35/2) fr. Mais je l’ai possédée, cette amie; j’ai senti ce cœur, cette grande âme, en présence de laquelle je croyais être plus que je n’étais, parce que j’étais tout ce que je pouvais être. [...] Je rencontrai (!), il y a quelques jours, le jeune V...Il a l’air franc et ouvert; sa physionomie est fort heureuse. (Goethe/ Groethuysen, 38/39), identisch in (Goethe/Leroux, 47/48). Wenn der Vergleich mehrerer Übersetzungen in eine Zielsprache mit höherer Differenzierung innerhalb der betrachteten Kategorie Notwendigkeiten und Spielräume der Spezifizierung verdeutlichen kann, müsste im umgekehrten Fall eines Differenzierungsgefälles die im Ausgangstext enthaltene Verstehensvorgabe reduziert oder ein Ausgleich des Informationsverlustes mit anderen Mitteln erwartet werden. Wir werden diese Stufe für den bilateralen Vergleich überspringen und gleich Übersetzungen aus einer Sprache mit hoher und systematisch zwingender aspektueller Differenzierung in mehrere romanische Sprachen und ins Deutsche betrachten. 3.5.4. Vergleich der Übersetzungen eines Textes in mehrere Zielsprachen Als Ausgangstext soll für diesen Zweck Lev Tolstois Anna Karenina (1878) gewählt werden. Bei den Übersetzungen beschränken wir uns auf jeweils eine französische, eine spanische und eine deutsche. Eine häufige Korrespondenz zwischen dem Imperfekt in den romanischen Sprachen und dem imperfektiven Verb, das im Russischen in systematischer Aspektkorrelation steht, bestätigt sich erwartungsgemäß im Vergleich der Texte und soll hier nur durch die Beispiele unter (36) illustriert werden.44 In der deutschen Übersetzung wird das Präteritum verwendet, was durch den Kontext der Beschreibung einer familiären Situation unproblematisch ist: (36) ru. Жена не выходилаimpf. из своих комнат мужа третий день не было impf дома. (Tolstoj 1958 [1878]: 7) (36) fr. La maîtresse de maison ne sortait plus de sa chambre ; le mari était absent depuis trois jours; (Tolstoj/Maurois: 17) (36) sp. La esposa no salía de sus habitaciones. El marido no entraba allí en todo el día. (Tolstoj/Sureda: 9) _____________ 44 Zur Wiedergabe russischer Verbkategorien im Französischen vgl. Kunert (1984). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen 293 (36) dt. Die Frau des Hauses verließ ihre Zimmer nicht, der Hausherr war seit zwei Tagen nicht zu Hause gewesen. (Tolstoj/Asemissen: 5) (36) dt. Die Frau des Hauses kam nicht aus ihren Räumen, ihr Mann war den dritten Tag nie daheim. (Tolstoj/Tietze: 7) Während Asemissen die zweite Handlung in diesem Beispiel durch die Verwendung des Plusquamperfekts sogar als zurückliegend markiert, verwendet Tietze in einer moderneren (war seit zwei Tagen nicht zu Hause gewesen) Übersetzung die Konstruktion war den dritten Tag nie daheim, die ein Andauern der Situation nahelegt. Ebenso regelmäßig findet sich die Wiedergabe perfektiver russischer Verbformen mit dem einfachen Perfekt in den romanischen Sprachen, während in beiden deutschen Übersetzungen das Präteritum verwendet wird: (37) ru. «Там видно будет, сказалpf. себе Степан Аркадьич и, вставpf.Adverbialpartizip, наделpf. серый халат на голубой шёлковой подкладке, закинулpf. кисти узлом и, вдоволь забравpf.Adverbialpartizip воздуха в свой широкий грудной ящик, привычным бодрым шагом вывернутых ног, так легко носивших его полное тело, подошёлpf. к окну, поднялpf. стору и громко позвонилpf.. (Tolstoj 1958 [1878]: 10) (37) fr. « Plus tard, je verrai! » se dit Stépan Arkadevitch. Se levant, il endossa une robe de chambre grise doublée de soie bleu clair, noua la ceinture, et faisant provision d’air dans sa large poitrine, de son pas habituel, ferme sur les jarrets musclés, malgré le poids de son corps puissant, il s’approcha de la fenêtre, souleva le store et sonna très fort. (Tolstoj/Maurois: 21) (37) sp. «Ya veremos – murmuró, levantándose –. El tiempo todo le resuelve.»45 Se puso la bata gris con forros de seda azul y ató los cordones, respiró hondo hasta llenar de aire los pulmones con lo que se dilató aún más su ancha caja torácica; y, andando con aquel paso firme y ligero que quitaba a su recio cuerpo toda aparencia de falta de agilidad, llegóse a la ventana, separó las cortinas y tiró con fuerza del cordón de la campanilla. (Tolstoj/Sureda: 12) (37) dt. Dann werden wir weitersehen, sagte Stepan Arkadjitsch, während er seinen grauen, mit blauer Seide gefütterten Schlafrock anzog und den an den Enden mit Troddeln versehenen Gürtel zu einer Schleife zusammenband; dann sog er die Luft mit Behagen in seinen breiten Brustkorb, ging mit seinen nach außen gekehrten Füßen, die seinen Körper so elastisch trugen, forschen Schrittes ans Fenster, zog den Vorhang zurück und setzte energisch die Klingel in Bewegung. (Tolstoj/Asemissen: 9) _____________ 45 Der in der spanischen Übersetzung auffällige Zusatz El tiempo todo le resuelve ist schwer erklärbar und im Grunde redundant. Möglicherweise erschien dem Übersetzer die konventionelle Verbalisierung mit Ya veremos nicht expressiv genug. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 294 (37) dt. Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen ›Wird sich schon weisen‹, sagte sich Stepan Arkadjitsch, stand auf, schlüpfte in den grauen Morgenrock mit dem himmelblauen Seidenfutter, band den Quastengürtel zur Schleife, sog tief die Luft in seinen breiten Brustkasten, und auf den ausgestellten Füßen, die so leicht seinen fülligen Leib trugen, ging er gewohnten, munteren Schrittes zum Fenster, zog den Vorhang auf und läutete laut. (Tolstoj/Tietze: 11–12). Auf größere systematische Schwierigkeiten trifft offensichtlich die Wiedergabe der Adverbialpartizipien der Vorzeitigkeit, die im Russischen genauso Perfektivität ausdrücken und die Aufeinanderfolge der Handlungen unterstreichen. Weder in der französischen noch in der spanischen Übersetzung findet sich jedoch diese Funktion berücksichtigt, die Übersetzer behalten vielmehr das formal-syntaktische Kriterium bei. Da es ein analoges Adverbialpartizip nicht gibt, wird das Partizip Präsens verwendet, das gerade nicht Abgeschlossenheit und Vorzeitigkeit, sondern Gleichzeitigkeit mit der vom finiten Verb bezeichneten Handlung ausdrückt. In den deutschen Übersetzungen trifft man auf die bereits bekannte Unspezifik des Präteritums, die punktuell durch die Setzung von Akzenten im Bereich der Aktionsarten aufgelockert wird. 3.5.5. Ein Beispiel für Schlussfolgerungen aus dem Übersetzungsvergleich: Aspektcluster Für die begriffliche Basis eines Übersetzungsvergleichs von Aspektclustern aus Verbalperiphrasen und möglicherweise konfligierenden Formen des Auxiliars sei an Coserius Arbeit zum romanischen Verbalsystem erinnert. Coseriu (1976: 115) war von einem dreistufigen Verbalsystem der romanischen Sprachen ausgegangen, in dem die Bestimmung spezieller aspektueller Werte für jeden Zeitpunkt lediglich einem tertiären System zugeschrieben wird. Dabei hatte er zwischen der kursiven Betrachtung einer Handlung als parallel zu einer anderen und ihrer komplexiven Darstellung außerhalb ihres Ablaufs als Ganzes unterschieden (Coseriu 1976: 94). Mit der Einführung dieser Kategorie der Schau in die Aspektproblematik wird so der subjektiven Wählbarkeit in Abhängigkeit von der Sprecherintention Rechnung getragen, die in Sprachen mit morphologischer Aspektkorrelation nicht gleichermaßen gegeben ist. Eine Auflösung der Betrachtung der Handlung zwischen den zwei Punkten A und B ihres Ablaufs in verschiedene Möglichkeiten erlaubt außerdem eine sinnvolle Ordnung der verschiedenen Verbalperiphrasen, wie sie in der folgenden Übersicht im Anschluss an Coseriu (1976: 100) für das Spanische gegeben wird: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM Aspektualität in literarischen Übersetzungen 295 estar haciendo (Winkelschau: Handlung zwischen zwei Punkten A und B, die in C zusammenfallen können) venir haciendo (retrospektive Schau) ir haciendo (prospektive Schau) andar haciendo (komitative Schau: Begleitung der Verbalhandlung zu verschiedenen Momenten ihres Ablaufs) seguir haciendo (kontinuative Schau) A C B Das Problem besteht nun darin, dass Verbalperiphrasen in den iberoromanischen Sprachen eine Kombination aus partialisierender Innensicht und Markierung der Begrenztheit der Handlung zulassen: sp. Estuve trabajando todo el día, pt. estive a trabalhar o dia inteiro. Dagegen sagt man nicht *Hier j’étais en train de lire toute la journée. Wollte man dies wie Squartini als zurückgebliebene Grammatikalisierung von imperfektiver Aspektualität deuten, so müsste man diese auch dem derivativen Ausdruck des Verbalaspekts im Russischen zuschreiben (vgl. oben 3.3.3.). Für die textuelle Ausprägung der Funktionen der STARE+GerundiumPeriphrase im Spanischen gibt es im Anna-Karenina Korpus durchaus interessante Hinweise. Im Russischen ist allein schon aufgrund des morphologischen Ausdrucks der Aspektkorrelation kein entsprechendes Auftreten von Periphrasen zu erwarten: (38) ru. Когда Анна вошлаpf. в комнату, Долли сиделаimpf. в маленькой гостиной с белоголовым пухлым мальчиком, уж теперь похожим на отца, и слушалаimpf. его урок из французского чтения (Tolstoj 1958 [1878]: 10) (38) fr. Quand Anna sonna, Dolly était assise, dans le petit salon, en compagnie d’un gros bébé qui avec sa chevelure blonde ressemblait déjà à son père. Elle lui donnait une leçon de français. (Tolstoj/Maurois: 96) (38) sp. Cuando Ana entró en el saloncito, Dolly estaba tomando la lección de Francés a un niño gordito, con la cabeza rubia, el vivo retrato de su padre. (Tolstoj/ Sureda: 90) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 296 (38) dt. Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Anna traf Dolly in einem kleinen Wohnzimmer an, wo sie ihrem semmelblonden, pausbäckigen Söhnchen, das schon jetzt dem Vater sehr ähnlich war, seine französische Leseübung abhörte. (Tolstoj/Asemissen: 94) Die Imperfektivität wird in der spanischen Übersetzung durch die estar+Gerundium-Periphrase noch unterstrichen, wobei das Auxiliar im Imperfekt zusätzlich die Innensicht verstärkt. Der französische Übersetzer bedient sich des Wechselspiels von imparfait und passé simple und löst dabei den Satz auf. Im Deutschen wird die Handlung des Hineingehens nur noch präsupponiert und als Antreffen verbalisiert, ein telisches Verb, das die mangelnden Ausdrucksmöglichkeiten perfektiver Aspektualität zumindest im Hinblick auf den resultativen Charakter kompensiert. Analoges ließe sich zum folgenden Beispiel sagen. Das im Ausgangstext auftretende Verb ждать, das sowohl ein ungerichtetes als auch ein etwas erhoffendes Warten meinen kann, wird im Spanischen durch desear vereindeutigt, das als Gerundium in der Periphrase mit einem imperfektiven Auxiliar auftritt. In der deutschen Übersetzung wird das Fehlen einer imperfektiven Verbform durch ein Adverbial (nur noch) kompensiert: (39) ru. Левин не слушалimpf. больше и ждалimpf. когда уедетpf. профессор. (Tolstoj 1958 [1878]: 34) (39) fr. Lévine n’écoutait plus. Il attendait le départ du professeur. (Tolstoj/Maurois: 46) (39) sp. Levin ya no escuchaba. Estaba deseando que se fuese. (Tolstoj/Sureda: 40) (39) dt. Lewin hörte nicht mehr zu und wartete nur noch darauf, daß der Professor sich verabschiedete. (Tolstoj/Asemissen: 32) Für eine analytische Betrachtung der estar+Gerundium-Periphrase im Spanischen scheint es uns im Unterschied zu Squartinis Interpretation sinnvoller, der Nominalform des Verbs zunächst die lexikalische Primärbedeutung für die Bezeichnung der Handlung, der periphrastischen Konstruktion als solcher eine partikularisierende Öffnung des Blicks auf das Innere der Handlung und der finiten Form des Auxiliars die Möglichkeit einer komplexiven oder nicht kontinuativen Sicht zuzuschreiben. Gerade die Tatsache, dass die Periphrase sowohl mit perfektiven als auch imperfektiven Auxiliarformen verwendet werden kann, spricht für einen hohen Grad der Integration in das grammatische System. Die Ausdrucksmöglichkeiten der Aspektualität stellen sich zum Beispiel im russischen Ausgangstext (AT) und im spanischen Zieltext (ZT) folgendermaßen dar: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 297 Aspektualität in literarischen Übersetzungen Träger Bedeutung Funktion lexikalische Primär- AT: Verbalstamm (брать: беру, Bezeichnung der bedeutung Handlung берёшь) ZT: Nominalform des Verbs sp. estaba tomando vgl. dagegen: fr. donnait imperfektive As- AT: Aspektkorrelation (брать Öffnung des Blicks pektualität vs. взять) auf das Innere der ZT: periphrastische Konstruktion als Handlung solche estaba tomando kursiv oder global AT: Möglichkeiten der Derivation: Möglichkeit einer (брать vs. убрать/убирать) komplexiven oder ZT: finite Form des Auxiliars nicht komplexiven estaba tomando : estuvo tomando Sicht Dass in den Übersetzungen unseres Beispieltextes insbesondere im Spanischen periphrastische Ausdrucksmöglichkeiten gewählt werden, lässt sich auch anhand von Periphrasen dokumentieren, die mit ursprünglichen Verben der Bewegung gebildet sind. Im folgenden Beispiel akzentuiert das Imperfekt in iba a ser das epistemische Merkmal der inneren Reflexion. Die in der französischen Übersetzung auftretenden Konstruktionen arrivait à peine à élever und voulait aller drücken ebenso wie die Häufung des imperfektiven Aspekts im Russischen eine Art Schwebezustand der Handlung aus. Dieselbe Funktion erfüllt im Spanischen die Konstruktion pensaba llevarlos. In der deutschen Übersetzung verdeutlicht die Verwendung des Konjunktivs, dass es sich um eine innere Reflexion handelt: (40) ru. Кроме того, она чувствовалаimpf., что если здесь, в своём доме, она едва успевалаimpf. ухаживатьimpf. за своими пятью детьми, то им будет ещё хуже там, куда она поедетpf. со всеми ими. (Tolstoj 1958 [1878]: 17) (40) fr. En outre, elle sentait que si chez elle, dans sa maison, elle arrivait à peine à élever convenablement ses cinq enfants, cela lui serait encore plus difficile là où elle voulait aller. (Tolstoj/Maurois: 28) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM 298 Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen (40) sp. Por otra parte, reconocía que, si en su propia casa le costaba tanto atender a sus hijos, peor iba a ser esto en la casa donde pensaba llevarlos. (Tolstoj/Sureda: 20) (40) dt. Zudem dachte sie daran, daß es ihr schon hier im eigenen Hause schwergefallen war, mit ihren fünf Kindern allen Anforderungen gerecht zu werden, und daß es damit an jedem andern Ort, wenn sie mit der ganzen Kinderschar hinkäme, noch schlechter bestellt sein würde. (Tolstoj/Asemissen: 16) Der Übersetzungsvergleich vermag einer Tendenz innerhalb der funktionalen Sprachbetrachtung entgegenzuwirken, nach der Kategorisierungen rein begrifflich-formal und ohne Rücksicht auf die gegebenen einzelsprachlichen Bedeutungsverhältnisse vorgenommen werden. Als produktiv erweist sich dabei sowohl ein Ausloten der gegebenen Spielräume bei einem Differenzierungsanstieg zwischen Ausgangs- und Zielsprache als auch der Vergleich einer ausgangssprachlich hoch spezifizierten und morphologisch ausgeprägten Kategorie mit Übersetzungen in Zielsprachen, in denen weniger obligatorische Differenzierungen vorliegen. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/17/16 8:35 AM