1. Dekonstruktion und kommunikative Rationalität Am 22. September 2001 erhielt Jacques Derrida den Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt. In seiner Dankensrede Die Sprache des Fremden und das Räubern am Wege kommt Derrida auf ein »erträumtes Buch« zu sprechen. Würde es eines Tages geschrieben, »um die Geschichte, die Möglichkeit und die Gunst dieses [, d. h. des Theodor-W.-Adorno-]Preises [2001] zu interpretieren«, hätte es mindestens sieben Kapitel. Das fünfte Kapitel enthielte »eine genau differenzierende Geschichte der Widerstände und Missverständnisse (eine Geschichte, die, seit kurzem, weitgehend vergangen, aber vielleicht noch nicht überwunden ist) zwischen deutschen Denkern, die für mich auch respektierte Freunde sind, ich meine Jürgen Habermas und Hans-Georg Gadamer, und auf der anderen Seite den französischen Philosophen meiner Generation«. In diesem Kapitel würde zu zeigen versucht, »dass ungeachtet der Differenzen zwischen diesen beiden grossen Debatten (sie mögen explizit oder implizit, direkt oder indirekt geführt worden sein) die Missverständnisse stets um die Interpretation und Möglichkeit des Missverständnisses selber kreisen, um den Begriff des Missverständnisses, auch des Dissenses, des Anderen und der Singularität des Ereignisses, und folglich um das Wesen des Idioms, das Wesen der Sprache, jenseits ihres unleugbaren und notwendigen Funktionierens, jenseits ihrer kommunikativen Verständlichkeit«.1 Die vorliegende Arbeit nimmt die genannten Hinweise auf. Die »Geschichte der Widerstände und Missverständnisse« mag 2001 in der Tat weitgehend vergangen zu sein. Der Ton ist jedenfalls moderater geworden. Jürgen Habermas sagt in seiner Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, dass auf einen gewissen Adorno – auf Adorno, der angesichts der an sich selbst verzweifelten Vernunft sich der Hilfe des messianischen Standpunktes versichert2 – 1 Derrida, Die Sprache des Fremden und das Räubern am Wege, 14. 2 Habermas bezieht sich auf den ersten Halbsatz von Adorno, Minima Moralia, 333: »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.« 20 Dekonstruktion und kommunikative Rationalität »der Satz zutrifft, den Horkheimer auf die Kritische Theorie insgesamt gemünzt hat: ›Sie weiss, dass es keinen Gott gibt, und doch glaubt sie an ihn.‹ Unter anderen Prämissen bezieht heute Jacques Derrida eine ähnliche Stellung – auch in dieser Hinsicht ein würdiger Adorno-Preisträger. Zurückbehalten will er vom Messianismus nur noch ›das kärgliche Messianistische, das von allem entkleidet sein muss‹.«3 Im Gegensatz dazu verwahrt sich Habermas noch anfangs der 90er Jahre gegen »ästhetische Assimilationen«, die er in Derridas Arbeit Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität« zu erkennen glaubt.4 Und 1980 – Habermas hat selbst gerade den Theodor-W.-Adorno-Preis erhalten – ist abweisend von »Jungkonservativen« die Rede, die sich die »Grunderfahrung der ästhetischen Moderne« zu eigen machen, »mit modernistischer Attitude« einen »unversöhnlichen Antimodernismus« begründen und der instrumentellen Vernunft »manichäisch ein nur noch der Evokation zugängliches Prinzip« entgegensetzen würden – sei es nun »der Wille zur Macht oder die Souveränität, das Sein oder eine dionysische Kraft des Poetischen«. Und weiter heisst es: »In Frankreich führt diese Linie von George Bataille über Foucault zu Derrida«.5 Nach dem 11. September 2001 hat sich eine enge Zusammenarbeit zwischen Habermas und Derrida auf dem Gebiet der öffentlichen Einflussnahme eingestellt. Am 31. Mai 2003 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Aufsatz Der 15. Februar oder : Was die Europäer verbindet.6 Der Text wurde – was leicht zu erkennen ist – von Habermas verfasst. Derrida hat ihn mitunterzeichnet und teilt dessen massgebliche Prämissen und Perspektiven, namentlich »die Bestimmung von neuen europäischen politischen Verantwortungen jenseits jeden Eurozentrismus, den Aufruf zu einer erneuten Bestätigung und effektiven Veränderung des internationalen Rechts und seiner Institutionen, insbesondere der UNO, eine neue Konzeption und eine neue Praxis der Verteilung der Staatsgewalten etc. in einem Geist, wenn nicht gar in einem Sinn, die auf die Kantische Tradition verweisen«.7 Derrida selbst äussert sich in einem am 22. Oktober 2001 geführten Gespräch mit Giovanna Borradori in ähnlicher Weise. Zur Sprache kommt die Notwendigkeit »ein[es] neue[n] internationale[n] Recht[s], eine[r] neue[n] internationale[n] Truppe im Dienst der neuen internationalen Institutionen usw., eine[s] neuen Begriff[s], eine[r] neue[n] konkrete[n] Gestalt der Souveränität, andere[r] Namen vermutlich für all die zukünftigen Dinge« sowie die Bedeutung der »Stimmen aus Europa« – auch wenn, oder gerade weil es unsicher sei, ob »Europa oder die Europäische Gemeinschaft 3 Habermas, Glauben und Wissen, 27 f. Das Derrida-Zitat ist Derrida, Glaube und Wissen, 33 entnommen. 4 FuG 11. 5 Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, 24 f. 6 Habermas / Derrida, Der 15. Februar oder: Was die Europäer verbindet, 33 f. 7 Habermas, Der gespaltene Westen, 43. Dekonstruktion und kommunikative Rationalität 21 so, wie sie existiert oder sich de facto ankündigt«, sich auf ein »Europa im Kommen« (Giovanna Borradori8) zubewegte.9 Ungeachtet der Gemeinsamkeiten hinsichtlich der neuen Aufgaben für Europa und der Zukunft der Institutionen des internationalen Rechts ist es zu einer Annäherung in den philosophischen Grundstellungen allerdings nicht gekommen. Von einer Ausräumung, einer Überwindung der »Geschichte der Widerstände und Missverständnisse« kann jedenfalls keine Rede sein. Die Differenzen bestehen, trotz moderaterem Ton10, auch noch in den jüngsten Arbeiten. Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass die (oftmals auch verdeckten) Debatten zwischen Habermas und Derrida einen Brennpunkt der Gegenwartsphilosophie von erstrangiger Bedeutung darstellen. Sie unternimmt den Versuch, die entsprechenden Arbeiten aufeinander zu beziehen und ihr Verhältnis zueinander zu entwickeln. Dabei verfolgt sie zwei Ziele. Einerseits soll vor dem Hintergrund der von Habermas vertretenen Formalpragmatik zu einem angemessenen Verständnis der Arbeiten von Derrida beigetragen werden – eines Denkers, der unter dem Wort »Dekonstruktion« bekannt wurde, der dieses Wort selbst (mit)geprägt hat, von dem er – 1980, anlässlich der Verteidigung seiner thÀse de doctorat d’Etat – aber auch sagt, dass er es »niemals gemocht« und sein »Schicksal« ihn »unangenehm überrascht« hat.11 Denn es habe seinem Denken das »Schicksal« beschieden, zum »Ismus«, eben: zum »Dekonstruktivismus« zu werden und mit diesem »Ismus« werde ihm wieder ein Streben nach einer Ordnung, einer einheitlichen, damit aber auch begrenzten Ordnung unterstellt.12 Derrida und Habermas werden aber nicht nur in eine begrifflich kohärente Perspektive gerückt. Die vorliegende Arbeit konfrontiert auch mit zentralen Problemen heutiger Aufklärungspraxis und zeitgenössischer Vernunft-, oder besser : Metaphysikkritik und skizziert einen Ausweg – allerdings, wie Derrida sagen würde, einen aporetischen, d. h. (aus)weglosen Ausweg.13 Damit wird der von Habermas aufgespannte Kategorienrahmen gesprengt. Dem Ausräumen von Missverständnissen, auch was die »Interpretation und Möglichkeit des Missverständnisses selber« anbelangt, den »Begriff des Missverständnisses, auch des Dissenses, des Anderen und der Singularität des Ereignisses«, das »Wesen des Idioms, das Wesen der Sprache, jenseits ihres unleugbaren und notwendigen Funktionierens, jenseits ihrer kommunikativen Verständlichkeit« (Derrida), kommt – letztlich – keine Vordringlichkeit mehr zu. Die vorliegende Untersuchung setzt bei der Kritik an, die Habermas im 8 9 10 11 12 13 Habermas / Derrida, Philosophie in Zeiten des Terrors, 219. Ebd. 157 f. Vgl. dazu etwa auch Gondek / Waldenfels, Derridas performative Wende, 7. Derrida, Punktierungen – die Zeit der These, 32. Vgl. dazu etwa Stegmaier, Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit, 166. »Eine aporia ist das, was kein Weg ist« (GdA 33). 22 Dekonstruktion und kommunikative Rationalität Diskurs der Moderne an Derrida übt. Diese besagt in der Hauptsache, dass der »im Zeichen der Postmoderne angetretene Philosoph«14 in seinen Arbeiten nicht zwischen Philosophie und Literatur unterscheide, sondern den philosophischen Text zum scheinbar literarischen Text bloss verfremde. Die massgebende Schrift (Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur) mag nicht die subtilste Arbeit von Habermas sein – in der Literatur wird etwa von einer »massiven, wenn nicht gar plumpen Begrifflichkeit sowie einem binär strukturierten, schematischen Reduktionismus« (Rodolphe Gasch¦) gesprochen.15 Sie eignet sich allerdings, auch wenn sie ihren Gegenstand über eine Sekundärliteratur (Jonathan Culler16) erschliesst, in ausgezeichneter Weise, das infrage stehende Problemfeld zu eröffnen – zumal die zentralen Kritikpunkte auch noch in den neueren Arbeiten, wie etwa in den Studien- und Aufsatzsammlungen Die Einbeziehung des Anderen (1996) und Wahrheit und Rechtfertigung (1999), vertreten werden. Die Habermas’sche Kritik will nicht hinter das von Martin Heidegger und Theodor W. Adorno erreichte Niveau zurückfallen. Sie berücksichtigt die »zweite Stufe der Ideologiekritik« (Habermas) – und wird vom Begriff der kommunikativen Rationalität organisiert. Massgebend ist nicht mehr das »Paradigma der Erkenntnis von Gegenständen«, sondern das »Paradigma der Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten«.17 Nach Eröffnung des Themas wird der Begriff der kommunikativen Rationalität in seinem gesamten Umfang rekonstruiert. Dies setzt voraus, dass a) der transzendental ansetzenden formalpragmatischen Untersuchung des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs bzw. der sprachphilosophischen Frage nach den notwendigen Bedingungen möglicher Verständigung nachgegangen wird und b) die entsprechenden Grundbegriffe (Äusserung, Illokution, Performativa und Konstativa / Regulativa / Repräsentativa, Verständigung, Verstehen und Verständigen, Kommunikation, Intersubjektivität, Argumentation, Wahrheit / Richtigkeit / Wahrhaftigkeit) entfaltet werden. Anschliessend wird die Beziehung zwischen kommunikativer und epistemischer bzw. teleologischer Rationalität erörtert und das Verhältnis zwischen zweckrationalem und kommunikativ(rational)em Handeln geklärt. Um den Ergebnissen zusätzliches Gewicht zu verleihen, wird hervorgehoben, dass es sich beim Hörer auch um den Sprecher als fiktive zweite Person handeln kann. Die Erarbeitung des Begriffs der kommunikativen Rationalität stützt sich auf die neueren Schriften und den darin enthaltenen Revisionen. Die älteren Ar14 EdA 396. 15 Gasch¦, Eine sogenannte »literarische« Erzählung: Derrida über Kafkas »Vor dem Gesetz«, 258. 16 Culler, On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism. 17 DdM 345 f. Dekonstruktion und kommunikative Rationalität 23 beiten (wie etwa die Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns) werden beigezogen, wenn a) es die Lückenlosigkeit und Vollständigkeit der Darstellung erfordert oder b) die genannten Revisionen gewisse Schwierigkeiten aufwerfen, also Grundlagen der Formalpragmatik widersprechen, die – wie etwa die sprachliche Imprägnierung der Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsbedingung – auch noch in den neueren Schriften vertreten werden. Problematisiert wird etwa das in der Diskussion mit Hilary Putnam gewonnene »Konzept des Lernens aus Erfahrung«, der in der Auseinandersetzung mit Richard Rorty entwickelte pragmatische Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsbegriff sowie das im Anschluss an Herbert Schnädelbach gebildete »Modell der verzahnten Rationalitätsstrukturen«. Hinterfragt wird darüber hinaus die These von der Entscheidbarkeit des illokutionären Erfolgs sowie die Dreiteilung der Welt, d. h. die Aufteilung in eine äussere, soziale und innere Welt, von der Habermas annimmt, dass sie der Sprecher immer schon zugrunde legt. Die Rekonstruktion des Begriffs der kommunikativen Rationalität berücksichtigt also nicht nur seine Entwicklungsgeschichte, sondern ist auch immanent-kritisch, misst ihn mithin an seinen eigenen Voraussetzungen – und lässt, trotz Weltbezug und Geltungsreflexion, in gewissem Sinne wieder die Nähe zu Gadamers Wahrheit und Methode erkennen. Zudem geht sie einher mit einer schrittweisen Markierung und Freilegung seiner Bedingungen. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das lebensweltliche Hintergrundwissen. Der »Geltungsvorschuss vorgängig konsentierter, eben lebensweltlicher Gewissheiten« trägt nämlich die »Last der Plausibilisierung von Geltungsansprüchen«.18 Er steht Dissens, Widerspruch und Nichtübereinstimmung (letztlich) entgegen – und bildet die Grundlage einer gelungenen Verständigung. Bevor die Position, oder besser : die Position ohne Position, die positionslose Position bei Derrida eingeführt und auf die entfaltete Formalpragmatik bezogen wird, wird die Untersuchung auf Moral, Recht und Politik ausgedehnt, aus den Kriterien (Massstäben), die im verständigungsorientierten Sprachgebrauch angelegt sind, Diskurs- und Demokratieprinzip entwickelt und den starken (hobbesianischen) und schwachen (kantianischen) Vertragstheorien sowie der Politik des Rechten und der Politik des Guten gegenübergestellt. Kristallisationspunkt bildet dabei die rationale Akzeptabilität / Behauptbarkeit bei idealen Bedingungen – und damit auch die Offenheit gegenüber Differenzen, gegenüber dem Besonderen und Singulären, gegenüber verschiedenen Bedürfnissen, Interessen und Werten, gegenüber Politiken des Rechten und Politiken des Guten, etc. Kritik wird auch hier nur dann geübt, wenn, wie bei der Einführung des Universalisierungsgrundsatzes oder bei der Begründung des internen Zusammenhangs zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität, auf Vorausset18 ND 89. 24 Dekonstruktion und kommunikative Rationalität zungen zurückgegriffen wird, die sich aus der (entfalteten) Formalpragmatik nicht entnehmen lassen. Da sowohl Diskurs- als auch Demokratieprinzip von der – durchaus nicht unumstrittenen – soziologischen Stabilitätsthese (Max Weber) zehren, wird ein alternatives Begründungsmodell vorgestellt. Der Vorwurf, Dissense würden bei Habermas nur »als temporäre Hindernisse auf dem Weg zum Konsens« angesehen (Chantal Mouffe19), wird zurückgewiesen. Anhand der Ausdehnung des Untersuchungsgegenstandes auf Moral, vor allem aber auf Recht und Politik, lässt sich zweifellos die Leistungsfähigkeit des diskurstheoretischen Ansatzes zeigen. Das Potential der Diskurstheorie erschliesst sich insbesondere dann, wenn sie weniger unter dem Gesichtspunkt ihrer Begründung gelesen wird, sondern als »Kritische Theorie«, die Politik und demokratischen Rechtsstaat an ihren eigenen Voraussetzungen misst. Mit der Diskussion des diskurstheoretischen Ansatzes auf moralischem, rechtlichem und politischem Gebiet ist aber auch der Punkt erreicht, an dem die Kritik an der »Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur« wieder aufgenommen – und die mit der sogenannten »Verfremdung des philosophischen Textes« (Habermas) verbundene Konsequenz expliziert werden kann. Diese hat für Habermas zwei Ausprägungen: Derrida beraube sich einerseits der Kriterien für Wahrheit / Richtigkeit / Wahrhaftigkeit, indem er die kommunikative Rationalität verkenne, die sich im Gelingen einer Äusserung manifestiere. Andererseits vernachlässige er mit der einseitigen Konzentration auf die Welterschliessungsfunktion der Sprache die Möglichkeit von Lernprozessen in der Lebenswelt. Leitend sei das Modell des »Laplace’schen Würfelspielers« – nicht aber der »Kantische Kritiker, der Gründe gegeneinander abwäge, statt die zufällig erwürfelten Punkte abzuzählen«.20 Mit dem Hinweis, der Prozess der Begriffsbildung finde bei einer formalpragmatischen Untersuchung des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs keine Beachtung, wird anschliessend der Übergang von Habermas zu Derrida vorbereitet. Natürlich ist sich Habermas bewusst, das sich Bedeutungen im Rahmen eines Verständigungsversuches formen und wandeln können. Dies wird allerdings nur dann zum Thema, wenn es sich bei der Formung und Wandlung um das Auswechseln, die – in hermeneutischen, theoretischen, praktischen und / oder klinischen Diskursen vollzogene – Ablösung bereits konstituierter Sinngehalte durch andere bereits konstituierte Sinngehalte handelt. In der Folge wird a) das Verhältnis zwischen der entfalteten formalen Pragmatik der Verständigung und der Semantik der sprachlichen Welterschliessung aufgezeigt, b) der Ort, das Feld der Denkarbeit von Derrida aus formalpragmatischer Perspektive eingeführt und c) die Grundlagen der »positionslosen Position« erarbeitet. Auch hier wird wieder 19 Mouffe, Dekonstruktion, Pragmatismus und die Politik der Dekonstruktion, 26 ff. 20 EdA 364. Dekonstruktion und kommunikative Rationalität 25 auf die neueren Schriften zurückgegriffen – soweit die (Schlüssigkeit der) Darstellung des Gedankengangs den Beizug der älteren Arbeiten nicht verlangt. Die Grundlagen des Denkens von Derrida können in den Grundbegriffen (Signifikat, Signifikant, Referent, Zeichen, Differenz, Spur / Testament, [Kon]Text, Struktur, diff¦rance, Supplement, Zitat / Wiederholung / Iteration, Konstanz, Subjekt) gesehen werden, die von der »Grammatologie«, der »Wissenschaft von der Schrift«21 hervorgebracht werden. Werden sie entwickelt, kann der Vorwurf der »Einebnung des Gattungsunterschiedes« zurückgewiesen werden. Innerhalb der allgemeinen (Kon)Text- und Zitathaftigkeit / Wiederholbarkeit / Iterabilität eines Zeichens besteht nämlich durchaus noch Platz für verschiedene Arten von (Kon)Text und Zitat / Wiederholung / Iteration. Zudem kann gezeigt werden, dass Argument und Diskurs auch in den derridaschen Texten eine wichtige Rolle spielen. Die im Hintergrund stehende »nominalistische Begriffsstrategie« läuft jedenfalls keineswegs »als nicht-thematisierte Vorentscheidung« mit, dem »Sog der nominalistischen Denkfiguren« wird mitnichten »bewusstlos standgegeben« (Habermas).22 Schliesslich lässt sich ausweisen, dass Derrida keinen »esoterischen Zutritt zur Wahrheit« (Habermas) anstrebt.23 Auch die »Wissenschaft von der Schrift« geht von der sprachlichen Imprägnierung der Wahrheitsbedingungen aus. Zudem weist sie in ihrer Grundstruktur – konsequenter als die Habermas’sche Formalpragmatik – eine nicht zu übersehende Selbstreferenz aus. Im Übrigen wird das Missverständnis ausgeräumt, der »Urschrift« eigne eine »subjektlose und anonyme Produktivität« (Habermas).24 Das Denken von Derrida zielt nicht auf eine Verabschiedung des Subjekts. Eine falsche Souveränität wird allerdings nicht vorgespielt. Nachdem der Vorwurf der »Einebnung des Gattungsunterschiedes« zurückgewiesen wurde, wird die Untersuchung des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs wieder aufgenommen – und im Lichte der von der «Grammatologie« hervorgebrachten Grundbegriffe beleuchtet. Dabei fällt auf, dass dem Problem des ungesättigten (Kon)Textes sowie dem strukturellen Risiko – notabene: Risiko, und nicht »Notwendigkeit / Unvermeidbarkeit« (Habermas)25 – des (wörtlichen) Missverstehens / Fehlinterpretierens zu wenig Gewicht beigemessen wird. Der illokutionäre Erfolg ist prinzipiell unentscheidbar – ein Befund, der auch mit dem Verweis auf die »handlungsfolgenrelevanten Verpflichtungen« (Habermas)26 nicht entkräftet werden kann. Neben dem Risiko des Missverstehens / Fehlinterpretierens – was sich im Übrigen leicht mit dem 21 22 23 24 25 26 G 13. EdA 395 f. DdM 222. Ebd. 210 f. Ebd. 233. EdA 358 f. 26 Dekonstruktion und kommunikative Rationalität Gedanken der Autopoiese (Niklas Luhmann) in Verbindung bringen liesse – wird überdies sichtbar, dass der mass-lose Kern eines jeden (erfolgreichen) Verständigungsversuches weitgehend im Dunkeln bleibt. Inhalt und Status des lebensweltlichen Hintergrundwissens sind nämlich a-rational, d. h. nicht selbst Ergebnis des jeweiligen Verständigungsversuches – und gegenüber den übrigen Zeichen des Zeichensystems überschiessend, mithin etwas Übergreifendes, das sich nicht mehr einholen und festmachen (begründen) lässt. Mit der Analyse des Kraft- bzw. Gewaltaspekts der diff¦rance wird die Entwicklung der Grundbegriffe der «Grammatologie« abgeschlossen. Anschliessend wird die Untersuchung wieder auf das Gebiet von Moral, Recht und Politik ausgeweitet. Anhand der mit der »Wissenschaft von der Schrift« gewonnenen Ergebnisse kann dabei gezeigt werden, dass nicht nur Natur- und Vernunftrecht, sondern auch Diskursethik, i. e. Diskurs- und Demokratieprinzip sich nicht begründen / rechtfertigen lassen – also, wie jeder (erfolgreiche) Verständigungsversuch, letztlich grundlos sind und auf eine primordiale Gewalt(tat) zurückgehen. Dies wäre selbst dann der Fall, wenn a) der von Habermas unterbreitete Einwand des performativen Widerspruchs nicht zurückgewiesen werden könnte, b) man davon ausgehen müsste, dass man sich ausschliesslich in der »kommunikativen Lebensform« (Habermas)27 vorfände, c) Diskurs- und Demokratieprinzip in das lebensweltliche Hintergrundwissen eingelagert wären. Habermas selbst räumt freilich ein, dass die im Hintergrund der Diskursethik stehenden Präsuppositionen nicht als »transzendental notwendig« (Karl-Otto Apel) ausgewiesen werden können. Allerdings ist es keineswegs zwingend, sie einfach als nichtverwerfbare Voraussetzungen einer Praxis zu betrachten, die »alternativlos ist, weil es für sie keine erkennbaren Äquivalente gibt«.28 Die Kritik der Begründung / Rechtfertigung des Diskurs- und Demokratieprinzips sprengt im Übrigen die formalpragmatische Untersuchung des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs – während das Risiko des (wörtlichen) Missverstehens / Fehlinterpretierens sowie die A-Rationalität eines jeden (erfolgreichen) Verständigungsversuches noch – relativ problemlos – integriert werden könnten. Um die Reichweite der anschliessenden Überlegungen aufzuzeigen, wird vor dem entwickelten Hintergrund eine Untersuchung zu Erhalt und Anwendung des Rechts, oder allgemeiner : der Zeichen eingeschoben und dabei auf zwei Aspekte aufmerksam gemacht, die bei Habermas zu wenig berücksichtigt werden: Einerseits die unausweichliche Diskontinuität der Anwendung, andererseits die »formale Universalität« der Zeichen29 – und die damit verbundene 27 WuR 313. 28 PT III, 16. 29 Derrida, Die Bewunderung Nelson Mandelas, 15. Dekonstruktion und kommunikative Rationalität 27 »technisch-maschinelle Auslöschung«30 der, oder besser : einer gewissen Singularität und Einmaligkeit (wenn es sie denn gibt). Mit der Frage »nach dem Grund der Vernunft (la raison de la raison[31]), nach der Geschichte des Vernunftprinzips, des Satzes vom Grund oder nach dem Ereignis – einem vielleicht traumatischen Ereignis – …, das so etwas wie die Psychoanalyse in der Beziehung der Vernunft zu sich selbst darstellt«, sind, wie Derrida sagt, »die Dinge ein wenig kompliziert« geworden.32 Dies gilt umso mehr, als selbst die Grundbegriffe der «Grammatologie« wieder infrage gestellt werden – und auch vor der sprachlichen Imprägnierung der Wahrheitsbedingungen nicht mehr Halt gemacht wird.33 Kriterien der Referenz, der Geltung und der Wahrheit lassen sich konsequenterweise nicht mehr entwickeln. Eine quietistische Haltung muss aber nicht eingenommen werden. Die Arbeiten von Derrida bieten hierzu jedenfalls keinen Anlass. Vielmehr eröffnen sie einen Ausweg – einen Ausweg, der sich über die Analyse von Freiheit / Entscheidung, Verantwortung und Gerechtigkeit erschliesst. Deshalb wird in der Folge a) der Zusammenhang zwischen Freiheit / Entscheidung, Verantwortung und Gerechtigkeit ausgearbeitet, b) die Grundlosigkeit als Bedingung der Möglichkeit von Gerechtigkeit ausgewiesen, c) auf die Unabdingbarkeit der Ordnung des Wissens (neben der Ordnung des Nichtwissens) hingewiesen und d) Gerechtigkeit als Zukunft eingeführt, als »Dimension ausstehender Ereignisse, deren Kommen irreduktibel ist«.34 Dabei wird das erreichte Reflexionsniveau nicht mehr verlassen, d. h. weder auf eine Metaphysik dieser oder jener Lesart zurückgegriffen, noch auf gemeinsame lebensweltliche Selbstverständlichkeiten abgestellt, die – wie noch bei Habermas – trotz globalisierten und multikulturellen Gesellschaften einfach vorausgesetzt werden. Der entwickelte Begriff der Gerechtigkeit ist selbstverständlich keine Ausformulierung des aristotelischen (griechischen) Gerechtigkeitsbegriffs. Er steht in der Nähe des Begriffs der Gerechtigkeit, der sich bei Emmanuel L¦vinas finden lässt – und hat »seinen Ort in dem von … [L¦vinas] sogenannten ›jüdischen Humanismus‹, dessen Grundlage nicht ›der Begriff des Menschen‹ ist, sondern der Andere«.35 Dieser lässt sich nicht auf den Kommunikationsteilnehmer, auf den Teilnehmer an rationalen Verständigungsprozessen zurückführen. Allerdings ist bei Derrida nicht mehr »der Andere« grundlegend. Im 30 31 32 33 Derrida, Lyotard und wir, 32. »Raison« heisst sowohl »Grund« als auch »Vernunft«. Derrida, Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, 9. Klammerbemerkung A.H. JD 110. – Nebst anderen misst auch Mark Lilla diesem Umstand keine Bedeutung bei. Lilla geht davon aus, dass Derrida behaupte, alle Wahrheit sei eine soziale Konstruktion (The Reckless Mind. Intellectuals in Politics). 34 GdA 56. 35 Ebd. 45. Klammerbemerkung A.H. 28 Dekonstruktion und kommunikative Rationalität Unterschied zu L¦vinas dient als Fundament das umfassendere, aber unbestimmte (den [besonderen und singulären] Anderen / die [besondere und singuläre] Andere aber durchaus mitmeinende) »sächliche« Andere.36 Um den erarbeiteten Gerechtigkeitsbegriff in seiner Tiefe auszuloten, wird anschliessend das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Freundschaft sowie Gerechtigkeit und Messianik erörtert und die Beziehung zu einem gewissen »Geist des Marxismus«37 dargelegt. Dabei wird ein Begriff von Gemeinsamkeit zur Sprache gebracht, der nicht mehr als Intersubjektivität oder »Gemeinsamkeit zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten« (Habermas) expliziert werden kann.38 Zudem kommt das im Hintergrund stehende »Wesen der Sprache« in den Blick. Dieses ist nicht mehr auf die Funktion des Verständigens zu reduzieren, nicht mehr als Mittel der Kommunikation zu begreifen. Vielmehr ist es in der »Benennung« zu sehen, allerdings nicht in der »blossen Benennung«, sondern in der »Anrufung«39, d. h. »im Beim-Namen-Rufen, in der Gabe oder im Ruf der Anwesenheit im Namen«.40 In einem weiteren Schritt wird a) Gerechtigkeit als Dekonstruktion ausgearbeitet, b) der unmögliche Status, die paradoxe und aporetische Struktur der Gerechtigkeit / Dekonstruktion sowie die damit verbundenen Komplikationen erläutert und c) der a-kritische Status der Gerechtigkeit / Dekonstruktion, genauer : das Verhältnis zwischen Kritik und Gerechtigkeit / Dekonstruktion verhandelt. Überdies werden die Konzepte »Politik der Freundschaft« und »Demokratie im Kommen« eingeführt und – auf indirekte Weise – deren Beziehung zur »Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats« (Habermas) aufgezeigt. Dabei wird auch auf die Rolle des Zu-falls eingegangen, der Vorwurf der Subjektlosigkeit wieder aufgegriffen und zusammen mit dem Vorwurf der Verantwortungslosigkeit – nochmals in anderer Hinsicht – zurückgewiesen. Im Anschluss an die Explikation von Gerechtigkeit / Dekonstruktion wird der mit Habermas entwickelte Begriff der Verständigung wieder aufgenommen, Verständigung auf Gerechtigkeit / Dekonstruktion bezogen und die Möglichkeit von Gerechtigkeit / Dekonstruktion im Rahmen eines Verständigungsprozesses verhandelt. Ein Verständigungsprozess bietet Platz für Gerechtigkeit / Dekonstruktion. Gerechtigkeit / Dekonstruktion könnte – wie etwa bei der Abwesenheit eines lebensweltlichen Hintergrundwissens – zu Konsens und Verständnis führen. Allerdings ist sie nicht zwangsläufig an Verständigungsprozesse gebunden. Argumentation und Diskurs sind keine notwendigen Voraussetzungen. 36 »L’ autre« verbirgt zunächst einmal den Unterschied zwischen »der Andere« und »das Andere«. 37 MG 144. 38 VuE 439. 39 Derrida, Ein Zeuge von jeher. Nachruf auf Maurice Blanchot, 12. 40 GdA 61. Dekonstruktion und kommunikative Rationalität 29 Zudem zielt sie nicht einfach auf Verständigung. Es können keine Inhalte präjudiziert werden. Weder deskriptive noch normative Aussagen lassen sich ableiten – auch nicht, dass man sich (nicht) verständigen oder gerecht sein / dekonstruieren soll.41 Bei Habermas droht mit der Hervorhebung des lebensweltlichen Hintergrundwissens der Platz für Gerechtigkeit / Dekonstruktion allerdings zu verschwinden und von »technischer Applikation, berechenbarem Vorgehen, programmierbarer Anwendung«42 eingenommen zu werden. Zumindest aber kommt er nicht in den Blick. Mit den Ausführungen zu Verständigung und Gerechtigkeit / Dekonstruktion wird auch die Beziehung zwischen Diskurs und Entscheidung dargelegt – und noch einmal expliziert, dass Gerechtigkeit / Dekonstruktion jede Begründung / Rechtfertigung übersteigt. Überdies kommt zur Sprache, dass sich mit Derrida – letztlich – nichts gegen die (Plausibilität der) Habermas’schen Diskursethik sagen lässt. Allerdings wird in der Folge nicht wieder für eine (gewisse) Ethik des Diskurses argumentiert. Auch auf andere Weise wird sie nicht mehr stark gemacht – was ja durchaus in Einklang mit den Erörterungen zu Gerechtigkeit / Dekonstruktion geschehen könnte. Die Untersuchung wird vielmehr abgeschlossen, indem nochmals auf den Vorwurf der »Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur« eingegangen wird. Dabei wird a) Referenz und Geltungsanspruch sowie Wahrheit / Richtigkeit / Wahrhaftigkeit bei Derrida aufgezeigt, b) der Status seiner Texte erläutert und c) geklärt, warum es sich dabei um – zumeist – »auto-hetero-dekonstruktive«43 Texte handelt. Die Arbeiten von Derrida zielen nämlich nicht bloss – und auch nicht vordringlich – auf Aussagen und / oder Verständigung. Sie bezwecken vielmehr das Ereignis, beabsichtigen ein Stattfinden von Entscheidung und Gerechtigkeit / Dekonstruktion (wenn es sie denn gibt). Dies setzt »einen Einbruch oder einen Ausbruch voraus, der den Horizont sprengt, der jede performative Regelung, jede Vereinbarung und jeden von einer Konventionalität beherrschbaren Kontext unterbricht«.44 41 Dies ist im Übrigen auch der Grund, warum sich die vorliegende Untersuchung, etwa im Unterschied zu Georg W. Bertram (Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie) nicht um Fragen des Verstehens und Verständigens zentriert. – Dass man sich verständigen soll, sagt im Übrigen auch Habermas nicht. Das Diskursprinzip greift keinen Inhalten vor. Materiale Handlungsnormen werden nicht geliefert. Zudem eignet der Diskurstheorie – zumindest im Habermas’schen Selbstverständnis – ein deskriptiver Charakter : Habermas untersucht die sprachphilosophische Frage nach den notwendigen Bedingungen möglicher Verständigung – und analysiert die normativen Massstäbe, die im verständigungsorientierten Sprachgebrauch angelegt sind. 42 GdA 49 f. 43 Ebd. 60 ff. 44 Derrida, Die unbedingte Universität, 72. – Dass sie ein Ereignis bezwecken, ein Stattfinden von Entscheidung und Gerechtigkeit beabsichtigen, gilt wohl auch für die Arbeiten zur Zeichentheorie und Sprachphilosophie. 30 Dekonstruktion und kommunikative Rationalität Was damit gemeint ist, lässt sich mit – knappem – Blick auf Literatur, oder allgemeiner : auf Kunst verdeutlichen. Kunst kann für Derrida, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch in ausgezeichneter Weise, einen Raum für Ereignisse erzeugen. Im Sinne der »Ordnung des offenen Möglichen und des Aleatorischen« vermag sie ein Stattfinden zu bewirken, »ohne dass sich, in endloser Serie, ein Ende abzeichnet«.45 Bei Habermas wird der Schwerpunkt hingegen anders gelegt. Literatur ziele, so Habermas, nicht auf Verständigung, die illokutionäre Kraft sei »eingeklammert«. Die »Neutralisierung der Bindungskräfte« ermächtige jedoch zu einer »spielerischen Kreation neuer Welten – oder vielmehr : zur reinen Demonstration der welterschliessenden Kraft innovativer sprachlicher Ausdrücke«.46 Mit der Konzentration auf die »›welterzeugende‹ Kapazität« wird allerdings nicht nur – und erneut – die Konstitution von Sinn / Bedeutung, sondern auch die Möglichkeit des Ereignisses, und damit: der Gerechtigkeit / Dekonstruktion ausgeblendet. Zudem bleibt das Verhältnis zwischen »poetischer Sprache« und »kommunikativer Alltagspraxis« offen (– was im Übrigen auch auf das Verhältnis zwischen den sogenannten säkularen und religiösen Diskursen zutrifft). In einem letzten Schritt wird der Begriff des Symptoms eingeführt und das Verhältnis zwischen Symptom, Ereignis, Konstativa und Performativa skizziert. Zudem wird die Möglichkeit von Lernprozessen in der Lebenswelt aufgezeigt und das bislang nur am Rande berücksichtigte Problem des Lernens, das nicht »schon a priori eingezäunt ist«47, wieder aufgenommen. Schliesslich wird die vorliegende Untersuchung in Beziehung zu den »auto-hetero-dekonstruktiven« Texten Derridas gesetzt. Dass »auto-hetero-dekonstruktive« Texte eine gewisse Form von Argument und Diskurs keinesfalls ausschliessen müssen, braucht nicht mehr erwähnt zu werden. Mit der um Ereignis, Entscheidung und Gerechtigkeit / Dekonstruktion konzentrierten Lesart grenzt sich die vorliegende Untersuchung von einer Lektüre ab, welche die Schriften von Derrida im Dienste einer »reinen Sinnphilosophie« (Hans Ulrich Gumbrecht)48, also einer bis zum Exzess betriebenen Bedeutungsproduktion sieht. Ebenso wenig schliesst sie sich der Ansicht an, diese würden sich im Nachweis der »Allgegenwart der Metaphysik« sowie in einem »reinen Dezisionismus« erschöpfen (Dietrich Krauss).49 Aufgrund der Selbstreferenz des Ansatzes kann die »Allgegenwart der Metaphysik« nicht nachgewiesen werden. Zudem sind mit den Ausführungen zu Entscheidung und 45 46 47 48 49 F 128 f. DdM 234 ff. WuR 267. U.a. Gumbrecht, Production of Presence: What Meaning Cannot Convey. Krauss, Die Politik der Dekonstruktion: politische und ethische Konzepte im Werk von Jacques Derrida. Dekonstruktion und kommunikative Rationalität 31 Gerechtigkeit – noch einmal – keine normativen Aussagen verbunden – auch nicht, dass man sich entscheiden soll. Überdies ist eine Entscheidung nicht mit Willkür und Beliebigkeit zu verwechseln. Daran ändert auch der Umstand nichts, wonach eine Entscheidung (als Entscheidung) nicht begründet / gerechtfertigt werden kann. Des Weiteren wird der Lesart entgegengetreten, Derrida sei ein Vertreter der »Postmoderne« und »politischen Gegenaufklärung«. In diesem Punkt schliesst sich die vorliegende Untersuchung Giovanna Borradori an.50 Allerdings widerspricht sie ihr, wenn sie behauptet, »die dekonstruktive Ausrichtung« weigere sich nicht, »Kriterien der Referenz, der Geltung und der Wahrheit anzuerkennen«.51 Bei Derrida lassen sich keine Kriterien der Referenz, der Geltung und der Wahrheit finden – weder einer allgemeinen Wahrheit noch einer konkreten Wahrheit, in deren Namen der »spezifische Intellektuelle« (Michel Foucault) das Wort ergreift. Finden lässt sich – wie bei L¦vinas – eine Ethik vor der Ontologie bzw. als Erste Philosophie.52 Der Weg einer formalen Pragmatik wird nicht eingeschlagen. Auch eine Ontologie, gleich welchen Zuschnitts, wird nicht entwickelt. Christopher Norris kann hingegen vorbehaltlos beigepflichtet werden – sofern dieser darauf aufmerksam macht, dass Derrida selbst dort, wo er »die Tradition einer totalen Revision ihrer fundierenden Begriffe und Kategorien« unterwirft, den »Impuls der kritischen Aufklärung« aufrechterhält und – etwa im Zusammenhang mit wissenschaftstheoretischen Fragen – Themen aufdeckt, »die der Ethik zugerechnet werden müssen und die durch den zu strengen Bezug auf Referenz, Intention, Texttreue, Auslegungskriterien, Orientierung an Belegen usw. unsichtbar gemacht worden sind«.53 Schliesslich wird auch der Vorschlag von Rorty zurückgewiesen, der die Arbeiten von Derrida der »Ethik der privaten Selbsterschaffung« zuordnet, die gegenüber der »Ethik der gegenseitigen Verantwortung« bzw. »öffentlichen Solidarität« inkommensurabel sei.54 Gerechtigkeit / Dekonstruktion lässt sich nicht anhand dieser Unterscheidung fassen. Ebenso wenig kann sie allerdings auf die »Fürsorge gegenüber dem [besonderen und singulären] Anderen[ / die besondere und singuläre Andere]« (Alex Honneth)55 reduziert werden. Weil für 50 51 52 53 54 Habermas / Derrida, Philosophie in Zeiten des Terrors, 35. Ebd. 228. GuM 150 f. Norris, Uncritical Theory. Postmodernism, Intellectuals and the Gulf War, 17 f. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität. – Eine ähnliche Unterscheidung schlägt Georg Kohler angesichts der Arbeiten von Otfried Höffe und Michel Foucault vor (Kohler, Ordnung und Lebendigkeit. Michel Foucaults kritische Theorie des »zoon politikon«, 157 – 187). 55 Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die Herausforderung der poststrukturalistischen Ethik, 133 – 170. Klammerbemerkungen A.H. – Im Übrigen berücksichtigt Honneth zu wenig, dass auch die Diskursethik keine Inhalte präjudiziert – und 32 Dekonstruktion und kommunikative Rationalität sie »das Wesen der Sprache jenseits ihres unleugbaren und notwendigen Funktionierens, jenseits ihrer kommunikativen Verständlichkeit«56 eine entscheidende Rolle spielt, kommt sie auch für Habermas, den Theoretiker des kommunikativen Handelns, nicht in den Blick. Habermas bleibt gegenüber der ursprünglichen (beziehungslosen) Beziehung zum Anderen – als Grundlage des Begriffs der Gerechtigkeit – weitgehend unsensibel – auch wenn der Diskursethik ein »fallibilistisches [, mit der Preisgabe von ›starken Statusansprüchen‹ verbundenes] Bewusstsein« innewohnt57 und »ein für Differenzen hoch empfindlicher Universalismus« einbeschrieben ist, d. h. der »gleiche Respekt für jedermann … sich nicht auf Gleichartiges, sondern auf die Person des Anderen oder der Anderen in ihrer Andersartigkeit« erstreckt.58 Einerseits handelt es sich beim Anderen immer schon um den Kommunikationsteilnehmer, um den Teilnehmer an rationalen Verständigungsprozessen. Anderseits wird der Andere, zumindest wenn die lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten den letzten Bezugspunkt bilden59, von Identität und Einheit her, d. h. aus der Perspektive des vorgängig konsentierten Hintergrundwissens gefasst. Dies gilt sowohl in deskriptiver als auch in normativer Hinsicht.60 Für Lilla gehört Derrida »zu der vagen Sorte von Sozialliberalen, die ›Differenz‹ schätzen, und … wünschen, dass Europa ein offenerer, gastfreundschaftlicherer Ort, nicht zuletzt für Einwanderer werden möge«.61 Das, was unter Gerechtigkeit / Dekonstruktion verhandelt wird, befindet sich allerdings auf einem anderen Abstraktionsniveau. Eine »sozialliberale« Position lässt sich nicht einfach ableiten.62 Hingegen ist es durchaus angebracht, Derrida – mit Rorty63 – als »Transzendentalphilosophen« zu bezeichnen. Die Ausführungen zu Ereignis, Entscheidung und Gerechtigkeit / Dekonstruktion – aber auch zum Anderen (als Anderes) – verdanken sich einer transzendentalen, die Bedingung der Möglichkeit auslotenden Analyse. Diese ist voraussetzungslos, d. h. bewegt sich ausschliesslich – im Unterschied zu Habermas und seiner Untersuchung der Bedingung möglicher Verständigung – auf der logisch-semantischen Ebene. Ungültige, mit zusätzlichen Annahmen belastete Schlüsse werden nicht gezogen. 56 57 58 59 60 61 62 63 infolgedessen auch Platz für die »Fürsorge gegenüber dem besonderen und singulären Anderen / die besondere und singuläre Andere« bietet. Derrida, Die Sprache des Fremden und das Räubern am Wege, 14. DdM 247. Klammerbemerkung A.H. EdA 7. Wird ein Verständigungsprozess nicht am lebensweltlichen Hintergrundwissen festgemacht, gibt es natürlich Raum für das Andere als Anderes – wenn auch eingebunden in Argumentation und Diskurs. In Auseinandersetzung mit Hans-Georg Gadamer kommt Bertram zu einem ähnlichen Ergebnis (Bertram, a. a. O.). Lilla, a. a. O. Was natürlich nicht heisst, dass nicht Stellung bezogen werden könnte: Siehe oben 20 f. Rorty, Is Derrrida a Transcendental Philosopher?, 207 – 217. Dekonstruktion und kommunikative Rationalität 33 Während bei Habermas mit der Hervorhebung des lebensweltlichen Hintergrundwissens die Welt zu verschwinden droht, bleibt bei Derrida der Bezug, wenn auch nicht zur Welt, so doch zum ganz Anderen erhalten. Ein »esoterischer Zutritt zur Wahrheit« ist damit nicht verbunden. Dem Anderen werden nicht einmal Identität und Konstanz zugesprochen. Aussagen über das Andere (und sein Kommen) lassen sich keine ausmachen – weshalb es im Übrigen auch missverständlich ist, von einer »Ontologie der Abwesenheit« (Jean-FranÅois Lyotard)64 zu sprechen. Auch der Hinweis auf Ludwig Wittgenstein und sein Diktum: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«65 ist im gegebenen Zusammenhang irreführend. Ob sich über das Andere nichts sagen lässt, bleibt bei Derrida – letztlich – offen. Festgehalten wird einzig, dass das Andere (als Anderes) für jede Entscheidung konstitutiv ist. Der Raum, der diesem zugestanden wird, weitet sich mit der Komplexität und Paradoxie der Entscheidsituation aus. Eine Entscheidung ist aber nie Entscheidung genug. Zudem entzieht sie sich jeder Begründung / Rechtfertigung. Ohne Entscheidung gäbe es allerdings keine Gerechtigkeit / Dekonstruktion. Und: Will man absolute Gerechtigkeit / Dekonstruktion – aber nur dann –, dann ist jede getroffene Entscheidung wieder aufzugreifen, die Entscheidsituation komplexer und paradoxer zu fassen und die Entscheidung von neuem zu treffen. Die Auseinandersetzung mit einer »nicht fiktiven zweiten Person« kann zum komplexer und paradoxer Fassen der Entscheidsituation beitragen. 64 Lyotard, Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik, 135 f. 65 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Abschnitt 7.