Gestern Patient – heute Kunde?

Werbung
FORUM
Gestern Patient – heute Kunde?
Im Verlaufe der letzten dreissig Jahre haben sich die Patientinnen und Patienten emanzipiert.
Sie sind besser informiert, werden besser orientiert und in die Entscheidungsfindung einbezogen.
Doch zugleich werden sie mit Informationen überflutet und von einem veritablen Gesundheitsmarkt
umworben. Umso wichtiger ist das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient geworden.
Erika Ziltener, Präsidentin Dachverband Schweizerischer Patientenstellen (DVSP) und Verein Patientenstelle Zürich
Aus dem Patienten wird ein Kunde! Der
Paradigmenwechsel deutet nicht nur auf
einen veränderten Status der Patientinnen und Patienten, sondern auch auf den
der Ärztinnen und Ärzte hin. Letztere verfügten bis Ende der 1970er-Jahre über die
Definitionsmacht im Gesundheitswesen.
Sie bestimmten, welche medizinischen
Leistungen für die Gesellschaft zuträglich
waren und welchen Inhalt «Gesundheit»
hatte. Mit der zunehmenden Verlagerung
der Definitionsmacht weg von den Ärzten
hin zu verschiedenen Akteuren wie etwa
Ökonomen und zu Bereichen wie Medizintechnologie, Medien und Pharmaindustrie erfährt das Gesundheitswesen
grundlegende Veränderungen mit gravieDer Mensch, der eine medizinische
Behandlung benötigt, wird neu definiert.
Wie soll nun aber dem neuen Menschen
in der Medizin begegnet werden?
Welchen Platz soll er erhalten?
Ist er Patient oder Kunde?
Wie soll ein «Patienten zentriertes
Gesundheitswesen» aussehen?
30
VSAO
JOURNAL ASMAC
renden Auswirkungen vor allem auf die
Patientinnen und Patienten. Denn es
handelt sich nicht um einen blossen
Paradigmenwechsel der Begrifflichkeit,
sondern um einen Kulturwandel: Der
Mensch, der eine medizinische Behandlung benötigt, wird neu definiert. Wie soll
nun aber dem neuen Menschen in der
Medizin begegnet werden? Welchen Platz
soll er erhalten? Ist er Patient oder Kunde?
Wie soll ein «Patienten zentriertes Gesundheitswesen» aussehen?
Grenzenlose Machbarkeit
Die Schulmedizin hat in den letzten Jahrzehnten zweifellos grosse Fortschritte gemacht: Viele Krankheiten, die tödlich
waren, sind heilbar oder zumindest behandelbar geworden, so dass bis zum Tod
eine gute oder bessere Lebensqualität erhalten werden kann. Einhergehend verändert sich das Gesundheitswesen und
mit ihm die Erwartungen der Gesellschaft
permanent, anscheinend immer schneller, immer grundlegender. Der Glaube an
die Allmacht der Medizin und der Technik
ist dabei markant. Er lässt jede Krankheit
als heilbar oder mindestens kontrollierbar erscheinen. Die Grenzen des Machbaren werden, wenn überhaupt, so nur
verschwommen erkannt.
Während medizinische Leistungen zunehmend zu Produkten werden, wird die
Konsumhaltung der Patienten zwar oft
beklagt, aber im Interesse vieler mindestens ebenso oft gefördert. Dank Werbung
oder Printmedien, Radio und Fernsehen
gelangen Produktinformationen oder
Forschungsresultate nicht mehr via Ärzte
sondern direkt zur Bevölkerung und somit zu den potenziellen Patienten. Gleichzeitig nehmen die Möglichkeiten der
Selbstdiagnostik mittels Produkten aus
der Apotheke, über die elektronischen
Medien und/oder mit Telemedizin massiv
zu. Das führt zu einer Informationsüberflutung und erschwert die Entscheidungs-
findung und Orientierung zunehmend.
Im negativen Fall schafft die Informationsflut Bedürfnisse und Illusionen, die
schlimmstenfalls eine bestimmte, oft
auch unrealistische Anspruchshaltung
fördern. Mengenausweitung und überflüssige Medizin sind die Resultate.
Im positiven Fall hingegen spielt die
Informationsdichte eine wichtige, nicht
wegzudenkende Rolle bei der umfassenden Information und Aufklärung. Das
führt zu Begegnungen mit kritischeren
und informierten Patienten, die sich einbringen und sich aktiv am Behandlungsplan beteiligen. Das Informationsangebot und die medizinischen Fortschritte
schaffen ungeahnte Möglichkeiten, aber
auch Spannungsfelder, in denen sich
viele Patienten paradoxerweise der Medizin schutzlos preisgegeben und mit ihren
Fragen alleine gelassen fühlen.
Vertrauen ist entscheidend
Die Spannungsfelder beeinflussen das
Verhältnis zwischen Arzt und Patient
massgeblich. Die Kommunikation, basierend auf Vertrauen, wird zur Schlüsselfunktion. Nur wenn Vertrauen besteht,
vermag der Arzt die Grenzen der Medizin
aufzuzeigen. Denn ganz im Zeichen der
Zeit verwechseln viele Patienten die Grenzen der Medizin mit Fehlern oder dem
Unvermögen der Ärzte.
Bei einem Misserfolg der medizinischen
Behandlung findet sich der Patient in
einer neuen und unerwarteten Situation
wieder. Er wird mit der fehlenden Allmacht der Medizin konfrontiert und ist
desillusioniert. Im günstigsten Fall führt
diese Desillusionierung zu einer positiven
Auseinandersetzung mit der Krankheit
oder dem eingeschränkten Gesundheitszustand; im ungünstigen Fall kann sie
zu einer Schuldzuweisung an die Ärzte
führen.
Ein fehlendes Vertrauensverhältnis fördert die Anspruchshaltung der Patienten.
Nr. 3 Mai 2007
FORUM
Kommunikationsprobleme führen meistens zum Wechsel des Arztes oder zum
Beharren auf Eingriffen und Untersuchungen. Tatsächlich scheint das Vertrauensverhältnis als wichtigste Basis für
eine erfolgreiche Behandlung in den
Hintergrund gerückt zu sein. Jedenfalls
zeigt sich, dass immer mehr Menschen
im Falle einer Erkrankung direkt ins
Spital oder zu einem Spezialisten gehen.
Objektiv informieren
Die Ausgangslage ist klar: Ein kranker
Mensch kommt ins Spital, trifft auf den
Arzt und erwartet Heilung. Für den Arzt
bedeutet dieser Vorgang Alltag, während
der Patient in einer Ausnahmesituation
ist. Bei ihm dominieren in der Regel Gefühle von Verunsicherung, von Schwäche
und Angst. Der Patient verfügt vor allem
über seine subjektiven Erlebnisse und
Erfahrungen, meist aber nicht über das
medizinische Wissen und kann das Geschehene kaum richtig einschätzen. Und
das in einem Bereich, in dem ihm bereits
die mit Fachausdrücken und Fremdwörtern versetzte Sprache Schwierigkeiten macht. Ein Patient kann in den
meisten Fällen also nicht in letzter Konsequenz entscheiden, was das Beste für
ihn ist.
In erster Linie sind folglich die Ärzte gefordert. Sie haben das erforderliche Fachwissen und die Erfahrung. Sie kennen die
persönliche Krankengeschichte und die
objektiven Befunde. Kommt hinzu, dass
es den Patienten schlechthin nicht gibt.
Während die einen gut informiert sind,
sich kritisch mit der Krankheit auseinandersetzen und sich aktiv in den Behandlungsplan einbringen, gibt es desinteressierte, mit unrealistischen Anspruchshaltungen und überhöhten Erwartungen. Es ist nun Aufgabe des Arztes,
damit umzugehen und den kranken
Menschen dort abzuholen, wo er steht
und ihn in die Behandlung mit einzubeziehen und zu begleiten. In einem unabhängigen Vertrauensverhältnis muss
er nach dem ethischen Grundsatz des
Heilens und des «Nicht-Schadens» handeln. Er muss die Informationen kanalisieren und in den Kontext stellen.
Auf dem freien Markt
Natürlich leben weder die Patienten noch
die Ärzte in einem Vakuum. Die InforNr. 3 Mai 2007
mationsflut und die wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen Akteure beeinflussen das Gesundheitswesen massgeblich. Mit der Medikalisierung werden
Krankheiten wie das «Reizdarmsyndrom» kreiert, Abhängigkeiten von der
Pharmaindustrie geschaffen und mittels
gewisser Gesundheitssendungen im Fernsehen eine Mengenausweitung produziert.
Dabei erlebt der Patient eine andere Wirklichkeit als der Konsument. Während der
ethische Grundsatz von der «gleichen
Augenhöhe» von Patient und Arzt ausgeht, kann die Begrifflichkeit bereits
die Haltung definieren, mit der einem
Patienten begegnet wird. Rudimentär
betrachtet lassen sich Patienten in zwei
Gruppen unterteilen: Entweder sie haben
keine Wahl, weil sie auf die medizinischen Behandlungen angewiesen sind
oder sie beanspruchen nur bedingt notwendige oder sogar unnötige Leistungen.
Im zweiten Fall könnte man von Kunden
sprechen, die auf dem Gesundheitsmarkt
einkaufen und entsprechend angelockt
werden. Schönheitsoperationen, LifestyleEingriffe, Anti-Aging-Behandlungen,
überflüssige Eingriffe, Operationen und
Medikamententherapien sind nur einige
Angebote dieses Marktes. Solchen Auswüchsen muss kritisch begegnet werden,
in erster Linie von den Ärzten selbst.
An sich ist die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen kein Genuss, von der
man durch Barrieren abgehalten werden
muss, weil man sonst nicht genug davon
bekommen könnte. So ruft kaum jemand
nach einer Magenspiegelung, ebenso
wagt kaum jemand diese zu verweigern,
wenn eine solche wegen Verdacht auf ein
Magengeschwür oder eine Krebskrankheit verordnet wird. Es ist deshalb die
ethische Pflicht jedes Arztes, überflüssigen oder schädlichen Behandlungen ein
«Nein» entgegenzusetzen und objektiv
über Vor- und Nachteile zu informieren.
Den Erwartungen des Patienten kann in
vielen Fällen nicht oder nur teilweise entsprochen werden. Das liegt in der Natur
der Sache. Der Arzt muss die Fähigkeit
entwickeln, dem Patienten einen Wunsch
abzuschlagen. Sei dies aus therapeutischem Interesse oder um zu verhindern,
dass eine Operation oder ein Eingriff nur
aus wirtschaftlichem Interesse durchgeführt wird. Und auch die Patienten
müssen befähigt werden, solche Mechanismen zu durchschauen und ihre wirk-
lichen Bedürfnisse zu formulieren. Das ist
ein Gebot des Respekts gegenüber dem
einzelnen Menschen. Zudem wirkt sich
die Beschränkung dämpfend auf die Gesundheitskosten aus. Immerhin würden
viele unnötigen Untersuchungen und
Behandlungen vermieden.
Ganzheitliche Sehweise
Die Zukunft liegt in der ganzheitlichen
Medizin, die nur in Netzwerken und in
Zusammenarbeit zwischen Spezialisten
und Grundversorgern stattfinden kann.
Die Entlöhnung der ärztlichen Tätigkeit
sollte nicht in Relation zur Krankheitsbehandlungen stehen, sondern abhängig
von Gesundheitsförderung und optimaler
Behandlungskette sein. Das Medizinstudium und die Weiterbildung müssen
entsprechend der humanistischen, kommunikativen und sozial erforderlichen
Anforderungen zeitgemäss revidiert werden. Nicht selten belastet heute der
Zeitmangel infolge wissenschaftlicher,
technologischer, bürokratischer und ökonomischer Anforderungen den Berufsalltag schwer. Zudem gewinnt die Einsicht erst langsam Raum, dass auch
Ärzte für sich sorgen müssen, damit sie
den Alltag bewältigen können und nicht
einem Burn-out zum Opfer fallen.
Schliesslich bedeutet auch im elektronischen Zeitalter eine einfühlsame ärztliche
Beratung viel. Daraus resultieren zufriedenere Patienten, eine bessere Motivation
zur Mitarbeit, bessere Therapietreue, bessere Heilungsaussichten, weniger teure
Medizin (z.B. durch Verzicht auf unnötige
Rezeptur, fragwürdige Abklärungen und
therapeutische Eingriffe) sowie – nicht
zuletzt für den Arzt selber – mehr Befriedigung im Beruf.
Der mündige Patient
Patienten müssen eine Wahl bei der
Gesundheitsversorgung treffen können,
die für sie stimmt. Das aber kann nur, wer
umfassend informiert und aufgeklärt ist.
Nur dann ist die Entscheidungsfindung
für oder gegen eine Operation, Behandlung oder Untersuchung möglich. Erst
das, gepaart mit Mitverantwortung, Mitbestimmung und Mitgestaltung der Behandlung, schafft die Heilungsvoraussetzung und ermöglicht einen optimalen
Heilungsverlauf oder mindestens die Verbesserung des Gesundheitszustandes.
VSAO
JOURNAL ASMAC
31
Herunterladen