VORWORT Rossinis musikhistorischer Stellenwert ist leicht zu umschreiben. Er war der erfolgreichste und meistgespielte Komponist seiner Generation, der bei Weitem einflussreichste Opernkomponist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus zweifellos eine der prägenden Persönlichkeiten seiner Epoche. In der Geschichte des musikalischen Theaters hat es niemals zuvor einen Komponisten gegeben, dessen Werke die Spielpläne weltweit so unangefochten dominiert hätten wie diejenigen Rossinis nach 1820. Stendhal verglich Rossini mit Napoleon und bezeichnete ihn als den „größten Künstler unserer Zeit“. Für Balzac war er der Raphael der Musik und verkörperte ein Ideal melodischer Schönheit, zu dem sich auch deutsche Philosophen wie Hegel, Schopenhauer und Nietzsche vorbehaltlos bekannten. Seine Ausnahmestellung im zeitgenössischen Kulturleben und der beispiellose internationale Erfolg seiner Werke hatten zur Folge, dass ihm schon zu Lebzeiten Denkmäler gesetzt wurden und Biographien, Romane und Theaterstücke über ihn erschienen. Der Ruhm, der Rossini einstmals umgab, ist ihm allerdings im Laufe der Zeit zu erheblichen Teilen wieder abhandengekommen, besonders in Deutschland. Zwar war es spätestens seit Raphael Georg Kiesewetters Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik (1834) hierzulande opportun, von einer musikhistorischen „Epoche Beethovens und Rossinis“ zu sprechen, doch lief diese Gegenüberstellung zweier höchst unterschiedlicher Künstler auf schräge Vergleiche hinaus, die fragwürdige Kriterien zementierten und selten auf substanzlose Polemik gegen den Italiener verzichteten. Und während Beethoven im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Heros einer auf nationale Selbstvergewisserung bedachten deutschen Musikgeschichtsschreibung stilisiert wurde, blieb für Rossini entweder die Rolle eines geistreichen musikalischen Unterhalters oder aber die des Repräsentanten einer Kunstrichtung, die höchstens als nationalkulturelles Feindbild Gegenstand ausführlicher Erörterung wurde. Die Folgen dieser historiographischen Polarisierung sind heute immer noch deutlich zu spüren, auch wenn sie längst von zahllosen anderen Faktoren überlagert werden. Vielen ist Rossini nur noch als Komponist komischer Opern und vor allem des Barbiers von Sevilla geläufig. Dabei entsprach der jahrzehntelang unter schweren Krankheiten und Depressionen leidende Rossini keineswegs dem uneingeschränkt hedonistischen Bild, das sich die breite Öffentlichkeit von ihm machte. Und tatsächlich entfällt auch die Mehrzahl seiner Bühnenwerke auf den Bereich der ernsten Oper. Dass dieser 7 zentrale Bereich seines Schaffens heute weit weniger präsent ist, hat vielfältige Gründe. Die virtuose Gesangskultur des Belcanto musste seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts durchschlagskräftigeren Stimmidealen weichen. Seither ist es immer problematischer geworden, Opern wie Armida oder La donna del lago angemessen zu besetzen: Der irrtümlich für „leicht“ befundene Rossini ist den allermeisten Sängerinnen und Sängern schlichtweg viel zu schwierig. Vor allem Tenöre, die in der Lage wären, die ihnen von Rossini zugedachten hochvirtuosen Partien souverän zu bewältigen, finden sich heute kaum. Auch im scheinbar unverwüstlichen Barbier von Sevilla findet sich mit Almavivas „Cessa di più resistere“ eine der technisch anspruchsvollsten Tenorarien des Opernrepertoires – Grund genug, dass diese Nummer nach traditionellem „Bühnenbrauch“ üblicherweise weggelassen wurde (Teile daraus kehren in Ramiros Schlussarie in La Cenerentola wieder). Die Aufführungsgeschichte (nicht nur) des Barbiere di Siviglia ließe sich wegen zahlreicher weiterer gewohnheitsmäßiger „Retuschen“ auch als Chronik der fahrlässigen Entstellung nachzeichnen. Es besteht indes berechtigter Anlass zur Hoffnung, dass sich die noch immer prekäre Situation des Rossini-Gesangs künftig weiter verbessern wird. Schon seit den 1970er Jahren und sodann im Sog des Jubiläumsjahres 1992 kam es zu einer „Rossini-Renaissance“ und zu überzeugenden Gesamteinspielungen sämtlicher Opern. Eine entscheidende Rolle spielte gerade im Hinblick auf die Opere serie das hochkarätige Festival in Pesaro, das sich in jüngster Zeit zum „Bayreuth Rossinis“ entwickelt hat. Selbst scheinbar randständige Werke wie Sigismondo (1815), Matilde di Shabran (1821) oder Zelmira (1822), die lange Zeit hinsichtlich ihres Wiederentdeckungspotenzials als eher unverdächtig galten, haben in Pesaro aufsehenerregende Neudeutungen erfahren, die in mustergültigen Einspielungen und DVD-Produktionen heute weltweit verfügbar sind. Inzwischen zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Fortschritte einer historisch informierten Aufführungspraxis auch vor dem Belcanto des frühen 19. Jahrhunderts nicht Halt machen. Die besonderen Herausforderungen, die Rossinis Opern stellen, haben viele Gesangspädagogen und Interpreten bereits zu einem generellen Umdenken veranlasst. Vergleichbar den Erkundungen, die beispielsweise Countertenöre in den letzten Jahrzehnten in höchsten Gefilden einer bis dahin kaum vorstellbaren Virtuosität im Falsettregister unternommen haben, ist auch im „lyrischen“ Tenorfach eine Erosion der Registertabus und die Wiederbesinnung auf eine in den Höhenlagen flexiblere „voix mixte“ zu erwarten. Nicht zuletzt ermöglicht die Transparenz und rhythmische Präzision eines „historisch“ ausgerichteten Klangbildes auch für das brillant instrumentierte Rossini-Orchester völlig neue Hörerlebnisse. 8 Gerade bei Rossini lassen sich die wechselseitigen Impulse von Aufführungspraxis und Wissenschaft nicht übersehen. Die internationale RossiniForschung hat in den letzten Jahrzehnten einen bedeutenden Aufschwung genommen. Im Zentrum stand hierbei die wissenschaftliche Edition seiner sämtlichen Werke, ein ambitioniertes, im Bereich der italienischen Oper bis dahin beispielloses Vorhaben, das unter der Leitung von Philip Gossett in den 1970er Jahren begonnen wurde und mittlerweile sehr weit vorangeschritten ist – auch wenn sich auf der Zielgeraden eine kuriose Verlagskonkurrenz entwickelte und heute gleich zwei editorische Großprojekte miteinander rivalisieren. Die kritischen Editionen der Opern Rossinis schufen die Voraussetzungen für werkgerechte Aufführungen sowie zahllose beispielhafte Neu- und Ersteinspielungen, die unser Verständnis dieser Musik wesentlich bereichert haben. Umso erstaunlicher ist es, dass in deutscher Sprache eine RossiniGesamtdarstellung auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes bislang fehlte. Diese Lücke zu schließen und dabei zugleich einige neue Sichtweisen auf den Komponisten zu eröffnen, ist das wichtigste Anliegen des vorliegenden Buches. Der Titel „Rossini und seine Zeit“ ist durchaus wörtlich zu nehmen. Zum einen geht es in diesem Buch nicht nur um die Person und die Werke Rossinis, sondern zugleich auch um die historischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Voraussetzungen seines Schaffens. Zum anderen scheint es trotz aller berechtigten Vorbehalte gegen eine personenzentrierte Musikgeschichtsschreibung tatsächlich nicht unangemessen, ganz im Sinne des Reihentitels und der Eingangsbemerkungen dieses Vorworts von einer „Zeit Rossinis“ zu sprechen. Es ist dem Autor ein Bedürfnis, an dieser Stelle all jenen zu danken, die in der einen oder anderen Weise zum vorliegenden Buch beigetragen haben. Das gilt zunächst einmal für die vielen Kolleginnen und Kollegen, die an der Grundlegung der modernen Rossini-Forschung mitgewirkt haben. Ihre Namen sind in der Bibliographie am Ende dieses Buches verzeichnet. Die Lektüre ihrer Arbeiten war mir in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten eine unerschöpfliche Erkenntnisquelle. Vielen Rossini-Experten verdanke ich darüber hinaus wertvolle persönliche Gespräche, Anregungen, Hinweise, Hilfen und Eindrücke. Unter diesen seien Philip Gossett, Sieghart Döhring, Sabine Henze-Döhring, Damien Colas, Michael Hampe, Emilio Sala, Martina Grempler, Reto Müller, Matthieu Cailliez, Martin Fischer-Dieskau, Stefan Irmer und Markus Engelhardt namentlich genannt. Ein besonderer Dank gebührt meinen studentischen Mitarbeitern Timo Böcking, Peter Büssers und Chris Kattenbeck für die Erstellung der Notenbeispiele und redaktionelle Mitarbeit. Herzlich danke ich dem Team des Laaber-Verlages unter der Leitung von Henning Müller-Buscher, für den es von Anfang an völlig un- 9 strittig war, dass Rossini in die erste Reihe der „großen Komponisten“ gehört. Last but not least gilt mein ganz persönlicher Dank Anja, Conrad und Elisa für ihre beständige Liebe, Nachsicht und Geduld. Arnold Jacobshagen 10 Köln, im Mai 2015