Swiss Medical Forum 26

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SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer
Swiss
Medical Forum
26–27 29. 6. 2016
561 B. Hochstrasser,
T. Brühlmann, K. Cattapan, et al.
Burnout-Behandlung Teil 2:
Praktische Empfehlungen
567 T. Hunziker, H. Eisenlohr,
K. Zeidler
Unerwartete Diagnose nach
Sprunggelenksdistorsion
570 R. Roges, M. Delgado,
D. Springe, L. Ebnöther
Ein ungewöhnlicher Riss
bei der Geburt
With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly”
554 R. Benz, G. Stüssi, B. Gerber
Paroxysmale nächtliche
Hämoglobinurie
Offizielles Fortbildungsorgan der FMH
Organe officiel de la FMH pour la formation continue
Bollettino ufficiale per la formazione della FMH
Organ da perfecziunament uffizial da la FMH
www.medicalforum.ch
INHALTSVERZEICHNIS
551
Redaktion
Beratende Redaktoren
Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj,
Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Prof. Dr. Ludwig T. Heuss, Zollikerberg;
Basel (Managing editor); Prof. Dr. David Conen, Basel;
Dr. Pierre Périat, Basel; Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal
Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern;
Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds;
Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern
Advisory Board
Dr. Sebastian Carballo, Genève; Dr. Daniel Franzen, Zürich;
Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds;
Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne;
Dr. Sven Streit, Bern
Und anderswo …?
A. de Torrenté
553 Protonenpumpenhemmer: Gefahr für die Nieren?
Übersichtsartikel
R. Benz, G. Stüssi, B. Gerber
Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
554
Trotz Seltenheit der Erkrankung ist bei Coombs-negativer Hämolyse, Zytopenien, unklaren
abdominalen Beschwerden und Thrombosen an eine paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
zu denken. Fortschritte in Diagnostik und Therapie haben die Behandlung von Betroffenen
in den letzten Jahren grundlegend verändert.
Richtlinien
B. Hochstrasser, T. Brühlmann, K. Cattapan, J. Hättenschwiler, E. Holsboer-Trachsler, W. Kawohl, B. Schulze, E. Seifritz, W. Schaufeli,
A. Zemp, M. E. Keck
561 Burnout-Behandlung Teil 2: Praktische Empfehlungen
Burnout manifestiert sich als Erschöpfungszustand mit psychischen, vegetativen, kognitiven und verhaltensbezogenen Symptomen
und weist eine hohe Überlappung mit psychiatrischen und somatischen Störungen auf. Die Behandlung erfolgt multimodal und
berücksichtigt die verschiedenen verursachenden Faktoren.
Fallberichte
T. Hunziker, H. Eisenlohr, K. Zeidler
567
Unerwartete Diagnose nach Sprunggelenksdistorsion
Im Herbst 2015 wurde eine 54-jährige Patientin in die orthopädische Sprechstunde zugewiesen
mit anhaltenden Beschwerden nach etwa zwei Monate zurückliegender Sprunggelenksdistorsion.
R. Roges, M. Delgado, D. Springe, L. Ebnöther
570 Ein ungewöhnlicher Riss bei der Geburt
Eine 32-jährige Patientin wurde notfallmässig durch ihren Hausarzt zugewiesen wegen seit vier Tagen intermittierender
thorakaler Schmerzen, anteroseptaler ST-Hebungen im EKG sowie positiver Herznekrosemarker.
INHALTSVERZEICHNIS
552
Fallberichte
M. Pavic, H. Kranzbühler, S. Lautenschlager
Ein nicht so seltenes, jedoch häufig verkanntes Phänomen
573
Bei Status nach Radiotherapie im Bereich des Unterlappenbronchus rechts, paravertebral rechts
sowie gluteal links klagte eine etwa 70-jährige Patientin über ein Brennen im Bereich
des rechten Gesässes. Klinisch fand sich ein florides Erythem der fibrosierten Haut perianal
und gluteal rechts bis zum lateralen Anteil des rechten Oberschenkels ziehend.
Extended abstracts from SMW
New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 574.
Impressum
Swiss Medical Forum –
Schweizerisches Medizin-Forum
Offizielles Fortbildungsorgan der FMH
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elektronische Ausgabe: 1424-4020
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UND ANDERSWO …?
553
Und anderswo …?
Antoine de Torrenté
Protonenpumpenhemmer:
Gefahr für die Nieren?
Fragestellung
Chronische Niereninsuffizienz (CNI) ist nicht
selten. Etwa 13% der Erwachsenen in den USA
leiden an unterschiedlichen Stadien der Erkrankung. Dies ist wahrscheinlich in etwa
mit der Zahl der schweizweiten Erkrankungsfälle vergleichbar. Der verheerende Einfluss
von CNI auf die kardiovaskulären Risiken und
die Lebensdauer ist bekannt. Für die Erkrankung prädisponiert sind Personen mit Hypertonie und Diabetes. Auch Medikamente sind
nicht selten eine Ursache, da Polypharmazie
das CNI-Risiko erhöht. Protonenpumpenhemmer (PPI) werden sehr häufig verschrieben.
Schätzungsweise 25–70% der Indikationen
sind jedoch unbegründet. PPI wurden bereits
als Ursache für Frakturen, Pneumonien und
Clostridium difficile-Infektionen identifziert.
Welche Rolle spielen sie bei CNI?
Methode
Bei der ARIC-Studie («Atherosclerosis Risk in
Communities») handelt es sich um eine prospektive Kohortenstudie an >15 000 Personen
in den USA. Von 1987–2011 fanden im Abstand
von 3 Jahren 4 Untersuchungen statt. Überdies wurde mit allen Teilnehmern jedes Jahr
ein Telefongespräch geführt. Die CNI war ge-
Marihuana: immer stärker …
37 000 innerhalb von 20 Jahren in den USA beschlagnahmte Cannabispflanzen wurden auf
ihren Tetrahydrocannabinol(THC)- und Cannabidiolgehalt untersucht. Der THC-Gehalt
hat sich verdreifacht und ist von 4 auf 12% gestiegen. Der Cannabidiolgehalt ist gesunken.
Die Pflanzen aus Bundesstaaten, in denen
Marihuana als Genussmittel erlaubt ist, wiesen einen um 60% höheren THC-Gehalt auf als
die aus Bundesstaaten, in denen der Marihuanakonsum illegal ist. Lässt ein «legaler» Marihuanaanbauer verlauten, dass der THC-Gehalt
seiner Pflanzen hoch ist, erhöht dies seine Verkaufszahlen …
ElSohly MA, et al. Biol Psychiatry. 2016;
79(7):613–9.
Ein neues Antibiotikum bei erworbener
Pneumonie?
Solithromycin ist ein neues Makrolidantibiotikum der 4. Generation. Die 1× tägliche Gabe von
Solithromycin über 5 Tage hat sich als ebenso
mäss ICD-9-Code definiert. Nach dem Ausschluss einiger Patienten wurden >10 000
Probanden eingeschlossen. Diese bat man in
Telefongesprächen, die Namen aller Verpackungen aus ihrem Medikamentenschrank
anzugeben, um festzustellen, ob sie PPI einnahmen. Aus Daten des «Health Geisinger
System» von 1997–2014, eines Gesundheitssystems aus Pennsylvania, wurde eine Replikationskohorte mit ~250 000 Personen gebildet. Anschliessend wurde das CNI-Risiko der
Anwender von PPI, H2-Rezeptorenblockern
(die häufig aufgrund derselben Indikationen
wie PPI verschrieben werden) und der übrigen
Patienten berechnet.
Resultate
Der Altersdurchschnitt in der ARIC-Studie betrug ~60 Jahre. 44% der Probanden waren
männlich. Die Einnahme von PPI (14-jähriges
Follow-up) entsprach im Vergleich zur Nichteinnahme oder zur Einnahme von H2-Rezeptorenblockern einer Risk Ratio für CNI von
1,45. In der Replikationskohorte ergab sich
während des 6-jährigen Follow-up eine Risk
Ratio von 1,46 bei einer 2× tägl. und eine Risk
Ratio von 1,15 bei einer 1× tägl. Einnahme. Alle
Zahlen waren signifikant.
Probleme
Es handelt sich um Beobachtungsstudien,
weshalb kein Kausalzusammenhang herge-
wirksam erwiesen wie die Gabe von Moxifloxacin über 7 Tage. Die bei den 860 Studienteilnehmern am häufigsten festgestellten Keime waren
Pneumokokken und Haemophilus influenzae.
Zurück zur Makrolidmonotherapie bei erworbener Pneumonie? Vorsicht, damit die neuen
Waffen nicht unbrauchbar werden!
Barrera CM, et al. Lancet Infect Dis. 2016;
16(4):421–30.
Myokardinfarkt: invasive Behandlung
auch bei hochbetagten Personen?
Nur wenige Studien behandeln die Möglichkeit einer invasiven Therapie des Myokardinfarkts bei hochbetagten Personen. 475 80–94
Jahre alte Patienten mit NSTEMI-Infarkt («NonST-Segment-Elevation Myocardial Infarction»)
wurden entweder invasiv oder konservativ behandelt. 47% der invasiv behandelten Patienten (Angiographie) wurden einer perkutanen
Koronarintervention («Percutaneous Coronary Intervention», PCI) unterzogen. Nach 1,5
Jahren war der primäre Endpunkt (Notfallre-
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(26–27):553
stellt werden kann. Es ist nicht auszuschliessen, dass Patienten mit Adipositas oder Hypertonie, die bereits für CNI prädisponiert
waren, häufiger PPI verschrieben wurden. Die
Zahlen blieben jedoch auch nach der Bereinigung signifikant.
Kommentar
Die Magensäure spielt sowohl für die Verdauung als auch als «Keimbarriere» eine bedeutende Rolle. Diese Funktion kann nicht einfach ohne Folgen, insbesondere Infektionen,
unterdrückt werden. Auch CNI gehört also zu
den Nebenwirkungen von PPI, ohne dass die
pathophysiologischen Mechanismen bekannt
wären. Zudem waren unter dem Einfluss der
Medikamente Fälle akuter Niereninsuffizienz
in Form einer interstitiellen Nephritis aufgetreten. Nicht zu vergessen der Einfluss von PPI
auf die Frakturhäufigkeit, aufgrund der verringerten Kalziumresorption im Darm. Die
absolute Zahl der CNI-Patienten war jedoch
gering: 56 Fälle in der ARIC-Studie und 1921 in
der Replikationskohorte. Nichtsdestotrotz
sollte die Verschreibung von PPI auf eindeutige, anerkannte Indikationen beschränkt
und nicht leichtfertig bei unklaren Verdauungsbeschwerden verordnet werden …
Lazarus B, et al. JAMA Intern Med. 2016;
176(2):238–46.
vaskularisation, Schlaganfall oder Tod) bei 41%
der invasiven und 61% der konservativen
Gruppe eingetreten (HR 0,53). Ein hohes Alter
scheint kein Hinderungsgrund für (gerechtfertigten) Interventionismus zu sein …
Tegn N, et al. Lancet. 2016;
387(10023):1057–65.
Zellulitis und unkomplizierte Hautinfektion:
weniger Antibiotika?
In einem Kinderspital wurde während 23 Monaten ein Schulungsprogramm durchgeführt
und die Standarddauer der Antibiotikabehandlung auf ≤7 Tage herabgesetzt. 641 Kinder von
90 Tagen bis 18 Jahre wurden aufgrund einer
Zellulitis oder einer unkomplizierten Hautinfektion behandelt. Ihr durchschnittlicher Spitalaufenthalt betrug 1,2 Tage. Der mediane Anteil der ≤7 Tage lang behandelten Kinder stieg
von 23 auf 74%. Es kam nicht zu mehr Wiedereinweisungen im Vergleich zu einer längeren
Behandlungsdauer. Less is more …
Schuler CL, et al. Pediatrics. 2016;137(2):1–7.
ÜBERSICHTSARTIKEL
554
Daran zu denken reicht schon ...
Paroxysmale nächtliche
Hämoglobinurie
Rudolf Benz a , Georg Stüssi b , Bernhard Gerber b,c
Klinik für Innere Medizin, Abteilung für Hämatologie und Onkologie, Kantonsspital Münsterlingen; b Servizio di Ematologia, Istituto Oncologico
della Svizzera Italiana (IOSI), Bellinzona; c Klinik für Hämatologie, UniversitätsSpital Zürich
a
Trotz Seltenheit der Erkrankung ist bei Coombs-negativer Hämolyse, Zytopenien,
unklaren abdominalen Beschwerden und Thrombosen an eine paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie zu denken. Fortschritte in Diagnostik und Therapie haben die
Behandlung von Betroffenen in den letzten Jahren grundlegend verändert.
Einleitung
Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) ist
wahrscheinlich vielen Lesern aus dem Studium noch
in vager Erinnerung als Krankheit, die so selten ist, dass
man sie eigentlich gleich wieder vergessen kann. Tatsächlich ist die Inzidenz der Krankheit so gering, dass
man im gesamten Berufsleben als Hausarzt möglicherweise nie einen solchen Fall zu Gesicht bekommen
wird. Allerdings haben sich die diagnostischen und
therapeutischen Mittel in den letzten Jahren so grundlegend geändert, dass heute Patienten mit PNH sehr
effizient geholfen werden kann und sowohl das Gesamtüberleben als auch die Lebensqualität dieser Patienten fundamental verbessert werden konnten. Die
klinischen Manifestationen der PNH sind sehr vielfältig, weshalb die Krankheit nicht immer leicht zu diagnostizieren ist. In diesem Artikel versuchen wir, die
unterschiedlichen Manifestationen anhand von zwei
klinischen Fallbeispielen und danach einige wichtige
Aspekte in der Diagnostik und Therapie der PNH aufzuzeigen.
auch nicht auf die Nacht beschränkt, der dunkle Mor-
Die PNH ist eine sehr seltene, erworbene klonale Er-
genurin erklärt sich durch die längere Persistenz des
krankung der hämatopoietischen Stammzellen, die
Urins in der Blase mit Absinken des pH. Die dritte Fehl-
mit einer Inzidenz von etwa einem Fall pro Million pro
bezeichnung ist, dass alle Patienten eine Hämoglobin-
Jahr auftritt. Die Prävalenz der Erkrankung beträgt ca.
urie aufweisen müssen. Diese wird aber nur etwa bei
16 Fälle/1 Million Einwohner. Ohne Therapie wurde eine
einem Drittel der Patienten beobachtet [3].
mittlere Überlebenszeit von zehn Jahren beschrieben
[1]. Die Erkrankung wurde 1882 erstmals umfassend
von Strübing aus Greifswald in der Deutschen Medizini-
Rudolf Benz
Pathophysiologie
schen Wochenschrift beschrieben [2]. Der rein deskrip-
Die wichtigste pathophysiologische Veränderung bei
tive Name wird der Krankheit und der in der Zwischen-
Patienten mit einer PNH ist das Fehlen des Glycosyl-
zeit bekannten Pathophysiologie aber nicht gerecht. Es
Phosphatidylinositol(GPI)-Ankers, der verschiedene Pro-
handelt sich um einen dreifachen Misnomer: Die Er-
teine an der Oberfläche von Körperzellen bindet [4, 5].
krankung verläuft nicht anfallsartig, es handelt sich
Dieses Fehlen ist durch eine Mutation im PIG-A-Gen
um eine kontinuierliche Hämolyse. Die Hämolyse ist
verursacht. Da es sich um eine erworbene genetische
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(26–27):554–560
ÜBERSICHTSARTIKEL
555
Veränderung handelt, sind meist nicht alle Zellen im
des «membrane inhibitor of reactive lysis» (MIRL, CD59)
Knochenmark betroffen. Das Ausmass kann von Pa-
auf Erythrozyten von entscheidender Bedeutung.
tient zu Patient sehr unterschiedlich sein, was auch
Beide Proteine sind natürliche Komplementinhibitoren,
teilweise die grossen Unterschiede der Krankheitsakti-
deren physiologische Rolle es ist, spontan aktiviertes
vität erklären kann. Der Krankheitsanteil kann sich im
Komplement zu inaktivieren. Bei Fehlen dieser Proteine
einzelnen Patienten auch im Verlauf der Zeit ändern,
auf den Erythrozyten kommt es zu einer unkontrol-
weshalb eine regelmässige Kontrolle des PNH-Klones
lierten, Komplement-vermittelten Hämolyse und zur
absolut notwendig ist.
intravasalen Freisetzung von Hämoglobin. Intravasales
Hämoglobin wird physiologischerweise durch Haptoglobin gebunden und somit inaktiviert. Wenn das
Fallbeispiel 1
Bei einem 41-jährigen Mann bestehen seit einigen Jahren
Haptoglobin aufgebraucht ist, akkumuliert das freie
Bauchschmerzen und ein Blähungsgefühl. Es erfolgten wieder-
Hämoglobin im Blut und wird in der Folge über die
holt auch gastroenterologische Abklärungen. Es konnte aber
Nieren ausgeschieden. Diese Hämoglobinurie ist für
keine Ursache der Beschwerden gefunden werden. In einer CT-
den morgendlichen dunklen Urin verantwortlich, tritt
Untersuchung wurde eine enge Stelle im Darm beschrieben,
diese wurde aber nicht operativ angegangen. Der Patient wird
schliesslich während eines Auslandaufenthaltes im dortigen
Spital wegen Nausea, Erbrechens, flüssigen Stuhls, Schüttelfrosts und Fieber notfallmässig beurteilt. Die Blutwerte sind wie
aber bei Weitem nicht bei allen Patienten auf. Die Dunkelfärbung des Urins kann auch von Tag zu Tag variieren (Abb. 1).
Das intravasale Hämoglobin ist der zentrale pathophy-
folgt: Leukozyten 2,97 G/l, Hämoglobin 112 g/l, Thrombozyten
siologische Mechanismus der PNH. Es führt zu einem
118 G/l, LDH 1355 U/l, CRP 5,2 mg/l. Bei milder Panzytopenie,
Abbau von Stickstoff-Monoxid (NO) und damit zu einer
normalem Differentialblutbild, LDH-Erhöhung und dunklem Urin
mit Hämoglubinurie wird unter Berücksichtigung der klinischen
Symptomatik der Verdacht auf eine paroxysmale nächtliche
Hämoglobinurie (PNH) gestellt (Abb. 1). Die Diagnose kann mittels Flowzytometrie bestätigt werden (Abb. 2).
vermehrten Aktivität der glatten Muskulatur. Dadurch
sind die klinisch häufig sehr störenden Spasmen zu erklären, die zu Schluckbeschwerden, Bauchschmerzen
und zu einer erektilen Dysfunktion führen können.
Die chronische Erhöhung des Gefässtonus verursacht
Für den Phänotyp der Krankheit sind vor allem das
längerfristig eine Hypertonie des grossen und kleinen
Fehlen des «decay-accelerating factor» (DAF, CD55) und
Kreislaufs. Ebenfalls ist das freie Hämoglobin mit dem
gebundenen Eisen neben dem erhöhten Gefässtonus
ein Hauptfaktor für die Entwicklung einer chronischen
Niereninsuffizenz.
Fallbeispiel 2
Bei einer 25-jährigen Patientin wird in der 38. Schwangerschaftswoche wegen Verdachts auf ein HELLP(«hemolysis, elevated liver
enzymes, and low platelet count»)-Syndrom bei hämolytischer
Anämie und Thrombozytopenie eine Notfallsectio durchgeführt.
Die Leukozytenzahl ist normal, die Thrombozyten 46 G/l und das
Hämoglobin 107 g/l bei einem MCV von 112 fl. Nach der Geburt
erholt sich die Patientin kaum und ist anhaltend sehr müde. Es
persistierte eine Coombs-negative hämolytische Anämie mit einer
Hämoglobinkonzentration um 105 g/l. Eine erste Knochenmarkpunktion ein Jahr später ergibt den Verdacht auf ein Myelodysplastisches Syndrom (MDS). Eine Knochenmark-Repunktion ein
halbes Jahr später lässt die Diagnose eines MDS zwar nicht
mehr zu, in der Flowzytometrie (FLAER-Analyse) findet sich aber
ein deutlicher PNH-Klon (95%) (Abb. 1 und 2).
Thromboembolische Ereignisse sind die wichtigste klinische Manifestation der PNH und machen den Hauptanteil der erhöhten Morbidität und Mortalität aus.
Abbildung 1: Klinische Bilder und Knochenmark.
A: Urinprobe des Patienten in einem asymptomatischen Intervall. B: Urinprobe des
Patienten zum Zeitpunkt verstärkter hämolytischer Aktivität. C: Knochenmarkzytologie
mit gesteigerter Zellularität und eindrücklich vermehrter Erythropoiese mit Linksverschiebung der Ausreifung mit zahlvermehrten makroblastär veränderten Proerythroblasten (Pfeil).
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(26–27):554–560
Die PNH ist einer der stärksten thromboembolischen
Risikofaktoren. Die Pathophysiologie der erhöhten
Thromboseneigung ist noch ungeklärt. Komplement,
Gerinnungsfaktoren, Zellfragmente und fehlende Oberflächenantigene können eine Rolle spielen (Abb. 3).
ÜBERSICHTSARTIKEL
556
Abbildung 2: Flowzytometrie aus peripherem Blut eines Patienten mit PNH-Klon.
Multiparametrische flowzytometrische Untersuchung aus peripherem Blut. Gesunde Neutrophile Granulozyten exprimieren an
ihrer Oberfläche das GPI-Anker-gebundene CD24, gesunde Monozyten das ebenfalls GPI-Anker-gebundene CD14. FLAER bindet
direkt an den GPI-Anker von Neutrophilen Granulozyten und Monozyten.
A (Scattergramm): 31,2% der Neutrophilen Granulozyten zeigen an der Oberfläche weder CD24 noch den GPI-Anker und entsprechen der PNH-Klongrösse. B (Histogramm): 31,2% der Neutrophilen Granulozyten sind FLAER-negativ. C (Scattergramm):
22,2% der Monozyten exprimieren an ihrer Oberfläche weder CD14 noch den GPI-Anker und entsprechen der PNH-Klongrösse.
D (Histogramm): 22,1% der Monozyten sind FLAER-negativ.
Abkürzungen: PNH = paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie; GPI = Glycosyl-Phosphatidylinositol; FLAER = FluroeszenzAerolysin.
Thrombosen können im arteriellen und venösen Schen-
werden, während erektile Dysfunktion und Thorax-
kel auftreten, sind oft in atypischer Lokalisation und
schmerzen bei 40% vorliegen. Schluckbeschwerden
werden auch unter suffizienter Antikoagulation beob-
werden bei bis zu 30% beobachtet, und die Nierenfunk-
achtet. Die häufigsten thromboembolischen Ereignisse
tion ist bei 14% der Patienten eingeschränkt. Abhängig
an atypischer Lokalisation finden sich im Gastrointes-
vom Ausmass der Hämolyse sind Hämolysezeichen
tinaltrakt (Budd-Chiari-Syndrom, Lebervenenthrombo-
wie Hämoglobinurie und Sklerenikterus zu beobach-
sen) sowie im Zentralnervensystem (Sinusvenenthrom-
ten. Die Tabelle 1 zeigt die Indikationen zur Suche eines
bosen).
PNH-Klons adaptiert nach den Onkopedia-Leitlinien
[7]. Neben den oben beschriebenen Situationen sollte
Klinik und Diagnostik der PNH
auch bei einer aplastischen Anämie oder bei einem
hypoplastischen myelodysplastischen Syndrom und
Durch die bessere Erfassung der PNH-Patienten in Re-
im Abklärungsprozess von persistierenden Zytopenien
gistern ist das Ausmass der Klinik besser bekannt [6].
ein PNH-Klon gesucht werden. In einzelnen Fällen
Im Vordergrund stehen bei 60–80% der erkrankten
sollte eine PNH auch bei rezidivierenden Bauchschmer-
Patienten Müdigkeit, Kopfschmerzen und Dyspnoe.
zen oder Dysphagien, insbesondere im Zusammenhang
Diese Symptome treten unabhängig von der Grösse
mit einer Hämolyse, gesucht werden.
des PNH-Klons auf. Weiter können abdominale Be-
Obwohl die PNH, wie ausgeführt, für venöse Thrombo-
schwerden bei etwa der Hälfte der Patienten beobachtet
sen und vereinzelt auch arterielle Ereignisse [8] verant-
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2016;16(26–27):554–560
ÜBERSICHTSARTIKEL
557
Somatische Mutation auf X-Chromosom
in hämatopoetischer Stammzelle im
PIG-A Gen
Vermehrte Aktivität der glatten Muskulatur
mit Spasmen.
Intravasales Hämoglobin baut NO ab.
Fragmente der Erythrozyten und freigesetzte
Inhaltsstoffe sind prothrombogen.
Hämolyse
Durch das Fehlen von CD55 auf den
Erythrozyten kann der Komplementfaktor C3b nicht neutralisiert werden.
Durch das Fehlen von CD59 kann
der Komplementfaktor C5b nicht
blockiert werden, was zur unkontrollierten Bildung des Membranattackierenden Komplexes (MAC)
führt, der Löcher in die Erythrozytenmembran macht, welche für die
Hämolyse verantwortlich sind.
Thrombose
Das Ankerprotein kann nicht gebildet werden.
Das Fehlen von CD55 und CD59 auf den
Thrombozyten führt über das angelagerte
Komplement zur Aktivierung der Thrombozyten. Auch das Fehlen des Urokinaserezeptors CD87 auf den Monozyten und des
«tissue factor pathway inhibitor» (TFPI) trägt
zur erhöhten Thromboseneigung bei.
Monozyten Neutrophile Lymphozyten Thrombozyten Erythrozyten
Verschiedene Strukturen können damit nicht
an die Oberfläche der Zellen fixiert werden.
Diese werden mehrheitlich mit CD
«cluster of differentiation» bezeichnet.
CD14
CD16
CD48
CD55
CD55
CD48
CD24
CD52
CD59
CD59
CD55
CD55
CD55
CD59
CD59
CD59
CD87
CD66
CD87
Acetylcholinesterase
TFPI
Abbildung 3: Zusammenfassung der Pathogenese und der daraus folgenden zentralen, klinischen Zeichen.
wortlich sein kann, besteht bei typischen, idiopathi-
schiede im Dünndarm nachweisen [11]. Verschiedene
schen Venenthrombosen keine Indikation für eine
Anwendungen sind in Zukunft vorstellbar. So könnten
routinemässige Suche eines PNH-Klons [9]. Bei Sinus-
gerade Patienten mit Niereninsuffizienz, die bei der PNH
venenthrombosen und Abdominalvenenthrombosen
gehäuft vorkommt, ohne Kontrastmittel-verstärkte
kann aber eine PNH beobachtet werden, so dass eine
Computertomographie (CT) eine aussagekräftige Dia-
Suche in unklaren Einzelfällen Sinn machen kann [10].
gnostik erhalten. Bei Neudiagnosen mit isolierten Ab-
Gerade in der Abklärung zerebraler arterieller und
dominalbeschwerden könnte eher zwischen funktionel-
venöser Ereignisse ist die Magnetresonanztomographie
len und ischämischen Ursachen unterschieden werden
(MRT) seit langem der Goldstandard. Eine neuere Arbeit
und vor respektive nach Beginn einer Therapie der
konnte bei abdominalen Beschwerden und Vorliegen
Effekt auf die Perfusion im Dünndarm direkt dargestellt
einer PNH mittels MRT signifikante Perfusionsunter-
werden.
Tabelle 1: Indikationen für die Suche nach einem PNH-Klon, adaptiert nach den Onkopedia-Leitlinien [7].
Erworbene, Coombs-negative hämolytische Anämie (ohne Zeichen einer mikroangiopathischen hämolytischen Anämie)
Intravasale Hämolyse (Haptoglobin nicht nachweisbar, Hämoglobinurie, erhöhtes freies Plasmahämoglobin)
Thrombosen, mit mindestens einem der folgenden Kriterien:
• «Atypische» Lokalisation (Sinusvenenthrombose, Budd-Chiari-Syndrom, Mesenterial- oder Pfortader- oder Milzvenenthrombose, dermale Thrombosen)
• Thrombosen (unabhängig von ihrer Lokalisation) bei Patienten mit Zeichen einer hämolytischen Anämie
(LDH erhöht / Haptoglobin erniedrigt)
• Thrombosen (unabhängig von ihrer Lokalisation) in Verbindung mit unklarer Zytopenie
Patienten mit unklarer Eisenmangelanämie (nach sorgfältigem Ausschluss anderer Ursachen) in Verbindung mit Zeichen
einer hämolytischen Anämie
Diagnose oder dringender Verdacht auf aplastische Anämie
Diagnose eines Myelodysplastischen Syndroms (nur bei niedrigem WPSS) insbesondere bei hypoplastischem Myelo dysplastischem Syndrom
Zeichen rezidivierend auftretender abdomineller Schmerzkrisen unklarer Genese oder Dysphagie, insbesondere
bei gleichzeitiger Hämolyse
Abkürzungen: PNH = paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie; LDH = Lactatdehydrogenase; WPSS = WHO classification-based Prognostic
Scoring System.
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Tabelle 2: Klinische Zeichen der PNH und empfohlene Abklärung.
Für die PNH typisches Labor
Anämie mit Coombs-negativer Hämolyse (erhöhte LDH,
Abklärung der Coombs-negativen
Retikulozyten und Bilirubin und erniedrigtes Haptoglobin) Hämolysen
und weitere Zytopenien
Weitere Abklärung
Bauchschmerzen
Hämolytische Anämie und allenfalls weitere Zytopenien.
Labor ansonsten unspezifisch. Allenfalls erhöhtes Lactat
Weiterabklärung mittels Ultraschall, CT
oder MRT zur Thrombose- und Ischämiesuche.
Atypische
Thrombosen
Im Blutbild Zytopenien, insbesondere eine Anämie
Ultraschall, CT oder MRT zur Suche von
Thrombosen. Blutbild mit Retikulozyten
Blutungen
Thrombozytopenie und weitere Zytopenie, insbesondere
Hämolysezeichen
Quick, aPTT und allenfalls weitere
Gerinnungsparameter
Infekte
Neutropenie und hämolytische Anämie
Infektfokussuche, CRP und weitere
mikrobiologische Untersuchungen
PNH-Flowzytometrie
Klinisches Zeichen
Müdigkeit
Abkürzungen: PNH = paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie; LDH = Lactatdehydrogenase; CT = Computertomographie; MRT = Magnetresonanztomographie; aPTT = aktivierte partielle Thromboplastinzeit; CRP = C-reaktives Protein.
Der wichtigste diagnostische Schritt ist daher, an die
lyse und tiefer Lactatdehydrogenase (LDH) kann mit
PNH zu denken. Aufgrund der Seltenheit der Erkran-
einer Therapie zugewartet werden. Diese Patienten
kung und der Vielzahl klinischer Manifestationen ist
müssen aber engmaschig kontrolliert werden.
dies nicht immer einfach (Tab. 2). Bei Verdacht auf eine
Bei symptomatischer PNH sollte jedoch möglichst
PNH sollte eine klinisch manifeste Hämolyse gesucht
rasch eine Therapie mit Eculizumab (Soliris®) begonnen
werden. Ein Coombs-Test zum Ausschluss einer immun-
werden. Eculizumab ist ein monoklonaler Antikörper,
mediierten Hämolyse sowie eine Handdifferenzierung
der die Komplementaktivierung und somit die Hämo-
zum Ausschluss von Fragmentozyten sollten in jedem
lyse blockiert. Nach einer initial wöchentlichen Gabe
Fall veranlasst werden.
wird das Medikament alle zwei Wochen intravenös in
Die exakte Diagnose eines PNH-Klons kann mittels
einer Infusion von ca. 45 Minuten verabreicht. Die vor
Immunphänotypisierung mit grosser Sensitivität und
der Einführung von Eculizumab angewandte alleinige
Spezifität schnell, zuverlässig und kostengünstig
symptomatische Therapie mit Transfusionen und Anti-
gestellt werden. Aus diesem Grund haben genetische
koagulation mit Vitamin-K-Antagonisten bei Throm-
Untersuchungen im klinischen Alltag bei dieser Er-
bosen ist in Anbetracht der schwerwiegenden Kompli-
krankung keine Bedeutung. Bei der Diagnosestellung
kationen, die im Rahmen der PNH auftreten können,
macht man sich das Fehlen einzelner Oberflächenpro-
in den Hintergrund gerückt.
teine zunutze, die normalerweise mittels GPI-Anker an
Die Therapie mit Eculizumab hat die Behandlung von
die Zelloberfläche gebunden sind. Da der GPI-Anker
Patienten mit PNH grundlegend verändert, obwohl in
eine grundlegende Struktur für die Bindung von Pro-
der Cochrane-Analyse aufgrund der geringen Fallzahlen
teinen an der Zelloberfläche ist, fehlen diese nicht nur
und der limitierten Studien keine Empfehlung für den
auf den Erythrozyten, sondern auf den meisten Blut-
Einsatz abgegeben wurde [13]. In allen Studien, aber
zellen. Man kann deshalb den PNH-Klon auch in Mo-
auch im klinischen Alltag, erleben die Patienten eine
nozyten und Granulozyten suchen. Im Vergleich zu ge-
ausgeprägte und sofortige Verbesserung ihrer Lebens-
sunden Personen fehlt auf den Monozyten CD14 und
qualität. Insbesondere die PNH-assoziierten Sympto-
auf den neutrophilen Granulozyten CD24. Auf den
me wie Müdigkeit, Schluckbeschwerden und Bauch-
Erythrozyten fehlen CD55 und CD59. Der Test mit atte-
schmerzen verbessern sich oft schon nach der ersten
nuiertem Aerolysin, das spezifisch an den GPI-Anker
Verabreichung. Auch längerfristig hat Eculizumab die
bindet, kann die Zellgruppe am genauesten erfassen
Komplikationen und systemischen Symptome deutlich
(Fluoreszenzaerolysin, FLAER) (Abb. 2) [12].
gesenkt. Die Hämolyse nimmt in der Mehrheit der
Fälle so weit ab, dass auf Transfusionen verzichtet werden kann und die Inzidenz von thromboembolischen
Therapie
Komplikationen unter Eculizumab-Therapie praktisch
Wenn eine PNH diagnostiziert wird, richtet sich die
derjenigen der Normalbevölkerung entspricht [14]. Pas-
Therapie nach der Klinik. Bei asymptomatischen Pati-
send dazu kann unter etablierter Antikörpertherapie
enten mit alleinigem Nachweis eines PNH-Klons muss
ein signifikanter Rückgang der Gerinnungsaktivierung
nicht zwingend eine Therapie erfolgen. Auch bei einem
festgestellt werden [15]. Durch die Reduktion der
asymptomatischen Patienten ohne Thromboembo-
Thromboserate kann im Verlauf auch eine einmal eta-
lien, mit sehr milder, klinisch kompensierter Hämo-
blierte Antikoagulation reevaluiert werden, wobei hier
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559
klare Daten zur Sicherheit nach Absetzen einer Anti-
der PNH-Patienten führt dies zu anhaltender Trans-
koagulation fehlen.
fusionsbedürftigkeit, da die Milz die C3-beladenen
Da die Therapie mit Eculizumab aber äusserst teuer ist
Erythrozyten extravasal eliminiert, obwohl die intra-
(464 000 CHF/Jahr reine Medikamentenkosten, Schwei-
vasale Hämolyse durch Eculizumab deutlich verbes-
zer Arzneimittel-Kompendium), ist eine Standortbe-
sert wird [20].
stimmung bei einem spezialisierten Arzt vor Therapie-
In der Schwangerschaft und nach der Entbindung ist
beginn unabdingbar. Im Falle einer symptomatischen
das Risiko für venöse Thrombosen per se erhöht. Bei
PNH und insbesondere von thromboembolischen
PNH-Patientinnen steigt dieses noch zusätzlich stark
Komplikationen sollte dies sehr rasch geschehen, da
an [21] und kompliziert eine Schwangerschaft um einen
sich der klinische Zustand der Patienten bei unbehan-
weiteren Faktor. Eine wirksame Therapie zur Vermin-
delter PNH relativ rasch verschlechtern kann. Der Pati-
derung dieses Risikos wäre daher wünschenswert, da
ent muss an einem Zentrum vorgestellt werden, damit
die Diagnostik und Therapie von thrombotischen
eine Kostengutsprache für die Therapie beantragt und
Ereignissen in der Schwangerschaft zusätzlich kompli-
der Patient in ein schweizerisches PNH-Register aufge-
ziert ist. Obwohl der Einsatz von Eculizumab formal in
nommen werden kann. Die Aufnahme ins Register ist
der Schwangerschaft nicht zugelassen ist, wird er von
eine Vorgabe des Bundesamtes für Gesundheit (BAG)
allen Spezialisten empfohlen. Ein signifikanter Über-
zur systematischen Erfassung des Therapieerfolges
tritt des Antikörpers in den kindlichen Kreislauf konnte
und eine Voraussetzung für die Durchführung der
nicht nachgewiesen werden [22, 23]. Auch bei Kindern
Therapie.
ist das Medikament wirksam und sicher, wie in einer
Der Patient muss an einem Zentrum vorgestellt
werden, damit eine Kostengutsprache für
die Therapie beantragt und der Patient in
ein schweizerisches PNH-Register aufgenommen
werden kann.
kürzlich durchgeführten Phase-I/II-Studie gezeigt werden konnte [24]. Eine Zulassung besteht aber weder für
Kinder noch in der Schwangerschaft.
Etwa die Hälfte der Patienten mit Nachweis eines PNHKlons zeigen eine begleitende hämatologische Erkrankung, wobei die aplastische Anämie (AA) mit Abstand
Eculizumab inaktiviert den Komplementfaktor C5 und
die häufigste Krankheit ist (43,5% der gesamten Kohorte).
durchbricht somit die natürliche Komplementkas-
Eine Erklärung für die Assoziation zur AA könnte in
kade, die in der unspezifischen Infektabwehr von zen-
den fehlenden Antigenen der PNH-Zellen liegen, was
traler Bedeutung ist [17]. Erstaunlicherweise führt die
einen immunologischen Angriff auf diese Zellen mög-
Therapie mit Eculizumab kaum zu einer signifikant
licherweise verhindert. Bei Vorliegen einer hämato-
erhöhten Infektneigung, mit Ausnahme des deutlich
logischen Erkrankung mit Begleit-PNH-Klon wird die
erhöhten Risikos für eine Meningokokken-Infektion.
Therapie gemäss Richtlinien der jeweiligen hämato-
Entsprechend sollten alle Patienten vor Therapiebe-
logischen Grundkrankheiten durchgeführt [16]. Das
ginn mit dem tetravalenten Meningokokken-Impfstoff
Ansprechen auf eine immunsuppressive Therapie bei
geimpft werden. Der durch die European Medicines
AA-Patienten mit nachgewiesenem PNH-Klon ist meist
Agency EMA zugelassene Impfstoff gegen Meningokok-
besser als bei Patienten ohne PNH-Klon [16]. In dieser
ken B ist in der Schweiz noch nicht zugelassen, sollte
Situation kann auch eine allogene Stammzelltransplan-
aber, wenn verfügbar, auch in Betracht gezogen werden
tation in Erwägung gezogen werden, die bei Patienten
[18]. Eine Gonokokken-Infektion tritt sehr viel seltener
mit alleiniger PNH im Allgemeinen nicht empfohlen
auf [19]. Alle Patienten unter einer Behandlung mit
wird [25], da sie mit einer sehr hohen peritransplantären
Eculizumab müssen ein gegen Meningokokken wirk-
Mortalität assoziiert ist.
sames Reserveantibiotikum zu Hause haben (z.B. Ciprofloxacin 750 mg). Patienten sollen sich bei Fieber mit
ihrem Arzt in Verbindung setzen.
Ausblick
In Einzelfällen kann ein positiver monospezifischer
Trotz Klärung der Entstehung der PNH fehlen auf-
DAT («direct antiglobulin test») für C3 während der
grund der Seltenheit der Erkrankung umfassende Daten,
Eculizumab-Therapie beobachtet werden, der sich durch
die klarere Parameter für den Einsatz der äusserst teu-
die Blockade des Komplements ab C5 erklären lässt.
ren Therapie mit Eculizumab geben. Es ist daher zen-
Eculizumab blockiert den terminalen Anteil der Kom-
tral, dass die Krankheit bei Verdacht gesucht wird und
plementkaskade ab C5. Die Faktoren, die früher in der
Patientenfälle in zentralen Registern gemeldet und
Kaskade liegen – insbesondere der Komplementfaktor
engmaschig durch einen mit der Krankheit vertrauten
C3 –, bleiben aber weiter aktiv und lagern sich an der
Arzt nachverfolgt werden. Ein solches Register ist be-
Oberfläche der Erythrozyten an. Bei etwa einem Drittel
reits etabliert und wird in Zukunft hilfreich sein, um
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Korrespondenz:
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Therapieindikationen noch besser zu stellen. Im Weite-
Dr. med. Rudolf Benz
ren ist die Therapie zwar wirksam und ein grosser Fort-
Kantonsspital Münsterlingen
schritt für die betroffenen Patienten. Als rein sympto-
CH-8596 Münsterlingen
rudolf.benz[at]stgag.ch
matische Komplementinhibierung behandelt sie aber
nicht die eigentliche Störung. Auch hier ist zu hoffen,
dass in Zukunft mit den rasch wachsenden Möglichkeiten ein Weg für noch gezieltere Therapien gefunden
werden kann.
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Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Titelbild
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Literatur
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Das Wichtigste für die Praxis
• Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie ist eine Erkrankung, die sich
typischerweise mit einer Coombs-negativen Hämolyse, Zytopenien,
Thrombosen und Bauchschmerzen manifestiert.
• Trotz Seltenheit der Erkrankung lässt sie sich mittels Flowzytometrie
sicher nachweisen oder ausschliessen.
• Die Therapie und Prognose haben sich seit der Einführung des Komplementantagonisten Eculizumab stark verbessert.
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RICHTLINIEN
561
Therapieempfehlungen des Schweizer Expertennetzwerks für Burnout (SEB)
Burnout-Behandlung Teil 2:
Praktische Empfehlungen
Barbara Hochstrasser a, 1, Toni Brühlmann b, 2 , Katja Cattapan c, 1, Josef Hättenschwiler d, 2 , Edith Holsboer-Trachsler e, 1,
Wolfram Kawohl f, 1, Beate Schulze g, 1, Erich Seifritz h, 2 , Wilmar Schaufeli i, 1, Andi Zemp j, 1, Martin E. Keck k, 1/2
Privatklinik Meiringen, Meiringen; b Privatklinik Hohenegg, Meilen am Zürichsee; c Sanatorium Kilchberg, Kilchberg, und Universitätsklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie, Bern; d Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung, Zürich; e Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK), Basel; f Klinik für Psychiatrie,
Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich; g Schulze Resource Consulting, Zürich und Genf, sowie Universität Leipzig,
Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health, Leipzig, Deutschland; h Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische
Universitätsklinik, Zürich; i Universität Utrecht, Niederlande, und KU Leuven, Belgien; j Privatklinik Wyss, Münchenbuchsee; k Max-Planck-Institut für
Psychiatrie, München, Deutschland
a
1
2
Schweizer Expertennetzwerk für Burnout (SEB)
Schweizerische Gesellschaft für Angst & Depression (SGAD)
Im Auftrag der Ständigen Kommission Qualität der FMPP/SGPP-Mitglieder Daniel Bielinski und Anouk Gehret.
Die Artikel in der Rubrik
Aus psychiatrischer Sicht ist Burnout keine Krankheit
nicht ausschliesslich, arbeitsbedingte Stressbelastun-
«Richtlinien» geben nicht
im engeren Sinne und wird weder in der ICD-10 [1] noch
gen. Die Symptomatik ist individuell variabel, lässt
unbedingt die Ansicht der
der DSM-5 als eigentliche psychiatrische Diagnose auf-
sich aber in vier Dimensionen einteilen (Tab. 1).
geführt (siehe dazu Therapieempfehlungen «Burnout-
Da Burnout als Prozess zu verstehen ist, der sich von
SMF-Redaktion wieder.
Die Inhalte unterstehen der
Behandlung Teil 1: Grundlagen», SMF 25/2016). Burnout
einer zunehmend chronischen Stressbelastung meist
Fachgesellschaft bzw.
ist vielmehr ein Risikozustand, der bei Chronifizierung
zu einer Depression mit deutlicher Belastungsinsuffi-
Arbeitsgruppe.
einer andauernden Stressbelastung zu psychiatrischen
zienz entwickelt, ist die Symptomatik abhängig vom
und somatischen Folgeerkrankungen führen kann.
Stadium der Burnoutentwicklung. Ein vereinfachtes
Aktuell existieren wenige Studien zur Therapie von
Phasenmodell des Burnouts beschreibt drei Stadien
Burnout, die nach den Kriterien der evidenzbasierten
(Tab. 2).
redaktionellen Verantwortung der unterzeichnenden
Medizin randomisiert, plazebokontrolliert und doppelblind durchgeführt wurden. Aufgrund einer weitreichenden Überschneidung zwischen Burnout und
Depression, komorbiden Angst-, Abhängigkeits-, Schlafund anderen psychiatrischen Störungen [2] setzen sich
Tabelle 1: Symptomatik bei Burnout.
Psychische
Symptome
Emotionale Erschöpfung
Emotionale Labilität
Reizbarkeit
Aggressivität
Unsicherheit
Ängste, Panik
Niedergeschlagenheit
Motivationsverlust
Körperliche
Symptome
Müdigkeit
Erholungsunfähigkeit
Schlafstörungen
Vegetative Symptome (Verdauungs­
störungen, multiple Schmerzen in Bauch,
Rücken, Nacken, Zähnen, Kopf)
Infektanfälligkeit
Kognitive
Symptome
Aufmerksamkeitsstörung
Konzentrationsstörung
Gedächtnisstörung
Entscheidungsschwierigkeit
Reduzierte geistige Flexibilität
Verhaltensänderungen
Erhöhte oder verminderte Aktivität
Sozialer Rückzug
Suchtverhalten
Leistungsminderung
Arbeitsabwesenheit
Unfalltendenz
Reduzierte Belastbarkeit
die hier geschilderten Therapieempfehlungen aus der
Literatur zu den einzelnen Erkrankungen sowie der klinischen Praxis und Erfahrung der Autoren zusammen.
Die vorliegenden Behandlungsempfehlungen wurden
im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Psych­
iatrie und Psychotherapie (SGPP) vom Schweizer Exper­
tennetzwerk für Burnout (SEB) unter Mitwirkung der
Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression
(SGAD) erstellt.
Klinische Präsentation
Die klinische Präsentation von Burnout ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte und andauernde Erschöpfung bei gleichzeitig beeinträchtigter Erholungsfähigkeit, begleitet durch Symptome einer Stressbelastung
wie hohe Reizsensibilität, Aggressivität, emotionale Labilität, Aufmerksamkeitsstörungen, multiple vegetative
Symptome, Schlafstörungen und Leistungseinbussen.
Burnout entsteht durch chronische, vorwiegend, aber
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RICHTLINIEN
562
Tabelle 2: Vereinfachtes Phasenmodell des Burnoutprozesses.
Stadium
Stadium 1
Stadium 2
Stadium 3
Erhöhte Stressbelastung
Leichtes oder
mittelschweres Burnout
Schweres Burnout mit
klinischer Depression
Diagnose
Hauptsächliche Symptome
Evaluation und Differentialdiagnose
Nervosität, Reizbarkeit, Aufmerksamkeitsstö­
rungen, Überaktivität, vegetative Symptome,
unregelmässige Schlafstörungen, Symptomatik
reversibel bei längerer Erholungsphase
Erschöpfung und weitere Symptome bei Burnout sind
Erschöpfung, regelmässige Schlafstörungen
(Ein­ und Durchschlafstörungen), reduzierte
Aktivität, sozialer Rückzug, emotionale Labilität,
Überdruss, Demotivierung, reduzierte
Erholungsfähigkeit, dauerhafte vegetative
Symptome, multiple Schmerzen, kognitive
Symptome (Konzentrations­ und Gedächtnis­
störungen), Niedergeschlagenheit, Interesse
und Freudfähigkeit erhalten
nistischer und gegebenenfalls neurologischer Erkran-
Ausgeprägte Erschöpfung, reduzierte Erho­
lungsfähigkeit, Schlafstörungen, Früherwachen,
Freud­ und Interesselosigkeit, Depressivität,
Reduktion von Appetit und Libido, ausgeprägte
kognitive Symptome, dauerhafte vegetative
Symptome, multiple Schmerzen, Hoffnungs­
losigkeit, unter Umständen Suizidalität
nicht spezifisch für dieses Syndrom, so dass eine
gründliche Differentialdiagnose psychiatrischer, interkungen mit einer anfänglichen Evaluation vorgenommen werden muss. Dabei geht es einerseits darum,
primäre körperliche oder psychiatrische Erkrankungen abzuklären, andererseits jedoch auch komorbid
mit Burnout auftretende Störungen zu erfassen.
Internistisch­neurologisch
Aus internistisch-neurologischer Sicht muss eine
Reihe von Differentialdiagnosen, die ebenfalls mit
chronischer Erschöpfung einhergehen können, ausgeschlossen werden. Neben endokrinen und neurologischen Störungen sind infektiöse, onkologische und
Tabelle 3: Auswahl medizinischer Differentialdiagnosen.
autoimmune Erkrankungen besonders zu beachten.
Fachbereich
Wichtigste Differentialdiagnosen
Zudem sind kardiovaskuläre Erkrankungen, meta-
Internistisch
z.B. schwere Anämie, Vitamin­D3 ­Mangel, metabolisches
Syndrom, hypophysäre/hypothalamische Erkrankungen
bolisches Syndrom, Diabetes, Adipositas und Schlaf-
Neurologisch
z.B. Schlafapnoe, Restless legs, Pickwick­Syndrom,
Myopathien, Enzephalitiden, Krampfanfälle, Status nach
Schädel­Hirn­Trauma, Multiple Sklerose, Myasthenia gravis,
Morbus Parkinson, Borreliose des Zentralnervensystems
Endokrin
störungen mit Burnout assoziiert [3, 4]. Relevante
somatische Differentialdiagnosen sind in Tabelle 3
aufgeführt.
z.B. Hypophyseninsufffizienz (auch nach Bagatell­Schädel­
Hirn­Trauma), Hypothyreose, Diabetes, Morbus Cushing,
Morbus Addison
Psychiatrisch
Infektiös
z.B. Borreliose, Schlafkrankheit, chronische Tuberkulose, HIV,
Epstein Barr, Malaria
eine der in Tabelle 4 erwähnten psychiatrischen Dia-
Onkologisch
z.B. Kraniopharyngeom, Lambert­Eaton­Syndrom, Tumoren/
Paraneoplasien jeder Art
Medikamentös
z.B. Antihypertensiva, Sedativa, Benzodiazepine, sedierende
Antidepressiva, Antipsychotika
Tabelle 4: Wichtigste psychiatrische Differentialdiagnosen von Burnout.
Psychiatrisch ist es zwingend zu beurteilen, inwiefern
gnosen vorliegt. Sie können als Folgeerkrankung von
Burnout auftreten oder unabhängig davon vorliegen
und als Burnout fehlinterpretiert werden. Daher sind
sie Differentialdiagnostisch abzugrenzen. Bei Vorliegen
einer psychiatrischen Folgeerkrankung aufgrund einer
Burnoutentwicklung lässt sich meist eine ausgeprägte
Psychische Störung
Zu beachtende Merkmale
Erschöpfungskomponente beobachten.
Depressive Störungen
Depressive Stimmung, Interesselosigkeit, Früherwachen,
ausgeprägte kognitive Störungen, veränderte Psychomotorik,
Suizidalität, Cave: Bipolare Depression mit Phasen der Manie
Hinsichtlich der psychiatrischen Evaluation und Diffe-
Angststörungen
Klassische Panikattacken, antizipatorische Ängste,
spezifische Phobien
Neurasthenie
Langdauernde und chronisch reduzierte Belastbarkeit und
Erschöpfungstendenz bei geringfügigen geistigen oder
körperlichen Anstrengungen
Sucht (Alkohol, Sedativa) Anamnese der langdauernden, nicht mehr unterbrechbaren
Einnahme, eventuell Entzugserscheinungen
rentialdiagnose sind neben klinischen Kriterien auch
Fragebogen (Selbst- und Fremdeinschätzung) hilfreich.
Besonders empfehlenswert sind Skalen zur Einschätzung
des Burnouts (siehe Tab. 5), wobei die «Shirom-Melamed
Burnout Mesure» (SMBM) einfacher erhältlich und einfacher interpretierbar ist (im Internet verfügbar unter
http://www.fzkwp.uzh.ch/services/Stressmgmt/ZEP-1/
Hyperaktivitätssyndrom
Nervosität, Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität, Stim­
mungsschwankungen, anamnestisch seit Kindheit vorhanden
Fragebogen.html). Zur Erfassung der Depression dienen
Anpassungsstörungen
Kurz­ oder langdauernde Veränderungen in Stimmung und
Verhalten als Folge von Ereignissen, die nicht für eine andere
Störung qualifizieren
schätzung). Zudem lassen sich mittels einer Angstskala,
Zwangsstörung
Zwangsgedanken und Rituale, die deutlich beeinträchtigend
wirken und vor der Stressbelastung schon vorlagen
Persönlichkeits­
akzentuierung,
Persönlichkeitsstörung
Entsprechende Kognitionen und Verhaltensmuster, vor
allem mit narzisstischer, abhängiger oder selbstunsicherer
Prägung
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validierte Depressionsskalen (Fremd- und Selbsteineiner Hypomanieskala (Differentialdiagnose: Bipolare
Depression), Skalen zur Erfassung psychosomatischer
Symptome und eines Fragebogens zur Tagesschläfrigkeit die weiteren wichtigen Differentialdiagnosen unterstützen. Diese sind in Tabelle 5 fett markiert.
RICHTLINIEN
563
Therapie
eine einzige Interventionsstrategie ungeeignet, um
alle Ebenen von Burnout zu behandeln [5]. Die Therapie
Ziele der Therapie von Burnout sind eine stabile Remis-
muss daher wie jede psychiatrisch-psychotherapeu-
sion einer komorbiden depressiven Störung, die Erneu-
tische Intervention mehrdimensional erfolgen. Die
erung von Vitalität und Erholungsfähigkeit, die Wieder-
hier aufgeführten Dimensionen beziehen sich auf die
herstellung der Belastbarkeit hinsichtlich sozialer und
jeweiligen im Vordergrund stehenden Behandlungs-
beruflicher Funktionen sowie die Verstärkung kon-
aspekte. Sie haben sich in der Praxis als sinnvoll her-
struktiver Bewältigungsstrategien. Eine zentrale Rolle
ausgestellt, jedoch gibt es hierzu keine kontrollierten
spielen dabei neben physiologischen und psychopatho-
Studien.
logisch depressiven Symptomen insbesondere auch
kognitive Funktionen und die Beachtung einer neur-
Patientenbegleitung
asthenischen Komponente. Liegt Burnout als Risiko-
Ein Patient mit einem Burnout bedarf einer aktiven
zustand vor, ist die ambulante Therapie häufig zielfüh-
Führung und Begleitung durch den Behandler. Beson-
rend. Bei einer ausgeprägten Erschöpfungsdepression
ders leistungsorientierte und erfolgsgewohnte Men-
(Cave: Suizidalität) erfolgt die stationäre Behandlung.
schen sind sich in einem geschwächten, dysfunktiona-
Um eine nachhaltige Besserung zu erreichen, gilt es,
len Zustand entfremdet und können nicht auf ihre
die psychologischen Risikofaktoren zu relativieren, eine
üblichen Ressourcen zurückgreifen. Daran verzweifeln
nachhaltige Selbstfürsorge zu entwickeln und eine er-
sie mitunter, verlieren die Hoffnung und werden hilflos.
höhte Kompetenz hinsichtlich Stressbewältigung,
Auch Suizidalität kann auftreten und bedarf besonderer
Konfliktlösung und sozialer Interaktion zu erwerben.
Beachtung. Um sie in ihrer Hilflosigkeit, Verzweiflung
Zentrales Ziel muss es sein, die Betroffenen erneut zu
und ihren Selbstvorwürfen aufzufangen, dient die Ent-
befähigen, Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen und
wicklung eines Erklärungsmodells für die vorliegende
die für ihren Lebensentwurf und ihre Identität wichti-
Störung und ihre Verursachung. Psychoedukation zu
gen Kompetenzen und Ressourcen aufzubauen. Eine
Stress, Burnout und Depression, sowie zur Begründung
Neuorientierung bezüglich Werten und Zielen ist ein
der einzelnen Behandlungsstrategien, ist ein wichtiges
integraler Bestandteil dieser Auseinandersetzung. Auf-
Behandlungselement. Da der Heilungsprozess längere
grund der Vielschichtigkeit des Krankheitsbildes scheint
Zeit in Anspruch nimmt, muss der Behandler den Patienten immer wieder zu Geduld und Vertrauen ermutigen und ihm einen schrittweisen Behandlungs- und
Tabelle 5: Skalen zur Evaluation und Differentialdiagnose bei Verdacht
auf ein Burnoutsyndrom.
Genesungsverlauf aufzeigen. Besondere Beachtung
Gemessenes Konstrukt
Skala
Information zur Klärung von
wird aufgefordert, von Beginn der Therapie an bis zum
Burnout
MBI
(Selbsteinschätzung)
SMBM
(Selbsteinschätzung)
Ausmass der Burnout­
Symptomatik
Abschluss der Rehabilitationsphase jeweils täglich
HAMD-17 oder MADRS
(Fremdeinschätzung)
BDI
(Selbsteinschätzung)
HCL­32
(Selbsteinschätzung)
Majore Depression
Depression
Angst
Tagesschläfrigkeit
dreimal die subjektiv wahrgenommene Stimmung,
Energie und Anspannung auf einer visuellen Analog-
Depressivität
Bipolare Depression
HAMA
(Fremdeinschätzung)
STAI
(Selbsteinschätzung)
Ängstlichkeit, Angstneigung
EPSS
(Selbsteinschätzung)
Ausmass der Schläfrigkeit
Mögliche primäre Schlaf­
störung (Schlafapnoe,
Restless legs)
skala von 0–10 aufzuzeichnen und darunter seine Aktivitäten zu notieren (Abb. 1). So stellt er fest, welche
Aktivitäten oder Ereignisse wie viel Energie kosten, zu
Erschöpfung oder Anspannung führen, und lernt folglich, seine Energien einzuteilen und die nötigen Pausen
zur Regeneration einzuplanen. So kann eine nachhaltige
Steigerung und Stabilisierung der Energielage erfolgen.
Abkürzungen der unterschiedlichen Fragebogen/Skalen:
MBI
Maslach Burnout Inventory [19, 20]
SMBM Shirom­Melamed Burnout Mesure [21], http://www.fzkwp.uzh.ch/services/Stressmgmt/
ZEP­1/Fragebogen.html
HAMD Hamilton Depression Scale [22, 23]
MADRS Montgomery­Asberg Depression Rating Scale [24]
BDI
Beck Depression Inventory [25, 26]
HAMA Hamilton Anxiety Rating Scale [27]
HCL­32 Hypomania Check List [28]
STAI
State­Trait Anxiety Inventory [29]
EPSS
Epsworth Sleepiness Scale [30]
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM
kommt dabei dem «Energiemonitoring» zu: Der Patient
2016;16(26–27):561–566
Biologisch-medizinische Dimension
In Anbetracht der neurobiologischen Mechanismen,
die bei Stress zu Burnout und Depression führen können, ist bei Vorliegen einer depressiven Störung eine
adäquate Pharmakotherapie mittels Antidepressiva
angezeigt [6, 7]. Dabei können alle Antidepressiva zur
Anwendung kommen, die für die Behandlung leichter
bis schwerer Depressionen empfohlen werden. Patienten mit einem Burnout-Syndrom weisen häufig eine
vegetative Labilität auf. Daher muss die Pharmakothe-
RICHTLINIEN
564
Abbildung 1: Energiemonitoring.
rapie sorgfältig auf die Toleranz von Nebenwirkungen
Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Auffassung
und einschleichend erfolgen. Der Schlafhygiene und
und erhöhte Vergesslichkeit – müssen durch sorgfältige
Behandlung vorliegender Schlafstörungen muss beson-
Testung eingegrenzt, behandelt (z.B. durch neuropsy-
dere Beachtung geschenkt werden. Hier können sedie-
chologisches computerassistiertes Training) und im
rende Antidepressiva oder kleine Dosen atypischer
Verlauf beobachtet werden. Nicht selten sind sie die Ur-
Neuroleptika gewinnbringend eingesetzt werden. Die
sache für eine missglückte berufliche Reintegration
antidepressive Therapie muss «lege artis», das heisst leit-
und persistieren, während sich die anderen Symptome
liniengerecht erfolgen. [6]. Manche Patienten, die einem
bereits in Remission befinden.
klassischen Antidepressivum gegenüber skeptisch eingestellt sind, lassen sich für ein Johanniskrautpräparat
Ergänzende Massnahmen
gewinnen. Es fungiert nicht selten als evidenzbasierte
Einstiegsmedikation bei leichten bis mittelschweren
Sport
depressiven Zustandsbildern, die bei ungenügendem
Bei Burnout ist eine moderate, der körperlichen Leis-
Ansprechen einer synthetischen Substanz weichen
tungsfähigkeit angepasste sportliche Aktivierung ein
kann. Bei einem Burnout ist in der Regel beobachtbar,
relevanter Therapiebaustein. Er unterstützt die Stress-
dass der depressive Affekt viel schneller anspricht oder
reduktion, fungiert als antidepressives Adjuvans und
gar vollständig remittiert, bevor Erschöpfung und Kon-
dient der Tagesstrukturierung. Es ist ratsam, die Leis-
zentration oder andere kognitive Störungen verbessert
tungsfähigkeit mittels eines sportphysiologischen Fit-
sind. Dies weist auf die neurasthenische Komponente
nesstests zu messen und daran angepasste Trainings-
der stressbedingten Depression hin und benötigt ein
instruktionen zu geben. Dabei sollte ein tägliches,
strukturiertes Energiemanagement des Patienten (siehe
leicht den Kreislauf aktivierendes Training angestrebt
oben). Allerdings obliegt es der Beurteilung des Behand-
werden.
lers, inwiefern diese Erschöpfung und die kognitiven
Einbussen noch ein depressives Residuum darstellen
Entspannung und Körpertherapien
und nach einer weiteren Optimierung der Pharmako-
Regelmässige Entspannungsübungen und Körperthe-
therapie verlangen oder eher eine neurasthenische
rapien sind ebenfalls relevante Therapieelemente, da sie
Komponente ausdrücken. Die oftmals ausgeprägten
die Tiefenentspannung fördern, die Körperwahrneh-
neuropsychologischen Einbussen – wie verminderte
mung, die bei Stress meist reduziert ist, fördern und
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM
2016;16(26–27):561–566
RICHTLINIEN
565
damit den Prozess einer neuen Bewusstwerdung des
äquater Bewältigungsstrategien sind bewährte Ansätze.
Selbst und der eigenen Ressourcen verstärken. Sie wir-
Integrative Therapieverfahren wie die Therapie nach
ken damit psychotherapeutisch unterstützend. Als Ent-
Grawe [11] oder die Schematherapie [12] bewähren sich
spannungsübungen können unterschiedliche Verfahren
in der Modifikation potentiell krankmachender Ver-
zum Einsatz kommen, wie Progressive Muskelrelaxa-
haltensmuster und Persönlichkeitsmerkmale.
tion, Autogenes Training, Qigong oder Yoga. Ebenso
Die Ergänzung der Therapie durch einen ressourcen-
eignen sich verschiedene körpertherapeutische Verfah-
orientierten Ansatz ist sinnvoll bei Verkümmerung der
ren, wobei anzustreben ist, sich auf wenige, bewährte
zur Selbstregulation und persönlichen Werteerfüllung
Methoden zu beschränken.
verfügbaren Ressourcen oder des entsprechenden
Ressourceneinsatzes. Grundthemen sind dabei im All-
Achtsamkeitsübungen
gemeinen die fast ausschliessliche Beschäftigung mit
Die Praxis von regelmässigen Achtsamkeitsübungen
leistungsorientierten Zielen, Unfähigkeit, sich einer
[8] unterstützt Entspannung, nachhaltige Stressreduk-
persönlich sinnhaften, nicht arbeitsbezogenen Tätig-
tion und die Entwicklung von mehr Gelassenheit und
keit zu widmen, und Vernachlässigung von persönli-
einer besseren Selbstakzeptanz. Sie kann damit unter-
chen Ressourcen und Werten wegen Zeitmangels. Der
stützend für psychotherapeutische Prozesse wirken. Es
therapeutische Ansatz liegt in der Identifikation per-
ist ratsam, die Burnoutbetroffenen zu regelmässigen
sönlich gewinnbringender Aktivitäten und Erfahrun-
Achtsamkeitsübungen in der Gruppe zu motivieren,
gen, der Diskussion von persönlichen Werten und der
die durch individuelle Übungen ergänzt werden kön-
bisherigen Zeiteinteilung. Eine neue Lebensgestaltung
nen. Als einfach zu vermittelnde, wenig anspruchs-
mit einer besseren Selbstfürsorge und einer ausgewo-
volle und wirksame Methode eignet sich besonders
genen Lebensbalance wird erarbeitet.
«Mindfulness-based Stress Reduction» (MBSR ), Stress-
Sehr häufig leiden die Patienten zusätzlich an einer
bewältigung durch Achtsamkeit [9, 10].
Beziehungsproblematik, die sich auch aus der Entwicklung des Burnouts ergeben kann. Hier können ein
Psychotherapie
interpersoneller Ansatz oder ein systemischer Ansatz
Die Psychotherapie konzentriert sich vorzugsweise auf
mit Einbezug des Partners oder der Familie eingesetzt
das Schaffen einer Übereinstimmung zwischen Leis-
werden. Eine Sitzung mit dem Partner ist stets empfeh-
tungsanforderung und vorhandenen Ressourcen (ob-
lenswert, schon nur um das Verständnis des Partners
jektive Dimension, wie etwa ein Ungleichgewicht), auf
für die Erkrankung des Patienten zu fördern und vor-
die Korrektur dysfunktionaler Einstellungen und Ver-
liegende Fragen zu klären.
haltensweisen wie etwa eine ausgeprägte Orientierung
an Bedürfnissen anderer oder ein Mangel an Selbst-
Existentielle Dimension
wertgefühl (subjektive Dimension) sowie die Befähi-
Jede Krise lässt sich letztlich nicht überwinden, ohne
gung zu einer sinnerfüllten Lebensweise, die sich auf
die bisher gelebten Werte und Ziele zu reflektieren und
die für die persönliche Identität wichtigen Werte und
zu überprüfen, inwiefern sie für eine sinnerfüllte Le-
Ziele und den daraus hergeleiteten Lebensentwurf
bensgestaltung geeignet sind. Die Erfahrung der eigenen
bezieht. Mehrdimensional konzipierte Behandlungs-
Grenzen, die bei einem Burnout oft als beängstigend
ansätze scheinen aus klinischer Erfahrung erfolgver-
wahrgenommen wird, öffnet neu auch den Zugang zu
sprechend. Kontrollierte Studien existieren jedoch da-
Grundfragen der menschlichen Existenz. Menschen
für
die
mit einem Burnout erleben meist eine Sinnkrise und
nicht.
Etwas
besser
untersucht
sind
Wirksamkeiten von einzelnen Elementen der Therapie
erkennen ihre bisherige, an Leistung und Erfolg orien-
(siehe dazu Therapieempfehlungen «Burnout-Behand-
tierte Lebensweise als untauglich, um ihre eigentlichen
lung Teil 1: Grundlagen», SMF 25/2016).
Werte und Ziele umzusetzen. Es ist hilfreich, diese Fra-
Die kognitiv-behaviorale Therapie eignet sich besonders
gen in der Behandlung aktiv anzugehen. Es geht um
zur Bearbeitung eines negativen Selbstkonzepts, dys-
die Entwicklung einer veränderten inneren Haltung,
funktionaler Einstellungen und Bewältigungsstrategien
die eine wertschätzende Selbstfürsorge und persönliche
sowie interpersoneller Probleme. Häufige Grundthe-
Authentizität fördert und damit zur Übernahme von
men sind, neben dem Mangel an Selbstvertrauen und
Verantwortung und Kontrolle bezüglich der eigenen
Selbsteffizienz, Leistungsorientierung, Verausgabungs-
Lebensgestaltung führt. Möglicherweise entsteht dar-
bereitschaft und Perfektionismus, mangelnde Konflikt-
aus auch eine Erweiterung der Sinnorientierung über
lösungsfähigkeit und mangelnde Selbstfürsorge. Metho-
die selbstbezogenen Ziele hinaus. Selbstakzeptanz und
den der kognitiven Restrukturierung, die Vermittlung
Selbstmitgefühl befähigen zu Empathie und können
des Konzepts des inneren Kindes und das Üben ad-
die Erfahrung von Verbundenheit mit anderen oder
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM
2016;16(26–27):561–566
RICHTLINIEN
566
einem Ganzen fördern. Zudem fordert die Auseinandersetzung mit der Sinnfrage die Reflexion über die
eigene Existenz und ihre Begrenztheit heraus. Daraus
kann eine verstärkte Suche nach Orientierung an ethischen Werten oder nach einer spirituellen beziehungsweise religiösen Verwurzelung entstehen. Achtsamkeitsbasierte Verfahren unterstützen die Selbstreflexion
und Auseinandersetzung mit existentiellen Themen.
Wichtig ist, dass der Behandler zumindest für diese
existentielle Perspektive offen ist. Bei Bedarf kann
eine entsprechend ausgebildete Fachperson (Spiritual
Care [13, 14]) beigezogen werden. Andererseits kann der
Therapeut bei entsprechender Neigung mit dem Patienten direkt eine vertiefte Auseinandersetzung angehen. Dabei haben sich anthropologische oder existentielle Modelle bewährt [15–17]. Existentielle Fragen
können individuell oder auch im Rahmen eines Gruppenangebots [18] thematisiert werden.
Vorbereitung und Begleitung in der Reintegration
Einen weiteren wichtigen therapeutischen Baustein
stellt die therapeutische Begleitung bei der Auseinandersetzung mit arbeitsbezogenen Themen und bei der
beruflichen Reintegration dar. Zielsetzung ist die Schaffung einer Übereinstimmung zwischen den Ressourcen
des Patienten und den Anforderungen des Arbeitsplatzes. Es empfiehlt sich, mit einer Analyse der beruflichen
Entwicklung und der aktuellen Arbeitsplatzsituation
zu beginnen. Dabei geht es besonders um die Identifikation der Auslöser der aktuellen Krise und der dysfunktionalen berufsbezogenen Bewältigungsstrategien
des Betroffenen. In der Therapie werden berufsbezogene
Stärken und Schwächen identifiziert, konkret konstruktivere berufsbezogene Bewältigungsmuster und
Ressourcen erarbeitet und weitere Berufsperspektiven
ausgelotet. Es wird empfohlen, den Patienten bei einem
Gespräch mit dem Arbeitgeber zu unterstützen und
dabei den schrittweisen Wiedereinstieg und die notwendigen Anpassungen am Arbeitsplatz zu diskutieren.
Viele Taggeldversicherer der jeweiligen Arbeitgeber
setzen Case Manager als Bindeglied zwischen Patient,
Behandler und Arbeitgeber ein, die den Patienten in
der Reintegration unterstützen.
Disclosure statement
Korrespondenz:
Dr. med.
Barbara Hochstrasser, M.P.H.
MK hat Vortragshonorare von Zeller AG Schweiz, Lundbeck AG
Schweiz, Eli Lilly Schweiz SA, Pfizer AG Schweiz deklariert.
Die anderen Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen
Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Privatklinik Meiringen
Postfach 618
CH-3860 Meiringen
Der erste Teil dieser Therapieempfehlungen, «Burnout­Behand­
barbara.hochstrasser[at]
lung Teil 1: Grundlagen», ist in der vorangehenden SMF­Ausgabe
privatklinik-meiringen.ch
erschienen.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM
2016;16(26–27):561–566
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26 Hautzinger, M, et al. Beck-Depressions-Inventar (BDI), Testhandbuch. Zweite und überarbeitete Aufl. [Beck depression inventory
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27 Hamilton M. The Assessmnet of Anxiety States by Rating.
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28 Angst J, et al. The HCL-32: towards a self-assessment tool for
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30 Bloch KE, et al. German version of the Epworth Sleepiness Scale.
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FALLBERICHTE
567
Anhaltenden Beschwerden auf den Grund gehen
Unerwartete Diagnose nach
Sprunggelenksdistorsion
Thomas Hunziker a , Heidrun Eisenlohr b , Kristin Zeidler c
a
c
Klinik für Orthopädie / Traumatologie, Kantonsspital Nidwalden, Stans; b Institut für Radiologie, Luzerner Kantonsspital, Luzern;
Klinik für Innere Medizin, Onkologie, Kantonsspital Nidwalden, Stans
Hintergrund
Eine Behandlung mittels Bandagen oder Stabilisierungsmassnahmen war bis dahin nicht erfolgt.
Sprunggelenksdistorsionen sind sehr häufig und können meistens konservativ behandelt werden. Weitere
Status
Diagnostik ist in der Regel nicht erforderlich. Bei per-
In der ersten klinischen Untersuchung zwei Monate
sistierenden Beschwerden sollte eine weitere Abklärung
nach Trauma konnten einzig eine leichte Schwellung
erfolgen. Eine Diagnose wie im vorliegenden Fall ist
und Druckdolenz im Bereich der vorderen Syndes-
dabei allerdings eher selten zu erwarten.
mose erhoben werden. Die Beweglichkeit war seitengleich unauffällig.
Fallbericht
Befunde
Konventionell-radiologisch zeigte sich ein unauffälliger
Thomas Hunziker
Anamnese
Befund ohne Nachweis einer Fraktur (Abb. 1). Hinweise
Im Herbst 2015 wurde eine 54-jährige Patientin in die
auf eine osteochondrale Läsion oder eine Bandruptur
orthopädische Sprechstunde zugewiesen mit anhal-
ergaben sich nicht. Klinisch war in erster Linie von
tenden Beschwerden nach etwa zwei Monate zurück-
einer Zerrung der vorderen Syndesmose auszugehen
liegender Sprunggelenksdistorsion. Der genaue Unfall
bei klinisch stabilen Verhältnissen.
konnte von der Patientin nicht mehr hergeleitet werden.
Bei fehlender Besserung erfolgte eine Magnetreso-
Nach initial rascher Besserung der Beschwerden ver-
nanztomographie (MRT) des oberen Sprunggelenks. Es
blieben leichte Schmerzen über dem Aussenknöchel.
zeigte sich ein ausgedehntes, diffuses Knochenmark-
Abbildung 1: Röntgen des oberen Sprunggelenks rechts, stehend in zwei Ebenen
(ap [A] und seitlich [B]).
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(26–27):567–569
Abbildung 2: MRT Sprunggelenk rechts nativ TIRM coronar.
Ausgedehntes Knochenödem in der distalen Tibia (Stern).
Talus (T) und Fibula (F) ohne Ödem.
FALLBERICHTE
568
Abbildung 3: MRT Sprunggelenk rechts nativ T1w TSE sagittal.
Scharf begrenzte hypointense Läsion in der distalen Tibia
(Pfeil). Talus (T).
Abbildung 4: PET/CT-Ganzkörper mit 254 MBq 18F-FDG. FDGaktive Skelettläsion in der distalen Tibia (Stern). Fibula (F).
ödem der distalen Tibia mit perifokalem Weichteil-
Eine unmittelbar veranlasste PET-CT-Untersuchung
ödem und scharf begrenztem, T1-gewichtet (T1w) sehr
(Abb. 4 und 5) ergab eine disseminierte Metastasierung
hypointensem Fokus mit Beteiligung der Epiphyse,
mit multiplen Knochenmetastasen. Neben der unge-
bildmorphologisch verdächtig auf einen neoplasti-
wöhnlichen Lokalisation in der distalen Tibia zeigten
schen Prozess (Abb. 2 und 3). Hinweise auf einen Infekt
sich multiple pulmonale Raumforderungen, Hirnme-
ergaben sich nicht. Konventionell-radiologisch war an
tastasen sowie eine Beteiligung beider Nebennieren
korrespondierender Stelle auch retrospektiv keine ein-
ohne Nachweis von Leberläsionen. Der radiologische
deutige Veränderung der Knochenstruktur erkennbar.
Befund wäre differentialdiagnostisch auch mit einem
Degenerative Veränderungen lagen nicht vor. Ein pri-
Bronchialkarziom als Primärtumor vereinbar gewesen.
märer Knochentumor war somit unwahrscheinlich.
Eine kurzfristig erfolgte Biopsie einer der Knochen-
Daher ergab sich der dringende Verdacht auf das Vor-
läsionen (Sakrum) ergab jedoch einen histologisch und
liegen einer Knochenmetastase.
immunhistochemisch dem bekannten Sigmakarzinom
entsprechenden Befund.
Diagnose
Eine daraufhin erweiterte Anamneseerhebung ergab
Therapie und Verlauf
eine Hemikolektomie links 2010 bei Sigmakarzinom
Im Verlauf berichtete die Patientin noch über weitere
(pT2 pN0[0/44] G2 L0 V0). Computertomographisch
Symptome wie eine Schwäche im linken Bein, Skelett-
war damals im Rahmen des Staging auch ein vergrös-
schmerzen im Hüftbereich und Nachtschweiss. Die Pa-
serter und als suspekt eingestufter Lymphknoten
tientin wurde zur weiteren Behandlung der Onkologie
mediastinal beschrieben. Dieser zeigte in einer mittels
zugewiesen, wo eine palliative Bestrahlung und Chemo-
endobronchialen Ultraschalls (EBUS) gesteuerten Punk-
therapie eingeleitet wurden.
tion keine malignen Zellen. Die bildgebenden Verlaufs-
Beim Sprunggelenk kam es zu keinem Einbruch der
kontrollen wurden nach mehrfach stationärem Befund
tibialen Gelenkfläche. Konventionell-radiologisch war
seitens der Patientin 2011 beendet. In der Nachsorge-
im Verlauf allenfalls eine flaue Mehrsklerosierung fass-
endoskopie im Mai 2015 ergab sich kein Hinweis auf
bar. Die Patientin verstarb leider knapp drei Monate
ein Rezidiv oder einen Zweittumor.
nach der Diagnosestellung.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(26–27):567–569
FALLBERICHTE
569
Diskussion
Korrespondenz:
Dr. med. Thomas Hunziker
Die Sprunggelenksdistorsionen werden häufig baga-
Kantonsspital Nidwalden
tellisiert, und auf weitere Abklärungen sowie Nachun-
Ennetmooserstrasse 19
CH-6370 Stans
tersuchungen wird oft verzichtet. Dies obwohl neben
thomas.hunziker[at]ksnw.ch
Verletzungen des Bandapparates auch andere Pathologien wie Frakturen, Syndesmosenverletzungen, Sehnenluxationen/-rupturen und osteochondrale Läsionen
nicht selten sind. Chronische Instabilitäten treten in
bis zu 20–40% nach akuter Instabilität auf und gelten
als Präarthrose.
Eine konventionell-radiologische Untersuchung sollte
grosszügig durchgeführt werden, auch wenn in vorliegendem Fall dadurch die Diagnose nicht gestellt werden
kann. Obwohl Schnittbildverfahren in der Primärdiagnostik der Sprunggelenksdistorsion kaum zum Einsatz
kommen, sollten diese bei anhaltenden Beschwerden
eingesetzt werden [1]. In der Literatur existieren keine
einheitlichen Angaben über den Zeitpunkt, wann eine
MRT-Untersuchung erfolgen sollte. Je nach Behandlungsalgorithmus wird der Zeitpunkt für Zusatzuntersuchungen unterschiedlich nach Trauma angegeben [2].
Ossäre Metastasen in der vorliegenden Lokalisation
sind selten. Lediglich bei etwa 1% der Knochenmetastasten sind kolorektale Tumoren die zugrundeliegenden Primärtumoren und treten typischerweise im
Becken oder in der Wirbelsäule auf [3, 4]. Knochenmetastasen bei kolorektalen Tumoren treten eher in fortgeschrittenem Stadium (T3/T4) auf [5], sind letztlich
jedoch bei Tumoranamnese immer und in jeder Lokalisation sowie – wie im vorliegenden Fall – auch bei
niedrigerem Primärstadium des Tumors möglich.
Eine persönliche interdisziplinäre Zusammenarbeit
hat in diesem Fall zur raschen Diagnose geführt und
eine Behandlungsverzögerung verhindert.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Abbildung 5: PET/CT-Ganzkörper mit 254 MBq 18F-FDG,
Übersicht.
Literatur
1
2
3
Das Wichtigste für die Praxis
Wenn die akuten Beschwerden nach Sprunggelenksdistorsionen nicht inner-
4
halb von Wochenfrist weitgehend abgeklungen sind, sollte eine weitere Abklärung mittels Magnetresonanztomographie erfolgen. Bei ungewöhnlichen
Befunden empfiehlt es sich, mehrere Fachdisziplinen miteinzubeziehen und
die Anamneseerhebung auszuweiten.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
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FALLBERICHTE
570
Spontane Koronardissektion
Ein ungewöhnlicher Riss
bei der Geburt
Rolando Roges, Marcos Delgado, Dirk Springe, Lukas Ebnöther
Interdisziplinäre Intensivstation, Anästhesieabteilung, Bürgerspital Solothurn
Fallbericht
von 0,04 μg/l) und eine erhöhte Kreatinkinase (CK) von
486 U/l.
Anamnese
Es erfolgte eine notfallmässige Koronarangiographie,
Eine 32-jährige Patientin wurde notfallmässig durch
bei der sich als Ursache der Beschwerden eine am
ihren Hausarzt zugewiesen wegen seit vier Tagen inter-
Ostium beginnende und bis nach distal reichende Dis-
mittierender thorakaler Schmerzen, anteroseptaler ST-
sektion des Ramus interventricularis anterior (RIVA)
Hebungen im EKG sowie positiver Herznekrosemarker.
mit subtotaler Stenosierung im mittleren sowie dista-
Bei der Patientin bestanden bis anhin keine bekannten
len Bereich fand. Die Ausbreitung der Ischämiezeichen
Herzerkrankungen oder signifikanten kardiovaskulä-
im EKG bis in die inferioren Ableitungen liessen sich
ren Risikofaktoren. Sie hatte vor etwa vier Wochen ihr
mit dem bis über den Apex reichenden dissezierten
viertes Kind ohne Komplikationen geboren. Die vor-
RIVA («wrap around»-Typ) erklären (Abb. 2). Der Ramus
ausgegangenen Schwangerschaften waren ebenfalls
circumflexus (RCX) und die rechte Koronararterie (RCA)
problemlos verlaufen. Nach primärer Versorgung durch
waren unauffällig. Die systolische linksventrikuläre
den Rettungsdienst mit Lysin-Acetylsalicylat (Aspégic®)
(LV) Funktion war in der Ventrikulographie bei apikaler
250 mg i.v. und Heparin 5000 IE i.v. erfolgte die Verle-
Akinesie leicht eingeschränkt.
gung ins Spital.
Therapie und Verlauf
Status und Befunde
Rolando Roges
Bei Eintritt präsentierte sich die Patientin kardiopul-
Aufgrund der hämodynamischen Stabilität und der
monal stabil und beschwerdefrei. Das 12-Kanal-EKG
seit Eintritt bestehenden Beschwerdefreiheit wurde
zeigte einen tachykarden Sinusrhythmus mit signifi-
auf eine Revaskularisation verzichtet und die Patientin
kanten ST-Hebungen über der Vorderwand von V2–V4
zur weiteren Überwachung auf die Intermediate Care
(Abb. 1) sowie nicht signifikanten (<0,1 mV) ST-Hebun-
Station verlegt.
gen in V5–V6 und den inferioren Ableitungen II, III und
Es erfolgte eine konservative Therapie mittels Nitro-
aVF. Laborchemisch fanden sich ein erhöhtes Troponin I
glycerin-Perfusor, Thrombozytenantiaggregation mit
von 9,46 μg/l (Beckman Coulter, 99. Perzentile Cut-off
Clopidogrel und Acetylsalicylsäure sowie eine therapeutische Heparinisierung. Zusätzlich wurde eine Betablocker- und ACE-Hemmer-Therapie mit niedrigdosiertem Metoprolol und Lisinopril per os begonnen.
Die Patientin blieb im Verlauf hämodynamisch stabil
ohne relevante Arrhythmien und weiterhin beschwerdefrei. Im Labor erreichte das Troponin einen Peak von
10,08 μg/l zwölf Stunden nach Eintritt und war im weiteren Verlauf stetig regredient. Das CK zeigte den maximalen Wert bei Eintritt und normalisierte sich binnen
36 Stunden. Elektrokardiographisch stellte sich in den
Verlaufskontrollen ein Infarktablauf mit diskret rückläufigen ST-Hebungen und spitzen T-Negativierungen
über der Vorderwand (Abb. 3) dar. Eine transthorakale
Echokardiographie zeigte am zweiten Tag nach Eintritt
einen normal dimensionierten linken Ventrikel mit
Abbildung 1: 12-Kanal-EKG bei Eintritt mit anterioren ST-Hebungen V2–V4 sowie nicht
signifikanten Hebungen in V5–V6, II, III und aVF.
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erhaltener systolischer LV-Funktion (linksventrikuläre
Ejektionsfraktion, LVEF 55%) bei midventrikulär-septal
FALLBERICHTE
571
100 000 Geburten [1]. Dabei steht die SCAD nach der
atherosklerotischen Plaqueruptur und vor dem emboliebedingten Myokardinfarkt an zweiter Stelle. Die
Mortalität bei allen ACS in der Schwangerschaft, unabhängig von der Ätiologie, lag in einer retrospektiven
US-Studie von 2008 bei etwa 11% [1]. Im Gegensatz zur
atherosklerotischen Plaqueruptur trifft die schwangerschaftsassoziierte SCAD vornehmlich gesunde Frauen
ohne vorbestehende kardiovaskuläre Risikofaktoren,
überwiegend im letzten Trimenon oder in der postpartalen Phase mit einem Peak um die zweite Woche nach
der Geburt [2].
Die genauen pathophysiologischen Mechanismen sind
Abbildung 2: Koronarangiographie bei Eintritt. Ausgedehnte RIVA-Dissektion der mittleren und distalen Segmente des bis über den Apex reichenden Gefässes. Laterale (A)
und kraniale Ansicht (B).
bis anhin unklar, jedoch scheinen hormonell bedingte
Veränderungen der Arterienwand durch Progesteron
sowie der hämodynamische Stress während der Geburt
eine zentrale Rolle zu spielen [1]. Es kommt entweder
durch einen Intima-Einriss oder durch eine Ruptur der
Vasa vasorum zu einem intramuralen Hämatom, welches das wahre Lumen komprimiert [3, 4]. Als Risikofaktoren wurden eine Multiparität sowie ein hohes
Gebäralter beobachtet.
Die Beschwerden reichen von leichten thorakalen
Schmerzen bis hin zum plötzlichen Herztod. Die meisten Patientinnen stellen sich mit typischen klinischen
Zeichen des ACS und erhöhten Herzenzymen vor. Das
EKG zeigte in ca. 80% der Fälle einen ST-Hebungsinfarkt. Gemäss einer retrospektiven Studie aus dem
Jahr 2001 [2], die 58 koronarangiographierte SCAD-Fälle
analysierte, stellt sich der RIVA mit 80% als das am
Abbildung 3: 12-Kanal-EKG bei Austritt mit persistierenden ST-Hebungen sowie neuen
T-Negativierungen über der Vorderwand.
häufigsten betroffene Gefäss dar. Es zeigte sich in einem
Viertel aller Fälle eine Hauptstammbeteiligung und bei
ca. 40% der Patientinnen die Beteiligung mehrerer
bis anteroapikaler Hypo- bis Akinesie und ansonsten
Gefässe.
unauffälligen Befunden.
Aufgrund ihrer Seltenheit existieren bislang keine
Nach komplikationsloser Überwachung und Ausschlei-
klaren Leitlinien für das Management der SCAD. Die
chen des Nitroglycerins konnte die Patientin auf die
Durchführung einer notfallmässigen Koronarangio-
kardiologische Schwerpunktstation verlegt werden.
graphie bei ST-Hebungsinfarkt zur genauen Diagnostik
Die therapeutische Heparinisierung wurde nach voll-
und Festlegung der Therapie ist unabdingbar. Zur ge-
ständiger Mobilisation gestoppt. Schliesslich konnte die
naueren Beurteilung der Dissektion können ergänzende
Patientin mit einer dualen Plättchenhemmung sowie
intrakoronare Bildgebungen wie die optische Kohärenz-
einer Therapie mit Lisinopril und Metoprolol in be-
tomographie («optical coherence tomography», OCT)
schwerdefreiem Zustand nach Hause entlassen werden.
oder der intravaskuläre Ultraschall (IVUS) eingesetzt
werden [3]. Jede Manipulation im Rahmen der Koronarangiographie mit oder ohne Stenting birgt jedoch
Diskussion
aufgrund der fragilen Gefässwand ein erhebliches
Die spontane Koronardissektion («spontaneous coro-
Komplikationsrisiko mit potentieller Ausbreitung der
nary artery dissection», SCAD) im Zusammenhang mit
Dissektion [3, 4]. Zur Beurteilung der Pumpfunktion
Schwangerschaft und Geburt bleibt seit den ersten Be-
und Erkennung von Wandbewegungsstörungen bleibt
schreibungen in den USA Anfang der 1930er Jahre eine
die risikofreie und schnell durchführbare Bedside-
seltene Ursache des akuten Koronarsyndroms («acute
Echokardiographie das diagnostische Mittel der Wahl.
coronary syndrome», ACS). Die Häufigkeit aller
Die computertomographische Koronarangiographie
schwangerschaftsassoziierten ACS liegt bei 3–10 von
(«coronary computed tomography angiography», CCTA)
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FALLBERICHTE
572
wird aufgrund ungenügender Auflösung für die Dia-
[5]. Klinisch stabile Patientinnen – wie im oben be-
Dr. med. Rolando Roges
gnostik der SCAD nicht empfohlen [3].
schriebenen Fall – sollten gemäss Empfehlungen über
Bürgerspital Solothurn
Die Therapie richtet sich nach der Klinik, dem Mass der
48 bis 96 Stunden stationär überwacht werden, bedür-
Korrespondenz:
Schöngrünstrasse 42
CH-4500 Solothurn
Ischämie sowie der fetalen Toleranz bei noch schwan-
fen jedoch keiner akuten Revaskularisation, da unter
roges[at]gmx.ch
geren Patientinnen. Verlauf und Mortalität sind wie
konservativer Therapie eine gute Aussicht auf Spontan-
bei jedem ACS von Infarktgrösse und ischämiebeding-
heilung besteht [3, 4].
ten Komplikationen abhängig. Bei grossen Dissektionen
Medikamentös wurden die meisten beschriebenen
mit Hauptstammbeteiligung, Involvierung mehrerer
Fälle mit Betablockern, Nitraten und Acetylsalicylsäure
Gefässe, anhaltenden Beschwerden oder hämodynami-
behandelt. Der Stellenwert einer dualen Thrombozyten-
scher/rhythmischer Instabilität ist eine perkutane oder
aggregationshemmung in der SCAD ohne Revaskulari-
sogar eine notfallmässige chirurgische Revaskulari-
sation bleibt unklar, wird jedoch in den meisten Fällen
sation notwendig [3, 5]. Beide Interventionen sind tech-
empirisch praktiziert [3].
nisch anspruchsvoll aufgrund der koronarangiogra-
Die therapeutische Antikoagulation mit ihrem poten-
phisch schwierigen Drahtpassage ins wahre Lumen
tiellen Nutzen der Auflösung des intramuralen Häma-
mit dem Risiko einer weiteren Ausbreitung der Dissek-
toms wird aufgrund des Risikos einer möglichen Dis-
tion und den zum Teil schwierigen Anschlussseg-
sektionsausbreitung kontrovers diskutiert. Auf eine
menten bei der chirurgischen Anastomosierung. Die
Thrombolyse sollte hingegen verzichtet werden, da es
chirurgische Revaskularisation wird vor allem bei
hierbei in der Mehrheit der Fälle zu einer klinischen
Hauptstammbeteiligung durchgeführt, zeigt jedoch
Verschlechterung mit Zunahme des Wandhämatoms
eine hohe Inzidenz für einen Bypass-Graft-Verschluss
sowie der Dissektion kam [3, 5].
im langzeitigen Verlauf, was wahrscheinlich auf eine
Nach Überstehen der initialen Akutphase ist die Pro-
spontane Heilung des nativen Gefässes mit Etablie-
gnose generell gut, jedoch besteht bei SCAD jeglicher
rung eines kompetitiven Flusses zurückzuführen ist
Genese ein erhebliches Rezidivrisiko von 13–18% [3],
weswegen nach SCAD von einer Schwangerschaft abgeraten werden sollte [4, 6].
Das Wichtigste für die Praxis
Disclosure statement
• Die peripartale SCAD stellt eine diagnostische und therapeutische Herausforderung dar. Insbesondere kann die Interpretation der Koronarangiographie schwierig sein und erfordert ein hohes Mass an Aufmerksamkeit
zusammen mit dem klinischen Verdacht.
• Es besteht die Gefahr, dass das klinische Bild von thorakalen Schmerzen
bei jungen peripartalen Patientinnen ohne kardiovaskuläre Risikofaktoren
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Literatur
1
2
vom behandelnden Arzt – ebenso wie von den betroffenen Patientinnen –
falsch interpretiert oder unterschätzt wird. Dies kann die Diagnostik und
die spezifische Therapie verzögern.
• Die Durchführung eines EKG in der Arztpraxis auch bei peripartalen
3
4
Frauen mit thorakalen Schmerzen ist unerlässlich.
• Bei Verdacht auf SCAD stellt die Koronarangiographie den diagnostischen
5
Goldstandard dar und soll dringlich und unter entsprechender Vorsicht
erfolgen.
• Wie in dem hier beschriebenen Fall ist bei stabilen Patientinnen jedoch
meistens eine konservative Therapie sicher und ausreichend.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(26–27):570–572
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FALLBERICHTE
573
Die Recall-Dermatitis
Ein nicht so seltenes, jedoch
häufig verkanntes Phänomen
Matea Pavic a , Helmut Kranzbühler a , Stephan Lautenschlager b
a
Klinik für Radio-Onkologie, Stadtspital Triemli, Zürich; b Dermatologisches Ambulatorium, Stadtspital Triemli, Zürich
Fallbeschreibung
schluss der Radiotherapie klagte die Patientin über ein
Eine auf die siebzig zugehende Patientin wurde nach
Resektion eines Chondrosarkoms adjuvant im Bereich
des Musculus glutaeus maximus rechts mit einer
Herddosis von 50 Gy in Einzeldosen von 2 Gy bestrahlt
(Abb. 1A). Die initial angestrebte Gesamtdosis von
66 Gy wurde aufgrund des ausgedehnten Bestrahlungsvolumens und der zu erwartenden Akut- und
Spättoxizitäten in Anbetracht der zwischenzeitlich
aufgetretenen und langsam progredienten pulmonalen Metastasierung reduziert. Bei Therapieende zeigte
sich im Bereich der bestrahlten Haut eine akute Reaktion mit Erythem und fokaler, oberflächlicher, vor-
Brennen im Bereich des rechten Gesässes.
Klinisch fand sich ein florides Erythem der fibrosierten
Haut perianal und gluteal rechts bis zum lateralen Anteil des rechten Oberschenkels ziehend (Abb. 2). Die
Ausdehnung des aktuellen Erythems entsprach dem
Bereich des ehemaligen Bestrahlungsvolumens aus
dem Jahr 2012. Hingegen fand sich die aktuell bestrahlte
Haut links gluteal allenfalls leicht erythematös verändert. Anlässlich einer Rehospitalisation im Oktober
2015 wegen Dyspnoe persistierten die im Sommer aufgetretenen entzündlichen Hautveränderungen perianal und gluteal insgesamt über 4 Monate.
wiegend perianaler feuchter Epitheliolyse. Die Abheilung dieses akuten Radioderms erfolgte protrahiert,
letztendlich jedoch vollumfänglich. Die palliative Be-
Matea Pavic
Diskussion
strahlung einer Humerusmetastase links ein Jahr
Die oben beschriebene Reaktion wird als Recall-Phäno-
später hatte die Patientin problemlos toleriert.
men bezeichnet. Definitionsgemäss entspricht sie einer
Nach weiteren zwei Jahren erfolgte eine notfallmässige
akuten wiederauftretenden inflammatorischen Reak-
Konsultation wegen Hämoptysen bei progredienten
tion an strahlentherapeutisch vorbehandelten Körper-
pulmonalen Metastasen. Bei endobronchial nach-
stellen nach Abklingen der erstmaligen Akutstrahlen-
gewiesener Blutungsquelle im rechten Unterlappen in-
reaktion. Erstmals beschrieben wurde das Phänomen
folge einer Tumorinfiltration der Bronchialschleim-
1959 nach Behandlung mit Actinomycin D, einem anti-
haut erfolgte eine kurzdauernde hochdosierte palliative
neoplastischen Antibiotikum, das in der Schweiz nicht
Bestrahlung des Unterlappenbronchus mit 5 Fraktio-
mehr erhältlich ist [1]. Getriggert wird dieses Phäno-
nen à 4 Gy. Des Weiteren wurden symptomatische sub-
men typischerweise durch systemisch wirkende Medi-
kutane Metastasen paravertebral rechts sowie gluteal
kamente, vor allem Chemotherapeutika, aber auch
links mit 20 Gy (5× 4 Gy) mitbestrahlt (Abb. 1B). Bei Ab-
durch andere Substanzen [2, 3]. Gleichartige Reaktio-
Abbildung 1A: Bestrahlungsvolumen im Bereich des Musculus gluteus rechts (2012). B: Dosisverteilung gluteal links.
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FALLBERICHTE
574
schlossener Radiotherapie entwickelt. Üblicherweise
tritt das Phänomen bereits nach erstmaliger Gabe des
Medikaments auf, wobei zwischen der Verabreichung
und dem Beginn der Reaktion wenige Stunden bis
mehrere Wochen vergehen können.
Zur symptomatischen Behandlung der Dermatitis
werden neben lokalen Kortikosteroiden mitunter auch
Antihistaminika eingesetzt, deren Nutzen jedoch unklar ist, da von einer Spontanheilung auszugehen ist.
Die Ätiologie des Recall-Phänomens ist nach wie vor
nicht vollständig geklärt. Verschiedene Hypothesen
wurden diskutiert. Am besten lassen sich sämtliche
Charakteristika des Recall-Phänomens durch die Annahme einer Hypersensitivitätsreaktion auf ein spezifisches Agens erklären [2, 8]. Hierbei wird postuliert,
Abbildung 2: Akute Recall-Dermatitis nach einer Bestrahlung gluteal links,
paravertebral rechts und pulmonal rechts.
dass gewisse Medikamente ein inflammatorisches
Potenzial für eine nichtimmunologische Aktivierung
der Entzündungskaskade haben und durch eine vor-
nen können auch durch Exposition gegenüber UV-
ausgegangene Radiotherapie die Schwelle für derartige
Strahlen getriggert werden [4]. Gemäss den publizier-
Reaktionen gesenkt wird. Untermauert wird diese The-
ten Fallberichten scheint es Medikamente zu geben,
orie durch die Beobachtung, dass Bestrahlung die
die das Recall-Phänomen eher auslösen als andere. In
Bildung gewisser Zytokine im Gewebe induziert, wel-
einer 1959 publizierten Arbeit wurde in 27 von 57 mit
che die inflammatorische Reaktion auslösen. Die Zyto-
Actinomycin D behandelten Fällen das Auftreten einer
kinsekretion vormals bestrahlter Zellen persistiert auf
Recall-Dermatitis beobachtet [5]. Auch Taxane und
tiefem Level und wird in Gegenwart eines triggernden
Anthrazykline wurden häufig als auslösendes Agens
Agens wieder hochreguliert, was klinisch dann als
beschrieben [2]. Hingegen sind lediglich sechs Fälle
Recall-Phänomen imponiert. Die Forschungsgruppe
eines Recall-Phänomens nach Gabe von Tamoxifen
um Hallahan konnte zeigen, dass nach Bestrahlung
publiziert worden, obwohl dieses Medikament seit den
Tumornekrosefaktor-α(TNF-α)-mRNA in gewissen Zel-
70er Jahren sehr häufig verschrieben wird [6].
len erhöht ist und damit einhergehend auch eine ver-
Das Zielorgan ist in der Regel die Haut, wobei sich die
mehrte Produktion von TNF-α-Protein stattfindet [10].
Intensität von einem Erythem bis hin zu lebensbe-
Diese Hypothese erklärt das seltene Auftreten und
drohlichen Nekrosen erstrecken kann. Die Einteilung
auch die Tatsache, dass das Phänomen lediglich durch
erfolgt gemäss den «Common Terminology Criteria for
einen spezifischen Trigger ausgelöst wird.
Adverse Events (CTCAE) Version 4.03» [7]. Selten wurden
Am vorliegenden Fall aussergewöhnlich – und bislang
Fälle mit Beteiligung von Schleimhäuten und inneren
in der Literatur nicht beschrieben – ist, dass die Be-
Organen beschrieben.
strahlung einer differenten Lokalisation das Recall-
Korrespondenz:
Das Zeitintervall zwischen initialer Bestrahlung und
Phänomen ebenfalls auszulösen vermag. Auch die
Dr. med. Matea Pavic
Auftreten der Recall-Reaktion kann von wenigen Tagen
lange Persistenz der Recall-Dermatitis von vier Mona-
Stadtspital Triemli
Klinik für Radio-Onkologie
bis zu mehreren Jahren reichen [8, 9]. Wichtig ist dabei
ten ist ungewöhnlich. Anzumerken ist, dass bereits
Birmensdorferstrasse 497
die Unterscheidung zum Phänomen des Radiosensiti-
2013 eine Zweitbestrahlung einer anderen Körper-
zing, bei dem sich die entzündliche Hautreaktion be-
partie ohne Recall-Phänomen stattfand. Dies ist mit
CH-8063 Zürich
Matea.Pavic[at]triemli.
zuerich.ch
reits innerhalb von maximal sieben Tagen nach abge-
den Angaben aus der Literatur vereinbar, wonach die
wiederholte Applikation eines Agens nicht zwangsläufig ein Recall-Phänomen auslöst.
Das Wichtigste für die Praxis
Verdankung
Das Recall-Phänomen, insbesondere die Recall-Dermatitis, ist eine nicht so
seltene Reaktion vor allem auf systemisch verabreichte Medikamente, aber
auch auf UV- und Röntgenstrahlen, die in einem vormals bestrahlten Gebiet
auftritt. Ätiologisch scheint eine nach Radiotherapie auf niedrigem Niveau
persistierende Zytokinausschüttung durch das auslösende Agens derart angeregt zu werden, dass das klinische Bild der akuten Dermatitis rezidiviert.
Die Therapie erfolgt meist symptomatisch mit lokalen Kortikosteroiden.
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Wir danken der Patientin für die Zustimmung zur Verwendung des
Bildmaterials und der Informationen aus der Krankengeschichte.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Literatur
Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang
des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch.
LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix
Literatur
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2
3
4
5
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