SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer Swiss Medical Forum 26–27 29. 6. 2016 561 B. Hochstrasser, T. Brühlmann, K. Cattapan, et al. Burnout-Behandlung Teil 2: Praktische Empfehlungen 567 T. Hunziker, H. Eisenlohr, K. Zeidler Unerwartete Diagnose nach Sprunggelenksdistorsion 570 R. Roges, M. Delgado, D. Springe, L. Ebnöther Ein ungewöhnlicher Riss bei der Geburt With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly” 554 R. Benz, G. Stüssi, B. Gerber Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Organe officiel de la FMH pour la formation continue Bollettino ufficiale per la formazione della FMH Organ da perfecziunament uffizial da la FMH www.medicalforum.ch INHALTSVERZEICHNIS 551 Redaktion Beratende Redaktoren Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj, Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Prof. Dr. Ludwig T. Heuss, Zollikerberg; Basel (Managing editor); Prof. Dr. David Conen, Basel; Dr. Pierre Périat, Basel; Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern; Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds; Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern Advisory Board Dr. Sebastian Carballo, Genève; Dr. Daniel Franzen, Zürich; Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds; Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne; Dr. Sven Streit, Bern Und anderswo …? A. de Torrenté 553 Protonenpumpenhemmer: Gefahr für die Nieren? Übersichtsartikel R. Benz, G. Stüssi, B. Gerber Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie 554 Trotz Seltenheit der Erkrankung ist bei Coombs-negativer Hämolyse, Zytopenien, unklaren abdominalen Beschwerden und Thrombosen an eine paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie zu denken. Fortschritte in Diagnostik und Therapie haben die Behandlung von Betroffenen in den letzten Jahren grundlegend verändert. Richtlinien B. Hochstrasser, T. Brühlmann, K. Cattapan, J. Hättenschwiler, E. Holsboer-Trachsler, W. Kawohl, B. Schulze, E. Seifritz, W. Schaufeli, A. Zemp, M. E. Keck 561 Burnout-Behandlung Teil 2: Praktische Empfehlungen Burnout manifestiert sich als Erschöpfungszustand mit psychischen, vegetativen, kognitiven und verhaltensbezogenen Symptomen und weist eine hohe Überlappung mit psychiatrischen und somatischen Störungen auf. Die Behandlung erfolgt multimodal und berücksichtigt die verschiedenen verursachenden Faktoren. Fallberichte T. Hunziker, H. Eisenlohr, K. Zeidler 567 Unerwartete Diagnose nach Sprunggelenksdistorsion Im Herbst 2015 wurde eine 54-jährige Patientin in die orthopädische Sprechstunde zugewiesen mit anhaltenden Beschwerden nach etwa zwei Monate zurückliegender Sprunggelenksdistorsion. R. Roges, M. Delgado, D. Springe, L. Ebnöther 570 Ein ungewöhnlicher Riss bei der Geburt Eine 32-jährige Patientin wurde notfallmässig durch ihren Hausarzt zugewiesen wegen seit vier Tagen intermittierender thorakaler Schmerzen, anteroseptaler ST-Hebungen im EKG sowie positiver Herznekrosemarker. INHALTSVERZEICHNIS 552 Fallberichte M. Pavic, H. Kranzbühler, S. Lautenschlager Ein nicht so seltenes, jedoch häufig verkanntes Phänomen 573 Bei Status nach Radiotherapie im Bereich des Unterlappenbronchus rechts, paravertebral rechts sowie gluteal links klagte eine etwa 70-jährige Patientin über ein Brennen im Bereich des rechten Gesässes. Klinisch fand sich ein florides Erythem der fibrosierten Haut perianal und gluteal rechts bis zum lateralen Anteil des rechten Oberschenkels ziehend. Extended abstracts from SMW New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 574. Impressum Swiss Medical Forum – Schweizerisches Medizin-Forum Offizielles Fortbildungsorgan der FMH und der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin Marketing EMH / Inserate: Dr. phil. II Karin Würz, Leiterin Marketing und Kommunikation, Tel. +41 (0)61 467 85 49, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected] Redaktionsadresse: Ruth Schindler, Redaktionsassistentin SMF, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 58, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected], www.medicalforum.ch Abonnemente FMH-Mitglieder: FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, Elfenstrasse 18, 3000 Bern 15, Tel. +41 (0)31 359 11 11, Fax +41 (0)31 359 11 12, [email protected] Andere Abonnemente: EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Abonnemente, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 75, Fax +41 (0)61 467 85 76, [email protected] Abonnementspreise: zusammen mit der Schweizerischen Ärztezeitung 1 Jahr CHF 395.– / Studenten CHF 198.– zzgl. 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Entsprechend gewährt EMH allen Nutzern auf der Basis der CreativeCommons-Lizenz «Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International» das zeitlich unbeschränkte Recht, das Werk zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen unter den Bedingungen, dass (1) der Name des Autors genannt wird, (2) das Werk nicht für kommerzielle Zwecke verwendet wird und (3) das Werk in keiner Weise bearbeitet oder in anderer Weise verändert wird. Die kommerzielle Nutzung ist nur mit ausdrücklicher vorgängiger Erlaubnis von EMH und auf der Basis einer schriftlichen Vereinbarung zulässig. Hinweis: Alle in dieser Zeitschrift publizierten Angaben wurden mit der grössten Sorgfalt überprüft. Die mit Verfassernamen gezeichneten Veröffentlichungen geben in erster Linie die Auffassung der Autoren und nicht zwangsläufig die Meinung der SMFRedaktion wieder. Die angegebenen Dosierungen, Indikationen und Applikationsformen, vor allem von Neuzulassungen, sollten in jedem Fall mit den Fachinformationen der verwendeten Medikamente verglichen werden. Herstellung: Schwabe AG, Muttenz, www.schwabe.ch Titelbild: © Jezper | Dreamstime.com UND ANDERSWO …? 553 Und anderswo …? Antoine de Torrenté Protonenpumpenhemmer: Gefahr für die Nieren? Fragestellung Chronische Niereninsuffizienz (CNI) ist nicht selten. Etwa 13% der Erwachsenen in den USA leiden an unterschiedlichen Stadien der Erkrankung. Dies ist wahrscheinlich in etwa mit der Zahl der schweizweiten Erkrankungsfälle vergleichbar. Der verheerende Einfluss von CNI auf die kardiovaskulären Risiken und die Lebensdauer ist bekannt. Für die Erkrankung prädisponiert sind Personen mit Hypertonie und Diabetes. Auch Medikamente sind nicht selten eine Ursache, da Polypharmazie das CNI-Risiko erhöht. Protonenpumpenhemmer (PPI) werden sehr häufig verschrieben. Schätzungsweise 25–70% der Indikationen sind jedoch unbegründet. PPI wurden bereits als Ursache für Frakturen, Pneumonien und Clostridium difficile-Infektionen identifziert. Welche Rolle spielen sie bei CNI? Methode Bei der ARIC-Studie («Atherosclerosis Risk in Communities») handelt es sich um eine prospektive Kohortenstudie an >15 000 Personen in den USA. Von 1987–2011 fanden im Abstand von 3 Jahren 4 Untersuchungen statt. Überdies wurde mit allen Teilnehmern jedes Jahr ein Telefongespräch geführt. Die CNI war ge- Marihuana: immer stärker … 37 000 innerhalb von 20 Jahren in den USA beschlagnahmte Cannabispflanzen wurden auf ihren Tetrahydrocannabinol(THC)- und Cannabidiolgehalt untersucht. Der THC-Gehalt hat sich verdreifacht und ist von 4 auf 12% gestiegen. Der Cannabidiolgehalt ist gesunken. Die Pflanzen aus Bundesstaaten, in denen Marihuana als Genussmittel erlaubt ist, wiesen einen um 60% höheren THC-Gehalt auf als die aus Bundesstaaten, in denen der Marihuanakonsum illegal ist. Lässt ein «legaler» Marihuanaanbauer verlauten, dass der THC-Gehalt seiner Pflanzen hoch ist, erhöht dies seine Verkaufszahlen … ElSohly MA, et al. Biol Psychiatry. 2016; 79(7):613–9. Ein neues Antibiotikum bei erworbener Pneumonie? Solithromycin ist ein neues Makrolidantibiotikum der 4. Generation. Die 1× tägliche Gabe von Solithromycin über 5 Tage hat sich als ebenso mäss ICD-9-Code definiert. Nach dem Ausschluss einiger Patienten wurden >10 000 Probanden eingeschlossen. Diese bat man in Telefongesprächen, die Namen aller Verpackungen aus ihrem Medikamentenschrank anzugeben, um festzustellen, ob sie PPI einnahmen. Aus Daten des «Health Geisinger System» von 1997–2014, eines Gesundheitssystems aus Pennsylvania, wurde eine Replikationskohorte mit ~250 000 Personen gebildet. Anschliessend wurde das CNI-Risiko der Anwender von PPI, H2-Rezeptorenblockern (die häufig aufgrund derselben Indikationen wie PPI verschrieben werden) und der übrigen Patienten berechnet. Resultate Der Altersdurchschnitt in der ARIC-Studie betrug ~60 Jahre. 44% der Probanden waren männlich. Die Einnahme von PPI (14-jähriges Follow-up) entsprach im Vergleich zur Nichteinnahme oder zur Einnahme von H2-Rezeptorenblockern einer Risk Ratio für CNI von 1,45. In der Replikationskohorte ergab sich während des 6-jährigen Follow-up eine Risk Ratio von 1,46 bei einer 2× tägl. und eine Risk Ratio von 1,15 bei einer 1× tägl. Einnahme. Alle Zahlen waren signifikant. Probleme Es handelt sich um Beobachtungsstudien, weshalb kein Kausalzusammenhang herge- wirksam erwiesen wie die Gabe von Moxifloxacin über 7 Tage. Die bei den 860 Studienteilnehmern am häufigsten festgestellten Keime waren Pneumokokken und Haemophilus influenzae. Zurück zur Makrolidmonotherapie bei erworbener Pneumonie? Vorsicht, damit die neuen Waffen nicht unbrauchbar werden! Barrera CM, et al. Lancet Infect Dis. 2016; 16(4):421–30. Myokardinfarkt: invasive Behandlung auch bei hochbetagten Personen? Nur wenige Studien behandeln die Möglichkeit einer invasiven Therapie des Myokardinfarkts bei hochbetagten Personen. 475 80–94 Jahre alte Patienten mit NSTEMI-Infarkt («NonST-Segment-Elevation Myocardial Infarction») wurden entweder invasiv oder konservativ behandelt. 47% der invasiv behandelten Patienten (Angiographie) wurden einer perkutanen Koronarintervention («Percutaneous Coronary Intervention», PCI) unterzogen. Nach 1,5 Jahren war der primäre Endpunkt (Notfallre- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):553 stellt werden kann. Es ist nicht auszuschliessen, dass Patienten mit Adipositas oder Hypertonie, die bereits für CNI prädisponiert waren, häufiger PPI verschrieben wurden. Die Zahlen blieben jedoch auch nach der Bereinigung signifikant. Kommentar Die Magensäure spielt sowohl für die Verdauung als auch als «Keimbarriere» eine bedeutende Rolle. Diese Funktion kann nicht einfach ohne Folgen, insbesondere Infektionen, unterdrückt werden. Auch CNI gehört also zu den Nebenwirkungen von PPI, ohne dass die pathophysiologischen Mechanismen bekannt wären. Zudem waren unter dem Einfluss der Medikamente Fälle akuter Niereninsuffizienz in Form einer interstitiellen Nephritis aufgetreten. Nicht zu vergessen der Einfluss von PPI auf die Frakturhäufigkeit, aufgrund der verringerten Kalziumresorption im Darm. Die absolute Zahl der CNI-Patienten war jedoch gering: 56 Fälle in der ARIC-Studie und 1921 in der Replikationskohorte. Nichtsdestotrotz sollte die Verschreibung von PPI auf eindeutige, anerkannte Indikationen beschränkt und nicht leichtfertig bei unklaren Verdauungsbeschwerden verordnet werden … Lazarus B, et al. JAMA Intern Med. 2016; 176(2):238–46. vaskularisation, Schlaganfall oder Tod) bei 41% der invasiven und 61% der konservativen Gruppe eingetreten (HR 0,53). Ein hohes Alter scheint kein Hinderungsgrund für (gerechtfertigten) Interventionismus zu sein … Tegn N, et al. Lancet. 2016; 387(10023):1057–65. Zellulitis und unkomplizierte Hautinfektion: weniger Antibiotika? In einem Kinderspital wurde während 23 Monaten ein Schulungsprogramm durchgeführt und die Standarddauer der Antibiotikabehandlung auf ≤7 Tage herabgesetzt. 641 Kinder von 90 Tagen bis 18 Jahre wurden aufgrund einer Zellulitis oder einer unkomplizierten Hautinfektion behandelt. Ihr durchschnittlicher Spitalaufenthalt betrug 1,2 Tage. Der mediane Anteil der ≤7 Tage lang behandelten Kinder stieg von 23 auf 74%. Es kam nicht zu mehr Wiedereinweisungen im Vergleich zu einer längeren Behandlungsdauer. Less is more … Schuler CL, et al. Pediatrics. 2016;137(2):1–7. ÜBERSICHTSARTIKEL 554 Daran zu denken reicht schon ... Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie Rudolf Benz a , Georg Stüssi b , Bernhard Gerber b,c Klinik für Innere Medizin, Abteilung für Hämatologie und Onkologie, Kantonsspital Münsterlingen; b Servizio di Ematologia, Istituto Oncologico della Svizzera Italiana (IOSI), Bellinzona; c Klinik für Hämatologie, UniversitätsSpital Zürich a Trotz Seltenheit der Erkrankung ist bei Coombs-negativer Hämolyse, Zytopenien, unklaren abdominalen Beschwerden und Thrombosen an eine paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie zu denken. Fortschritte in Diagnostik und Therapie haben die Behandlung von Betroffenen in den letzten Jahren grundlegend verändert. Einleitung Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) ist wahrscheinlich vielen Lesern aus dem Studium noch in vager Erinnerung als Krankheit, die so selten ist, dass man sie eigentlich gleich wieder vergessen kann. Tatsächlich ist die Inzidenz der Krankheit so gering, dass man im gesamten Berufsleben als Hausarzt möglicherweise nie einen solchen Fall zu Gesicht bekommen wird. Allerdings haben sich die diagnostischen und therapeutischen Mittel in den letzten Jahren so grundlegend geändert, dass heute Patienten mit PNH sehr effizient geholfen werden kann und sowohl das Gesamtüberleben als auch die Lebensqualität dieser Patienten fundamental verbessert werden konnten. Die klinischen Manifestationen der PNH sind sehr vielfältig, weshalb die Krankheit nicht immer leicht zu diagnostizieren ist. In diesem Artikel versuchen wir, die unterschiedlichen Manifestationen anhand von zwei klinischen Fallbeispielen und danach einige wichtige Aspekte in der Diagnostik und Therapie der PNH aufzuzeigen. auch nicht auf die Nacht beschränkt, der dunkle Mor- Die PNH ist eine sehr seltene, erworbene klonale Er- genurin erklärt sich durch die längere Persistenz des krankung der hämatopoietischen Stammzellen, die Urins in der Blase mit Absinken des pH. Die dritte Fehl- mit einer Inzidenz von etwa einem Fall pro Million pro bezeichnung ist, dass alle Patienten eine Hämoglobin- Jahr auftritt. Die Prävalenz der Erkrankung beträgt ca. urie aufweisen müssen. Diese wird aber nur etwa bei 16 Fälle/1 Million Einwohner. Ohne Therapie wurde eine einem Drittel der Patienten beobachtet [3]. mittlere Überlebenszeit von zehn Jahren beschrieben [1]. Die Erkrankung wurde 1882 erstmals umfassend von Strübing aus Greifswald in der Deutschen Medizini- Rudolf Benz Pathophysiologie schen Wochenschrift beschrieben [2]. Der rein deskrip- Die wichtigste pathophysiologische Veränderung bei tive Name wird der Krankheit und der in der Zwischen- Patienten mit einer PNH ist das Fehlen des Glycosyl- zeit bekannten Pathophysiologie aber nicht gerecht. Es Phosphatidylinositol(GPI)-Ankers, der verschiedene Pro- handelt sich um einen dreifachen Misnomer: Die Er- teine an der Oberfläche von Körperzellen bindet [4, 5]. krankung verläuft nicht anfallsartig, es handelt sich Dieses Fehlen ist durch eine Mutation im PIG-A-Gen um eine kontinuierliche Hämolyse. Die Hämolyse ist verursacht. Da es sich um eine erworbene genetische SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):554–560 ÜBERSICHTSARTIKEL 555 Veränderung handelt, sind meist nicht alle Zellen im des «membrane inhibitor of reactive lysis» (MIRL, CD59) Knochenmark betroffen. Das Ausmass kann von Pa- auf Erythrozyten von entscheidender Bedeutung. tient zu Patient sehr unterschiedlich sein, was auch Beide Proteine sind natürliche Komplementinhibitoren, teilweise die grossen Unterschiede der Krankheitsakti- deren physiologische Rolle es ist, spontan aktiviertes vität erklären kann. Der Krankheitsanteil kann sich im Komplement zu inaktivieren. Bei Fehlen dieser Proteine einzelnen Patienten auch im Verlauf der Zeit ändern, auf den Erythrozyten kommt es zu einer unkontrol- weshalb eine regelmässige Kontrolle des PNH-Klones lierten, Komplement-vermittelten Hämolyse und zur absolut notwendig ist. intravasalen Freisetzung von Hämoglobin. Intravasales Hämoglobin wird physiologischerweise durch Haptoglobin gebunden und somit inaktiviert. Wenn das Fallbeispiel 1 Bei einem 41-jährigen Mann bestehen seit einigen Jahren Haptoglobin aufgebraucht ist, akkumuliert das freie Bauchschmerzen und ein Blähungsgefühl. Es erfolgten wieder- Hämoglobin im Blut und wird in der Folge über die holt auch gastroenterologische Abklärungen. Es konnte aber Nieren ausgeschieden. Diese Hämoglobinurie ist für keine Ursache der Beschwerden gefunden werden. In einer CT- den morgendlichen dunklen Urin verantwortlich, tritt Untersuchung wurde eine enge Stelle im Darm beschrieben, diese wurde aber nicht operativ angegangen. Der Patient wird schliesslich während eines Auslandaufenthaltes im dortigen Spital wegen Nausea, Erbrechens, flüssigen Stuhls, Schüttelfrosts und Fieber notfallmässig beurteilt. Die Blutwerte sind wie aber bei Weitem nicht bei allen Patienten auf. Die Dunkelfärbung des Urins kann auch von Tag zu Tag variieren (Abb. 1). Das intravasale Hämoglobin ist der zentrale pathophy- folgt: Leukozyten 2,97 G/l, Hämoglobin 112 g/l, Thrombozyten siologische Mechanismus der PNH. Es führt zu einem 118 G/l, LDH 1355 U/l, CRP 5,2 mg/l. Bei milder Panzytopenie, Abbau von Stickstoff-Monoxid (NO) und damit zu einer normalem Differentialblutbild, LDH-Erhöhung und dunklem Urin mit Hämoglubinurie wird unter Berücksichtigung der klinischen Symptomatik der Verdacht auf eine paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) gestellt (Abb. 1). Die Diagnose kann mittels Flowzytometrie bestätigt werden (Abb. 2). vermehrten Aktivität der glatten Muskulatur. Dadurch sind die klinisch häufig sehr störenden Spasmen zu erklären, die zu Schluckbeschwerden, Bauchschmerzen und zu einer erektilen Dysfunktion führen können. Die chronische Erhöhung des Gefässtonus verursacht Für den Phänotyp der Krankheit sind vor allem das längerfristig eine Hypertonie des grossen und kleinen Fehlen des «decay-accelerating factor» (DAF, CD55) und Kreislaufs. Ebenfalls ist das freie Hämoglobin mit dem gebundenen Eisen neben dem erhöhten Gefässtonus ein Hauptfaktor für die Entwicklung einer chronischen Niereninsuffizenz. Fallbeispiel 2 Bei einer 25-jährigen Patientin wird in der 38. Schwangerschaftswoche wegen Verdachts auf ein HELLP(«hemolysis, elevated liver enzymes, and low platelet count»)-Syndrom bei hämolytischer Anämie und Thrombozytopenie eine Notfallsectio durchgeführt. Die Leukozytenzahl ist normal, die Thrombozyten 46 G/l und das Hämoglobin 107 g/l bei einem MCV von 112 fl. Nach der Geburt erholt sich die Patientin kaum und ist anhaltend sehr müde. Es persistierte eine Coombs-negative hämolytische Anämie mit einer Hämoglobinkonzentration um 105 g/l. Eine erste Knochenmarkpunktion ein Jahr später ergibt den Verdacht auf ein Myelodysplastisches Syndrom (MDS). Eine Knochenmark-Repunktion ein halbes Jahr später lässt die Diagnose eines MDS zwar nicht mehr zu, in der Flowzytometrie (FLAER-Analyse) findet sich aber ein deutlicher PNH-Klon (95%) (Abb. 1 und 2). Thromboembolische Ereignisse sind die wichtigste klinische Manifestation der PNH und machen den Hauptanteil der erhöhten Morbidität und Mortalität aus. Abbildung 1: Klinische Bilder und Knochenmark. A: Urinprobe des Patienten in einem asymptomatischen Intervall. B: Urinprobe des Patienten zum Zeitpunkt verstärkter hämolytischer Aktivität. C: Knochenmarkzytologie mit gesteigerter Zellularität und eindrücklich vermehrter Erythropoiese mit Linksverschiebung der Ausreifung mit zahlvermehrten makroblastär veränderten Proerythroblasten (Pfeil). SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):554–560 Die PNH ist einer der stärksten thromboembolischen Risikofaktoren. Die Pathophysiologie der erhöhten Thromboseneigung ist noch ungeklärt. Komplement, Gerinnungsfaktoren, Zellfragmente und fehlende Oberflächenantigene können eine Rolle spielen (Abb. 3). ÜBERSICHTSARTIKEL 556 Abbildung 2: Flowzytometrie aus peripherem Blut eines Patienten mit PNH-Klon. Multiparametrische flowzytometrische Untersuchung aus peripherem Blut. Gesunde Neutrophile Granulozyten exprimieren an ihrer Oberfläche das GPI-Anker-gebundene CD24, gesunde Monozyten das ebenfalls GPI-Anker-gebundene CD14. FLAER bindet direkt an den GPI-Anker von Neutrophilen Granulozyten und Monozyten. A (Scattergramm): 31,2% der Neutrophilen Granulozyten zeigen an der Oberfläche weder CD24 noch den GPI-Anker und entsprechen der PNH-Klongrösse. B (Histogramm): 31,2% der Neutrophilen Granulozyten sind FLAER-negativ. C (Scattergramm): 22,2% der Monozyten exprimieren an ihrer Oberfläche weder CD14 noch den GPI-Anker und entsprechen der PNH-Klongrösse. D (Histogramm): 22,1% der Monozyten sind FLAER-negativ. Abkürzungen: PNH = paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie; GPI = Glycosyl-Phosphatidylinositol; FLAER = FluroeszenzAerolysin. Thrombosen können im arteriellen und venösen Schen- werden, während erektile Dysfunktion und Thorax- kel auftreten, sind oft in atypischer Lokalisation und schmerzen bei 40% vorliegen. Schluckbeschwerden werden auch unter suffizienter Antikoagulation beob- werden bei bis zu 30% beobachtet, und die Nierenfunk- achtet. Die häufigsten thromboembolischen Ereignisse tion ist bei 14% der Patienten eingeschränkt. Abhängig an atypischer Lokalisation finden sich im Gastrointes- vom Ausmass der Hämolyse sind Hämolysezeichen tinaltrakt (Budd-Chiari-Syndrom, Lebervenenthrombo- wie Hämoglobinurie und Sklerenikterus zu beobach- sen) sowie im Zentralnervensystem (Sinusvenenthrom- ten. Die Tabelle 1 zeigt die Indikationen zur Suche eines bosen). PNH-Klons adaptiert nach den Onkopedia-Leitlinien [7]. Neben den oben beschriebenen Situationen sollte Klinik und Diagnostik der PNH auch bei einer aplastischen Anämie oder bei einem hypoplastischen myelodysplastischen Syndrom und Durch die bessere Erfassung der PNH-Patienten in Re- im Abklärungsprozess von persistierenden Zytopenien gistern ist das Ausmass der Klinik besser bekannt [6]. ein PNH-Klon gesucht werden. In einzelnen Fällen Im Vordergrund stehen bei 60–80% der erkrankten sollte eine PNH auch bei rezidivierenden Bauchschmer- Patienten Müdigkeit, Kopfschmerzen und Dyspnoe. zen oder Dysphagien, insbesondere im Zusammenhang Diese Symptome treten unabhängig von der Grösse mit einer Hämolyse, gesucht werden. des PNH-Klons auf. Weiter können abdominale Be- Obwohl die PNH, wie ausgeführt, für venöse Thrombo- schwerden bei etwa der Hälfte der Patienten beobachtet sen und vereinzelt auch arterielle Ereignisse [8] verant- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):554–560 ÜBERSICHTSARTIKEL 557 Somatische Mutation auf X-Chromosom in hämatopoetischer Stammzelle im PIG-A Gen Vermehrte Aktivität der glatten Muskulatur mit Spasmen. Intravasales Hämoglobin baut NO ab. Fragmente der Erythrozyten und freigesetzte Inhaltsstoffe sind prothrombogen. Hämolyse Durch das Fehlen von CD55 auf den Erythrozyten kann der Komplementfaktor C3b nicht neutralisiert werden. Durch das Fehlen von CD59 kann der Komplementfaktor C5b nicht blockiert werden, was zur unkontrollierten Bildung des Membranattackierenden Komplexes (MAC) führt, der Löcher in die Erythrozytenmembran macht, welche für die Hämolyse verantwortlich sind. Thrombose Das Ankerprotein kann nicht gebildet werden. Das Fehlen von CD55 und CD59 auf den Thrombozyten führt über das angelagerte Komplement zur Aktivierung der Thrombozyten. Auch das Fehlen des Urokinaserezeptors CD87 auf den Monozyten und des «tissue factor pathway inhibitor» (TFPI) trägt zur erhöhten Thromboseneigung bei. Monozyten Neutrophile Lymphozyten Thrombozyten Erythrozyten Verschiedene Strukturen können damit nicht an die Oberfläche der Zellen fixiert werden. Diese werden mehrheitlich mit CD «cluster of differentiation» bezeichnet. CD14 CD16 CD48 CD55 CD55 CD48 CD24 CD52 CD59 CD59 CD55 CD55 CD55 CD59 CD59 CD59 CD87 CD66 CD87 Acetylcholinesterase TFPI Abbildung 3: Zusammenfassung der Pathogenese und der daraus folgenden zentralen, klinischen Zeichen. wortlich sein kann, besteht bei typischen, idiopathi- schiede im Dünndarm nachweisen [11]. Verschiedene schen Venenthrombosen keine Indikation für eine Anwendungen sind in Zukunft vorstellbar. So könnten routinemässige Suche eines PNH-Klons [9]. Bei Sinus- gerade Patienten mit Niereninsuffizienz, die bei der PNH venenthrombosen und Abdominalvenenthrombosen gehäuft vorkommt, ohne Kontrastmittel-verstärkte kann aber eine PNH beobachtet werden, so dass eine Computertomographie (CT) eine aussagekräftige Dia- Suche in unklaren Einzelfällen Sinn machen kann [10]. gnostik erhalten. Bei Neudiagnosen mit isolierten Ab- Gerade in der Abklärung zerebraler arterieller und dominalbeschwerden könnte eher zwischen funktionel- venöser Ereignisse ist die Magnetresonanztomographie len und ischämischen Ursachen unterschieden werden (MRT) seit langem der Goldstandard. Eine neuere Arbeit und vor respektive nach Beginn einer Therapie der konnte bei abdominalen Beschwerden und Vorliegen Effekt auf die Perfusion im Dünndarm direkt dargestellt einer PNH mittels MRT signifikante Perfusionsunter- werden. Tabelle 1: Indikationen für die Suche nach einem PNH-Klon, adaptiert nach den Onkopedia-Leitlinien [7]. Erworbene, Coombs-negative hämolytische Anämie (ohne Zeichen einer mikroangiopathischen hämolytischen Anämie) Intravasale Hämolyse (Haptoglobin nicht nachweisbar, Hämoglobinurie, erhöhtes freies Plasmahämoglobin) Thrombosen, mit mindestens einem der folgenden Kriterien: • «Atypische» Lokalisation (Sinusvenenthrombose, Budd-Chiari-Syndrom, Mesenterial- oder Pfortader- oder Milzvenenthrombose, dermale Thrombosen) • Thrombosen (unabhängig von ihrer Lokalisation) bei Patienten mit Zeichen einer hämolytischen Anämie (LDH erhöht / Haptoglobin erniedrigt) • Thrombosen (unabhängig von ihrer Lokalisation) in Verbindung mit unklarer Zytopenie Patienten mit unklarer Eisenmangelanämie (nach sorgfältigem Ausschluss anderer Ursachen) in Verbindung mit Zeichen einer hämolytischen Anämie Diagnose oder dringender Verdacht auf aplastische Anämie Diagnose eines Myelodysplastischen Syndroms (nur bei niedrigem WPSS) insbesondere bei hypoplastischem Myelo dysplastischem Syndrom Zeichen rezidivierend auftretender abdomineller Schmerzkrisen unklarer Genese oder Dysphagie, insbesondere bei gleichzeitiger Hämolyse Abkürzungen: PNH = paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie; LDH = Lactatdehydrogenase; WPSS = WHO classification-based Prognostic Scoring System. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):554–560 ÜBERSICHTSARTIKEL 558 Tabelle 2: Klinische Zeichen der PNH und empfohlene Abklärung. Für die PNH typisches Labor Anämie mit Coombs-negativer Hämolyse (erhöhte LDH, Abklärung der Coombs-negativen Retikulozyten und Bilirubin und erniedrigtes Haptoglobin) Hämolysen und weitere Zytopenien Weitere Abklärung Bauchschmerzen Hämolytische Anämie und allenfalls weitere Zytopenien. Labor ansonsten unspezifisch. Allenfalls erhöhtes Lactat Weiterabklärung mittels Ultraschall, CT oder MRT zur Thrombose- und Ischämiesuche. Atypische Thrombosen Im Blutbild Zytopenien, insbesondere eine Anämie Ultraschall, CT oder MRT zur Suche von Thrombosen. Blutbild mit Retikulozyten Blutungen Thrombozytopenie und weitere Zytopenie, insbesondere Hämolysezeichen Quick, aPTT und allenfalls weitere Gerinnungsparameter Infekte Neutropenie und hämolytische Anämie Infektfokussuche, CRP und weitere mikrobiologische Untersuchungen PNH-Flowzytometrie Klinisches Zeichen Müdigkeit Abkürzungen: PNH = paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie; LDH = Lactatdehydrogenase; CT = Computertomographie; MRT = Magnetresonanztomographie; aPTT = aktivierte partielle Thromboplastinzeit; CRP = C-reaktives Protein. Der wichtigste diagnostische Schritt ist daher, an die lyse und tiefer Lactatdehydrogenase (LDH) kann mit PNH zu denken. Aufgrund der Seltenheit der Erkran- einer Therapie zugewartet werden. Diese Patienten kung und der Vielzahl klinischer Manifestationen ist müssen aber engmaschig kontrolliert werden. dies nicht immer einfach (Tab. 2). Bei Verdacht auf eine Bei symptomatischer PNH sollte jedoch möglichst PNH sollte eine klinisch manifeste Hämolyse gesucht rasch eine Therapie mit Eculizumab (Soliris®) begonnen werden. Ein Coombs-Test zum Ausschluss einer immun- werden. Eculizumab ist ein monoklonaler Antikörper, mediierten Hämolyse sowie eine Handdifferenzierung der die Komplementaktivierung und somit die Hämo- zum Ausschluss von Fragmentozyten sollten in jedem lyse blockiert. Nach einer initial wöchentlichen Gabe Fall veranlasst werden. wird das Medikament alle zwei Wochen intravenös in Die exakte Diagnose eines PNH-Klons kann mittels einer Infusion von ca. 45 Minuten verabreicht. Die vor Immunphänotypisierung mit grosser Sensitivität und der Einführung von Eculizumab angewandte alleinige Spezifität schnell, zuverlässig und kostengünstig symptomatische Therapie mit Transfusionen und Anti- gestellt werden. Aus diesem Grund haben genetische koagulation mit Vitamin-K-Antagonisten bei Throm- Untersuchungen im klinischen Alltag bei dieser Er- bosen ist in Anbetracht der schwerwiegenden Kompli- krankung keine Bedeutung. Bei der Diagnosestellung kationen, die im Rahmen der PNH auftreten können, macht man sich das Fehlen einzelner Oberflächenpro- in den Hintergrund gerückt. teine zunutze, die normalerweise mittels GPI-Anker an Die Therapie mit Eculizumab hat die Behandlung von die Zelloberfläche gebunden sind. Da der GPI-Anker Patienten mit PNH grundlegend verändert, obwohl in eine grundlegende Struktur für die Bindung von Pro- der Cochrane-Analyse aufgrund der geringen Fallzahlen teinen an der Zelloberfläche ist, fehlen diese nicht nur und der limitierten Studien keine Empfehlung für den auf den Erythrozyten, sondern auf den meisten Blut- Einsatz abgegeben wurde [13]. In allen Studien, aber zellen. Man kann deshalb den PNH-Klon auch in Mo- auch im klinischen Alltag, erleben die Patienten eine nozyten und Granulozyten suchen. Im Vergleich zu ge- ausgeprägte und sofortige Verbesserung ihrer Lebens- sunden Personen fehlt auf den Monozyten CD14 und qualität. Insbesondere die PNH-assoziierten Sympto- auf den neutrophilen Granulozyten CD24. Auf den me wie Müdigkeit, Schluckbeschwerden und Bauch- Erythrozyten fehlen CD55 und CD59. Der Test mit atte- schmerzen verbessern sich oft schon nach der ersten nuiertem Aerolysin, das spezifisch an den GPI-Anker Verabreichung. Auch längerfristig hat Eculizumab die bindet, kann die Zellgruppe am genauesten erfassen Komplikationen und systemischen Symptome deutlich (Fluoreszenzaerolysin, FLAER) (Abb. 2) [12]. gesenkt. Die Hämolyse nimmt in der Mehrheit der Fälle so weit ab, dass auf Transfusionen verzichtet werden kann und die Inzidenz von thromboembolischen Therapie Komplikationen unter Eculizumab-Therapie praktisch Wenn eine PNH diagnostiziert wird, richtet sich die derjenigen der Normalbevölkerung entspricht [14]. Pas- Therapie nach der Klinik. Bei asymptomatischen Pati- send dazu kann unter etablierter Antikörpertherapie enten mit alleinigem Nachweis eines PNH-Klons muss ein signifikanter Rückgang der Gerinnungsaktivierung nicht zwingend eine Therapie erfolgen. Auch bei einem festgestellt werden [15]. Durch die Reduktion der asymptomatischen Patienten ohne Thromboembo- Thromboserate kann im Verlauf auch eine einmal eta- lien, mit sehr milder, klinisch kompensierter Hämo- blierte Antikoagulation reevaluiert werden, wobei hier SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):554–560 ÜBERSICHTSARTIKEL 559 klare Daten zur Sicherheit nach Absetzen einer Anti- der PNH-Patienten führt dies zu anhaltender Trans- koagulation fehlen. fusionsbedürftigkeit, da die Milz die C3-beladenen Da die Therapie mit Eculizumab aber äusserst teuer ist Erythrozyten extravasal eliminiert, obwohl die intra- (464 000 CHF/Jahr reine Medikamentenkosten, Schwei- vasale Hämolyse durch Eculizumab deutlich verbes- zer Arzneimittel-Kompendium), ist eine Standortbe- sert wird [20]. stimmung bei einem spezialisierten Arzt vor Therapie- In der Schwangerschaft und nach der Entbindung ist beginn unabdingbar. Im Falle einer symptomatischen das Risiko für venöse Thrombosen per se erhöht. Bei PNH und insbesondere von thromboembolischen PNH-Patientinnen steigt dieses noch zusätzlich stark Komplikationen sollte dies sehr rasch geschehen, da an [21] und kompliziert eine Schwangerschaft um einen sich der klinische Zustand der Patienten bei unbehan- weiteren Faktor. Eine wirksame Therapie zur Vermin- delter PNH relativ rasch verschlechtern kann. Der Pati- derung dieses Risikos wäre daher wünschenswert, da ent muss an einem Zentrum vorgestellt werden, damit die Diagnostik und Therapie von thrombotischen eine Kostengutsprache für die Therapie beantragt und Ereignissen in der Schwangerschaft zusätzlich kompli- der Patient in ein schweizerisches PNH-Register aufge- ziert ist. Obwohl der Einsatz von Eculizumab formal in nommen werden kann. Die Aufnahme ins Register ist der Schwangerschaft nicht zugelassen ist, wird er von eine Vorgabe des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) allen Spezialisten empfohlen. Ein signifikanter Über- zur systematischen Erfassung des Therapieerfolges tritt des Antikörpers in den kindlichen Kreislauf konnte und eine Voraussetzung für die Durchführung der nicht nachgewiesen werden [22, 23]. Auch bei Kindern Therapie. ist das Medikament wirksam und sicher, wie in einer Der Patient muss an einem Zentrum vorgestellt werden, damit eine Kostengutsprache für die Therapie beantragt und der Patient in ein schweizerisches PNH-Register aufgenommen werden kann. kürzlich durchgeführten Phase-I/II-Studie gezeigt werden konnte [24]. Eine Zulassung besteht aber weder für Kinder noch in der Schwangerschaft. Etwa die Hälfte der Patienten mit Nachweis eines PNHKlons zeigen eine begleitende hämatologische Erkrankung, wobei die aplastische Anämie (AA) mit Abstand Eculizumab inaktiviert den Komplementfaktor C5 und die häufigste Krankheit ist (43,5% der gesamten Kohorte). durchbricht somit die natürliche Komplementkas- Eine Erklärung für die Assoziation zur AA könnte in kade, die in der unspezifischen Infektabwehr von zen- den fehlenden Antigenen der PNH-Zellen liegen, was traler Bedeutung ist [17]. Erstaunlicherweise führt die einen immunologischen Angriff auf diese Zellen mög- Therapie mit Eculizumab kaum zu einer signifikant licherweise verhindert. Bei Vorliegen einer hämato- erhöhten Infektneigung, mit Ausnahme des deutlich logischen Erkrankung mit Begleit-PNH-Klon wird die erhöhten Risikos für eine Meningokokken-Infektion. Therapie gemäss Richtlinien der jeweiligen hämato- Entsprechend sollten alle Patienten vor Therapiebe- logischen Grundkrankheiten durchgeführt [16]. Das ginn mit dem tetravalenten Meningokokken-Impfstoff Ansprechen auf eine immunsuppressive Therapie bei geimpft werden. Der durch die European Medicines AA-Patienten mit nachgewiesenem PNH-Klon ist meist Agency EMA zugelassene Impfstoff gegen Meningokok- besser als bei Patienten ohne PNH-Klon [16]. In dieser ken B ist in der Schweiz noch nicht zugelassen, sollte Situation kann auch eine allogene Stammzelltransplan- aber, wenn verfügbar, auch in Betracht gezogen werden tation in Erwägung gezogen werden, die bei Patienten [18]. Eine Gonokokken-Infektion tritt sehr viel seltener mit alleiniger PNH im Allgemeinen nicht empfohlen auf [19]. Alle Patienten unter einer Behandlung mit wird [25], da sie mit einer sehr hohen peritransplantären Eculizumab müssen ein gegen Meningokokken wirk- Mortalität assoziiert ist. sames Reserveantibiotikum zu Hause haben (z.B. Ciprofloxacin 750 mg). Patienten sollen sich bei Fieber mit ihrem Arzt in Verbindung setzen. Ausblick In Einzelfällen kann ein positiver monospezifischer Trotz Klärung der Entstehung der PNH fehlen auf- DAT («direct antiglobulin test») für C3 während der grund der Seltenheit der Erkrankung umfassende Daten, Eculizumab-Therapie beobachtet werden, der sich durch die klarere Parameter für den Einsatz der äusserst teu- die Blockade des Komplements ab C5 erklären lässt. ren Therapie mit Eculizumab geben. Es ist daher zen- Eculizumab blockiert den terminalen Anteil der Kom- tral, dass die Krankheit bei Verdacht gesucht wird und plementkaskade ab C5. Die Faktoren, die früher in der Patientenfälle in zentralen Registern gemeldet und Kaskade liegen – insbesondere der Komplementfaktor engmaschig durch einen mit der Krankheit vertrauten C3 –, bleiben aber weiter aktiv und lagern sich an der Arzt nachverfolgt werden. Ein solches Register ist be- Oberfläche der Erythrozyten an. Bei etwa einem Drittel reits etabliert und wird in Zukunft hilfreich sein, um SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):554–560 ÜBERSICHTSARTIKEL Korrespondenz: 560 Therapieindikationen noch besser zu stellen. Im Weite- Dr. med. Rudolf Benz ren ist die Therapie zwar wirksam und ein grosser Fort- Kantonsspital Münsterlingen schritt für die betroffenen Patienten. Als rein sympto- CH-8596 Münsterlingen rudolf.benz[at]stgag.ch matische Komplementinhibierung behandelt sie aber nicht die eigentliche Störung. Auch hier ist zu hoffen, dass in Zukunft mit den rasch wachsenden Möglichkeiten ein Weg für noch gezieltere Therapien gefunden werden kann. Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Titelbild © Jezper | Dreamstime.com Literatur 1 Hillmen P, et al. Natural history of paroxysmal nocturnal hemoglobinuria. N Engl J Med. 1995;333(19):1253–8. 2 Strübing P. Paroxysmale Haemoglobinurie. Dtsch med Wochenschr. 1882;8(1):1–3. 3 Dacie JV. Paroxysmal nocturnal haemoglobinuria. Sci Basis Med Annu Rev. 1972:288–306. 4 Devalet B, et al. Pathophysiology, diagnosis, and treatment of paroxysmal nocturnal hemoglobinuria: a review. Eur J Haematol. 2015;95(3):190–8. 5 Brodsky RA, Paroxysmal nocturnal hemoglobinuria. Blood. 2014;124(18):2804–11. 6 Schrezenmeier H, et al. Baseline characteristics and disease burden in patients in the International Paroxysmal Nocturnal Hemoglobinuria Registry. Haematologica. 2014;99(5):922–9. 7 https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/ paroxysmale-naechtliche-haemoglobinurie-pnh/@@view/html/ index.html 8 Audebert HJ, et al. Cerebral ischemic infarction in paroxysmal nocturnal hemoglobinuria report of 2 cases and updated review of 7 previously published patients. J Neurol. 2005;252(11):1379–86. Das Wichtigste für die Praxis • Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie ist eine Erkrankung, die sich typischerweise mit einer Coombs-negativen Hämolyse, Zytopenien, Thrombosen und Bauchschmerzen manifestiert. • Trotz Seltenheit der Erkrankung lässt sie sich mittels Flowzytometrie sicher nachweisen oder ausschliessen. • Die Therapie und Prognose haben sich seit der Einführung des Komplementantagonisten Eculizumab stark verbessert. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):554–560 9 Lazo-Langner A, et al. Screening of patients with idiopathic venous thromboembolism for paroxysmal nocturnal hemoglobinuria clones. Thromb Res. 2015;135(6):1107–9. 10 Meppiel E, et al. Cerebral venous thrombosis in paroxysmal nocturnal hemoglobinuria: a series of 15 cases and review of the literature. Medicine (Baltimore). 2015;94(1)e362. 11 De Cobelli F, et al. New Insights in Abdominal Pain in Paroxysmal Nocturnal Hemoglobinuria (PNH): A MRI Study. 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Blood Coagul Fibrinolysis. 2015;26(4):458–63. 22 Vekemans MC, et al. Management of pregnancy in paroxysmal nocturnal hemoglobinuria on long-term eculizumab. Blood Coagul Fibrinolysis. 2015;26(4):464–6. 23 Hallstensen RF, et al. Eculizumab treatment during pregnancy does not affect the complement system activity of the newborn. Immunobiology. 2015;220(4):452–9. 24 Reiss UM, et al. Efficacy and safety of eculizumab in children and adolescents with paroxysmal nocturnal hemoglobinuria. Pediatr Blood Cancer. 2014;61(9):1544–50. 25 Peffault de Latour R, et al. Allogeneic stem cell transplantation in paroxysmal nocturnal hemoglobinuria. Haematologica. 2012;97(11):1666–73. RICHTLINIEN 561 Therapieempfehlungen des Schweizer Expertennetzwerks für Burnout (SEB) Burnout-Behandlung Teil 2: Praktische Empfehlungen Barbara Hochstrasser a, 1, Toni Brühlmann b, 2 , Katja Cattapan c, 1, Josef Hättenschwiler d, 2 , Edith Holsboer-Trachsler e, 1, Wolfram Kawohl f, 1, Beate Schulze g, 1, Erich Seifritz h, 2 , Wilmar Schaufeli i, 1, Andi Zemp j, 1, Martin E. Keck k, 1/2 Privatklinik Meiringen, Meiringen; b Privatklinik Hohenegg, Meilen am Zürichsee; c Sanatorium Kilchberg, Kilchberg, und Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bern; d Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung, Zürich; e Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK), Basel; f Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich; g Schulze Resource Consulting, Zürich und Genf, sowie Universität Leipzig, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health, Leipzig, Deutschland; h Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich; i Universität Utrecht, Niederlande, und KU Leuven, Belgien; j Privatklinik Wyss, Münchenbuchsee; k Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München, Deutschland a 1 2 Schweizer Expertennetzwerk für Burnout (SEB) Schweizerische Gesellschaft für Angst & Depression (SGAD) Im Auftrag der Ständigen Kommission Qualität der FMPP/SGPP-Mitglieder Daniel Bielinski und Anouk Gehret. Die Artikel in der Rubrik Aus psychiatrischer Sicht ist Burnout keine Krankheit nicht ausschliesslich, arbeitsbedingte Stressbelastun- «Richtlinien» geben nicht im engeren Sinne und wird weder in der ICD-10 [1] noch gen. Die Symptomatik ist individuell variabel, lässt unbedingt die Ansicht der der DSM-5 als eigentliche psychiatrische Diagnose auf- sich aber in vier Dimensionen einteilen (Tab. 1). geführt (siehe dazu Therapieempfehlungen «Burnout- Da Burnout als Prozess zu verstehen ist, der sich von SMF-Redaktion wieder. Die Inhalte unterstehen der Behandlung Teil 1: Grundlagen», SMF 25/2016). Burnout einer zunehmend chronischen Stressbelastung meist Fachgesellschaft bzw. ist vielmehr ein Risikozustand, der bei Chronifizierung zu einer Depression mit deutlicher Belastungsinsuffi- Arbeitsgruppe. einer andauernden Stressbelastung zu psychiatrischen zienz entwickelt, ist die Symptomatik abhängig vom und somatischen Folgeerkrankungen führen kann. Stadium der Burnoutentwicklung. Ein vereinfachtes Aktuell existieren wenige Studien zur Therapie von Phasenmodell des Burnouts beschreibt drei Stadien Burnout, die nach den Kriterien der evidenzbasierten (Tab. 2). redaktionellen Verantwortung der unterzeichnenden Medizin randomisiert, plazebokontrolliert und doppelblind durchgeführt wurden. Aufgrund einer weitreichenden Überschneidung zwischen Burnout und Depression, komorbiden Angst-, Abhängigkeits-, Schlafund anderen psychiatrischen Störungen [2] setzen sich Tabelle 1: Symptomatik bei Burnout. Psychische Symptome Emotionale Erschöpfung Emotionale Labilität Reizbarkeit Aggressivität Unsicherheit Ängste, Panik Niedergeschlagenheit Motivationsverlust Körperliche Symptome Müdigkeit Erholungsunfähigkeit Schlafstörungen Vegetative Symptome (Verdauungs­ störungen, multiple Schmerzen in Bauch, Rücken, Nacken, Zähnen, Kopf) Infektanfälligkeit Kognitive Symptome Aufmerksamkeitsstörung Konzentrationsstörung Gedächtnisstörung Entscheidungsschwierigkeit Reduzierte geistige Flexibilität Verhaltensänderungen Erhöhte oder verminderte Aktivität Sozialer Rückzug Suchtverhalten Leistungsminderung Arbeitsabwesenheit Unfalltendenz Reduzierte Belastbarkeit die hier geschilderten Therapieempfehlungen aus der Literatur zu den einzelnen Erkrankungen sowie der klinischen Praxis und Erfahrung der Autoren zusammen. Die vorliegenden Behandlungsempfehlungen wurden im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Psych­ iatrie und Psychotherapie (SGPP) vom Schweizer Exper­ tennetzwerk für Burnout (SEB) unter Mitwirkung der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) erstellt. Klinische Präsentation Die klinische Präsentation von Burnout ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte und andauernde Erschöpfung bei gleichzeitig beeinträchtigter Erholungsfähigkeit, begleitet durch Symptome einer Stressbelastung wie hohe Reizsensibilität, Aggressivität, emotionale Labilität, Aufmerksamkeitsstörungen, multiple vegetative Symptome, Schlafstörungen und Leistungseinbussen. Burnout entsteht durch chronische, vorwiegend, aber SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM 2016;16(26–27):561–566 RICHTLINIEN 562 Tabelle 2: Vereinfachtes Phasenmodell des Burnoutprozesses. Stadium Stadium 1 Stadium 2 Stadium 3 Erhöhte Stressbelastung Leichtes oder mittelschweres Burnout Schweres Burnout mit klinischer Depression Diagnose Hauptsächliche Symptome Evaluation und Differentialdiagnose Nervosität, Reizbarkeit, Aufmerksamkeitsstö­ rungen, Überaktivität, vegetative Symptome, unregelmässige Schlafstörungen, Symptomatik reversibel bei längerer Erholungsphase Erschöpfung und weitere Symptome bei Burnout sind Erschöpfung, regelmässige Schlafstörungen (Ein­ und Durchschlafstörungen), reduzierte Aktivität, sozialer Rückzug, emotionale Labilität, Überdruss, Demotivierung, reduzierte Erholungsfähigkeit, dauerhafte vegetative Symptome, multiple Schmerzen, kognitive Symptome (Konzentrations­ und Gedächtnis­ störungen), Niedergeschlagenheit, Interesse und Freudfähigkeit erhalten nistischer und gegebenenfalls neurologischer Erkran- Ausgeprägte Erschöpfung, reduzierte Erho­ lungsfähigkeit, Schlafstörungen, Früherwachen, Freud­ und Interesselosigkeit, Depressivität, Reduktion von Appetit und Libido, ausgeprägte kognitive Symptome, dauerhafte vegetative Symptome, multiple Schmerzen, Hoffnungs­ losigkeit, unter Umständen Suizidalität nicht spezifisch für dieses Syndrom, so dass eine gründliche Differentialdiagnose psychiatrischer, interkungen mit einer anfänglichen Evaluation vorgenommen werden muss. Dabei geht es einerseits darum, primäre körperliche oder psychiatrische Erkrankungen abzuklären, andererseits jedoch auch komorbid mit Burnout auftretende Störungen zu erfassen. Internistisch­neurologisch Aus internistisch-neurologischer Sicht muss eine Reihe von Differentialdiagnosen, die ebenfalls mit chronischer Erschöpfung einhergehen können, ausgeschlossen werden. Neben endokrinen und neurologischen Störungen sind infektiöse, onkologische und Tabelle 3: Auswahl medizinischer Differentialdiagnosen. autoimmune Erkrankungen besonders zu beachten. Fachbereich Wichtigste Differentialdiagnosen Zudem sind kardiovaskuläre Erkrankungen, meta- Internistisch z.B. schwere Anämie, Vitamin­D3 ­Mangel, metabolisches Syndrom, hypophysäre/hypothalamische Erkrankungen bolisches Syndrom, Diabetes, Adipositas und Schlaf- Neurologisch z.B. Schlafapnoe, Restless legs, Pickwick­Syndrom, Myopathien, Enzephalitiden, Krampfanfälle, Status nach Schädel­Hirn­Trauma, Multiple Sklerose, Myasthenia gravis, Morbus Parkinson, Borreliose des Zentralnervensystems Endokrin störungen mit Burnout assoziiert [3, 4]. Relevante somatische Differentialdiagnosen sind in Tabelle 3 aufgeführt. z.B. Hypophyseninsufffizienz (auch nach Bagatell­Schädel­ Hirn­Trauma), Hypothyreose, Diabetes, Morbus Cushing, Morbus Addison Psychiatrisch Infektiös z.B. Borreliose, Schlafkrankheit, chronische Tuberkulose, HIV, Epstein Barr, Malaria eine der in Tabelle 4 erwähnten psychiatrischen Dia- Onkologisch z.B. Kraniopharyngeom, Lambert­Eaton­Syndrom, Tumoren/ Paraneoplasien jeder Art Medikamentös z.B. Antihypertensiva, Sedativa, Benzodiazepine, sedierende Antidepressiva, Antipsychotika Tabelle 4: Wichtigste psychiatrische Differentialdiagnosen von Burnout. Psychiatrisch ist es zwingend zu beurteilen, inwiefern gnosen vorliegt. Sie können als Folgeerkrankung von Burnout auftreten oder unabhängig davon vorliegen und als Burnout fehlinterpretiert werden. Daher sind sie Differentialdiagnostisch abzugrenzen. Bei Vorliegen einer psychiatrischen Folgeerkrankung aufgrund einer Burnoutentwicklung lässt sich meist eine ausgeprägte Psychische Störung Zu beachtende Merkmale Erschöpfungskomponente beobachten. Depressive Störungen Depressive Stimmung, Interesselosigkeit, Früherwachen, ausgeprägte kognitive Störungen, veränderte Psychomotorik, Suizidalität, Cave: Bipolare Depression mit Phasen der Manie Hinsichtlich der psychiatrischen Evaluation und Diffe- Angststörungen Klassische Panikattacken, antizipatorische Ängste, spezifische Phobien Neurasthenie Langdauernde und chronisch reduzierte Belastbarkeit und Erschöpfungstendenz bei geringfügigen geistigen oder körperlichen Anstrengungen Sucht (Alkohol, Sedativa) Anamnese der langdauernden, nicht mehr unterbrechbaren Einnahme, eventuell Entzugserscheinungen rentialdiagnose sind neben klinischen Kriterien auch Fragebogen (Selbst- und Fremdeinschätzung) hilfreich. Besonders empfehlenswert sind Skalen zur Einschätzung des Burnouts (siehe Tab. 5), wobei die «Shirom-Melamed Burnout Mesure» (SMBM) einfacher erhältlich und einfacher interpretierbar ist (im Internet verfügbar unter http://www.fzkwp.uzh.ch/services/Stressmgmt/ZEP-1/ Hyperaktivitätssyndrom Nervosität, Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität, Stim­ mungsschwankungen, anamnestisch seit Kindheit vorhanden Fragebogen.html). Zur Erfassung der Depression dienen Anpassungsstörungen Kurz­ oder langdauernde Veränderungen in Stimmung und Verhalten als Folge von Ereignissen, die nicht für eine andere Störung qualifizieren schätzung). Zudem lassen sich mittels einer Angstskala, Zwangsstörung Zwangsgedanken und Rituale, die deutlich beeinträchtigend wirken und vor der Stressbelastung schon vorlagen Persönlichkeits­ akzentuierung, Persönlichkeitsstörung Entsprechende Kognitionen und Verhaltensmuster, vor allem mit narzisstischer, abhängiger oder selbstunsicherer Prägung SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM 2016;16(26–27):561–566 validierte Depressionsskalen (Fremd- und Selbsteineiner Hypomanieskala (Differentialdiagnose: Bipolare Depression), Skalen zur Erfassung psychosomatischer Symptome und eines Fragebogens zur Tagesschläfrigkeit die weiteren wichtigen Differentialdiagnosen unterstützen. Diese sind in Tabelle 5 fett markiert. RICHTLINIEN 563 Therapie eine einzige Interventionsstrategie ungeeignet, um alle Ebenen von Burnout zu behandeln [5]. Die Therapie Ziele der Therapie von Burnout sind eine stabile Remis- muss daher wie jede psychiatrisch-psychotherapeu- sion einer komorbiden depressiven Störung, die Erneu- tische Intervention mehrdimensional erfolgen. Die erung von Vitalität und Erholungsfähigkeit, die Wieder- hier aufgeführten Dimensionen beziehen sich auf die herstellung der Belastbarkeit hinsichtlich sozialer und jeweiligen im Vordergrund stehenden Behandlungs- beruflicher Funktionen sowie die Verstärkung kon- aspekte. Sie haben sich in der Praxis als sinnvoll her- struktiver Bewältigungsstrategien. Eine zentrale Rolle ausgestellt, jedoch gibt es hierzu keine kontrollierten spielen dabei neben physiologischen und psychopatho- Studien. logisch depressiven Symptomen insbesondere auch kognitive Funktionen und die Beachtung einer neur- Patientenbegleitung asthenischen Komponente. Liegt Burnout als Risiko- Ein Patient mit einem Burnout bedarf einer aktiven zustand vor, ist die ambulante Therapie häufig zielfüh- Führung und Begleitung durch den Behandler. Beson- rend. Bei einer ausgeprägten Erschöpfungsdepression ders leistungsorientierte und erfolgsgewohnte Men- (Cave: Suizidalität) erfolgt die stationäre Behandlung. schen sind sich in einem geschwächten, dysfunktiona- Um eine nachhaltige Besserung zu erreichen, gilt es, len Zustand entfremdet und können nicht auf ihre die psychologischen Risikofaktoren zu relativieren, eine üblichen Ressourcen zurückgreifen. Daran verzweifeln nachhaltige Selbstfürsorge zu entwickeln und eine er- sie mitunter, verlieren die Hoffnung und werden hilflos. höhte Kompetenz hinsichtlich Stressbewältigung, Auch Suizidalität kann auftreten und bedarf besonderer Konfliktlösung und sozialer Interaktion zu erwerben. Beachtung. Um sie in ihrer Hilflosigkeit, Verzweiflung Zentrales Ziel muss es sein, die Betroffenen erneut zu und ihren Selbstvorwürfen aufzufangen, dient die Ent- befähigen, Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen und wicklung eines Erklärungsmodells für die vorliegende die für ihren Lebensentwurf und ihre Identität wichti- Störung und ihre Verursachung. Psychoedukation zu gen Kompetenzen und Ressourcen aufzubauen. Eine Stress, Burnout und Depression, sowie zur Begründung Neuorientierung bezüglich Werten und Zielen ist ein der einzelnen Behandlungsstrategien, ist ein wichtiges integraler Bestandteil dieser Auseinandersetzung. Auf- Behandlungselement. Da der Heilungsprozess längere grund der Vielschichtigkeit des Krankheitsbildes scheint Zeit in Anspruch nimmt, muss der Behandler den Patienten immer wieder zu Geduld und Vertrauen ermutigen und ihm einen schrittweisen Behandlungs- und Tabelle 5: Skalen zur Evaluation und Differentialdiagnose bei Verdacht auf ein Burnoutsyndrom. Genesungsverlauf aufzeigen. Besondere Beachtung Gemessenes Konstrukt Skala Information zur Klärung von wird aufgefordert, von Beginn der Therapie an bis zum Burnout MBI (Selbsteinschätzung) SMBM (Selbsteinschätzung) Ausmass der Burnout­ Symptomatik Abschluss der Rehabilitationsphase jeweils täglich HAMD-17 oder MADRS (Fremdeinschätzung) BDI (Selbsteinschätzung) HCL­32 (Selbsteinschätzung) Majore Depression Depression Angst Tagesschläfrigkeit dreimal die subjektiv wahrgenommene Stimmung, Energie und Anspannung auf einer visuellen Analog- Depressivität Bipolare Depression HAMA (Fremdeinschätzung) STAI (Selbsteinschätzung) Ängstlichkeit, Angstneigung EPSS (Selbsteinschätzung) Ausmass der Schläfrigkeit Mögliche primäre Schlaf­ störung (Schlafapnoe, Restless legs) skala von 0–10 aufzuzeichnen und darunter seine Aktivitäten zu notieren (Abb. 1). So stellt er fest, welche Aktivitäten oder Ereignisse wie viel Energie kosten, zu Erschöpfung oder Anspannung führen, und lernt folglich, seine Energien einzuteilen und die nötigen Pausen zur Regeneration einzuplanen. So kann eine nachhaltige Steigerung und Stabilisierung der Energielage erfolgen. Abkürzungen der unterschiedlichen Fragebogen/Skalen: MBI Maslach Burnout Inventory [19, 20] SMBM Shirom­Melamed Burnout Mesure [21], http://www.fzkwp.uzh.ch/services/Stressmgmt/ ZEP­1/Fragebogen.html HAMD Hamilton Depression Scale [22, 23] MADRS Montgomery­Asberg Depression Rating Scale [24] BDI Beck Depression Inventory [25, 26] HAMA Hamilton Anxiety Rating Scale [27] HCL­32 Hypomania Check List [28] STAI State­Trait Anxiety Inventory [29] EPSS Epsworth Sleepiness Scale [30] SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM kommt dabei dem «Energiemonitoring» zu: Der Patient 2016;16(26–27):561–566 Biologisch-medizinische Dimension In Anbetracht der neurobiologischen Mechanismen, die bei Stress zu Burnout und Depression führen können, ist bei Vorliegen einer depressiven Störung eine adäquate Pharmakotherapie mittels Antidepressiva angezeigt [6, 7]. Dabei können alle Antidepressiva zur Anwendung kommen, die für die Behandlung leichter bis schwerer Depressionen empfohlen werden. Patienten mit einem Burnout-Syndrom weisen häufig eine vegetative Labilität auf. Daher muss die Pharmakothe- RICHTLINIEN 564 Abbildung 1: Energiemonitoring. rapie sorgfältig auf die Toleranz von Nebenwirkungen Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Auffassung und einschleichend erfolgen. Der Schlafhygiene und und erhöhte Vergesslichkeit – müssen durch sorgfältige Behandlung vorliegender Schlafstörungen muss beson- Testung eingegrenzt, behandelt (z.B. durch neuropsy- dere Beachtung geschenkt werden. Hier können sedie- chologisches computerassistiertes Training) und im rende Antidepressiva oder kleine Dosen atypischer Verlauf beobachtet werden. Nicht selten sind sie die Ur- Neuroleptika gewinnbringend eingesetzt werden. Die sache für eine missglückte berufliche Reintegration antidepressive Therapie muss «lege artis», das heisst leit- und persistieren, während sich die anderen Symptome liniengerecht erfolgen. [6]. Manche Patienten, die einem bereits in Remission befinden. klassischen Antidepressivum gegenüber skeptisch eingestellt sind, lassen sich für ein Johanniskrautpräparat Ergänzende Massnahmen gewinnen. Es fungiert nicht selten als evidenzbasierte Einstiegsmedikation bei leichten bis mittelschweren Sport depressiven Zustandsbildern, die bei ungenügendem Bei Burnout ist eine moderate, der körperlichen Leis- Ansprechen einer synthetischen Substanz weichen tungsfähigkeit angepasste sportliche Aktivierung ein kann. Bei einem Burnout ist in der Regel beobachtbar, relevanter Therapiebaustein. Er unterstützt die Stress- dass der depressive Affekt viel schneller anspricht oder reduktion, fungiert als antidepressives Adjuvans und gar vollständig remittiert, bevor Erschöpfung und Kon- dient der Tagesstrukturierung. Es ist ratsam, die Leis- zentration oder andere kognitive Störungen verbessert tungsfähigkeit mittels eines sportphysiologischen Fit- sind. Dies weist auf die neurasthenische Komponente nesstests zu messen und daran angepasste Trainings- der stressbedingten Depression hin und benötigt ein instruktionen zu geben. Dabei sollte ein tägliches, strukturiertes Energiemanagement des Patienten (siehe leicht den Kreislauf aktivierendes Training angestrebt oben). Allerdings obliegt es der Beurteilung des Behand- werden. lers, inwiefern diese Erschöpfung und die kognitiven Einbussen noch ein depressives Residuum darstellen Entspannung und Körpertherapien und nach einer weiteren Optimierung der Pharmako- Regelmässige Entspannungsübungen und Körperthe- therapie verlangen oder eher eine neurasthenische rapien sind ebenfalls relevante Therapieelemente, da sie Komponente ausdrücken. Die oftmals ausgeprägten die Tiefenentspannung fördern, die Körperwahrneh- neuropsychologischen Einbussen – wie verminderte mung, die bei Stress meist reduziert ist, fördern und SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM 2016;16(26–27):561–566 RICHTLINIEN 565 damit den Prozess einer neuen Bewusstwerdung des äquater Bewältigungsstrategien sind bewährte Ansätze. Selbst und der eigenen Ressourcen verstärken. Sie wir- Integrative Therapieverfahren wie die Therapie nach ken damit psychotherapeutisch unterstützend. Als Ent- Grawe [11] oder die Schematherapie [12] bewähren sich spannungsübungen können unterschiedliche Verfahren in der Modifikation potentiell krankmachender Ver- zum Einsatz kommen, wie Progressive Muskelrelaxa- haltensmuster und Persönlichkeitsmerkmale. tion, Autogenes Training, Qigong oder Yoga. Ebenso Die Ergänzung der Therapie durch einen ressourcen- eignen sich verschiedene körpertherapeutische Verfah- orientierten Ansatz ist sinnvoll bei Verkümmerung der ren, wobei anzustreben ist, sich auf wenige, bewährte zur Selbstregulation und persönlichen Werteerfüllung Methoden zu beschränken. verfügbaren Ressourcen oder des entsprechenden Ressourceneinsatzes. Grundthemen sind dabei im All- Achtsamkeitsübungen gemeinen die fast ausschliessliche Beschäftigung mit Die Praxis von regelmässigen Achtsamkeitsübungen leistungsorientierten Zielen, Unfähigkeit, sich einer [8] unterstützt Entspannung, nachhaltige Stressreduk- persönlich sinnhaften, nicht arbeitsbezogenen Tätig- tion und die Entwicklung von mehr Gelassenheit und keit zu widmen, und Vernachlässigung von persönli- einer besseren Selbstakzeptanz. Sie kann damit unter- chen Ressourcen und Werten wegen Zeitmangels. Der stützend für psychotherapeutische Prozesse wirken. Es therapeutische Ansatz liegt in der Identifikation per- ist ratsam, die Burnoutbetroffenen zu regelmässigen sönlich gewinnbringender Aktivitäten und Erfahrun- Achtsamkeitsübungen in der Gruppe zu motivieren, gen, der Diskussion von persönlichen Werten und der die durch individuelle Übungen ergänzt werden kön- bisherigen Zeiteinteilung. Eine neue Lebensgestaltung nen. Als einfach zu vermittelnde, wenig anspruchs- mit einer besseren Selbstfürsorge und einer ausgewo- volle und wirksame Methode eignet sich besonders genen Lebensbalance wird erarbeitet. «Mindfulness-based Stress Reduction» (MBSR ), Stress- Sehr häufig leiden die Patienten zusätzlich an einer bewältigung durch Achtsamkeit [9, 10]. Beziehungsproblematik, die sich auch aus der Entwicklung des Burnouts ergeben kann. Hier können ein Psychotherapie interpersoneller Ansatz oder ein systemischer Ansatz Die Psychotherapie konzentriert sich vorzugsweise auf mit Einbezug des Partners oder der Familie eingesetzt das Schaffen einer Übereinstimmung zwischen Leis- werden. Eine Sitzung mit dem Partner ist stets empfeh- tungsanforderung und vorhandenen Ressourcen (ob- lenswert, schon nur um das Verständnis des Partners jektive Dimension, wie etwa ein Ungleichgewicht), auf für die Erkrankung des Patienten zu fördern und vor- die Korrektur dysfunktionaler Einstellungen und Ver- liegende Fragen zu klären. haltensweisen wie etwa eine ausgeprägte Orientierung an Bedürfnissen anderer oder ein Mangel an Selbst- Existentielle Dimension wertgefühl (subjektive Dimension) sowie die Befähi- Jede Krise lässt sich letztlich nicht überwinden, ohne gung zu einer sinnerfüllten Lebensweise, die sich auf die bisher gelebten Werte und Ziele zu reflektieren und die für die persönliche Identität wichtigen Werte und zu überprüfen, inwiefern sie für eine sinnerfüllte Le- Ziele und den daraus hergeleiteten Lebensentwurf bensgestaltung geeignet sind. Die Erfahrung der eigenen bezieht. Mehrdimensional konzipierte Behandlungs- Grenzen, die bei einem Burnout oft als beängstigend ansätze scheinen aus klinischer Erfahrung erfolgver- wahrgenommen wird, öffnet neu auch den Zugang zu sprechend. Kontrollierte Studien existieren jedoch da- Grundfragen der menschlichen Existenz. Menschen für die mit einem Burnout erleben meist eine Sinnkrise und nicht. Etwas besser untersucht sind Wirksamkeiten von einzelnen Elementen der Therapie erkennen ihre bisherige, an Leistung und Erfolg orien- (siehe dazu Therapieempfehlungen «Burnout-Behand- tierte Lebensweise als untauglich, um ihre eigentlichen lung Teil 1: Grundlagen», SMF 25/2016). Werte und Ziele umzusetzen. Es ist hilfreich, diese Fra- Die kognitiv-behaviorale Therapie eignet sich besonders gen in der Behandlung aktiv anzugehen. Es geht um zur Bearbeitung eines negativen Selbstkonzepts, dys- die Entwicklung einer veränderten inneren Haltung, funktionaler Einstellungen und Bewältigungsstrategien die eine wertschätzende Selbstfürsorge und persönliche sowie interpersoneller Probleme. Häufige Grundthe- Authentizität fördert und damit zur Übernahme von men sind, neben dem Mangel an Selbstvertrauen und Verantwortung und Kontrolle bezüglich der eigenen Selbsteffizienz, Leistungsorientierung, Verausgabungs- Lebensgestaltung führt. Möglicherweise entsteht dar- bereitschaft und Perfektionismus, mangelnde Konflikt- aus auch eine Erweiterung der Sinnorientierung über lösungsfähigkeit und mangelnde Selbstfürsorge. Metho- die selbstbezogenen Ziele hinaus. Selbstakzeptanz und den der kognitiven Restrukturierung, die Vermittlung Selbstmitgefühl befähigen zu Empathie und können des Konzepts des inneren Kindes und das Üben ad- die Erfahrung von Verbundenheit mit anderen oder SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM 2016;16(26–27):561–566 RICHTLINIEN 566 einem Ganzen fördern. Zudem fordert die Auseinandersetzung mit der Sinnfrage die Reflexion über die eigene Existenz und ihre Begrenztheit heraus. Daraus kann eine verstärkte Suche nach Orientierung an ethischen Werten oder nach einer spirituellen beziehungsweise religiösen Verwurzelung entstehen. Achtsamkeitsbasierte Verfahren unterstützen die Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit existentiellen Themen. Wichtig ist, dass der Behandler zumindest für diese existentielle Perspektive offen ist. Bei Bedarf kann eine entsprechend ausgebildete Fachperson (Spiritual Care [13, 14]) beigezogen werden. Andererseits kann der Therapeut bei entsprechender Neigung mit dem Patienten direkt eine vertiefte Auseinandersetzung angehen. Dabei haben sich anthropologische oder existentielle Modelle bewährt [15–17]. Existentielle Fragen können individuell oder auch im Rahmen eines Gruppenangebots [18] thematisiert werden. Vorbereitung und Begleitung in der Reintegration Einen weiteren wichtigen therapeutischen Baustein stellt die therapeutische Begleitung bei der Auseinandersetzung mit arbeitsbezogenen Themen und bei der beruflichen Reintegration dar. Zielsetzung ist die Schaffung einer Übereinstimmung zwischen den Ressourcen des Patienten und den Anforderungen des Arbeitsplatzes. Es empfiehlt sich, mit einer Analyse der beruflichen Entwicklung und der aktuellen Arbeitsplatzsituation zu beginnen. Dabei geht es besonders um die Identifikation der Auslöser der aktuellen Krise und der dysfunktionalen berufsbezogenen Bewältigungsstrategien des Betroffenen. In der Therapie werden berufsbezogene Stärken und Schwächen identifiziert, konkret konstruktivere berufsbezogene Bewältigungsmuster und Ressourcen erarbeitet und weitere Berufsperspektiven ausgelotet. Es wird empfohlen, den Patienten bei einem Gespräch mit dem Arbeitgeber zu unterstützen und dabei den schrittweisen Wiedereinstieg und die notwendigen Anpassungen am Arbeitsplatz zu diskutieren. Viele Taggeldversicherer der jeweiligen Arbeitgeber setzen Case Manager als Bindeglied zwischen Patient, Behandler und Arbeitgeber ein, die den Patienten in der Reintegration unterstützen. Disclosure statement Korrespondenz: Dr. med. Barbara Hochstrasser, M.P.H. MK hat Vortragshonorare von Zeller AG Schweiz, Lundbeck AG Schweiz, Eli Lilly Schweiz SA, Pfizer AG Schweiz deklariert. Die anderen Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Privatklinik Meiringen Postfach 618 CH-3860 Meiringen Der erste Teil dieser Therapieempfehlungen, «Burnout­Behand­ barbara.hochstrasser[at] lung Teil 1: Grundlagen», ist in der vorangehenden SMF­Ausgabe privatklinik-meiringen.ch erschienen. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN­FORUM 2016;16(26–27):561–566 Literatur 1 Weltgesundheitsorganisation, ed. Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V (F), Klinisch-diagnostische Leitlinien ed. M.W. Dilling H, Schmitt M.H (Herausgeber) 1993, Hans Huber Verlag Bern. 2 Nil R, et al. Burnout – eine Standortbestimmung. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 2010;161(2):72–7. 3 Melamed S, Kushnir T, Shirom A. Burnout and risk factors for cardiovascular disease. Behavioral Medicine. 1992;18:53–60. 4 Shirom A, et al. Burnout, mental and physical health: A Review of the evidence and a proposed explanatory model. International Review of Industrial and Organizational Psychology. 2005;20:269–309. 5 Rösing I. Ist die Burnout-Forschung ausgebrannt? Analyse und Kritik der internationalen Burnout-Forschung. 2. Auflage ed. 2008, Kröning. 6 Holsboer-Trachsler E, et al. Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen – 1. Teil. Swiss Medical Forum. 2010;10:802–9. 7 Hättensschwiler J, et al. Burnout. Primary Care. 2012;18:353–8. 8 Michalak J, Heidenreich T, Williams JMG. Achtsamkeit. 2012, Göttingen, Bern, Wien, Paris, Oxford, Prag, Toronto: Hogrefe Verlag GmBH. 9 Kabat-Zinn J, Kroh M. Gesund durch Meditation – Das grosse Buch der Selbstheilung. 2006, Frankfurt am Main: Fischer. 10 Lehrhaupt L, Meibert P. Stress bewältigen durch Achtsamkeit. 2013, München: Kösel-Verlag. 11 Grawe K. Neuropsychotherapie. 2004, Göttingen: Hogrefe. 12 Roediger E. 2008, ed. P.d. Schematherapie. 2000, Stuttgart: Schattauer. 13 Frick E. Spiritual Care - eine neues Fachgebiet der Medizin? Zeitschrift für medizinische Ethik. 2009;55:145–55. 14 Frick E. Sich heilen lassen: Eine spirituelle und psychoanalytische Reflexion 3ed. 2005, Würzburg: Echter. 15 Yalom I. Existentielle Psychoherapie. 2000, Edition Humanistische Psychologie: Köln. 16 Noyon A, Heidenreich T. Existentielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung. 2013, Weinheim: Beltz. 17 Brühlmann T. Begegnung mit dem Fremden. Zur Psychotherapie, Philosophie und Spiritualität menschlichen Wachsens. 2011, Stuttgart: Kohlhammer. 18 Ballweg T, et al. SymBalance: ein theoriebasiertes, integratives Therapiekonzept zur Behandlung von Burnout. Swiss Archives of Neurology and Psychiatry. 2013;164(5):170–7. 19 Schaufeli WB, et al. The Maslach Burnout Inventory – General Survey, in MBI Manual (3rd ed.) Maslach C, Jackson SE, Leiter MP. Editors. 1996, Consulting Psychologist Press Palo Alto. 20 Maslach C, Jackson SE. Maslach Burnout Inventory: second edition, ed. C.P. Press. 1986, Palo Alto CA. 21 Shirom A, Melamed SA. A comparison of the construct validity of two Burnout measures in two groups of professionals. Int J Stress Manag. 2006;13(2):176–200. 22 Hamilton M. A rating scale for depression. J Neurol. Neurosurg. Psychiatr. 1960;23:56–62. 23 Hamilton M. The Hamilton Rating Scale for Depression, in Assessment of Depression, N. Sartorius and T. Ban, Editors. 1986, Springer: Berlin. p. 143–65. 24 Montgomery SA, Asberg M. A new depression rating scale designed to be sensive to change. Brit. J. Psychiat. 1979;134:382–9. 25 Hautzinger M, et al. Beck Depressions Inventar. 1993, Bern: Hans Huber. 26 Hautzinger, M, et al. Beck-Depressions-Inventar (BDI), Testhandbuch. Zweite und überarbeitete Aufl. [Beck depression inventory (BDI) Testmanual 2nd rev. ed.]. 1995: Bern: Hans Huber. 27 Hamilton M. The Assessmnet of Anxiety States by Rating. Brit. J. Med Psychology. 1959;32:50–5. 28 Angst J, et al. The HCL-32: towards a self-assessment tool for hypomanic symptoms in outpatients. Journal of Affective Disorders. 2005;888:217–33. 29 Spielberger CD, Gorsuch RL, Lushene RE. STAI, Manual for the State-Trait-Anxiety-Inventory. 1970, Palo Alto, U.S.A: Consulting Psychologist Press. 30 Bloch KE, et al. German version of the Epworth Sleepiness Scale. Respiration; International Review of Thoracic Diseases. 999;66(5):440–7. FALLBERICHTE 567 Anhaltenden Beschwerden auf den Grund gehen Unerwartete Diagnose nach Sprunggelenksdistorsion Thomas Hunziker a , Heidrun Eisenlohr b , Kristin Zeidler c a c Klinik für Orthopädie / Traumatologie, Kantonsspital Nidwalden, Stans; b Institut für Radiologie, Luzerner Kantonsspital, Luzern; Klinik für Innere Medizin, Onkologie, Kantonsspital Nidwalden, Stans Hintergrund Eine Behandlung mittels Bandagen oder Stabilisierungsmassnahmen war bis dahin nicht erfolgt. Sprunggelenksdistorsionen sind sehr häufig und können meistens konservativ behandelt werden. Weitere Status Diagnostik ist in der Regel nicht erforderlich. Bei per- In der ersten klinischen Untersuchung zwei Monate sistierenden Beschwerden sollte eine weitere Abklärung nach Trauma konnten einzig eine leichte Schwellung erfolgen. Eine Diagnose wie im vorliegenden Fall ist und Druckdolenz im Bereich der vorderen Syndes- dabei allerdings eher selten zu erwarten. mose erhoben werden. Die Beweglichkeit war seitengleich unauffällig. Fallbericht Befunde Konventionell-radiologisch zeigte sich ein unauffälliger Thomas Hunziker Anamnese Befund ohne Nachweis einer Fraktur (Abb. 1). Hinweise Im Herbst 2015 wurde eine 54-jährige Patientin in die auf eine osteochondrale Läsion oder eine Bandruptur orthopädische Sprechstunde zugewiesen mit anhal- ergaben sich nicht. Klinisch war in erster Linie von tenden Beschwerden nach etwa zwei Monate zurück- einer Zerrung der vorderen Syndesmose auszugehen liegender Sprunggelenksdistorsion. Der genaue Unfall bei klinisch stabilen Verhältnissen. konnte von der Patientin nicht mehr hergeleitet werden. Bei fehlender Besserung erfolgte eine Magnetreso- Nach initial rascher Besserung der Beschwerden ver- nanztomographie (MRT) des oberen Sprunggelenks. Es blieben leichte Schmerzen über dem Aussenknöchel. zeigte sich ein ausgedehntes, diffuses Knochenmark- Abbildung 1: Röntgen des oberen Sprunggelenks rechts, stehend in zwei Ebenen (ap [A] und seitlich [B]). SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):567–569 Abbildung 2: MRT Sprunggelenk rechts nativ TIRM coronar. Ausgedehntes Knochenödem in der distalen Tibia (Stern). Talus (T) und Fibula (F) ohne Ödem. FALLBERICHTE 568 Abbildung 3: MRT Sprunggelenk rechts nativ T1w TSE sagittal. Scharf begrenzte hypointense Läsion in der distalen Tibia (Pfeil). Talus (T). Abbildung 4: PET/CT-Ganzkörper mit 254 MBq 18F-FDG. FDGaktive Skelettläsion in der distalen Tibia (Stern). Fibula (F). ödem der distalen Tibia mit perifokalem Weichteil- Eine unmittelbar veranlasste PET-CT-Untersuchung ödem und scharf begrenztem, T1-gewichtet (T1w) sehr (Abb. 4 und 5) ergab eine disseminierte Metastasierung hypointensem Fokus mit Beteiligung der Epiphyse, mit multiplen Knochenmetastasen. Neben der unge- bildmorphologisch verdächtig auf einen neoplasti- wöhnlichen Lokalisation in der distalen Tibia zeigten schen Prozess (Abb. 2 und 3). Hinweise auf einen Infekt sich multiple pulmonale Raumforderungen, Hirnme- ergaben sich nicht. Konventionell-radiologisch war an tastasen sowie eine Beteiligung beider Nebennieren korrespondierender Stelle auch retrospektiv keine ein- ohne Nachweis von Leberläsionen. Der radiologische deutige Veränderung der Knochenstruktur erkennbar. Befund wäre differentialdiagnostisch auch mit einem Degenerative Veränderungen lagen nicht vor. Ein pri- Bronchialkarziom als Primärtumor vereinbar gewesen. märer Knochentumor war somit unwahrscheinlich. Eine kurzfristig erfolgte Biopsie einer der Knochen- Daher ergab sich der dringende Verdacht auf das Vor- läsionen (Sakrum) ergab jedoch einen histologisch und liegen einer Knochenmetastase. immunhistochemisch dem bekannten Sigmakarzinom entsprechenden Befund. Diagnose Eine daraufhin erweiterte Anamneseerhebung ergab Therapie und Verlauf eine Hemikolektomie links 2010 bei Sigmakarzinom Im Verlauf berichtete die Patientin noch über weitere (pT2 pN0[0/44] G2 L0 V0). Computertomographisch Symptome wie eine Schwäche im linken Bein, Skelett- war damals im Rahmen des Staging auch ein vergrös- schmerzen im Hüftbereich und Nachtschweiss. Die Pa- serter und als suspekt eingestufter Lymphknoten tientin wurde zur weiteren Behandlung der Onkologie mediastinal beschrieben. Dieser zeigte in einer mittels zugewiesen, wo eine palliative Bestrahlung und Chemo- endobronchialen Ultraschalls (EBUS) gesteuerten Punk- therapie eingeleitet wurden. tion keine malignen Zellen. Die bildgebenden Verlaufs- Beim Sprunggelenk kam es zu keinem Einbruch der kontrollen wurden nach mehrfach stationärem Befund tibialen Gelenkfläche. Konventionell-radiologisch war seitens der Patientin 2011 beendet. In der Nachsorge- im Verlauf allenfalls eine flaue Mehrsklerosierung fass- endoskopie im Mai 2015 ergab sich kein Hinweis auf bar. Die Patientin verstarb leider knapp drei Monate ein Rezidiv oder einen Zweittumor. nach der Diagnosestellung. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):567–569 FALLBERICHTE 569 Diskussion Korrespondenz: Dr. med. Thomas Hunziker Die Sprunggelenksdistorsionen werden häufig baga- Kantonsspital Nidwalden tellisiert, und auf weitere Abklärungen sowie Nachun- Ennetmooserstrasse 19 CH-6370 Stans tersuchungen wird oft verzichtet. Dies obwohl neben thomas.hunziker[at]ksnw.ch Verletzungen des Bandapparates auch andere Pathologien wie Frakturen, Syndesmosenverletzungen, Sehnenluxationen/-rupturen und osteochondrale Läsionen nicht selten sind. Chronische Instabilitäten treten in bis zu 20–40% nach akuter Instabilität auf und gelten als Präarthrose. Eine konventionell-radiologische Untersuchung sollte grosszügig durchgeführt werden, auch wenn in vorliegendem Fall dadurch die Diagnose nicht gestellt werden kann. Obwohl Schnittbildverfahren in der Primärdiagnostik der Sprunggelenksdistorsion kaum zum Einsatz kommen, sollten diese bei anhaltenden Beschwerden eingesetzt werden [1]. In der Literatur existieren keine einheitlichen Angaben über den Zeitpunkt, wann eine MRT-Untersuchung erfolgen sollte. Je nach Behandlungsalgorithmus wird der Zeitpunkt für Zusatzuntersuchungen unterschiedlich nach Trauma angegeben [2]. Ossäre Metastasen in der vorliegenden Lokalisation sind selten. Lediglich bei etwa 1% der Knochenmetastasten sind kolorektale Tumoren die zugrundeliegenden Primärtumoren und treten typischerweise im Becken oder in der Wirbelsäule auf [3, 4]. Knochenmetastasen bei kolorektalen Tumoren treten eher in fortgeschrittenem Stadium (T3/T4) auf [5], sind letztlich jedoch bei Tumoranamnese immer und in jeder Lokalisation sowie – wie im vorliegenden Fall – auch bei niedrigerem Primärstadium des Tumors möglich. Eine persönliche interdisziplinäre Zusammenarbeit hat in diesem Fall zur raschen Diagnose geführt und eine Behandlungsverzögerung verhindert. Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Abbildung 5: PET/CT-Ganzkörper mit 254 MBq 18F-FDG, Übersicht. Literatur 1 2 3 Das Wichtigste für die Praxis Wenn die akuten Beschwerden nach Sprunggelenksdistorsionen nicht inner- 4 halb von Wochenfrist weitgehend abgeklungen sind, sollte eine weitere Abklärung mittels Magnetresonanztomographie erfolgen. Bei ungewöhnlichen Befunden empfiehlt es sich, mehrere Fachdisziplinen miteinzubeziehen und die Anamneseerhebung auszuweiten. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):567–569 5 Walther M, Kriegelstein S, Altenberger S, Volkering C, Röser A, Wölfel R. Lateral ligament injuries of the ankle joint. Unfallchirurg. 2013;116(9):776–80. Polzer H, Kanz KG, Prall WC, Haasters F, Ockert B, Mutschler W, et al. Diagnosis and treatment of acute ankle injuries: development of an evidence-based algorithm. Orthop Rev (Pavia). 2012;4(1):e5. Hage WD, Aboulafia AJ, Aboulafia DM. Incidence, location, and diagnostic evaluation of metastatic bone disease. Orthop Clin North Am. 2000;31(4):515–28, vii. Connelly TM, Piggott RP, Waldron RM, O’Grady P. Unusual osseous metastases from rectal adenocarcinoma: a case report and review of the literature. J Gastrointest Surg. 2015;19(6):1177–86. Santini D, Tampellini M, Vincenzi B, Ibrahim, C. Ortega, V. Virzi, et al. Natural history of bone metastasis in colorectal cancer: final results of a large Italian bone metastases study. Ann Oncol. 2012;23(8):2072–7. FALLBERICHTE 570 Spontane Koronardissektion Ein ungewöhnlicher Riss bei der Geburt Rolando Roges, Marcos Delgado, Dirk Springe, Lukas Ebnöther Interdisziplinäre Intensivstation, Anästhesieabteilung, Bürgerspital Solothurn Fallbericht von 0,04 μg/l) und eine erhöhte Kreatinkinase (CK) von 486 U/l. Anamnese Es erfolgte eine notfallmässige Koronarangiographie, Eine 32-jährige Patientin wurde notfallmässig durch bei der sich als Ursache der Beschwerden eine am ihren Hausarzt zugewiesen wegen seit vier Tagen inter- Ostium beginnende und bis nach distal reichende Dis- mittierender thorakaler Schmerzen, anteroseptaler ST- sektion des Ramus interventricularis anterior (RIVA) Hebungen im EKG sowie positiver Herznekrosemarker. mit subtotaler Stenosierung im mittleren sowie dista- Bei der Patientin bestanden bis anhin keine bekannten len Bereich fand. Die Ausbreitung der Ischämiezeichen Herzerkrankungen oder signifikanten kardiovaskulä- im EKG bis in die inferioren Ableitungen liessen sich ren Risikofaktoren. Sie hatte vor etwa vier Wochen ihr mit dem bis über den Apex reichenden dissezierten viertes Kind ohne Komplikationen geboren. Die vor- RIVA («wrap around»-Typ) erklären (Abb. 2). Der Ramus ausgegangenen Schwangerschaften waren ebenfalls circumflexus (RCX) und die rechte Koronararterie (RCA) problemlos verlaufen. Nach primärer Versorgung durch waren unauffällig. Die systolische linksventrikuläre den Rettungsdienst mit Lysin-Acetylsalicylat (Aspégic®) (LV) Funktion war in der Ventrikulographie bei apikaler 250 mg i.v. und Heparin 5000 IE i.v. erfolgte die Verle- Akinesie leicht eingeschränkt. gung ins Spital. Therapie und Verlauf Status und Befunde Rolando Roges Bei Eintritt präsentierte sich die Patientin kardiopul- Aufgrund der hämodynamischen Stabilität und der monal stabil und beschwerdefrei. Das 12-Kanal-EKG seit Eintritt bestehenden Beschwerdefreiheit wurde zeigte einen tachykarden Sinusrhythmus mit signifi- auf eine Revaskularisation verzichtet und die Patientin kanten ST-Hebungen über der Vorderwand von V2–V4 zur weiteren Überwachung auf die Intermediate Care (Abb. 1) sowie nicht signifikanten (<0,1 mV) ST-Hebun- Station verlegt. gen in V5–V6 und den inferioren Ableitungen II, III und Es erfolgte eine konservative Therapie mittels Nitro- aVF. Laborchemisch fanden sich ein erhöhtes Troponin I glycerin-Perfusor, Thrombozytenantiaggregation mit von 9,46 μg/l (Beckman Coulter, 99. Perzentile Cut-off Clopidogrel und Acetylsalicylsäure sowie eine therapeutische Heparinisierung. Zusätzlich wurde eine Betablocker- und ACE-Hemmer-Therapie mit niedrigdosiertem Metoprolol und Lisinopril per os begonnen. Die Patientin blieb im Verlauf hämodynamisch stabil ohne relevante Arrhythmien und weiterhin beschwerdefrei. Im Labor erreichte das Troponin einen Peak von 10,08 μg/l zwölf Stunden nach Eintritt und war im weiteren Verlauf stetig regredient. Das CK zeigte den maximalen Wert bei Eintritt und normalisierte sich binnen 36 Stunden. Elektrokardiographisch stellte sich in den Verlaufskontrollen ein Infarktablauf mit diskret rückläufigen ST-Hebungen und spitzen T-Negativierungen über der Vorderwand (Abb. 3) dar. Eine transthorakale Echokardiographie zeigte am zweiten Tag nach Eintritt einen normal dimensionierten linken Ventrikel mit Abbildung 1: 12-Kanal-EKG bei Eintritt mit anterioren ST-Hebungen V2–V4 sowie nicht signifikanten Hebungen in V5–V6, II, III und aVF. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):570–572 erhaltener systolischer LV-Funktion (linksventrikuläre Ejektionsfraktion, LVEF 55%) bei midventrikulär-septal FALLBERICHTE 571 100 000 Geburten [1]. Dabei steht die SCAD nach der atherosklerotischen Plaqueruptur und vor dem emboliebedingten Myokardinfarkt an zweiter Stelle. Die Mortalität bei allen ACS in der Schwangerschaft, unabhängig von der Ätiologie, lag in einer retrospektiven US-Studie von 2008 bei etwa 11% [1]. Im Gegensatz zur atherosklerotischen Plaqueruptur trifft die schwangerschaftsassoziierte SCAD vornehmlich gesunde Frauen ohne vorbestehende kardiovaskuläre Risikofaktoren, überwiegend im letzten Trimenon oder in der postpartalen Phase mit einem Peak um die zweite Woche nach der Geburt [2]. Die genauen pathophysiologischen Mechanismen sind Abbildung 2: Koronarangiographie bei Eintritt. Ausgedehnte RIVA-Dissektion der mittleren und distalen Segmente des bis über den Apex reichenden Gefässes. Laterale (A) und kraniale Ansicht (B). bis anhin unklar, jedoch scheinen hormonell bedingte Veränderungen der Arterienwand durch Progesteron sowie der hämodynamische Stress während der Geburt eine zentrale Rolle zu spielen [1]. Es kommt entweder durch einen Intima-Einriss oder durch eine Ruptur der Vasa vasorum zu einem intramuralen Hämatom, welches das wahre Lumen komprimiert [3, 4]. Als Risikofaktoren wurden eine Multiparität sowie ein hohes Gebäralter beobachtet. Die Beschwerden reichen von leichten thorakalen Schmerzen bis hin zum plötzlichen Herztod. Die meisten Patientinnen stellen sich mit typischen klinischen Zeichen des ACS und erhöhten Herzenzymen vor. Das EKG zeigte in ca. 80% der Fälle einen ST-Hebungsinfarkt. Gemäss einer retrospektiven Studie aus dem Jahr 2001 [2], die 58 koronarangiographierte SCAD-Fälle analysierte, stellt sich der RIVA mit 80% als das am Abbildung 3: 12-Kanal-EKG bei Austritt mit persistierenden ST-Hebungen sowie neuen T-Negativierungen über der Vorderwand. häufigsten betroffene Gefäss dar. Es zeigte sich in einem Viertel aller Fälle eine Hauptstammbeteiligung und bei ca. 40% der Patientinnen die Beteiligung mehrerer bis anteroapikaler Hypo- bis Akinesie und ansonsten Gefässe. unauffälligen Befunden. Aufgrund ihrer Seltenheit existieren bislang keine Nach komplikationsloser Überwachung und Ausschlei- klaren Leitlinien für das Management der SCAD. Die chen des Nitroglycerins konnte die Patientin auf die Durchführung einer notfallmässigen Koronarangio- kardiologische Schwerpunktstation verlegt werden. graphie bei ST-Hebungsinfarkt zur genauen Diagnostik Die therapeutische Heparinisierung wurde nach voll- und Festlegung der Therapie ist unabdingbar. Zur ge- ständiger Mobilisation gestoppt. Schliesslich konnte die naueren Beurteilung der Dissektion können ergänzende Patientin mit einer dualen Plättchenhemmung sowie intrakoronare Bildgebungen wie die optische Kohärenz- einer Therapie mit Lisinopril und Metoprolol in be- tomographie («optical coherence tomography», OCT) schwerdefreiem Zustand nach Hause entlassen werden. oder der intravaskuläre Ultraschall (IVUS) eingesetzt werden [3]. Jede Manipulation im Rahmen der Koronarangiographie mit oder ohne Stenting birgt jedoch Diskussion aufgrund der fragilen Gefässwand ein erhebliches Die spontane Koronardissektion («spontaneous coro- Komplikationsrisiko mit potentieller Ausbreitung der nary artery dissection», SCAD) im Zusammenhang mit Dissektion [3, 4]. Zur Beurteilung der Pumpfunktion Schwangerschaft und Geburt bleibt seit den ersten Be- und Erkennung von Wandbewegungsstörungen bleibt schreibungen in den USA Anfang der 1930er Jahre eine die risikofreie und schnell durchführbare Bedside- seltene Ursache des akuten Koronarsyndroms («acute Echokardiographie das diagnostische Mittel der Wahl. coronary syndrome», ACS). Die Häufigkeit aller Die computertomographische Koronarangiographie schwangerschaftsassoziierten ACS liegt bei 3–10 von («coronary computed tomography angiography», CCTA) SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):570–572 FALLBERICHTE 572 wird aufgrund ungenügender Auflösung für die Dia- [5]. Klinisch stabile Patientinnen – wie im oben be- Dr. med. Rolando Roges gnostik der SCAD nicht empfohlen [3]. schriebenen Fall – sollten gemäss Empfehlungen über Bürgerspital Solothurn Die Therapie richtet sich nach der Klinik, dem Mass der 48 bis 96 Stunden stationär überwacht werden, bedür- Korrespondenz: Schöngrünstrasse 42 CH-4500 Solothurn Ischämie sowie der fetalen Toleranz bei noch schwan- fen jedoch keiner akuten Revaskularisation, da unter roges[at]gmx.ch geren Patientinnen. Verlauf und Mortalität sind wie konservativer Therapie eine gute Aussicht auf Spontan- bei jedem ACS von Infarktgrösse und ischämiebeding- heilung besteht [3, 4]. ten Komplikationen abhängig. Bei grossen Dissektionen Medikamentös wurden die meisten beschriebenen mit Hauptstammbeteiligung, Involvierung mehrerer Fälle mit Betablockern, Nitraten und Acetylsalicylsäure Gefässe, anhaltenden Beschwerden oder hämodynami- behandelt. Der Stellenwert einer dualen Thrombozyten- scher/rhythmischer Instabilität ist eine perkutane oder aggregationshemmung in der SCAD ohne Revaskulari- sogar eine notfallmässige chirurgische Revaskulari- sation bleibt unklar, wird jedoch in den meisten Fällen sation notwendig [3, 5]. Beide Interventionen sind tech- empirisch praktiziert [3]. nisch anspruchsvoll aufgrund der koronarangiogra- Die therapeutische Antikoagulation mit ihrem poten- phisch schwierigen Drahtpassage ins wahre Lumen tiellen Nutzen der Auflösung des intramuralen Häma- mit dem Risiko einer weiteren Ausbreitung der Dissek- toms wird aufgrund des Risikos einer möglichen Dis- tion und den zum Teil schwierigen Anschlussseg- sektionsausbreitung kontrovers diskutiert. Auf eine menten bei der chirurgischen Anastomosierung. Die Thrombolyse sollte hingegen verzichtet werden, da es chirurgische Revaskularisation wird vor allem bei hierbei in der Mehrheit der Fälle zu einer klinischen Hauptstammbeteiligung durchgeführt, zeigt jedoch Verschlechterung mit Zunahme des Wandhämatoms eine hohe Inzidenz für einen Bypass-Graft-Verschluss sowie der Dissektion kam [3, 5]. im langzeitigen Verlauf, was wahrscheinlich auf eine Nach Überstehen der initialen Akutphase ist die Pro- spontane Heilung des nativen Gefässes mit Etablie- gnose generell gut, jedoch besteht bei SCAD jeglicher rung eines kompetitiven Flusses zurückzuführen ist Genese ein erhebliches Rezidivrisiko von 13–18% [3], weswegen nach SCAD von einer Schwangerschaft abgeraten werden sollte [4, 6]. Das Wichtigste für die Praxis Disclosure statement • Die peripartale SCAD stellt eine diagnostische und therapeutische Herausforderung dar. Insbesondere kann die Interpretation der Koronarangiographie schwierig sein und erfordert ein hohes Mass an Aufmerksamkeit zusammen mit dem klinischen Verdacht. • Es besteht die Gefahr, dass das klinische Bild von thorakalen Schmerzen bei jungen peripartalen Patientinnen ohne kardiovaskuläre Risikofaktoren Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Literatur 1 2 vom behandelnden Arzt – ebenso wie von den betroffenen Patientinnen – falsch interpretiert oder unterschätzt wird. Dies kann die Diagnostik und die spezifische Therapie verzögern. • Die Durchführung eines EKG in der Arztpraxis auch bei peripartalen 3 4 Frauen mit thorakalen Schmerzen ist unerlässlich. • Bei Verdacht auf SCAD stellt die Koronarangiographie den diagnostischen 5 Goldstandard dar und soll dringlich und unter entsprechender Vorsicht erfolgen. • Wie in dem hier beschriebenen Fall ist bei stabilen Patientinnen jedoch meistens eine konservative Therapie sicher und ausreichend. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):570–572 6 Roth A, Elkayam U. Acute myocardial infarction associated with pregnancy. J Am Coll Cardiol. 2008;52(3):171–80. Koul A K, Hollander G, Moskovits N, Frankel R, Herrera L, Shani J. Coronary artery dissection during pregnancy and the postpartum period: two case reports and review of literature. Catheter Cardiovasc Interv. 2001;52(1):88–94. Yip A, Saw J. Spontaneous coronary artery dissection – A review. Cardiovasc Diagn Ther. 2015;5(1):37–48. 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FALLBERICHTE 573 Die Recall-Dermatitis Ein nicht so seltenes, jedoch häufig verkanntes Phänomen Matea Pavic a , Helmut Kranzbühler a , Stephan Lautenschlager b a Klinik für Radio-Onkologie, Stadtspital Triemli, Zürich; b Dermatologisches Ambulatorium, Stadtspital Triemli, Zürich Fallbeschreibung schluss der Radiotherapie klagte die Patientin über ein Eine auf die siebzig zugehende Patientin wurde nach Resektion eines Chondrosarkoms adjuvant im Bereich des Musculus glutaeus maximus rechts mit einer Herddosis von 50 Gy in Einzeldosen von 2 Gy bestrahlt (Abb. 1A). Die initial angestrebte Gesamtdosis von 66 Gy wurde aufgrund des ausgedehnten Bestrahlungsvolumens und der zu erwartenden Akut- und Spättoxizitäten in Anbetracht der zwischenzeitlich aufgetretenen und langsam progredienten pulmonalen Metastasierung reduziert. Bei Therapieende zeigte sich im Bereich der bestrahlten Haut eine akute Reaktion mit Erythem und fokaler, oberflächlicher, vor- Brennen im Bereich des rechten Gesässes. Klinisch fand sich ein florides Erythem der fibrosierten Haut perianal und gluteal rechts bis zum lateralen Anteil des rechten Oberschenkels ziehend (Abb. 2). Die Ausdehnung des aktuellen Erythems entsprach dem Bereich des ehemaligen Bestrahlungsvolumens aus dem Jahr 2012. Hingegen fand sich die aktuell bestrahlte Haut links gluteal allenfalls leicht erythematös verändert. Anlässlich einer Rehospitalisation im Oktober 2015 wegen Dyspnoe persistierten die im Sommer aufgetretenen entzündlichen Hautveränderungen perianal und gluteal insgesamt über 4 Monate. wiegend perianaler feuchter Epitheliolyse. Die Abheilung dieses akuten Radioderms erfolgte protrahiert, letztendlich jedoch vollumfänglich. Die palliative Be- Matea Pavic Diskussion strahlung einer Humerusmetastase links ein Jahr Die oben beschriebene Reaktion wird als Recall-Phäno- später hatte die Patientin problemlos toleriert. men bezeichnet. Definitionsgemäss entspricht sie einer Nach weiteren zwei Jahren erfolgte eine notfallmässige akuten wiederauftretenden inflammatorischen Reak- Konsultation wegen Hämoptysen bei progredienten tion an strahlentherapeutisch vorbehandelten Körper- pulmonalen Metastasen. Bei endobronchial nach- stellen nach Abklingen der erstmaligen Akutstrahlen- gewiesener Blutungsquelle im rechten Unterlappen in- reaktion. Erstmals beschrieben wurde das Phänomen folge einer Tumorinfiltration der Bronchialschleim- 1959 nach Behandlung mit Actinomycin D, einem anti- haut erfolgte eine kurzdauernde hochdosierte palliative neoplastischen Antibiotikum, das in der Schweiz nicht Bestrahlung des Unterlappenbronchus mit 5 Fraktio- mehr erhältlich ist [1]. Getriggert wird dieses Phäno- nen à 4 Gy. Des Weiteren wurden symptomatische sub- men typischerweise durch systemisch wirkende Medi- kutane Metastasen paravertebral rechts sowie gluteal kamente, vor allem Chemotherapeutika, aber auch links mit 20 Gy (5× 4 Gy) mitbestrahlt (Abb. 1B). Bei Ab- durch andere Substanzen [2, 3]. Gleichartige Reaktio- Abbildung 1A: Bestrahlungsvolumen im Bereich des Musculus gluteus rechts (2012). B: Dosisverteilung gluteal links. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):573–574 FALLBERICHTE 574 schlossener Radiotherapie entwickelt. Üblicherweise tritt das Phänomen bereits nach erstmaliger Gabe des Medikaments auf, wobei zwischen der Verabreichung und dem Beginn der Reaktion wenige Stunden bis mehrere Wochen vergehen können. Zur symptomatischen Behandlung der Dermatitis werden neben lokalen Kortikosteroiden mitunter auch Antihistaminika eingesetzt, deren Nutzen jedoch unklar ist, da von einer Spontanheilung auszugehen ist. Die Ätiologie des Recall-Phänomens ist nach wie vor nicht vollständig geklärt. Verschiedene Hypothesen wurden diskutiert. Am besten lassen sich sämtliche Charakteristika des Recall-Phänomens durch die Annahme einer Hypersensitivitätsreaktion auf ein spezifisches Agens erklären [2, 8]. Hierbei wird postuliert, Abbildung 2: Akute Recall-Dermatitis nach einer Bestrahlung gluteal links, paravertebral rechts und pulmonal rechts. dass gewisse Medikamente ein inflammatorisches Potenzial für eine nichtimmunologische Aktivierung der Entzündungskaskade haben und durch eine vor- nen können auch durch Exposition gegenüber UV- ausgegangene Radiotherapie die Schwelle für derartige Strahlen getriggert werden [4]. Gemäss den publizier- Reaktionen gesenkt wird. Untermauert wird diese The- ten Fallberichten scheint es Medikamente zu geben, orie durch die Beobachtung, dass Bestrahlung die die das Recall-Phänomen eher auslösen als andere. In Bildung gewisser Zytokine im Gewebe induziert, wel- einer 1959 publizierten Arbeit wurde in 27 von 57 mit che die inflammatorische Reaktion auslösen. Die Zyto- Actinomycin D behandelten Fällen das Auftreten einer kinsekretion vormals bestrahlter Zellen persistiert auf Recall-Dermatitis beobachtet [5]. Auch Taxane und tiefem Level und wird in Gegenwart eines triggernden Anthrazykline wurden häufig als auslösendes Agens Agens wieder hochreguliert, was klinisch dann als beschrieben [2]. Hingegen sind lediglich sechs Fälle Recall-Phänomen imponiert. Die Forschungsgruppe eines Recall-Phänomens nach Gabe von Tamoxifen um Hallahan konnte zeigen, dass nach Bestrahlung publiziert worden, obwohl dieses Medikament seit den Tumornekrosefaktor-α(TNF-α)-mRNA in gewissen Zel- 70er Jahren sehr häufig verschrieben wird [6]. len erhöht ist und damit einhergehend auch eine ver- Das Zielorgan ist in der Regel die Haut, wobei sich die mehrte Produktion von TNF-α-Protein stattfindet [10]. Intensität von einem Erythem bis hin zu lebensbe- Diese Hypothese erklärt das seltene Auftreten und drohlichen Nekrosen erstrecken kann. Die Einteilung auch die Tatsache, dass das Phänomen lediglich durch erfolgt gemäss den «Common Terminology Criteria for einen spezifischen Trigger ausgelöst wird. Adverse Events (CTCAE) Version 4.03» [7]. Selten wurden Am vorliegenden Fall aussergewöhnlich – und bislang Fälle mit Beteiligung von Schleimhäuten und inneren in der Literatur nicht beschrieben – ist, dass die Be- Organen beschrieben. strahlung einer differenten Lokalisation das Recall- Korrespondenz: Das Zeitintervall zwischen initialer Bestrahlung und Phänomen ebenfalls auszulösen vermag. Auch die Dr. med. Matea Pavic Auftreten der Recall-Reaktion kann von wenigen Tagen lange Persistenz der Recall-Dermatitis von vier Mona- Stadtspital Triemli Klinik für Radio-Onkologie bis zu mehreren Jahren reichen [8, 9]. Wichtig ist dabei ten ist ungewöhnlich. Anzumerken ist, dass bereits Birmensdorferstrasse 497 die Unterscheidung zum Phänomen des Radiosensiti- 2013 eine Zweitbestrahlung einer anderen Körper- zing, bei dem sich die entzündliche Hautreaktion be- partie ohne Recall-Phänomen stattfand. Dies ist mit CH-8063 Zürich Matea.Pavic[at]triemli. zuerich.ch reits innerhalb von maximal sieben Tagen nach abge- den Angaben aus der Literatur vereinbar, wonach die wiederholte Applikation eines Agens nicht zwangsläufig ein Recall-Phänomen auslöst. Das Wichtigste für die Praxis Verdankung Das Recall-Phänomen, insbesondere die Recall-Dermatitis, ist eine nicht so seltene Reaktion vor allem auf systemisch verabreichte Medikamente, aber auch auf UV- und Röntgenstrahlen, die in einem vormals bestrahlten Gebiet auftritt. Ätiologisch scheint eine nach Radiotherapie auf niedrigem Niveau persistierende Zytokinausschüttung durch das auslösende Agens derart angeregt zu werden, dass das klinische Bild der akuten Dermatitis rezidiviert. Die Therapie erfolgt meist symptomatisch mit lokalen Kortikosteroiden. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(26–27):573–574 Wir danken der Patientin für die Zustimmung zur Verwendung des Bildmaterials und der Informationen aus der Krankengeschichte. Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Literatur Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch. LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix Literatur 1 2 3 4 5 6 SWISS MEDI CAL FO RUM D`Angio GJ, Farber S, Maddock CL. Potentiation of x-ray effects by actinomycin D. Radiology 1959; 73: 175-177. Azria D, Magne N, Zouhair A, Castadot P, Culine S, Ychou M et al. Radiation recall: a well recognized but neglected Phenomenon. Cancer Treat Rev 2005; 31: 555-570. Haraldsdottir S, Bertino E, Haglund K, Kaffenberger B, Shah MH. 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