Die1:12-Initiative stehtbevor, Führungskräfte andieArbeit!

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Meinungen
NZZ am Sonntag 20. Oktober 2013
ILLUSTRATION: GABI KOPP
Die 1:12-Initiative
steht bevor,
Führungskräfte
an die Arbeit!
Showdown
Pascal Hollenstein
B
Der Wohlstand in der Schweiz ist
für viele ganz selbstverständlich.
Manager und Jungsozialisten sind
sich da ähnlicher, als sie denken
René Scheu
D
ie Jungsozialisten erweisen sich
neuerdings als gewiefte Strategen
der Realpolitik. Ihre Lektüre der
Berufsrevolutionäre münzen sie
wirksam in politische Agitation um und
treiben ein verängstigtes wirtschaftliches
Establishment vor sich her. Der erste Coup
der Juso ist die Mobilisierung für ein bevor­
mundendes staatliches Lohndiktat, das
unter dem unverdächtigen Titel «1:12-Initia­
tive» firmiert. Und es steht nicht a priori fest,
dass die Schweizer Bürger am 24. November
die Initiative der Juso haushoch verwerfen
werden – allein schon dieser Befund muss
erstaunen. Was ist da bloss geschehen?
Die Juso haben es auf die Interpretations­
macht abgesehen. Sie beten es vor, und die
meisten Medien beten es brav nach: Die
materielle Ungleichheit in der Schweiz
nehme zu, und die Lohnschere klaffe weiter
auseinander. Dabei ist schon das Bild der
Schere schief: Niemand verliert, weil andere
gewinnen. Und materielle Gleichheit ist nur
in einer von Neid getriebenen Gesellschaft
ein Wert an sich. Doch wie präsentieren sich
die Fakten, welche die Egalitaristen gerne
übersehen? Tatsächlich leben wir in sehr
egalitären Zeiten und in der Schweiz sogar in
einer der egalitärsten Gesellschaften der
Welt. In keinem andern OECD-Land sind die
Vollzeitlöhne so gleichmässig verteilt wie
hierzulande (der entsprechende Gini­Koeffi­
zient, der die Verteilung der Arbeitseinkom­
men beschreibt, ist sogar günstiger als in
skandinavischen Ländern). Die soziale
Mobilität funktioniert. Der Einkommens­
anteil des obersten Prozentes der Spitzenver­
diener ist über die letzten 50 Jahre trotz
Globalisierung erstaunlich konstant geblie­
ben. Dies und anderes lässt sich unter
anderem in der Studie «Verteilung» der
Denkfabrik Avenir Suisse nachlesen.
Und wie reagieren die Spitzenvertreter der
Wirtschaft und ihre politischen Vertreter? Sie
wagen es nach Annahme der Minder­Initia­
tive nicht mehr, solche Studien zu zitieren
und für eine halbwegs freie Wirtschaft
einzustehen. Sie sagen: Ja, aber – ja, wir
beobachten die Lohndifferenzen mit Sorge,
aber die 1:12-Initiative wäre der falsche Weg.
Sie berufen sich ebenso diffus wie defensiv
auf das «Erfolgsmodell Schweiz». Dabei zeigt
sich, dass sie mehr mit den Juso verbindet,
als ihnen lieb sein dürfte: Statt von Anstren­
gung reden sie von Bewahrung.
Die grosse Überzeugung, die die Juso und
angeblich wirtschaftsfreundliche Bürger
eint, lautet: Was wir haben, das haben wir,
Ausserhalb der
helvetischen
Wohlstands­
gesellschaft
wissen die
Menschen, was
viele Wohl­
standsbürger
vergessen
haben:
Leben und
wirtschaften
sind höchst
dynamische
Prozesse.
nun müssen wir es bloss noch erfolgreich
verteidigen. Daraus folgern Letztere: Wenn
wir weitermachen wie bisher, ist alles gut.
Und Erstere: Wir müssen den einen mit
politischem Zwang nehmen, um es den
anderen zu geben.
Ausserhalb der helvetischen Wohlstands­
gesellschaft wissen indes die Menschen, was
viele Wohlstandsbürger vergessen haben:
Leben und wirtschaften sind höchst dynami­
sche Prozesse. Um den Status quo zu halten,
bedarf es enormer individueller Anstrengung
und Investition statt lähmender Bewahrer­
mentalität. Sie wissen: Nichts ist sicher und
alles möglich.
Die Juso agieren logisch, fast schon unter­
nehmerisch. Cédric Wermuth nutzt seine
Freiheit als Parteifunktionär und zieht auf
seiner «Nehmt den Reichen das Geld weg»­
Tour als Überzeugungstäter von Haus zu
Haus. Und die meisten Führungskräfte? Sie
delegieren die Aufklärungsarbeit weiterhin
an Verbände und Lobbyisten. Es ist höchste
Zeit, dass sie aus der Anonymität hervortre­
ten und gegenüber Belegschaft und Nachbar­
schaft, gegenüber Volk und Ständen das
Anliegen einer selbstbestimmten, dynami­
schen Wirtschaft furchtlos vertreten – zum
Nutzen aller, selbst der Juso. Oder wollen sie
etwa, dass die Bürger jäh aus ihrem Wohl­
standsschlummer erwachen?
René Scheu ist Philosoph und Herausgeber des
liberalen Magazins «Schweizer Monat».
undespräsident Ueli Maurer
hat diese Woche den finni­
schen Staatschef Sauli
Väinämö Niinistö zu einem
Staatsempfang in Bern
begrüsst. Wie immer bei der­
artigen Gelegenheiten hat Ueli Maurer die
grossen weltgeschichtlichen Linien mes­
serscharf gezogen. So betonte der Bun­
despräsident die «traditionelle Neutrali­
tät» der beiden Länder und ihre ebenso
traditionelle militärische Bündnisfreiheit.
Gewissermassen seien Finnland und die
Schweiz Schwesterrepubliken. Lebte er
nicht in der Schweiz, so Maurer weiter,
würde er das in Finnland tun wollen.
Die üblichen Spielverderber werden
nun einwenden, der Maurersche Exkurs
in die Geschichte der finnischen Neutrali­
tät sei möglicherweise etwas oberfläch­
lich geraten. Finnland sei erst nach dem
Ersten Weltkrieg unabhängig geworden,
mit der Tradition könne es ergo gar nicht
so weit her sein, werden sie sagen. Zudem
könne man das militärische Bündnis der
Finnen mit Nazideutschland von 1941 bis
1944 nur beschränkt und mit viel gutem
Willen unter der Rubrik «Bündnisfreiheit»
abhaken. Auch der nach dem 2. Weltkrieg
geschlossene Freundschaftsvertrag
Finnlands mit der Sowjetunion sei punkto
strikter Neutralität wohl eher als Kanten­
gang zu werten.
Klar, man findet immer ein Haar in der
Suppe. Irgendein Erbsenzähler taucht
immer auf und schwadroniert irgend­
etwas von historischen Fakten. Dabei hat
Maurer völlig recht, wenn er die finnisch­
schweizerischen Gemeinsamkeiten
betont. Finnland ist in der EU und hat den
Euro. Finnland liegt am Meer. Finnland
ist ein flacher Staat mit riesigem Territo­
rium. Man muss schon sehr verbohrt sein,
um da keine Parallelen zur Schweiz zu
erkennen. Im Grunde gibt es nur einen
Unterschied zwischen Finnen und
Schweizern, zumal zu ihren Bundespräsi­
denten: Der Finne kann schweigen.
Grenzerfahrung
Behindert und
verliebt – «Schweiz
aktuell» inszeniert
den Menschenzoo
Liberale Krise auch im Tessin
SRF
TV-Kritik von Michael Furger
Schweiz aktuell
SRF 1, Mo bis Fr, 14. bis 18. Oktober, 19 Uhr
Bettina und Claude sind verliebt. Sie
küssen sich mit spitzem Mund, lesen
gemeinsam den Wetterbericht in der
Zeitung und cremen einander die Füsse
ein. Das sehen wir in «Schweiz aktuell», das
diese Woche als Themenschwerpunkt
täglich aus einer Wohngruppe für geistig
Behinderte sendete. Dort lebt das Liebes­
paar; Bettina und Claude haben das Down­
Syndrom. Behindert und verliebt – das
haben die Fernsehmacher schön hinge­
kriegt. Auch der «Club» konnte am Dienstag
seine Sendung dem Thema widmen.
Menschen mit Down­Syndrom sind beim
Schweizer Fernsehen gern gesehene
Akteure. Im Sommer 2012 strahlte es die
Doku­Soap «Üsi Badi» aus. Behinderte
arbeiteten in einer Badi. Das war so herzig
und offenbar so erfolgreich, dass man
diesen Sommer die Protagonisten in einen
Tierpark stellte und es «Üse Zoo» nannte.
Über die Behinderten­Theatergruppe Hora
berichten «Dok», «10 vor 10», «Kulturplatz»
und sogar «Glanz & Gloria».
Es ist wichtig, dass Menschen mit Behin­
derungen in den Medien Beachtung finden.
Das kann der Ausgrenzung entgegenwir­
ken. Doch was die Serienmacher im
Sommer und diese Woche in «Schweiz
Marina Masoni
Sabine Dahinden
Carrel berichtet aus
einer Wohngruppe
für geistig
Behinderte. Im
Hintergrund tanzen
Bettina und Claude.
aktuell» inszenierten, geht in die andere
und damit falsche Richtung. Man insze­
niert den Menschenzoo. Das Paar auf dem
Velo, das Paar im Restaurant, das Paar beim
Schmusen. Es sieht nicht anders aus als bei
anderen Liebespaaren. Weil die beiden
behindert sind, wird eine Show daraus
gemacht. Schaut mal her! Sind die nicht
putzig. Dient das der Sache? Eher nicht.
Interessant ist, wie die Fernsehleute
agieren. Die Aussenmoderatorin Sabine
Dahinden stolpert unbeholfen durch die
Wohngruppe und findet keinen Draht zu
den an sich offenen Bewohnern. Wichtige
Themen wie Sexualität umschifft sie. In
den Gesprächen mit Experten fühlte sich
die Moderatorin sichtlich wohler. Und im
«Club» fand die Diskussion gleich ohne die
Betroffenen statt. Die Fachleute blieben
unter sich. Zur Unterhaltung sind Behin­
derte willkommen, aber so richtig für voll
nimmt man sie dann doch nicht.
D
ie Liberalen haben es in Europa
zurzeit schwer. Die Wahlresultate
der meisten liberalen Parteien
liegen zwischen schlecht und kata­
strophal. So wurde in Deutschland die FDP
von Aussenminister Guido Westerwelle und
Vizekanzler Philipp Rösler zuerst von Berlin
bis Bayern aus verschiedenen Landtagen und
schliesslich auch aus dem Bundestag abge­
wählt. Bei den Grossratswahlen in Genf vom
6. Oktober verlor die FDP insgesamt 7 von 31
Sitzen und fast vier Prozentpunkte Stimmen­
anteil. Gesamtschweizerisch zeigt der lang­
fristige Trend nach unten. Bei den eidgenös­
sischen Wahlen von 2011 hat die FDP trotz
Fusion mit der Liberalen Partei Stimmen und
Sitze verloren. Wenn man bedenkt, wie
erfolgreich der Freisinn einst gegen die SP
um den Vorrang kämpfte, kommt Wehmut
auf. Hier wurde viel Terrain verspielt.
In den Kantonen, in denen der Freisinn
die relative oder gar die absolute Mehrheit
auf sich vereinigte, gibt der Niedergang der
vergangenen Jahre Anlass zu grosser Sorge.
Im Tessin ist die Lage in mancherlei Hinsicht
ähnlich wie in Genf. Auch hier musste 2011
die Partei zum ersten Mal einen ihrer beiden
Regierungsratssitze abgeben. Und auf
Gemeindeebene sieht es nicht besser aus. In
den Städten wurde ihr die Führung abge­
nommen, zuerst in der politischen Haupt­
stadt Bellinzona, wo der Stadtpräsident nun
ein Sozialist ist, dann in der wirtschaftlichen
Hauptstadt Lugano, wo heute die Lega den
Vorsitz innehat.
Natürlich haben auch lokal bedingte
Umstände wie parteiinterne Spannungen zu
diesen Resultaten beigetragen. Jedoch ist
in vielen Kantonen und Ländern Ähnliches
geschehen, was wohl bedeutet, dass die
Wurzel des Übels tiefer liegt. Dies wiederum
macht die Suche nach einem Weg aus dem
Popularitätstief sehr schwierig. Das liberale
Gedankengut hat unter der internationalen
Finanzkrise und der Staatsverschuldung
gelitten. Entgegen einer weitverbreiteten
Meinung sind die Ursachen der Krise nicht
auf eine liberale Politik zurückzuführen,
dennoch geben Öffentlichkeit und fast alle
Medien dem Liberalismus die Schuld. Die
liberalen Parteien vermochten dieses Kli­
schee nicht abzuschütteln und zahlen dafür
nun einen sehr hohen Preis. Marktwirt­
schaft, persönliche Verantwortung, Wahlfrei­
heit, Recht auf Privateigentum, Produktion
von Reichtum, Primat der Zivilgesellschaft
– diese Eckpfeiler der Gesellschaft werden
heute mit Feindseligkeit oder zumindest
diffusem Misstrauen bedacht. Dieses nega­
tive Klima zu brechen, ist nicht nur für die
liberalen Parteien lebenswichtig, sondern für
die Zukunft der Gemeinschaft und ihrer
Individuen insgesamt.
Marina Masoni ist Anwältin und ehemalige
Staatsrätin des Kantons Tessin.
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