Klasse: P-F 12; Fach: Sozial- und Erziehungswissenschaften Unterrichtsreihe: Therapieformen Unterrichtsstunde: Einstieg durch einen Einblick in die Klinische Psychologie Informations- und Arbeitsblatt Datum: Die Psychotherapie rechtfertigt ihre Existenz durch eine bestehende Krankheit des Klienten. Die Psychotherapie ist eine methodische Vorgehensweise zur Heilung dieser bestehenden Krankheit. Eine psychische Krankheit liegt vor, wenn ein Individuum durch sein Erleben und Verhalten (erheblich) von der gesellschaftlichen Norm1 abweicht2 („abweichendes Verhalten“3 / „abnorm“). Diese Abweichung beeinträchtigt entweder das Individuum selbst oder sein soziales Umfeld (z.B. die Familie). Eine Abweichung von der Norm ist nicht immer eindeutig zu klassifizieren. Althoff & Thielepape (2000, 88) nennen hierzu einige Beispiele, bei denen fragwürdig ist, was normales und was abnormales Verhalten darstellt: Herr X trinkt jeden Tag 2 Flaschen Bier. Lehrer X begrüßt den Vater seines Schülers Y mit dem Hitlergruß „Heil Hitler“. Fußgängerin X geht bei rotem Ampellicht über die Straße, da weit und breit kein Fahrzeug zu sehen ist. Die 18-jährige Schülerin X begeht einen Selbstmordversuch, nachdem ihr Freund ihr den „Laufpass“ gegeben hat. Frau X lässt, weil sie vergewaltigt wurde, nach 3 Monaten Schwangerschaft ihr Kind abtreiben. Der 15-jährige Jugendliche X geht nicht mehr zum Friseur, sondern lässt seine Haare bis zu den Schultern wachsen. Sachbearbeiter X arbeitet sehr gern an Feiertagen in seinem Büro. Es kommt immer auf den Blickwinkel an, aus dem man das Verhalten betrachtet. Sieht man im vorletzten Beispiel den langhaarigen Jungen im Kontext von Heranwachsenden (Æ soziale Gruppe), erscheint die Einteilung erheblich vereinfacht. Abnorm ist, was an einem jeweils bestimmten Verhalten von der Norm der jeweiligen Gruppe abweicht. Solche Abweichungen, „Abnormitäten“, gibt es in zwei Richtungen (vgl. Scharfetter, 1996, 11): In „positiver“ Richtung sind solche Abnormitäten: Hochbegabung, Höchstbegabung in einem rationalen + oder künstlerischen Bereich, besonders intuitive Begabung oder Ähnliches. Abnormitäten in „negativer“ Richtung: Verhalten, das von der landes- und gruppenüblichen Norm im - negativen, zurückbleibenden, versagenden, leidvollen, störenden , anderen Leid bringenden Sinne abweicht. Durch die positive Möglichkeit der Abnormität (z.B. Hochbegabung) oder schwer nachvollziehbare Normen, kann abnorm nicht per se mit „krank“ gleichgesetzt werden: „Von der statistischen oder Idealnorm abweichendes Erleben und Verhalten ist nicht […] mit psychischer Störung oder Krankheit gleichzusetzen. Psychisch krank ist, wer sein subjektives Wohlbefinden und/oder seine objektive Leistungsfähigkeit nachhaltig und für längere Zeit eingebüßt hat und sich in der Gesellschaft nicht zu behaupten vermag [...].“ Payk (2002, 55) Am Beispiel des Intelligenzquotienten lässt sich die Normeinteilung erklären: Der Bevölkerungsdurchschnitt wird auf 100 gesetzt, d.h. der Durchschnitt verfügt über einen IQ von 100. Der Bereich zwischen 89 und 110 gilt als Standardabweichung, d.h. innerhalb dieser Abweichung wird die Norm erfüllt. Im Bereich von 70 bis 89 spricht man von einer niedrigen Intelligenz, zwischen 50 und 69 von einer Intelligenzminderung. Ziel einer Therapie ist es, eine belastende Symptomatik zu reduzieren. Im Sinne der Psychologie liegt das Ziel in der Wiederherstellung des ‚normalen’ Erlebens und Verhaltens eines Individuums. 1 2 Norm = lat. Maß, Richtschnur, Regel; allgemein anerkannte, verbindliche Regel Diese „Abweichung“ wird umgangssprachlich auch als „verrückt“ bezeichnet. „Verrückt“ könnte in diesem Zusammenhang allenfalls im Sinne von „ver-rückt“ = „verschoben“ gegenüber der gesellschaftlichen Norm sinnvoll erscheinen. 3 Abweichendes Verhalten (auch Devianz) = Nichteinhaltung von gesellschaftlichen oder gesetzlichen Normen oder Regeln. Aufgabe: Nehmen Sie sich einige Minuten Zeit und stellen Sie folgende Situation vor: Peter ist Ihr neuer Mitschüler, der soeben neu in Ihre Klasse gekommen ist. Peter springt eines Tages plötzlich auf, um kämpft wie wild mit einem nicht vorhandenen Gegner, fast so, als ginge es um Leben und Tod. Warum wird Peter anschließend als psychisch krank in eine Klink eingeliefert? Begründen Sie Ihre Antwort fachlich fundiert. Durch die Klassifizierung seelischer Erkrankungen bzw. psychischer Störungen kann ein bestimmtes therapeutisches Behandlungsverfahren besser zugeordnet werden, welches dann voraussichtlich die wirkungsvollste Behandlung darstellt. Diagnostizierte psychische Krankheitsbilder (abweichendes = „psychopathologisches“ Verhalten) werden durch das DSM IV oder durch die ICD 10 klassifiziert. Hierbei handelt es sich um zwei verschiedene Klassifikationsmuster, die die Zuordnung einer Symptomatik und/oder deren Entstehungsgeschichte in ein verbindliches und weltweit anerkanntes Klassifizierungsmuster zulässt. Vor der diagnostischen Klassifikation sollten folgende Schritte geprüft werden (vgl. Saß, Wittchen & Zaudig, 1999, 3 ff): Ausschluss von Simulation / vorgetäuschter Störung, Ausschluss eines verursachenden Substanzkonsums (z.B. Drogen, Alkohol), Ausschluss eines verursachenden medizinischen Krankheitsfaktors (z.B. Demenz), Festlegung der spezifischen primären Störung(en) Î eigentliche Klassifikation Das DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders = Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) ist das diagnostische System der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung. Das ICD 10 (International Statistical Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death in der zehnten Auflage, dt. 1991) ist ein alphanumerisches Verschlüsselungssystem der WHO (World Health Organisation = Weltgesundheitsorganisation), welches die Diagnosen aller menschlichen Krankheiten klassifiziert. Nur die FAchse befasst sich mit psychischen Krankheiten. Das ICD 10 ist seit 1994 in Europa verbindlich. Die neuste Version (2007) können Sie im Internet einsehen: http://www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2007/fr-icd.htm. Beispiele: Alkoholmissbrauch (ICD-10: F10); Schizophrenie (ICD-10: F20.x); Depressive Persönlichkeit (ICD-10: F34.1); Exhibitionismus (ICD-10: F65.2) Ein ICD10-Auszug: „F20.- Schizophrenie Die schizophrenen Störungen sind im allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte4 gekennzeichnet. Die Bewusstseinsklarheit und intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, obwohl sich im Laufe der Zeit gewisse kognitive Defizite entwickeln können. Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene sind Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung, Wahnwahrnehmung, Kontrollwahn, Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten, Stimmen, die in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome. […]“ Die Leitsymptome nach ICD-10 für Schizophrenie sind: 1.) Gedankenlautwerden, -eingebung, -entzug. 2.) Kontroll- oder Beeinflussungswahn; Gefühl des Gemachten bzgl. Körperbewegungen, Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen; Wahnwahrnehmungen. 3.) Kommentierende oder dialogische Stimmen. 4.) Anhaltender, kulturell unangemessener oder völlig unrealistischer Wahn (bizarrer Wahn). 5.) Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität. 6.) Gedankenabreißen oder -einschiebungen in den Gedankenfluss. 7.) Katatone5 Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien6, Negativismus oder Stupor7. 8.) Negative Symptome wie auffällige Apathie8, Sprachverarmung. 4 5 6 7 8 Affekt = hier: Erregungszustand als Reaktion auf einen Reiz kataton = Krampfzustände der Muskulatur mit Wahnideen stereotyp = wiederkehrend Stupor = Vollrausch Apathie = Teilnahmslosigkeit