„Prägung von Ernährungsgewohnheiten in der frühen Kindheit„ Irene Noack Diplom-Oecotrophologin Ernährungsberaterin/DGE Essgewohnheiten Essgewohnheiten gehören immer noch zu den stabilsten Gewohnheiten des Menschen (Neuloh u. Teuteberg, 1979) In der frühesten Kindheit werden sie erlernt, bestärkt oder verändert durch jedes weitere Esserlebnis und entwickeln sich lange Zeit unreflektiert. 1 Aufwachsen mit Geschmack Ermöglichung von vielfältigen Geschmackseindrücken durch die Nahrung Erleben der Ursprünglichkeit von Nahrungsmitteln Erwerb von Kompetenzen zur genussvollen Eigenständigkeit Essmotive Vielfältige Antworten Genuss, Hunger, Gewohnheit, Lust, Gesundheit, Neugier, Stress, kulturelle Einflüsse... Kinder antworten ganz häufig mit der Aussage: „Weil es schmeckt!“ 2 Riechen-schmeckensich erinnern Erste Geschmackspräferenzen für „süß“, später auch „salzig“ mit den sich bildenden vertrauten Düften, wecken Wahrnehmungen. Folge: Erinnerungen an die Nahrung, die Menschen und die Situation Geruch, Geschmack und Emotionen durch hirnphysiologische und neurochemische Prozesse miteinander verbunden werden zusammen im Gedächtnis abgelegt halten somit unsere individuelle Essgeschichte fest 3 Essgeschichte Aufschichtung aller Geschmackserfahrungen von Kindheit an Essen und Trinken sind in erster Linie sinnliche Erfahrungen Der Sinn der Sinne liegt in der Funktion als Orientierungshilfe Zitat „Wir haben Sinne so wenig wie Verstand. Was der Mensch in seinen Sinnesorganen mitbringt, sind unausgebildete Möglichkeiten und diese verkümmern in der heutigen Gesellschaft“. (Picht.G.1986) 4 Industriell verarbeitete Nahrungsmittel sind standardisiert hinsichtlich Duft- und Geschmacksvariationen Begrenzung des Erfahrens und Erlernens der sinnlichen Möglichkeiten Zielsetzung der Industrie frühzeitige und nachhaltige Produktbindung Zur Zeit: „Der neue Trend zur Sinnlichkeit“ Sinnlichkeit: Wahrnehmung der körperlichen Bedürfnisse als auch der seelischen Empfindungen Verkaufsstrategen nutzen Sinne und Sinnlichkeit um Menschen durch Anreize zum Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten zur Kauf- bzw. Konsumentscheidung zu beeinflussen 5 Produkte versprechen Sinnlichkeit aus zweiter Hand Werbung für Pizza über Plakate mit Geruch Fertige Reispfanne signalisiert mit ihrem Genuss Feurigkeit, Lebenslust und Lebendigkeit Knister-, Blubber- oder Zunge-Färb- “Fun- und Action-Joghurt” mit acht Stück Würfelzucker pro 135-Gramm-Becher “Kuhflecken”-Pudding (mit 13 % Zucker) schlägt der Hersteller eine wahre Materialschlacht: Von Klingeltönen, über iPhone-App bis OnlineKaraoke zum Auswendiglernen eines KinderRaps Kurzweilige Anregungsformen Duft- Tastgärten Geruchskino Hör- und Seh-Bars Dinner in the Dark Kochsendungen ........ Bild: Uni Leipzig 6 Mattscheibe als Mutterbrust Bedürfnisse und Lüste sind die elementarsten und frühesten des Säugers Mensch. Mediale Kochsendungen lösen Gefühle passiver, wohliger Geborgenheit aus Medium Fernsehen lässt sich das nicht nicht entgehen. Virtueller Genuss Kochen im Fernsehen ist „something for the weekend“. Mikrowelle und nicht das mehrgängige Menü ist die Metapher für die deutsche Küche. Gleichzeitiger Anstieg des Verkaufs an Fertiggerichten in Deutschland wie auch Anstieg der Produktion von Kochsendungen und Druck und Kauf von Kochbüchern 7 Entwicklung des Essverhaltens Einflussfaktoren auf die Entwicklung des Essverhaltens im Kindes- und Jugendalter Kultur Die örtliche Esskultur gibt den großen Rahmen für die Ausbildung des individuellen Geschmacks vor. Das gilt für die Verfügbarkeit von Speisen wie auch die Gewohnheiten von Eltern und anderen Modellen. 8 Angeborene Geschmackspräferenzen Alle menschlichen Sinne werden in der Embryonalphase (1-8 SSW) angelegt und reifen unterschiedlich schnell Erste Geschmacksknospen bilden sich nach 8 Lebenswochen. Fruchtwasser ist der erste Kontakt des Kindes mit verschiedenen Geschmacksmustern Angeborene Geschmackspräferenzen Angeborene biologische Vorliebe: süß (ab dem 1. Tag), salzig (ab dem 4. Monat) und umami („fleischig“, ca. ab 6. Monat). Ablehnung von bitter und sauer, bitter (steht für „womöglich giftig“) und sauer (steht für „unreif“, d.h. kalorisch minderwertig, oder auch für „womöglich verdorben“). 9 Prä- und postnatale Prägung In utero Programmierung. Das Essen der Mutter während Schwangerschaft und Stillzeit führt zur Prägung von Präferenzen “flavor bridge“ Stillen: Muttermilch ist sensorisch deutlich vielfältiger als Flaschenmilch. Desto vielfältiger sich stillende Mütter ernähren, desto schneller akzeptieren Stillkinder neue Geschmacksrichtungen und Gerüche Gestillte Kinder haben ein niedrigeres Adipositas-Risiko. Prägung in der Beikostphase Speiseauswahl in den ersten Essmonaten entscheidend für das künftige Essverhalten Einführung fester Nahrung, allergieprophylaktisch langsam, jedoch mindestens ein neues Lebensmittel im Angebot pro Woche Selbstzubereitete Breie haben die Nase vorn, industrielle Babynahrung programmiert früh auf einen Einheitsgeschmack 10 „Kinderlebensmittel“ die falsche Prägung Statt Joghurt mit frischen Früchten lernt das Kind Fruchtjoghurt mit Aromen kennen und eine „unnatürliche“ Süße foodwatch Ziel der Flavor-Industrie Frühzeitige Kundenbindung „Gewinnen Sie ein zweijähriges Kind für ihr Produkt und bombardieren sie jenes bis zum Alter von 8 Jahren unablässig mit Werbung, wird es ein lebenslanger Konsument bleiben“ 11 Zuckerkonsum Zur Zeit 36 kg Zucker pro Person und Jahr. Darin sind nicht enthalten alternative Süßungsmittel wie Dicksäfte oder Honig. Zum Vergleich: zu Zeiten der Jäger und Sammler ca. 2 kg Süßungsmittel pro Person und Jahr (z.B. in Form von Honig) Frühstücksflocken 12 Konditionierung von Präferenzen und Aversionen Neue Lebesmittel werden eher akzeptiert in Kombination mit bekannten Speisen (flavorflavor-learning) Umgekehrt werden sensorische Eigenschaften eines Lebensmittel mit negativen Empfindungen (Übelkeit, Erbrechen) gekoppelt prägt sich eine Aversion gegenüber diesem Lebensmittel aus ( Sauce Bearnaise-Phänomen), die ein Leben lang bestehen bleiben kann Konditionierung von Präferenzen und Aversionen Prägung der Vorliebe für energiereiche und fettreiche Speisen durch den sozialen Kontext. Häufig gibt es „schmackhafte“ Lebensmittel (hohe Energiedichte, hoher Fett- und Zuckergehalt) in angenehmen Situationen (auf Festen, bei Besuch) 13 Konditionierung von Präferenzen und Aversionen Weniger schmackhaft geltende Lebensmittel z.B. Gemüse werden unter „Zwang“ gegessen. „Iss dein Gemüse auf, sonst gibt es keinen Nachtisch“ Doppelt negativ gekoppelt Zusätzlich erhöht das die Beliebtheit der energiereichen Speisen Neophobie - Ablehnung Kinder meiden bisher unbekannte Nahrungsmittel. im Alter von 4 und 6 Monaten ist sie am wenigsten ausgeprägt ab etwa dem 18. Monat verengt sich der Wahlhorizont allmählich mit 4–5 Jahren ist er am engsten. Kinder sind dann wirklich schlechte Esser. Eine Akzeptanz von Nahrungsmitteln stellt sich häufig erst nach fünf- bis zehnmaligem Verzehr ein erst ab dem 8 und 12 Lebensjahr weitet sich der Wahlhorizont wieder. 14 SicherheitsprinzipMere Exposure Effect Speisen, die schon einmal ohne negative Konsequenzen vertragen wurden, werden erneut gewählt Das heißt, man mag nur solche Lebensmittel und Speisen die man regelmäßig verzehrt und an den Geschmack man sich gewöhnt hat Spezifisch-sensorische Sättigung Lieblingsspeisen nicht jeden Tag Vermeidung von zu einseitiger Kost mit Mangel an essentiellen Nährstoffen. wird auch deutlich beim Mehrgänge Menü 15 Säuglinge und Kleinkinder • Positives Zusammenspiel zwischen Hunger und Sättigung • Richtige Einschätzung der Nahrungsbedürfnisse • Vorliebe für Süßes, Ablehnung von bitteren und starken Geschmacksnoten Familiengeschmack Eltern bzw. betreuende Personen haben eine Schlüsselrolle Kontext in dem Familienmahlzeiten stattfinden prägend für die Zukunft Es enstehen individuelle Vorlieben und Abneigungen mit deutlichem familiären Bezug 16 Das Angebot der Industrie 100 Gramm Tafel = 536 Kalorien 250 Gramm Tafel = 1.340 Kalorien Aufgaben und Ziele der gesunden Ernährung von Kindern Garantie für ein gesundes Wachstum und Lebensaktivität Ermöglichung einer normalen körperlichen und geistigen Entwicklung Primärprävention von Krankheiten in der Kindheit und Erwachsenenalter: Karies, Allergien, Autoimmunkrankheiten, Adipositas und metabolisches Syndrom, Ateriosklerose, Osteoporose, Demenz, Krebs 17 Was sollen wir tun? Sinnvolle Begleitung von schwangeren Frauen hinsichtlich der prägenden Wirkung durch die eigene Ernährung Förderung des Stillens Förderung der selbsthergestellten Beikost Vermeidung von übersüßten und aromatisierten Nahrungsmitteln in den ersten Lebensjahren Der Sinn des sinnorientierten Lernens Vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten durch Nahrung Süße der Muttermilch, Fruchtigkeit der Birne, die saure Zitrone, das Entdecken von Gewürzen wie z.B. Zimt, Vanille, Curry Taktile Erfahrungen mit Lebensmitteln 18 Aufwachsen mit Geschmack Kontakt mit natürlichen Rohstoffen Schärfung der natürlichen Sinne durch Geschmacks- und Konsistenzvielfalt Zubereitung von Speisen Einschätzung der Qualität einen Nahrungsmittels auch im verarbeiteten Zustand Erwerb von Kompetenzen zur genussvollen Eigenständigkeit Ernährungsbildung Prozess des Bewusstwerdens, des Erlebens und Sich-Erfahrens Schlüssel ist die sinnliche Wahrnehmung Förderung der Wahrnehmung schafft einen Kontrapunkt zur Überbetonung der kognitiven Fähigkeiten Jeder soll für sich selber kompetent werden, als Basis für souveränes und eigenverantwortliches Handeln 19 Fazit Wir müssen unseren Kindern Genuss und Glücksgefühle durch Geruchsund Geschmackserinnerungen eröffnen, so dass sie unmittelbar Spaß und Freude am Essen erleben und langfristig Ziele einer nachhaltigen Gesundheitsförderung erreicht werden.(Erinnerung verlangt nach Sinnlichkeit, Voigt, 2005, S. 72) „Ernährung findet im Kopf und Essen im Bauch statt“ 20