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ÖSTERREICHISCHE MUSIKZEITSCHRIFT
Professor
Frieιirich
Wildgans
FRANK MARTINS „LE VIN HERBE"
ZUR S Z E N I S C H E N AUFFÜHRUNG Β EI DEN SALZBURGER F E S T S P I E L E N
Der Schweizer Komponist Frank Martin
hat mit seinem Kammeroratorium „Le vin
herbe" (Der Zaubertrank) auf einen Prosatext von J. Bedier ein Werk geschaffen, das
unbedingt eine Sonderstellung in der neueren Musikliteratur einnimmt. Es ist schwer,
es mit einem der üblichen Gattungsnamen
zu bezeichnen; ein Bühnenwerk ist es eigentlich nicht, obwohl bereits Versuche zu einer
szenischen Darstellung unternommen wurden — Versuche, auf deren Linie ja auch
die gegenwärtige Salzburger Aufführung
liegt. Ein Oratorium oder eine Kantate
im traditionellen Sinne ist es jedoch auch
nicht; es zerfällt nicht in selbständige
Arien, Rezitative, Solo-, Chor- und Instrumentalnummern, auch kommt dem winzigen, nur aus acht Musikern bestehenden
Instrumentalkörper keine selbständige Rolle
zu, er hat nur das auf die Singstimmen konzentrierte musikalische Geschehen, dem
eine der hergebrachten Formen ebenfalls
nur schwer unterlegt werden kann, gewissermaßen als Basis, als Hintergrundfarbe zu
begleiten. Der Komponist hat daher als
Bezeichnung lediglich das Wort „Prosa"
gewählt. Die Besetzung des Werkes ist
sehr klein: Tristan (Tenor) und Isot (Sopran) als Solostimmen, ein Kammerchor,
bestehend aus zwölf solistischen Sängern,
die untereinander wieder abwechselnd als
Träger der kleineren Solopartien (Brangäne,
Isots Mutter, König Marke usw.) aufscheinen, und das erwähnte kleine Orchester, bestehend bloß aus zwei Violinen, zwei Bratschen, zwei Celli, einem Kontrabaß und
Klavier. Dem Chor obliegt — in absolut
homophoner, rezitierender Form — die balladenmäßige Erzählung der Handlung, in
die sich der Dialog der Solostimmen ohne
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fest umrissene Form, nur fallweise ergänzend und belebend, einschaltet. In dieser
Hinsicht stützt sich Frank Martins Werk
in gewisser Anlehnung auf eine alte Vorlage, nämlich das madrigale Drama der
Renaissancezeit, stellt aber, in moderne
Ausdrucksformen übertragen, doch etwas
Eigenes, Neues dar.
Zunächst einige Worte über die Erscheinung des Komponisten Frank Martin, der
zwar in Österreich bisher schon mit einigen
größeren Arbeiten zu Worte gekommen ist
— ich erinnere an die Aufführung seiner
„Weise von Liebe und Tod des Cornets
Christoph Rilke" unter Paul Sacher, an
seine „Petite Symphonie concertante" und
an die Studioaufführung des „Vin herbe"
in der IGNM. —, aber doch noch nicht das
Ansehen und die Popularität genießt wie
in seinem Heimatlande, wo er heute als der
repräsentative Komponist gilt: Geboren ist
Frank Martin 1890 in Genf und betrieb
seine musikalischen Studien bei Joseph Lauber. Die Jahre 1918 bis 1926 verbrachte er
in Zürich, Rom und Paris. Hierauf kehrte
er nach Genf zurück und wurde dort Cembalist und Pianist der „Societe de musique
de chambre de Geneve", als deren Mitbegründer er anzusehen ist. Bald erhielt
er auch eine Professur für Komposition und
Theorie am Genfer Konservatorium und am
Institut „Jacques Dalcroze" und wurde
künstlerischer Direktor des „Technicum
Moderne de Musique". In den Jahren 1942
bis 1946 war er Präsident der Schweizer
Musikervereinigung und wurde 1947 mit
dem Schweizer Kompositionspreis ausgezeichnet. Sein Schaffen umfaßt im wesentlichen eine Messe, eine Symphonie, ein Klavierkonzert, mehrere Kantaten, die auch
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FRANK MARTINS „LE VIN HERBE"
in Wien aufgeführte „Petite Symphonie gewann das Werk die heute vorliegende,
concertante" und ein Oratorium „In terra abendfüllende Gestalt. Von den insgesamt
nax". Kürzlich hat er ein Passionsoratorium 16 Kapiteln des Romans von Bedier wurvollendet. Sein durchschlagender Erfolg den drei ausgewählt, die das gesamte Triwar bisher der „Vin herbe", der in den mei- stan-Drama umspannen. (Le Philtre — La
sten Musikmetropolen Europas bereits auf- forßt du Morois — La Mort.) Der erste
Teil, „Le Philtre", früher als in sich gegeführt wurde.
Als Entstehungsjahr des „Vin herbe" schlossenes und abgerundetes selbständiges
kann das Jahr 1938 bezeichnet werden. Werk empfunden, erfüllt nunmehr die
Frank Martin erzählt darüber, daß er sich Funktion einer wirkungsvollen Exposition,
in diesem Jahre — während einer schöp- die sich in den folgenden Teilen erst entfalferischen Ruhepause — intensiv mit dem tet und vollendet. Jeder der drei Teile zerTristan-Mythos beschäftigte, und zwar war fällt in fünf bis sieben deutlich voneinander
es der mit diesem Stoff durchsetzte Roman getrennte, formal durch eine Grundstim„Sparkenbroke" von Morgan, der ihn in mung einheitlich gestaltete, durch gewisse
den Bann dieser Atmosphäre zog. Damals durchlaufende, streckenweise in Ostinato
trat der Züricher Dirigent Robert Blum an verwendete Motivbildungen zusammenden Komponisten mit dem Ersuchen heran, gehaltene und in sich abgeschlossene Bilfür seinen Madrigalchor ein Werk für zwölf der (tableaux); Prolog und Epilog sind ganz
näher charakterisierte Solisten und ein klei- kurz und nur durch einige einführende,
nes Kammerensemble von ungefähr einer bzw. abschließende und betrachtende, vom
halben Stunde Aufführungsdauer zu ver- Chor rezitierte ^Vorte getragen.
Mancher wird es als ein Wagnis bezeichfassen. Martin stieß auf den französischen
Tristan-Roman von Joseph Bedier und fand nen, den Tristan-Stoff noch einmal in Musik
in dieser Vorlage den gesuchten Text, von zu setzen, und auf Richard Wagner verdem er zunächst ein Kapitel wortwörtlich weisen, der diesem Sujet bereits die „für
übernahm und durchkomponierte. So sagt alle Zeiten gültige Form" gegeben habe.
der Komponist: „Ich habe im 4. Kapitel Es ist aber meines Erachtens unbedingt
des Romans von Bedier den vollkommenen falsch, zwischen dem Werk Wagners und
Text gefunden. Außer seiner Schönheit, sei- der „Tristan"-Vertonung Frank Martins
nem Reichtum und seiner Vielfalt — ich eine Parallele zu ziehen, da das letzthabe ihn zur Gänze und ohne jede Ände- genannte Werk musikalisch, formal und vor
rung übernommen — bin ich gerade zur allem geistig und psychologisch von ganz
rechten Dauer der bestellten Arbeit gekom- anderen Voraussetzungen ausgeht. So sagt
men." Dieses zuerst vollendete und durch auch der Schweizer Musikwissenschafter
den Züricher Madrigalchor als selbständiges Willi Schuh über dieses Problem („SchweiWerk uraufgeführte 4. Kapitel behandelt zerische Musikzeitung", Mai 1942): „Wagjene Episode des Romans von Tristan und ners Schatten konnte Martin nicht gefährIsolde, wo sich der Haß Isoldes durch den lich werden, denn seine geistige Haltung
Liebestrank in die große Leidenschaft ist der Wagners so wenig verwandt wie diewandelt. Erst später fügte der Komponist jenige Joseph Bediers, dessen meisterhafte
diesem Teil, der als „erster" bestehen blieb, Erneuerung des Romans von Tristan und
noch zwei weitere hinzu, nebst einem kur- Isolde aus alten Quellen schöpft und dabei
zen chorischen Prolog und Epilog, und so jede Vermischung des Alten und Modernen
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vermeidet." Den grundlegenden Unterschied zwischen der „Tristan"-Auffassung
Wagners und Martins kann man wohl vor
allem darin sehen, daß Wagner das ganze
Geschehen in hohem Maße dramatisch ausdeutete und gestaltete, während sich Bediers und Martins Interpretation vorwiegend auf der epischen und lyrischen Ebene
bewegt und im großen und ganzen einen
Legendentonfall festhält, der „das tragische Geschehen ins Zeitlose entrückt"
(Schuh); gewisse an die Dramatik erinnernde Momente werden lediglich durch
die Soli eingeführt, auch dies mit großer
Bedachtsamkeit und Bewußtheit, um dem
etwas monotonen Legendenton wirksame
Einschnitte, Akzente und Kontraste gegenüberzustellen und somit ein Hilfsmittel für
übersichtlichere formale Bauart zu schaffen.
Anderen Unterscheidungsmomenten zwischen Wagners und Martins „Tristan"-Auffassung — bei Martin die unbedingte Absage gegen jede Leitmotivtechnik, das
kleine kammermäßige Ensemble,
die
Knappheit und Geschlossenheit der Form
— kommt dann nur mehr sekundäre Bedeutung zu.
Um den Ton der erzählenden Ballade,
der alten Legende, zu treffen, hat der Komponist zu einer besonderen Behandlung des
Chors gegriffen. Die Chorsätze sind absolut homophon, um die deutliche Verständlichkeit des Textes nicht zu untergraben, und folgen in der Deklamation —
in Rhythmus, Hebung und Senkung —
ziemlich getreu der Textrezitation. Von
polyphonen Chorwirkungen wird sehr selten Gebrauch gemacht; eine dahingehende
Ausnahme bildet zum Beispiel die Stelle
im 6. Bild des dritten Teiles, wo eine Greisin die zu spät ankommende Isolde vom
Tode Tristans benachrichtigt: „Herrin,
großer Schmerz ist uns widerfahren: Tristan ist tot, usw." Der Chor übernimmt das
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Thema und führt es zuerst in mixturartig
unterteilter linearer Zweistimmigkeit und
dann später im vierstimmigen imitatorischen Satz über einem als Orgelpunkt
glockenartig immer wieder angeschlagenen
Α des Klaviers durch; es ist dies auch eine
der wenigen Stellen, wo von einer Themendurchführung im hergebrachten Sinne gesprochen werden kann. Eben weil Bildungen, die an die klassische Chorpolyphonie
gemahnen, in diesem Werk so selten sind,
ist diese Stelle von eindringlicher, packender Wucht und Gewalt; man kann sie fast
als den dynamischen Höhepunkt des ganzen
Werkes bezeichnen, welche Rolle ihr auch
vom dramatischen Standpunkt aus zugeordnet werden muß. Aus diesem Detail des
Konzeptes sieht man auch, wie sparsam der
Komponist mit seinen Ausdrucksmitteln
verfährt. Die Grundfarbe ist die berichtende, erzählende Rolle des Chors, der damit eine ähnliche Rolle wie in der altgriechischen Tragödie spielt.
Um Frank Martins Chorrezitation richtig zu verstehen, muß man sich natürlich
vor Augen halten, daß das ursprüngliche
Konzept auf Grund des französischen Textes zustande kam. In Anbetracht dessen
werden gewisse Verwandtschaften mit der
themenlosen Rezitandotechnik Debussys
in seinem „Pelleas" offenbar, an den
übrigens noch in der oft auf ostinat
wiederholten Bildungen beruhenden, aber
stets nur färbenden und stimmungsausschöpfend untermalenden, niemals zu
selbständigem Eigenleben erwachenden
Orchesterbehandlung einige Reminiszenzen auftauchen. In dieser Hinsicht kann
die deutsche Übersetzung durch den Komponisten — gestützt auf die deutsche
Übertragung von Bediers Roman durch
Rudolf
Binding
(Insel-Verlag) — an
die Wirkimg des französischen Originals
nicht heranreichen, so sinnvoll und so sehr
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FRANK MARTINS „LE VIN HERBfi"
im Geiste der Stimmung des Werkes sie
auch gelungen ist. Um den Rhythmus der
deutschen Übersetzung den auf Grund des
französischen Originals gesetzten Notenwerten anzupassen, waren ziemlich häufig
Änderungen und Verschiebungen dieser
Notenwerte nötig, die die Wirkung des ursprünglichen Konzepts, das auch musikalisch unverfälscht romanische Luft atmet,
erheblich entstellen. Schon die Tatsache,
daß die deutsche Sprache in ihrer Wirkung
viel stärker auf Akzentuierungen beruht als
die ziemlich monoton dahinfließende französische, mag dieses Phänomen erklären.
Durch die verhältnismäßig emotionslose
Monotonie der französischen Rezitation war
der erzählende Legendenton unnachahmlich getroffen, und eine streng im romanischen Geiste gelegene deutsche Aufführung
des Werkes wirft das Problem auf, entweder die deutsche Rezitation ihrem Wesen
entgegen „leiern" zu lassen oder aber durch
richtige Akzentuierung der Satzhöhepunkte
den ursprünglich angestrebten, dynamisch
weniger gegliederten einheitlichen Fluß zu
stören.
Um die fast improvisatorische Basislosigkeit des rezitierenden Legendentones auch
musikalisch zu fundieren, griff Frank Martin zu einem anderen, rein musikalischharmonischen Mittel: Lockerung der starren tonalen Funktionsbeziehungen. Er verschmäht keineswegs die fundamentalen Akkorde der klassischen Musik — Dur- und
Molldreiklänge und ihre Umkehrungen —
aber er befreit sie von der alten Fessel der
harmonischen Funktion, indem er sie eher
als „Klangsymbole" einführt, deren Erfassung dem Hörer weiter keine Schwierigkeiten macht. Der Hörer begegnet also den
aus der alten Musik bekannten und vertrauten Akkordelementen, aber zumeist losgelöst
aus ihren traditionellen Funktionsbindungen. Selbstverständlich greift der Kompo-
nist des öfteren auch auf Andeutungen der
alten Kadenzformel zurück, wie er überhaupt kein Mittel ablehnt, das ihm zur Intensivierung seines musikalischen Ausdruckes notwendig erscheint. So erklärt es
sich auch, daß wir im melodischen und harmonischen Konzept Martins des öfteren
richtigen Zwölftonreihen begegnen, audi
solchen Bildungen, die innerhalb der strengen
Zwölftonreihen-Kompositionstechnik
Schönbergs ihre Daseinsberechtigung hätten. Martin gebührt unstreitig das Verdienst, daß er die Möglichkeiten der aus
Zwölftonreihen resultierenden harmonischen Bildungen und Harmonieverbindungen vorurteilslos richtig erkannt und sich
ihrer dort bedient hat, wo die Besonderheit
des künstlerischen Ausdruckes ihm dies zu
erfordern schien. Freilich war er klug genug, sich an keines der bestehenden theoretischen Prinzipien blindlings zu binden,
und so wechseln in seiner Arbeit tonartlich
nicht deutbare Episoden mit eindeutig tonalen, wobei jedoch der Grundcharakter des
Werkes als tonal bezeichnet werden kann
und vor allem vom Hörer auch so empfunden wird, da Martin die Gleichberechtigung von Konsonanz und Dissonanz keineswegs von Schönbergs Theorie übernimmt. Ihm ging es lediglich um eine Bereicherung, um eine „Verjüngung" der musikalischen Sprache und Ausdrucksmöglichkeit. Deshalb wird man, wenn man der
harmonischen und melodischen Substanz
des „Vin herbe" mit einer rein intellektuellen theoretischen Analyse an den Leib
rücken will, nicht weit kommen. Das einzige Ergebnis eines solchen Vorgehens
wäre, das Werk in kleine mosaikartige Teilchen zu zerlegen und von jedem dieser oft
nur über wenige Takte ausgedehnten
„Bausteine" endlich sagen zu können, auf
welchem theoretischen Prinzip sie jeweils
basieren und nach welchen Gesichtspunkten
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sie miteinander verbunden sind; es wäre
dies ein mageres Ergebnis angesichts eines
Werkes von solch unbestreitbarer Neuheit
und Originalität, das sich weniger um neue
theoretische Fundamente als um neue und
möglichst überzeugende Formen des musikalischen Ausdruckes bemüht.
Lassen wir zur Rechtfertigung der angewandten künstlerischen Mittel und des
geistigen Konzeptes zum Abschluß den
Komponisten noch einmal selbst zu Worte
kommen. In einer Rede über sein Werk in
Genf im Jänner 1941 deutete er die
„Schwierigkeiten an, von der eigenen Arbeit zu sprechen, weil man, wenn man vom
Technischen spricht, Gefahr läuft, für einen
kalten Rechner gehalten zu werden, andererseits wenn man von Gedanken und
Gefühlen spricht, man sich der Verdächtigung aussetzt, sein eigener Propagandist
sein zu wollen. Dennoch ist sowohl das
Technische, Mathematische wie das Gefühlsmäßige, das .Geschenkte' wie das Erarbeitete im musikalischen Schaffen enthalten. Mathematische Werte sind ersetzt
durch Noten, ihre Funktionen durch die Beziehungen zur Tonalität. Jedoch ist Mathematik undiskutierbare Wahrheit und somit
zwingend, Musik dagegen Schönheit, artistisch, muß gewinnen, um zu überzeugen.
Darum gibt es in der Musik keinen Beweis
für ihre Gültigkeit, sondern nur das Urteil
der eigenen Empfindung, die Zustimmung
des inneren Sinnes. Es ist hier wesentlich,
über sich selbst hinauszuwachsen. — Die
Einfalle, die .Geschenke des Himmels',
sind meist nicht technischer, sondern musikalischer Natur, primär wohl nicht Ausdruck
einer bestimmten Empfindung, aber innerlich so reich, daß sie Ausdruck verschiedener Empfindungen sein können. Alles, was
also wird, wird gewertet vom inneren Sinn,
der eine Art Stimme im Menschen ist, die
ihr Urteil spricht: manchmal beglückend
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bejahend, manchmal zweifelnd und kritisch,
manchmal gar nicht. Bei einem literarischen
Text bedarf es außerdem des literarischen
Feingefühles, der psychologischen Einfühlung. Nicht immer geht das alles in der
gleichen Richtung; Text und musikalisches
Gesetz können auseinanderstreben. Der innere Sinn muß leidenschafts- und mitleidlos
entscheiden. Inneres Mißtrauen ist daher
ein Kriterium des Künstlers; er bedarf nicht
des Publikumserfolges, wenngleich dieser
angenehm ist, aber er braucht die Anerkennungo Einzelner zu seiner inneren Bestätigung und zur Durchbrechung einer
schicksalhaften Einsamkeit. — So ist die
Sprache des ,Vin herbe' nicht die traditionelle, doch ist sie keineswegs eine intellektuelle Spielerei. Auch sie ist gehorsam gewissen künstlerischen Regeln, wenn
diese an sich auch noch keinen künstlerischen Wert darstellen."
Diese Darlegungen mögen genügen, um
den Hörer auf das Werk vorzubereiten und
ihm eine Vorstellung von der geistigen
Persönlichkeit des Komponisten zu vermitteln. Wir haben es hier mit einem wahrhaft fortschrittlichen Werk, vor allem aber mit
einer wahrhaft fortschrittlichen Künstlerpersönlichkeit zu tun, deren Fortschrittlichkeit nicht allein in der Anwendung modernster harmonischer und klanglicher Mittel
liegt, sondern vor allem in dem Bestreben,
trotz aller Neuheit immer verständlich zu
sein, den Hörer nicht durch technische Probleme vom ruhigen Empfang des Kunstwerkes abzulenken und auch durch die
weise Beschränkung in den äußeren Mitteln den zeitbedingten Gegebenheiten der
musikalischen Aufführungspraxis Rechnung
zu tragen. Die souveräne Meisterschaft des
Komponisten hat es hier ermöglicht, gerade
aus der Knappheit und Sparsamkeit der
AusdrucksmiiieZ die Voraussetzungen für
erhöhte Ausdrucks kraft zu gewinnen.
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