Ghetto - Münchner Volkstheater

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Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
Joshua Sobol: Ghetto
in der Regie von Christian Stückl
I.
zum Autor Joshua Sobol
II.
zum historischen Hintergrund von Ghetto
III.
zur Thematik von Ghetto
IV.
zu den Figuren in der Inszenierung am Volkstheater
V.
Vorschläge für die Auseinandersetzung mit der Inszenierung und der Aufführung
im Volkstheater
VI.
Fragen an die Inszenierung und die Aufführung im Volkstheater
VII.
Literaturhinweise und Internetlinks
Ghetto
bietet
Anknüpfungsmöglichkeiten
Auseinandersetzung mit
an
die
Fächer
dem zeitgenössischen Theater; zur
Deutsch
(z.B.
zur
Aufführungs- und
Inszenierungsanalyse; zur Auseinandersetzung mit der Darstellung des Holocaust in
Literatur und Theater; zum Vergleich von Inszenierungen verschiedener Theaterstücke
zum Holocaust (z.B. Ghetto – Der Stellvertreter)), Kunst (z.B. Auseinandersetzung mit
Bühnenbild, Kostüm und Lichtgestaltung in der Inszenierung am Volkstheater),
Philosophie / Ethik / Religion (z.B. zur Auseinandersetzung mit der Frage nach
persönlicher Verantwortung, Entscheidungsfreiheit und Moral unter den unmenschlichen
Bedingungen des Völkermords durch die NS-Diktatur), Geschichte / Sozialkunde (z.B.
zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der NS-Diktatur, zur Auseinandersetzung mit
dem Holocaust) und Dramatisches Gestalten / Theater (z.B. zur Auseinandersetzung mit
Regie-
und
Dramaturgieentscheidungen
bei
der
Inszenierung;
zum
Vergleich
verschiedener thematisch ähnlicher Inszenierungen eines Regisseurs (Ghetto – Der
Stellvertreter)) ab der 10./11. Jahrgangsstufe.
Aufführungsdauer: ca. 3 Stunden (eine Pause)
– Anne Steiner: Materialien zur Inszenierung am Volkstheater München –
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
Joshua Sobol – kurze Hinweise zu Leben und Werk*
Joshua Sobol, der zu den wichtigsten israelischen Autoren und Theaterregisseuren der
Gegenwart zählt, wurde 1939 in Tel Aviv als Sohn osteuropäischer Einwanderer geboren.
Jugendlicher und junger Erwachsener engagierte er sich in der sozialistischen
Jugendbewegung und lebte einige Jahre in einem Kibbuz. Nach seiner Schulzeit studierte er
Literatur, Geschichte und Philosophie in Israel und Frankreich.
1971 wurde sein Stück Kommende Tage am Theater in Haifa (Israel) uraufgeführt,
Uraufführungen weiterer Stücke folgten in den nächsten Jahren und machten Sobol beim
israelischen Publikum einen Namen. International bekannt wurde er mit dem Stück
Weiningers Nacht, das 1982 in Haifa uraufgeführt worden war. Diese Inszenierung wurde
1983 zum Edinburgh Festival eingeladen und erhielt dort den Kritikerpreis.
1984 folgte Ghetto, das ebenfalls zu einem internationalen Erfolg wurde, etliche
Auszeichnungen erhielt und 2006 auch verfilmt wurde. Die deutsche Uraufführung fand 1984
an der Berliner Volksbühne statt, Regie führte Peter Zadek. Das Stück stellt den ersten Teil
von Sobols Ghetto-Trilogie dar, 1989 folgten mit Adam und 1991 mit Underground der
zweite und dritte Teil.
1984 übernahm Sobol die künstlerische Leitung des Haifa Municipal Theatre, an dem auch
Ghetto uraufgeführt worden war. Er gab diese aber schon 1988 wieder ab, nachdem die
Uraufführung seines Stückes Das Jerusalem Syndrom zu heftigen Protesten geführt hatte.
Sobol widmete sich nun verstärkt dem Schreiben, machte sich aber zunehmend auch als
Theaterregisseur über die Grenzen Israels hinaus einen Namen. So schuf er 1996 mit seinem
weltweit erfolgreichen Stück und dessen Inszenierung Alma – A Show Biz ans Ende das sog.
Polydrama, das aus mehreren Handlungssträngen besteht, die zur selben Zeit stattfinden und
als interaktives Theatererlebnis gleichzeitig in verschiedenen (Bühnen-)Räumen gespielt
werden. 2003 verfasste Sobol iWitness, ein Stück über die Geschichte eines jungen Mannes,
der im Dritten Reich den Kriegsdienst verweigert hatte.
Sobol schreibt weiterhin Theaterstücke und arbeitet erfolgreich als Theaterregisseur, verfasst
daneben aber auch erzählende Prosa. 2001 erschien sein erster Roman Schweigen, 2005 folgte
sein bisher zweiter Roman Whisky ist auch in Ordnung.
*
Ausführliche Informationen zum Autor finden sich z.B. auf der Internetseite zu Alma (http://www.almamahler.at/engl/sobol/sobol.html) und auf der Seite der Jewish Virtual Library
(http://www.
jewishvirtuallibrary.org/jsource/judaica/ejud_0002_0018_0_18775.html).
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
zur Geschichte des Ghettos Vilnius
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gilt die litauische Hauptstadt Vilnius (dts. Wilna) als
das geistige Zentrum des europäischen Judentums. Die jüdischen Gelehrten sind weltweit
berühmt, Juden aus ganz Europa und den USA kommen nach Vilnius, um dort bei den
Rabbinern zu studieren.
Bis zum 2. Weltkrieg ist ein Drittel der Gesamtbevölkerung von Vilnius jüdisch, Juden stellen
damit die größte Bevölkerungsgruppe der Stadt. Lebten 1931 knapp 60.000 Juden in Vilnius,
sind es 1941 aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen mehr als 70.000. Nur ca. 3000 von ihnen
überleben den Holocaust, mehr als 95% der jüdischen Bevölkerung von Vilnius wird von den
deutschen Besatzern ermordet.
Als das nationalsozialistische Deutschland 1941 Luftangriffe auf Vilnius fliegt und im Juni in
die Stadt einmarschiert, verlassen mehrere tausend Juden die Stadt. Nur wenigen gelingt die
Flucht, die Mehrheit der fliehenden Juden wird getötet. Anfang Juli erlässt die deutsche
Militärregierung ein nächtliches Ausgehverbot für Juden, sie verpflichtet Juden, den gelben
Stern sichtbar auf der Kleidung zu tragen und richtet den sog. Judenrat ein, der u.a. die
Durchführung und Einhaltung der anti-jüdischen Maßnahmen zu überwachen hat.
Gleichzeitig beginnt das SS-Einsatzkommando 9 mit der systematischen Ermordung der
jüdischen Bevölkerung. Mehrere zehntausend Juden werden in den folgenden zwei Jahren in
Ponary, einem kleinen Ort nahe Vilnius, erschossen oder in eines der Konzentrationslager in
Litauen und Polen verschleppt und dort ermordet.
Im September 1941 wird ein Ghetto (bestehend aus Ghetto I und Ghetto II) in Vilnius
errichtet, alle jüdischen Einwohner der Stadt werden gezwungen, in dieses umzusiedeln. Ihr
Eigentum wird konfisziert, nur das „existentiell Notwendigste“ dürfen sie in das Ghetto
mitnehmen. Zudem ergeht ein Geburtenverbot für Juden.
Jakob Gens wird zunächst zum Leiter der Ghettopolizei ernannt, 1942 dann zum Leiter des
Ghettos und schließlich auch zum Leiter über das in der Nähe liegende Ghetto Oschmany. In
diesen Positionen versucht er, so viele Menschen wie möglich zu retten, das geistige Leben
aufrecht zu erhalten und die Kinder und Jugendlichen auf ein Leben in Palästina vorzu-
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
bereiten. Im September 1941 wird eine Bibliothek im Ghetto eröffnet, im Januar 1942 gründet
sich eine Künstlervereinigung, die Konzerte gibt. Im April 1942 wird das Ghetto-Theater
eröffnet, ein Literaturpreis für Stücke über das Ghetto wird ausgeschrieben, etliche
Theateraufführungen finden statt.
Während Gens mit den Deutschen kooperiert, um möglichst viele Leben zu retten, während er
auf ihren Befehl hin auch Selektionen vornimmt und damit entscheidet, welche seiner
Mitmenschen liquidiert werden, während er mit den Nazis um die Zahl der zu liquidierenden
Menschen feilscht, gründen andere Ghetto-Bewohner Anfang 1942 die F.P.O., eine
Untergrundorganisation, die den bewaffneten Widerstand vorbereitet.
Im Mai 1943 beginnt eine Massenflucht aus dem Ghetto, daraufhin werden fast alle GhettoTore zugemauert. Als Gens einen Jungen erschießt, der bei dem Versuch, das Ghetto zu
verlassen, einen Polizisten erschossen hat, erhebt sich ein Aufstand gegen die Ghetto-Polizei.
Daraufhin verlangt Hans Kittel, seit Juni 1943 verantwortlicher SS-Offizier für jüdische
Angelegenheiten in Vilnius, die Auslieferung des Leiters der F.P.O. Dieser kann zunächst
fliehen, stellt sich aber und begeht Selbstmord.
Im September 1943 wird Gens von der SS erschossen, zehn Tage später wird das Ghetto
liquidiert.
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
zur Thematik von Ghetto
#
Joshua Sobol thematisiert in seinem Stück den Überlebenskampf der jüdischen Bevölkerung
im Ghetto von Vilnius kurz vor dessen Liquidierung. Er verarbeitet dafür historische Quellen,
u.a. die Aufzeichnungen des jüdischen Bibliothekars Hermann Kruk, und orientiert sich an
den historischen Figuren und Fakten, konzentriert aber die Ereignisse und strukturiert die
Handlung durch zahlreiche Lieder, die er in sein Stück einbaut, sodass es nicht wie ein
Dokumentartheaterstück wirkt, sondern musical- oder revuehafte Züge trägt.
Am Beispiel des Ghetto-Theaters zeigt das Stück, wie nahe Hoffnung und Verzweiflung,
Zynismus und nackte Angst, moralischer Widerstand und Schuld liegen. Es erzählt von
Menschen, die weit gehen, um sich selbst zu verteidigen. Und es fragt, wann und wie die
jüdischen Opfer zu Mittätern an den Verbrechen des Nazi-Regimes werden.
Das Stück arbeitet mit Oppositionen (Gens vs. Kittel, Gens vs. Kruk, Srulik vs. Chaja, ...), die
auf den ersten Blick eindeutig scheinen, auf den zweiten aber Eindeutigkeiten auflösen und
dabei quälende Fragen aufwerfen:
-
Wer hat Macht über Leben und Tod?
-
Welche Schuld trägt ein Befehlsempfänger, der unmenschliche Befehle ausführt?
-
Ist die Entscheidung, aus dem Ghetto zu fliehen, in den Untergrund zu gehen und
bewaffneten Widerstand zu leisten, die bessere, wenn man weiß, dass für jeden
Geflohenen unzählige Zurückbleibende im Ghetto erschossen werden?
-
Darf totkranken Menschen die lebenserhaltende Medizin verweigert werden, wenn
dadurch das Leben anderer Erkrankter, die eine weitaus höhere Überlebenschance
haben, verlängert oder gar gerettet werden kann?
-
Ist es angesichts von Tausenden von ermordeten Juden moralisch verwerflich, ein
Theater zu gründen, um Künstlern eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie dadurch
vor der Deportation in ein Konzentrationslager oder vor der sofortigen Erschießung
zu retten?
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
zu den Figuren
in der Inszenierung am Volkstheater
„Merkt euch: Kittel kann jeden Moment auftauchen. Er schlängelt sich durch jedes Loch.
Kittel – die Schlange.“ (9. Szene) „Unter vernünftigen Leuten gibt es nur eine Diskussion
über die Wege, die zum Ziel führen. Eine Diskussion über das Ziel ist Zeitverschwendung. Die
Ziele haben mit Vernunft oder Logik nichts zu tun. [...] Es gibt keine gerechten Ziele. Das
einzige, was die Ziele rechtfertigt, bin ich.“ (21. Szene)
Kittel ist SS-Offizier und herrscht als absolut unberechenbarer Kommandant über das Ghetto
in Wilna. Er ist ein stets gut und korrekt gekleideter junger Mann, der ebenso höflich und
freundlich wie gnadenlos und zynisch sein kann. Er hasst „Speichellecker“, bewundert Geist,
Mut und Witz der ihm ausgelieferten Juden, stellt aber dennoch seinen Auftrag, die
Vernichtung und Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Litauens, niemals infrage. Er erfreut
sich an Kunst und liebt Jazzmusik, ist gleichzeitig aber immer der eiskalte Mörder, der
jederzeit wie ein Gespenst aus dem Nichts im Ghetto auftauchen kann. Manchmal gibt er sich
auch als die ihm ausgelieferten Juden durchaus verstehender und ihre Gelehrtheit
bewundernder Wissenschaftler aus. Doch ohne Reue spielt er jederzeit mit seinen Opfern,
versetzt sie in Angst und Schrecken und lässt sie seine Macht über sie stets spüren – ganz
gleich, ob er sie mit der Waffe bedroht, sie zum Feiern einlädt oder sie ermutigt, zu singen
und satirisches Theater zu spielen.
„Wenn die Deutschen von mir 1000 Juden wollen, dann geb ich ihnen, was sie wollen. Denn
wenn wir Juden es nicht freiwillig tun, werden die Deutschen kommen und sich Leute mit
Gewalt nehmen. Und dann nehmen sie nicht nur 1000, sondern Tausende. Tausende! Ihr mit
eurer scheinheiligen Moral! [...]Von meinen Händen wird das Blut triefen. Und trotzdem
werde ich mich nach dem Krieg einem jüdischen Gericht stellen. Und dann werde ich sagen:
Alles, was ich getan habe, habe ich getan, um so viele Juden zu retten, wie ich konnte.“ (16.
Szene)
Gens, zunächst Leiter der Ghetto-Polizei, später von Kittel eingesetzter Leiter des gesamten
Ghettos, ist meist scheinbar ruhig und gefasst, wird aber ärgerlich, wenn andere seine
Rettungsaktionen nicht verstehen und unterstützen wollen. Gens ist Zionist, der an die
Errichtung eines jüdischen Nationalstaats in Palästina glaubt, und versucht, so viele GhettoBewohner wie möglich vor der Ermordung durch die Nazis zu retten, indem er ihnen Arbeit
und damit eine Arbeitsbescheinigung verschafft, die sie und ihre Familien als „produktive“
und daher nicht sofort zu liquidierende Ghetto-Bewohner ausweist. Er versucht, Recht und
Ordnung im Ghetto aufrecht zu erhalten, um ein menschenwürdiges und Gesellschaftsleben
im Ghetto trotz aller Gräuel zu ermöglichen und Moral und Hoffnung nicht zu zerstören, wird
dabei aber selbst zum unbarmherzigen Vollstrecker unmenschlicher Urteile und
unfreiwilligen Mittäter an den Selektionen und Massenmorden der Nazis.
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
„Ich schäme mich nicht über das, was ich tue. Glaubt mir: Mein Weg ist der einzig richtige.
Nehmt euch ein Beispiel an mir, Leute! Ich bin keine Ausnahme. Ich bin ein ganz
gewöhnlicher Jude. Aber wir sind begabt, wir Juden, mehr als andere Völker. Wenn ihr von
jetzt an machen würdet, was ich gemacht habe, statt aufzugeben und zu jammern, dann hätten
wir hier ein produktives Ghetto. Die Deutschen würden uns brauchen. Wir wären für sie ein
Vorteil. Die könnten ohne uns gar nicht mehr! Und dann würden wir am Leben bleiben.“ (9.
Szene)
Weisskopf ist ein gewitzter Geschäftsmann, der vom kleinen Schneider zum Millionär wird,
weil er die Not im Ghetto gewinnbringend für sich zu nutzen weiß. Er kollaboriert mit den
Nazis – nicht, weil er wie Gens Leben retten, sondern weil er seinen Gewinn maximieren will.
Er erkennt sehr genau, wer an der Macht ist, und weiß, dass sein Geschäft nur wächst, wenn
er von den Nazis geduldet wird. Daher umgarnt er Kittel und tut alles, um ihm zu gefallen und
zufrieden zu stellen. Trotz seiner zur Schau gestellten Großzügigkeit geht es ihm vor allem
um sich selbst. Und dafür ist er auch bereit, Menschenleben zu opfern, die er durch
geschickteres Verhandeln hätte retten können.
„Wir leben in einer so düsteren Zeit, daß die Menschen nicht in der Lage sind zu erkennen,
was um sie herum passiert. Sie sollen es nicht sehen. Sie können es nicht sehen. Und ich sage
euch: Solange wir hilflose Opfer des Faschismus sind, solange ist es unsere Pflicht, zur Feder
zu greifen und Tagebuch zu führen. Mein Notizbuch soll alles sehen, alles hören und soll ein
Mahnmal sein für die unbeschreibliche Katastrophe in dieser schrecklichen Zeit.“ (8. Szene)
Kruk ist Leiter der Bibliothek und atheistischer Bundist, d.h. er unterstützt die Partisanen im
Untergrund und lehnt jegliche Kooperation mit den NS-Machthabern ab. Mit den Mitteln des
Geistes und der Worte setzt er sich für eine Zukunft des Judentums in Europa ein. Er notiert
akribisch alle Ereignisse im Ghetto in seinem Tagebuch, um die Schuld und Verantwortung
zu dokumentieren. Verurteilt er anfangs noch Gens‘ Idee von einem Theater, weil er es als
zynisch und menschenverachtend empfindet, inmitten von Gewalt und Terror an das Gute,
Wahre und Schöne zu erinnern, erkennt er schließlich an, dass Gens damit auch einen Weg
gesucht hat, Leben zu retten.
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
„Wer bin ich und was bin ich denn? Ein Puppenspieler vom Meidim Theater. Ein lausiger
Schauspieler.“ (2. Szene)
Srulik ist ein Puppenspieler mittleren Alters, der die Kunst und v.a. das Theater liebt, weil er
über seine Puppe äußern kann, was er sonst aus Angst um sein Leben nicht zu äußern wagt. Er
akzeptiert sein Leben im Ghetto als schicksalhaft gegeben, lehnt sich weder gegen Kittel noch
gegen Gens oder Kruk auf und zeigt seine Liebe zu Chaja nur über seine Puppe. Er bemüht
sich in jeder Situation um Unauffälligkeit, um am Leben zu bleiben, nutzt aber die Kunst in
Gestalt seiner frechen Puppe, um Kittel einen Spiegel vorzuhalten, und karikiert die
Machthaber in seinem Spiel auf der Bühne. Skrulik ist der einzige jüdische Überlebende, er
erzählt die Geschichte des Ghettos.
„Kein Mensch überlebt, wenn ihr euch ergebt. Jetzt hilft nur der Mut der Verzweiflung.“ (17.
Szene)
Chaja ist eine junge Sängerin, die vor dem Krieg berühmt war, jetzt aber im Ghetto auf der
Straße lebt und verzweifelt ums Überleben kämpft. Kittel erwischt sie mit geschmuggelten
Lebensmitteln und droht, sie zu erschießen, wenn sie es nicht schafft, ihn mit ihrer
Gesangskunst zu beeindrucken. In Todesangst nimmt Chaja das Angebot von Gens an, im
Theater aufzutreten, und stellt sich darauf ein, auch für die Nazis zu singen. Ihr Widerwillen
gegen den menschenverachtenden Machthaber Kittel und ihr Widerstandswillen jedoch
wachsen, sodass sie beschließt, in den Untergrund zu gehen und sich dem bewaffneten Kampf
gegen die nationalsozialistischen Besatzer anzuschließen.
Weiner ist ein junger Arzt im Ghetto, der bei Gens moralischen Beistand sucht, aber nicht
erhält, und aus seinem moralischen Dilemma nicht herauskommt.
Leibele und Jankel sind zwei junge Kriminelle, die für Weisskopf und andere Lebensmittel,
Alkohol und Waffen ins Ghetto schmuggeln, keinerlei moralische Skrupel kennen und aus der
aufgezwungenen Lebenssituation das Beste machen. Sie ermorden Weiner aus Geldgier,
werden von Gens jedoch gefasst und von einem jüdischen Gericht zum Tode verurteilt.
Dessler ist ein junger jüdischer Polizist. Seine Motivation ist unklar, er stellt die Befehlskette
jedoch nicht infrage und tut gehorsam alles, was ihm von Gens oder von Kittel aufgetragen
wird, auch wenn dies bedeutet, Menschen umbringen und selbst zum Mörder werden zu
müssen.
Die drei jungen Musiker werden im Ghetto-Theater angestellt und sorgen für die
musikalische Rahmung der Theaterinszenierungen und der Feiern. Sie wirken oft wie
unbeteiligte Beobachter, ihr Spiel kommentiert aber das unfassbare Geschehen im Ghetto. In
der letzten Theateraufführung – einer bösen Satire auf Hitler – werden sie zu Skruliks
Mitspielern und übernehmen so die Rolle seiner Puppe. Ihr Mitspiel jedoch bezahlen sie mit
dem Leben – Kittel hat die Aufführung zwar scheinbar unterhalten, aber dennoch erschießt er
die Musiker ohne Skrupel.
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
Vorschläge für die Auseinandersetzung mit
der Inszenierung und der Aufführung
Auseinandersetzung mit dem Schauspiel von Joshua Sobol
- Auseinandersetzung mit der Handlung und den Figuren
 Rezeption und Interpretation ausgewählter Szenen (z.B. 11. Szene: das moralische
Dilemma der Insulinzuteilung; 16. Szene: das zynische Fest zu Ehren von Gens‘ Ernennung
zum Leiter des Ghettos)
 Charakterisierung der Figuren und Auseinandersetzung mit ihren Motiven und
Verhaltensweisen, mit ihren vorgetragenen und ihren versteckten Beweggründen für ihr
Handeln und Nicht-Handeln, mit ihrer emotionalen Verfasstheit und ihren moralischen
Dilemmata
 Recherche zu den im Schauspiel auftretenden historischen Figuren und zum
geschichtlichen Hintergrund der Handlung
- Auseinandersetzung mit den im Schauspiel enthaltenen Liedern
 Austausch von Erwartungen, die die Lieder und die Musik an Inhalt, Figurenzeichnung
und Aufbau des Schauspiels hervorruft
 Austausch über mögliche Publikumsreaktionen auf das Revuehafte des Stücks
- Auseinandersetzung mit der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Stücks
 Rezeption der Informationen zum Autor und zur Thematik des Stücks
 Diskussion der These, der Holocaust dürfe nur rein dokumentarisch dargestellt werden
Auseinandersetzung mit der Inszenierung am Volkstheater
- Rezeption der Informationen zu den Figuren
 Formulierung von Erwartungen an Handlung und Figurenzeichnung in der Inszenierung
Formulieren von Erwartungen an die Gestaltung von Bühnenraum und Kostüm
Diskussion der in den Selbstcharakterisierungen erkennbaren Handlungsmotive und
Verhaltensweisen der verschiedenen Figuren
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
- Auseinandersetzung mit Thematik und Dramaturgie der Inszenierung
 Diskussion der Frage, ob das Stück über Kostüm und Bühnenbild in eine unbestimmte,
abstrakte Zeit gesetzt oder realistisch in der historischen Zeit situiert werden sollte
 Diskussion theatraler Möglichkeiten für die Gestaltung von Ähnlichkeiten in
Verhaltensweisen und Handeln von Kittel und Gens und von Gens und Kruk
 Vergleich der Auswirkungen, die unterschiedliche thematische Schwerpunktsetzungen (z.B.
auf die inneren Konflikte von Gens oder auf das Ausgeliefertsein und die Machtlosigkeit der
Ghettobewohner) auf die Strichfassung und die Figurenzeichnung in einer Inszenierung
haben
 Diskussion theatraler Möglichkeiten für die Gestaltung des (Ghetto-)Theaters im Theater
Auseinandersetzung mit der besuchten Aufführung
- Beschreibung der erlebten Aufführung
 Austausch von Erinnerungen (z.B. an Details des Bühnenraums, der Kostüme und der
Requisiten; an die Stimmungen, die durch Licht und Musik im Verlauf der Aufführung erzeugt
wurden; an die Positionierung der Schauspieler und der Musiker im Raum; an die eigenen
Reaktionen und die der anderen Zuschauerinnen und Zuschauer)
- Auseinandersetzung mit einzelnen Elementen der Aufführung
 Austausch von Assoziationen und Emotionen, die die Gestaltung des Bühnenraums
hervorgerufen hat
 Austausch von Assoziationen und Emotionen, die die Nutzung des Bühnenraums und seiner
verschiedenen Ebenen durch verschiedene Figuren hervorgerufen hat
 Charakterisierung der durch die Spiel- und Sprechweise einzelner Figuren (z.B. der von
Skrulik und seiner Puppe, der von Kittel als Kittel und als Dr. Paul) bei den anderen Figuren
und beim Publikum hervorgerufenen Wirkung
 Rezeption und eigenes Verfassen von Theaterkritiken
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
Fragen an die Inszenierung / die Aufführung
zur Bühne
- Welchen Eindruck ruft das Bühnenbild zu Beginn der Handlung hervor, welche
Assoziationen weckt es?
- Wodurch wird die Bühne in deutlich unterschiedliche Spielebenen geteilt?
- Wie werden diese unterschiedlichen Ebenen konnotiert?
- In welchen Szenen verändert sich der Bühnenraum? Worin liegen die Veränderungen
jeweils?
- In welchen Szenen vergrößert oder verkleinert sich der Bühnenraum? Auf welche
Weisen ändert sich seine Größe?
- Gibt es Details im Bühnenbild, die stärker als andere die Zeit verdeutlichen, in der die
Handlung spielt?
- Irritiert die Nutzung des Bühnenraums das Publikum? Was ruft die Irritation hervor?
- Wodurch und wie entstehen im Bühnenraum unterschiedliche Bedeutungsebenen?
Welche Assoziationen werden dadurch ausgelöst?
- Welche inneren und äußeren Grenzen setzt der Bühnenraum? Was und wen grenzt er
ab?
- Welche Auf- und Abtrittsmöglichkeiten bietet der Bühnenraum verschiedenen
Figuren? Nutzen alle dieselben Wege, um die Bühne zu betreten und zu verlassen?
zur Musik und zu den Liedern
- Welchen Inhalt haben die Lieder, die Chaja singt?
- Welche Instrumente sind zu hören und zu sehen? Ändern sich diese im Verlauf der
Aufführung?
- Verändert sich die Musik im Verlauf der Aufführung?
- Welche Wirkung hat die Musik auf das Verhalten und die Emotionen der
verschiedenen Figuren? Wie reagieren Kittel, Gens, Kruk und Skrulik und wie reagiert
Chaja selbst auf das, was sie singt?
- Welche Wirkung hat die Musik auf die Wahrnehmung und die Reaktion des
Publikums?
- Sind die Musiker Teil des Geschehens oder kommentieren sie das, was geschieht?
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
zur Lichtgestaltung
- Wie trägt die Lichtgestaltung zur zeitlichen und örtlichen Setzung des Geschehens
bei?
- Auf welche Weisen erweitert und begrenzt das Licht den Bühnenraum?
- Wie beeinflusst das Licht das Geschehen und die Wahrnehmung des Publikums in
unterschiedlichen Szenen?
zu den Kostümen
- Welche Farben dominieren die Kostüme?
- Welche Kostüme charakterisieren ihre Figur eindeutig, welche Kostüme sind weniger
eindeutig?
- Welche Kostüme stechen durch Farbe und/oder Material deutlich aus den anderen
heraus? Welche Assoziationen ruft das jeweils hervor, welche Wirkung hat das?
- Sind die jüdischen Ghettobewohner über ihr Kostüm eindeutig als solche erkennbar?
- Welche Kostümdetails stechen bei verschiedenen Figuren besonders hervor? Welche
Assoziationen lösen diese aus?
zu den Figuren
- Welche der Figuren wechseln ihr Kostüm? Welche unterschiedlichen Auslöser gibt es
für die Kostümwechsel?
- Zu wem sprechen und singen die Figuren – zu sich selbst, zueinander oder zum
Publikum? In welchen Szenen sind auffällige Änderungen bemerkbar?
- Wann erregen einzelne Figuren eher Mitleid, wann wirken sie eher abschreckend?
- In welchen Momenten korrespondieren Aussage und Körperhaltung / Gestik / Mimik
der einzelnen Figuren, in welchen tun sie das eher nicht?
- Wie und wodurch drücken die Figuren Macht und Ohnmacht, Todesangst und
Lebensfreude aus?
- Welche Figuren beziehen das Publikum ein? In welchen Szenen wird das Publikum
einbezogen? Wie reagiert das Publikum darauf?
- Wie sind Gens und Kruk und Gens und Kittel in den Szenen, in denen sie
unterschiedliche Wertvorstellungen äußern, im Raum positioniert? Welche der
Figuren dominiert die Szenen jeweils? Wodurch entsteht dieser Eindruck?
Joshua Sobol: Ghetto – Materialien zur Inszenierung
Literaturhinweise und Internetlinks
Textausgabe / Weiterführendes
Sobol, Joshua (1984): Ghetto. Schauspiel in drei Akten. Mit Dokumenten und Beiträgen.
Herausgegeben von Harro Schweizer, Berlin: Quadriga
 umfasst neben dem Stücktext ausführliches Zusatzmaterial zu den historischen
Hintergründen des Schauspiels; bietet zahlreiche Dokumente und Zeichnungen aus dem
Ghetto Wilna, Pressestimmen, Interviews und Fotografien zur deutschen Uraufführung in
Berlin und philosophische und politische Essays zur Thematik des Stücks; enthält
Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden und ein Selbstgespräch des Autors Joshua Sobol
(„Ein Interview mit mir selbst“) zu seiner Motivation, das Stück zu schreiben
Internet
http://www.alma-mahler.at/engl/sobol/sobol.html
 Biographie des Autors auf der Seite des Alma-Projekts
http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/judaica/ejud_0002_0018_0_18775.html
 ausführliche Biographie des Autors auf der Seite der Jewish Virtual Library
http://juden-in-europa.de/baltikum/vilna/inhalt.htm
 ausführliche Informationen zum Ghetto in Wilna auf der Seite des deutsch-jüdischen
Online-Nachrichtenmagazins haGalil
http://www.uni-giessen.de/~g91231/s9y/categories/13-Joshua-Sobol
 virtueller literarischer Stadtführer durch Vilnius; ein Projekt der Justus-Liebig-Universität
Gießen, bietet auch Informationen zum Ghetto und zu Sobols Schauspiel
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13508665.html
 SPIEGEL-Artikel aus dem Jahr 1984 zu Sobols Schauspiel und seiner deutschen
Uraufführung an der Freien Volksbühne Berlin in der Regie von Peter Zadek
https://www.muenchner-volkstheater.de/spielplan/trailer?page=2
 Trailer zur Inszenierung am Münchner Volkstheater
https://www.muenchner-volkstheater.de/ensemble/regisseure/christian-st%C3%BCckl
 biographische Hinweise zum Regisseur Christian Stückl auf der Seite des Münchner
Volkstheaters
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