______________________________________________________________________ 2 SWR 2 Musikstunde mit Ulla Zierau, 19. November 2012 "Mein Herz ist zerrissen" – Musik aus Momenten tiefster Trauer (1) „Wider den Schmerz / dich zu vermauern / Ist so verkehrt / wie maßloses Trauern“, das schrieb der Romantiker Emanuel Geibel – was heißt maßloses Trauen, wer vermag bei einer so existenziellen Empfindung zu sagen, wo die Grenzen liegen, wo das Maß voll ist. Franz Schubert vertonte ein Gedicht von Friedrich von Matthisson, „Trost, an Elisa“ heißt es und es beginnt mit der Frage: „Lehnst du deine bleichgehärmte Wange / Immer noch an diesen Aschenkrug?/ Weinend um den Todten, den schon lange/ Zu der Seraphim Triumphgesange /Der Vollendung Flügel trug?“ Musik1 Franz Schubert: „Trost“ An Elisa, D 97. Dietrich Fischer Dieskau und Gerald Moore, Klavier M0021582 001 2‘50 „Trost, an Elisa“, Franz Schubert hat das Gedicht von Friedrich von Matthisson vertont, wir hörten Dietrich Fischer Dieskau und Gerald Moore. 2 3 Trost findet im Glauben, in der Liebe, in Gesten, in Worten, wobei ein jüdisches Sprichwort besagt, am wenigsten sind viele Worte, im Trauerhaus am rechten Ort, dann doch Trost finden in der Musik. "Mein Herz ist zerrissen", schrieb Leos Janacek nach dem Tod seiner 20-jährigen Tochter Olga und legte all seinen Seelenschmerz in die Oper „Jenufa“. – Musik aus Momenten tiefster Trauer, das ist Thema dieser SWR2 Musikstunden-Woche. Dabei soll es nicht um die langen Listen von Trauermusiken gehen, die auf Beerdigungen gespielt und gesungen werden. Es soll auch nicht um Auftragswerke gehen, die zum Tod eines Dienstherrn oder eines Monarchen geschrieben wurden. Sondern vielmehr um Werke, die wie ein musikalisches Tagebuch Momente des Verlusts beschreiben, Werke, in denen Komponisten Erlebnisse des Schmerzes und der Trauer verarbeiten, kommentieren oder konterkarieren, also ihnen entgegenwirken. Uns interessiert, wie Johann Sebastian Bach auf den Tod seiner Kinder reagiert hat, was Mozart nach dem Tod seiner Mutter komponierte, Berlioz nach dem Tod seines erwachsenen Sohnes, Verdi nach dem Auslöschen seiner kleinen Familie? Gewähren uns Komponisten Einblick in ihr Seelenleben, greifen Leben und Musik ineinander oder interpretieren wir vieles nur hinein? Musik 2 W.A. Mozart: Klaviersonate a-moll KV 310, 1. Satz Evgeni Koroliov M0020891 004 5‘50 3 4 Evgeni Koroliov spielte den ersten Satz aus Wolfgang Amadeus Mozarts a-moll Klaviersonate KV 310, im Frühsommer 1778 in Paris entstanden, in der Zeit, in der seine Mutter schwer erkrankt und gestorben ist. Es ist die erste von nur zwei Moll-Klaviersonaten, die Mozart geschrieben hat, aber spiegelt sie tatsächlich den Verlust der Mutter wider oder ist das nur unsere Vorstellung. Mozart hat sich dazu nicht geäußert, wie wir überhaupt in seinen Werken kaum autobiographische Bezüge bestätigt bekommen. 1778, zusammen mit seiner Mutter ist Mozart auf Reisen, auf der Suche nach einer Anstellung. Der Vater musste wegen dienstlicher Verpflichtungen zu Hause in Salzburg bleiben und drängt von dort aus auf einen Aufenthalt in Paris, wo der Freud Friedrich Melchior Grimm zahlungskräftige Klavierschülerinnen vermitteln soll. Die Mutter hat bald Heimweh nach Salzburg, sie langweilt sich in Paris, fühlt sich unwohl und wird krank. Die übliche Therapie des Aderlasses bringt keine Linderung, ihr Zustand verschlechtert sich, wenige Tage später stirbt Anna Maria Mozart, am 3. Juli 1778. Der Sohn verheimlicht dem Vater die Wahrheit, er schreibt nur, die Mutter sei krank, stattdessen vertraut er sich dem Freund der Familie Abbé Bullinger in Salzburg an: „Trauern Sie mit mir, mein Freund! – Dies war der traurigste Tag in meinem Leben – dies schreibe ich um 2 Uhr nachts – ich muss es Ihnen doch sagen, meine Mutter, Meine liebe Mutter ist nicht mehr! – Gott hat sie zu sich berufen.“ Und Mozart bittet den Freund, „erhalten Sie mir meinen Vater, sprechen Sie ihm Mut zu, dass er es sich nicht gar zu schwer und hart nimmt, wenn er das Aergste erst hören wird. Meine Schwester empfehle ich Ihnen auch von ganzem Herzen. Geben Sie mir gleich Antwort, ich bitte Sie.“ 4 5 Musik 3 W.A: Mozart : Lacrimosa aus dem Requiem, Klavierbearbeitung von Sigismund Thalberg Cyprien Katsaris, Klavier M0053751 017 3‘14 Lacrimosa aus Mozarts Requiem, in der Bearbeitung von Sigismund Thalberg, gespielt von Cyprien Katsaris. Sein Requiem hat Mozart erst sehr viel später geschrieben, aber vielleicht entspricht diese Lacrimosa seiner Stimmung, kurz nach dem Tod der Mutter. Mozart in höchster Not – erst eine Woche später schreibt er dem Vater vom Tod der Mutter und entschuldigt sich für seine Unehrlichkeit, für seinen „sehr notwendigen“ Betrug, wie er es nennt und Mozart spendet seinem Vater Trost: „In jenen betrübten Umständen habe ich mich mit drei Sachen getröstet, nämlich durch meine gänzliche, vertrauensvolle Ergebung in [den] Willen Gottes, indem ich mir vorstellte, wie viel glücklicher dass sie nun ist als wir, so dass ich mir gewunschen hätte, in diesem Augenblick mit ihr zu reisen. Aus diesem Wunsch entwickelte sich mein dritter Trost, nämlich, dass sie nicht auf ewig für uns verloren ist, dass wir sie wiedersehen werden, vergnügter und glücklicher beisammen sein werden als auf dieser Welt. Nur die Zeit ist uns unbekannt, das macht aber gar nicht bang; wann Gott will, dann will ich auch“. Neun Jahre später stirbt Mozarts Vater, lange Zeit seine wichtigste Bezugsperson. Der gestrenge Leopold lenkte die Wunderkind-Karriere des jungen Mozart, knüpfte wichtige Kontakte und bemühte sich stets darum, dass Mozart seine Verpflichtungen gewissenhaft erfüllte. Genau daran scheiterte die Vater–Sohn Beziehung. 5 6 Gegen den Willen des Vaters heiratet Mozart Constanze Weber, stiehlt sich aus dem Salzburger Dienstverhältnis und setzt sich nach Wien ab, um dort als freier Komponist sein Geld zu verdienen. Dafür zeigt der Vater wenig Verständnis. In seinen Augen lebt Mozart in Wien im Chaos und zu allem Überdruss mit einer Frau, die sich nicht richtig um ihn sorgt. Als der Vater 1787 stirbt, hat sich Mozart innerlich längst von ihm gelöst. Er lebt mit seiner Familie in Wien, hat seinen Figaro erfolgreich uraufgeführt und als er vom Unwohlsein des Vaters erfährt, rechnet er mit dem Schlimmsten und schreibt, mon très chèr père: „… da der Tod der wahre Endzweck unsers Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat mir die Gelegenheit zu verschaffen, ihn als den S c h l ü s s e l zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen.“ schreibt Mozart. Wenige Wochen später ist der Vater tot, Mozart arbeitet gerade an seinem Don Giovanni, eine Oper, in der der Tod eine zentrale Rolle spielt – zu Beginn tötet Don Giovanni den Vater Donna Annas, am Ende kehrt der Komtur als steinerne Figur wieder und schickt Don Giovanni in die Hölle. Ist der Komtur der Übervater Leopold, eine Projektion? Energisch, mächtig ruft er nach Don Giovanni, ruft Leopold hier nach seinem Sohn. Musik 4 Mozart: Don Giovanni: Auftritt des Komtur Kurt Böhme, Komtur, Cesare Siepi, Don Giovanni Wiener Philharmoniker, Josef Krips M0127040 040 mit Blende am Ende 3‘08 6 7 Der Auftritt des Komturs aus dem Finale des Don Giovanni mit Cesare Siepi als Don Giovanni und Kurt Böhme als Komtur, diese mächtige, unnachgiebige Figur wird seit jeher in der Mozart-Rezeption als mögliches Abbild des Vaters gehandelt. Es war ein schwieriges Verhältnis zwischen Mozart und seinem Vater, in jungen Jahren geprägt von Liebe, Respekt und Vertrauen, später eher von Abgrenzung, Befreiung, Lossagung. Ganz anders die Verhältnisse im Hause Berlioz. Hier steht nicht die Musik im Mittelpunkt, sondern eine humanistische Ausbildung, der Sohn soll Medizin studieren und Arzt werden wie der Vater. Aber in Paris entdeckt Berlioz seine Berufung zur Musik, sehr zum Leidwesen der Eltern. Der Vater entzieht ihm das Studiengeld, warnt inständig vor einer künstlerischen Laufbahn, es kommt zu heftigen Meinungsverschiedenheiten, doch der Sohn bleibt in Paris, studiert am Konservatorium und wird Komponist. Später söhnen sich Vater und Sohn aus. Berlioz schreibt in seinen Memoiren von einer tiefen Freundschaft zum Vater, von einer innigen Übereinstimmung ihrer Anschauungen. „Wie glücklich war mein Vater, dass er mit seinen Prophezeiungen über meine musikalische Zukunft unrecht gehabt hatte!“. Berlioz erinnert sich, dass sich sein alter, kranker Vater am Ende seines Lebens nichts sehnlichster gewünscht habe, als das Requiem seines Sohnes kennenzulernen: „Ja ich möchte es einmal hören, das schreckliche Dies irae“, von dem man mir schon so viel erzählt hat und dann würde ich gern wie Simeon sagen: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden.“ 7 8 Musik 5 Hector Berlioz: Requiem, Dies irae (Tuba mirum) EuropaChorAkademie / SWR SO / Sylvain Cambreling M0235739 003 6‘13 Tuba mirum aus dem Requiem von Hector Berlioz mit der EuropaChorAkademie und dem SWR Sinfonierochester Baden-Baden und Freiburg. Sylvain Cambreling war der Dirigent. Kurz vor seinem Tod soll Berlioz gesagt haben: „Drohte man mir mit der Vernichtung meines gesamten Oeuvres, ich bäte für eine Partitur um Gnade – das Requiem“. Musik, die sich Berlioz‘ Vater vor seinem Tod innig gewünscht hat, allein die Zeit hat nicht gereicht. Der Vater stirbt ohne einen Ton des Requiems gehört zu haben. So gern hätte Berlioz ihm diese Musik noch ans Herz gelegt Johannes Brahms schrieb sein Requiem für die Lebenden und nicht für die Toten und dennoch wurde es eine Totenmesse für seine Mutter, Johanna Henrike Christiane Brahms, 1865 ist sie gestorben. Brahms trauert um seine Mutter und leidet unter dem Wissen, dass der Vater die um 17 Jahre ältere gebrechliche Frau in den letzten Jahren nicht gut behandelt hat. Schon als Jugendlicher litt Brahms unter den Streitereien der Eltern, die sich später getrennt haben. Unmittelbar nach dem Tod der Mutter komponiert Brahms den vierten Satz seines Requiems und wählt hierfür den Psalm 84 „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ und im 5. Satz thematisiert er die Mutterliebe mit den Versen aus Jesaja 66: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“. Der selbstaufopfernden Liebe seiner Mutter hat Brahms diese Musik gewidmet. 8 9 Musik 6 Johannes Brahms: Ein deutsches Requiem, 4. Satz „Wie lieblich sind...“ Rundfunkchor Berlin / Berliner Philharmoniker / Simon Rattle M0080360 004 5‘12 „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ aus dem deutschen Requiem von Johannes Brahms. Simon Rattle leitete den Rundfunkchor Berlin und die Berliner Philharmoniker. SWR 2 Musikstunde, Musik aus Momenten tiefster Trauer, heute geht es um den Verlust der Eltern. Im Gegensatz zu Hector Berlioz oder Johannes Brahms sucht Maurice Ravel nie die Lossagung von seinem Elternhaus, lange Zeit lebt er mit seiner Mutter zusammen. Allein der Gedanke, sie verlassen zu müssen, schneidet ihm ins Herz. Entsprechend verunsichert ist er, als er zu Beginn des ersten Weltkrieges von patriotischen Gefühlen überwältigt wird. Seit er die Sturmglocken gehört hat, will er dem Vaterland dienen, obwohl er wegen seiner Schmächtigkeit als untauglich eingestuft worden war. Einem Freund vertraut er an: „meine alte Mutter verlassen, das hieße mit Sicherheit, sie töten. Und übrigens wartet das Vaterland nicht auf mich, um gerettet zu werden. Ich arbeite, ja ich arbeite mit der Sicherheit und Hellsicht eines Verrückten. Aber während dieser Zeit arbeitet der Trübsinn auch, und plötzlich schluchze ich über dem b-Vorzeichen. 9 10 Selbstverständlich, wenn ich hinuntergehe und mich vor meiner armen Mutter befinde, muss ich einen ruhigen, wenn nicht sogar lustigen Anschein wecken, kann ich das durchhalten?“. Inmitten dieser Seelenqualen beendet Ravel sein Klaviertrio, das in keiner Note seine Sorgen und Marter erahnen lässt – er muss vor der Mutter einen lustigen Anschein erwecken, so schreibt er sein Klaviertrio ganz bewusst in diesem heiteren Ton: „Ich weiß wohl, mein lieber Freund, dass ich für das Vaterland arbeite, in dem ich Musik mache“. Musik 7 Maurice Ravel: Klaviertrio, 2. Satz Renaud und Gautier Capucon, Frank Braley M0011859 002 4‘18 Maurice Ravel in tiefer Verzweiflung zwischen der Sorge um die Mutter und der patriotischen Begeisterung, für sein Vaterland zu kämpfen, und dazwischen entsteht diese Musik, sein Klaviertrio in a-moll. Renaud und Gautier Capucon spielten zusammen mit Frank Braley den 2. Satz. Schließlich zieht Ravel doch noch an die Front, als Lastwagenfahrer. Seine Vermutung, die Mutter zu verlassen, hieße, sie zu töten, soll sich bitter bewahrheiten. Die Mutter erkrankt schwer, doch das teilt man dem Sohn nicht mit. Am 5. Januar 1917 stirbt Ravels Mutter im Alter von 76 Jahren. „Vor so kurzer Zeit habe ich ihr noch geschrieben und ihre traurigen Briefe erhalten, die mich so bedrückt haben und die doch so eine große Freude für mich waren und jetzt diese Verzweiflung, die immer gleichen bohrenden Gedanken.“ 10 11 Ravel ist bestürzt, wie gelähmt – kein Ton, keine Note scheint diesen schmerzvollen Verlust fassen zu können. Oder steckt in der Suite „Le Tombeau de Couperin“ doch ein inniger Gedanke an die tote Mutter, einzelne Sätze hat er Freunden gewidmet, die im Krieg gefallen sind. Seine Mutter ist auch ein Opfer des Krieges, aus Angst und Sorge um ihre beiden Söhne ist sie gestorben. Musik 8 Maurice Ravel: Le Tombeau de Couperin, Fuge Dejan Lazic, Klavier M0250743 008 2‘40 Dejan Lazic spielte Fuge aus dem Tombeau de Couperin von Maurice Ravel. In die leere Wohnung seiner Mutter kehrt Ravel nach dem Krieg nicht zurück, er zieht mit seinem Bruder Edouard zusammen, bis der eine eigene Familie gründet. Ferruccio Busoni ist einer der wenigen Komponisten, der seiner verstorbenen Mutter bekennend, ganz offen ein Werk gewidmet hat. Nach ihrem Tod, am 3. Oktober 1909 komponiert Busoni die kurze Berceuse élégiaque in memoriam Anna Busoni, basierend auf einer zuvor entstandenen Klavierkomposition, die Busoni mit impressionistischen Orchesterfarben ausschmückte. In der Partitur fügt Busoni als Untertitel hinzu: "Der Mann singt seiner verstorbenen Mutter dasselbe Lied, das er von ihr als Kind gehört hatte und das ihn ein Leben lang begleitet und eine Transformation erlebt hatte." 11 12 Für die Notenausgabe fertigt Busoni noch eine Zeichnung an, der Blick von der Stätte des Wiegenlieds durch einen Türbogen auf einen Sarg, der zu Grabe getragen wird. Nebst Zeichnung vier Zeilen von Busoni selbst: "Schwingt die Wiege des Kindes / Schwankt die Wage seines Schicksals Schwindet der Weg des Lebens / Schwindet hin in die ewigen Fernen." Welche Fügung des Schicksals, Gustav Mahler leitet die Uraufführung von Busonis enigmatischer Berceuse bei seinem letzten Konzert in New York, im Februar 1911, drei Monate später stirbt Mahler in Wien. Musik 9 Ferruccio Busoni: Berceuse élégiaque SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Michael Gielen M0005183 004 7‘17 12