97 8 Leichte kognitive Störung: vom Konzept zur Therapie J.-M. Annoni, R. Goldstein, A. Schnider, F. Assal D ie leichte kognitive Störung (Mild Cognitive Impairment, MCI) ist klinisch zwischen dem normalen Altern und der Demenz angesiedelt. Man unterscheidet ein amnestisches MCI, das oft als Prodromalform der Alzheimer-Krankheit angesehen wird, ein MCI einer einzigen nicht-amnestischen Domäne (am häugsten als dysexekutives MCI) sowie ein MCI mehrerer Domänen. Die Konversionsraten zur Demenz divergieren in den verschiedenen Studien wegen der komplexen Denition des MCI und seiner Kriterien, wegen der ätiologischen Heterogenität des MCI und auch wegen der unterschiedlichen Studienkollektive (Spezialkliniken oder Populationen Älterer). Die spezischen therapeutischen Herangehensweisen an das MCI sind noch wenig überzeugend. Neuroprotektive Medikamente und Cholinesterasehemmer haben keine oder nur eine geringe klinische Wirksamkeit gezeigt. Derzeit gelten die Prävention der vaskulären Risikofaktoren, die richtige Ernährung, die Reduktion des Alkoholkonsums, das kognitive Training und die Therapie von Depressionen als nützlichste Mittel, über welche die Ärzte verfügen. 8.1 Einführung Nach Petersen ist das MCI ein klinischer Zustand, der zwischen normalen Alterserscheinungen und der Alzheimer-Krankheit angesiedelt ist. Bei der amnestischen Form des MCI klagt der Patient über – möglichst von seiner Umgebung bestätigte – Gedächtnisstörungen, die seine Alltagaktivitäten nicht wesentlich beeinträchtigen. Die neuropsychologische Untersuchung ergibt eine Beeinträchtigung des episodischen Gedächtnisses um mindestens 1,5 Standardabweichungen gegenüber der altersentsprechenden Norm und Bassetti et al. Demenz Versorgungssituation in der Schweiz.indd 97 keine weitere kognitive Beeinträchtigung [19]. Dieser Typ des MCI gilt allgemein als Prodromalform der Alzheimer-Krankheit. Seit Jahren ist bekannt, dass ein isoliertes Dezit des episodischen Gedächtnisses, das mit dem Gedächtnistest vom Buschke (freies Erinnern, Erinnern mit Hilfestellung) festgestellt wird, der Diagnose einer Alzheimer-Krankheit um durchschnittlich 5,1 Jahre vorausgeht [10]. Dies bestätigte die neuropathologischen Befunde, dass die Proteinablagerungen (Amyloid und vor allem Tau) der klinischen Manifestation der Alzheimer-Krankheit um mehrere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vorausgehen [2]. In der Folge wurde das MCI in verschiedene Untertypen gegliedert: das amnestische MCI, das MCI einer einzigen, nicht-amnestischen Domäne (am häugsten dysexekutiv) und das MCI mehrerer Domänen. Mit Ausnahme des rein amnestischen MCI, das sich häuger zu einer Alzheimer-Demenz entwickelt, haben die MCI sehr heterogene Ätiologien, die sich überschneiden und manchmal kombinieren, wie eine Depression, zerebrovaskuläre Läsionen, eine Parkinson-Krankheit und weitere degenerative Erkrankungen, eine Multiple Sklerose, Krebserkrankungen usw. Auf der neuropathologischen Ebene werden die Läsionen der Alzheimer-Krankheit am häugsten – bei zwei Drittel der Fälle – gefunden, gefolgt von LewyKörperchen, Tau-Protein-Einschlüssen, argyrophilen Körner und vaskulären Läsionen [13]. Diese ätiologische Heterogenität und die unterschiedlichen Rekrutierungsorte der Studien (Gedächtnisklinik, Allgemeinpopulation) erklären das beträchtliche Divergieren der Inzidenzen und Prävalenzen des MCI wie auch seiner Kon- 08.07.11 13:28 98 Klinik versionsraten zur Demenz, die zwischen 3 % und 16 % schwanken. 8.2 Cholinesterasehemmer Die Metaanalysen und Cochrane-Reviews zu den Cholinesterasehemmern haben ihre fehlende Wirksamkeit auf der kognitiven Ebene und das von ihnen gelegentlich ausgehende kardiovaskuläre Risiko bzw. ihre Mortalität gezeigt [3, 6, 20]. Zwar scheint sich in Kurzzeitstudien ein kognitiver StimulationseŲekt im Laufe den ersten Monaten abzuzeichnen [20], doch weder Rivastigmin [7] noch Galantamin [27] konnte die Konversion zu einer Alzheimer-Krankheit in einer Studie über 4 Jahre mit 1018 bzw. über 2 Jahre mit 2048 Patienten verhindern. Lediglich eine Studie über 3 Jahre mit 756 MCI-Patienten, die mit Donepezil und Vitamin E behandelt wurden, zeigte partiell positive EŲekte mit leichter Verzögerung der Konversion zur Alzheimer-Krankheit, allerdings nur in der Subgruppe der Patienten mit Depression [16]. 8.3 Behandlung vaskulärer Risikofaktoren Die meisten vaskulären Risikofaktoren (Adipositas, Hypertriglyzeridämie, Hypercholesterinämie, Diabetes, Glukoseintoleranz, arterielle Hypertonie bzw. metabolisches Syndrom oder Alkohol > 6 Einheiten/Tag) sind mit einem erhöhten Risiko für ein MCI und eine Demenz verbunden [28]. In einer grossen Longitudinalstudie erwiesen sich ein erhöhter systolischer Blutdruck, eine Angststörung, die Einnahme von Antidepressiva sowie Alkoholkonsum und Rauchen in der Anamnese als hauptsächliche Faktoren, die der Entstehung eines MCI vorausgingen [5]. Die meisten vaskulären Risikofaktoren beeinussen die Amyloidkaskade in vitro und erhöhten auch die Menge der Amyloidablagerungen in Autopsieserien [15]. Wenn auch diese Autopsiestudie zeigte, dass es in Gehirnen von Patienten, die mit Statinen be- handelt wurden, weniger Alzheimer-Läsionen gab als in Gehirnen der Kontrollgruppe [15], und wenn auch bestimmte klinische Studienergebnisse mit Statinen ermutigend sind [22], gibt es momentan doch keinen klaren Befund, der die Wirksamkeit von Statinen bei MCI bestätigt [11]. Dagegen scheint auf der Grundlage zahlreicher Studien die Kontrolle des arteriellen Blutdrucks bei älteren Menschen besonders indiziert zu sein. Eine entsprechende Therapie mit Nitrendipin, Enalapril und/oder Hydrochlorothiazid führte zu einer Reduktion des Demenzrisikos (Alzheimer und vaskulär) um 55 % [8]. Nach Adjustierung mit dem Geschlecht, Lebensalter, Bildungsstand und den Ausgangswerten des arteriellen Blutdrucks ermöglichte es die Therapie von 1000 Patienten über 5 Jahre, 20 Fälle von Demenz in der untersuchten älteren Allgemeinbevölkerung zu verhindern. 8.4 Antiinflammatorische Wirkstoffe, Omega-3-Fettsäuren, Vitamin E und Aggregationshemmer Wegen ihrer antiinammatorischen Eigenschaften (mit Implikationen für die Amyloidkaskade) und aufgrund von Beobachtungsstudien, z. B. an Patienten mit rheumatoider Arthritis, wo in der Therapiegruppe unter nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) weniger Alzheimer-Fälle als in der Kontrollgruppe aufgetreten waren, wurden NSAR in mehreren randomisierten Studien beim MCI untersucht. Doch NSAR, speziell Rofecoxib [23, 24], konnten die Konversion des MCI zur Demenz nicht verhindern. Eine Studie mit Rofecoxib zeigte sogar, aus bisher unerklärlichen Gründen, eine erhöhte Konversionsrate [1]. WirkstoŲe mit einem allgemeineren zellprotektiven Ansatz, wie Omega-3-Fettsäuren aus der Nahrung, haben alles in allem keinen protektiven EŲekt auf den kognitiven Abbau, wenn auch einige Post-hoc-Analysen darauf hindeuteten, dass bestimmte Subpopulationen davon protieren könnten [4]. Auch Vitamin E hat sich nicht als präventiv oder therapeutisch wirksam bei MCI erwiesen [12]. -1Z Bassetti et al. Demenz Versorgungssituation in der Schweiz.indd 98 08.07.11 13:28 Leichte kognitive Störung: vom Konzept zur Therapie Acetylsalicylsäure verzögert zwar die Progression der Alzheimer-Krankheit nicht und gilt auch nicht als vorbeugend wirksam gegenüber der Erkrankung, doch einige Studien hatten ermutigende Ergebnisse. In einer randomisierten Studie mit 1007 Patienten, die 3 Jahre lang beobachtet wurden, hatten die Anwender von Acetylsalicylsäure ein über 3-fach geringeres Risiko, eine Alzheimer-Krankheit zu entwickeln, doch der EŲekt war nur für die Patienten ab einem Alter von 75 Jahren signikant [14]. In einer anderen Studie mit 702 Personen im Alter ab 80 Jahren hatten diejenigen, die höhere Acetylsalicylsäure-Dosen anwendeten, eine geringer Prävalenz der Alzheimer-Demenz und eine bessere kognitive Funktion als diejenigen, die keine Acetylsalicylsäure anwendeten oder mit Paracetamol oder D-Propoxyphen behandelt wurden [18]. 8.5 Ernährung Der Einuss der Ernährung auf die Konversion zu einer Alzheimer-Demenz ist aus methodologischen Gründen und wegen kontroverser Ergebnisse schwierig zu bestimmen [17]. Die Mittelmeerdiät hat viel versprechende Wirkungen gezeigt: Bei 482 Personen mit MCI, die durchschnittlich 4,3 Jahre lang beobachtet wurden, reduzierte sich das Konversionsrisikos um 45 % bei mässiggradiger Einhaltung sowie um 48 % bei strenger Einhaltung dieser Kostform [21]. 8.6 Kognitives und körperliches Training Kognitives Training gehört zwar nicht zum traditionellen therapeutischen Rüstzeug bei MCI, aber zahlreiche Befunde deuten darauf hin, dass es die kognitiven Fähigkeiten der Patienten verbessern kann. Aktive Patienten im mittleren Lebensalter mit MCI protieren von einem strukturierten bzw. neuropsychologischen kognitiven Training und manche verbessern damit ihre ob- Bassetti et al. Demenz Versorgungssituation in der Schweiz.indd 99 99 jektive und subjektive Gedächtnisleistung. Einige wenden die erlernten Methoden noch ein Jahr später in ihrem Berufsleben an [25]. Ein leichtes körperliches Training scheint das Risiko für ein MCI zu vermindern [9]. 8.7 Therapie der Depression Eine Depression von Menschen über 65 Jahren ist oft mit kognitiven Veränderungen verbunden. Dieses Thema kann hier nicht näher ausgeführt werden. Hier soll nur kurz darauf hingewiesen werden, dass die Bedeutung der Therapie einer Depression oder einer Angststörung für die Verhinderung oder Verzögerung der Konversion zu einer Demenz inzwischen anerkannt ist [26]. 8.8 Schlussfolgerung In Zukunft wird die Behandlung des MCI spezischer sein und sich gegen die Ursachen richten: gegen degenerative (mehrere Ursachen), vaskuläre, toxische (Alkohol, Drogen), entzündliche und andere Ursachen, inklusive Depression und Angststörung. In vielen Fällen wird es notwendig sein, mehrere oder alle diese Begleiterkrankungen zusammen zu behandeln. Da die Vorgänge der Neurodegeneration in dieser präklinischen Phase jeder Demenz besonders langsam verlaufen, müssen die Behandlungen schon weit vor dem fortgeschritten Alter, am besten schon im frühen Erwachsenenalter beginnen. Die erwarteten therapeutischen Wirkungen müssten demnach ebenfalls sehr langsam eintreten, was allein schon das Fehlschlagen von Interventionsstudien mit zeitlich begrenzter Dauer erklärt. Die Entwicklung zahlreicher Biomarker und erweiterte epidemiologische Kenntnisse erlauben es, die pathologischen Veränderungen besser als bisher in einem präklinischen Stadium zu detektieren und ihr Auftreten in gezielter ausgewählten Populationen hinauszuzögern. 08.07.11 13:28 100 Klinik Literatur 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Aisen PS, Thal LJ, Ferris SH et al. Rofecoxib in patients with mild cognitive impairment: further analyses of data from a randomized, double-blind, trial. Curr Alzheimer Res. 2008;5:73-82. Aizenstein HJ, Nebes RD, Saxton JA et al. Frequent amyloid deposition without signicant cognitive impairment among the elderly. Arch Neurol. 2008;65:1509-17. Birks J, Flicker L. Donepezil for mild cognitive impairment. Cochrane Database Syst Rev. 2006;19:3. Cederholm T, Palmblad J. Are omega-3 fatty acids options for prevention and treatment of cognitive decline and dementia? Curr Opin Clin Nutr Metab Care. 2010;13:150-5. Cherbuin N, Reglade-Meslin C, Kumar R et al. Risk factors of transition from normal cognition to mild cognitive disorder: the PATH through Life Study. Dement Geriatr Cogn Disord. 2009;28:47-55. Diniz BS, Pinto JA Jr, Gonzaga ML, Guimarães FM, Gattaz WF, Forlenza OV. To treat or not to treat? A meta-analysis of the use of cholinesterase inhibitors in mild cognitive impairment for delaying progression to Alzheimer‘s disease. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2009;259:248-56. Feldman HH, Ferris S, Winblad B et al. EŲect of rivastigmine on delay to diagnosis of Alzheimer’s disease from mild cognitive impairment: the InDDEx study. Lancet Neurol. 2007;6:501-12. Forette F, Seux ML, Staessen JA et al. The prevention of dementia with antihypertensive treatment: new evidence from the Systolic Hypertension in Europe (SystEur) study. Arch Intern Med. 2002;162:2046-52. Geda YE, Roberts RO, Knopman DS et al. Physical exercise, aging, and mild cognitive impairment: a population-based study. Arch Neurol. 2010;67:80-6. Grober E, Lipton RB, Hall C, Crystal H. Memory impairment on free and cued selective reminding predicts dementia. Neurology. 2000;54:827-32. Höglund K, Syversen S, Lewczuk P, Wallin A, Wiltfang J, Blennow K. Statin treatment and a disease-specic pattern of beta-amyloid peptides in Alzheimer‘s disease. Exp Brain Res. 2005; 164: 205-14. Isaac mg, Quinn R, Tabet N. Vitamin E for Alzheimer‘s disease and mild cognitive impairment. Cochrane Database Syst Rev. 2008;3:CD002854. Jicha GA, Parisi JE, Dickon DW et al. Neuropathological outcome of mild cognitive impairment following progression to clinical dementia. Arch Neurol. 2006;63:674-81. Jonker C, Comijs HC, Smit JH. Does aspirin or other NSAIDs reduce the risk of cognitive decline in elderly persons? Results from a population-based study. Neurobiol Aging. 2003;24:583-8. Bassetti et al. Demenz Versorgungssituation in der Schweiz.indd 100 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 Li G, Larson EB, Sonnen JA et al. Statin therapy is associated with reduced neuropathologic changes of Alzheimer disease. Neurology. 2007;69:878-85. Lu PH, Edland SD, Teng E, Tingus K, Petersen RC, Cummings JL; Alzheimer’s Disease Cooperative Study Group. Donepezil delays progression to AD in MCI subjects with depressive symptoms. Neurology. 2009;72:2115-21. Luchsinger JA, Mayeux R. Dietary factors and Alzheimer’s disease. Lancet Neurol. 2004;3:579-87. Nilsson SE, Johansson B, Takkinen S, Berg S, Zarit S, McClearn G, Melander A. Does aspirin protect against Alzheimer‘s dementia? A study in a Swedish population-based sample aged > or = 80 years. Eur J Clin Pharmacol. 2003;59:313-9. Petersen RC, Doody R, Kurz A et al. Current concepts in mild cognitive impairment. Arch Neurol. 2001;58:1985-92. Raschetti R, Albanese E, Vanacore N, Maggini M. Cholinesterase inhibitors in mild cognitive impairment: a systematic review of randomised trials. PLoS Med. 2007;4:e338. Scarmeas N, Stern Y, Mayeux R, Manly J, Schupf N, Luchsinger JA. Mediterranean diet and mild cognitive impairment. Arch Neurol. 2009;66:216-25. Sparks DL, Kryscio RJ, Connor DJ, Sabbagh MN, Sparks LM, Lin Y, Liebsack C. Cholesterol and cognitive performance in normal controls and the inuence of elective statin use after conversion to mild cognitive impairment: Results in a clinical trial cohort. Neurodegenerative Dis. 2010;7:183-6. Szekely CA, Green RC, Breitner JC et al. No advantage of A beta 42-lowering NSAIDs for prevention of Alzheimer dementia in six pooled cohort studies. Neurology. 2008;70:2291-8. Thal LJ, Ferris SH, Kirby L et al.; Rofecoxib Protocol 078 study group. A randomized, double-blind, study of rofecoxib in patients with mild cognitive impairment. Neuropsychopharmacology. 2005;30:1204-15. Wagner S, Paulsen S, Bleichner F, Knickenberg RJ, Beutel ME. [Cognitive training in rehabilitation: a program to treat mild cognitive impairment] Z Gerontol Geriatr. 2009;42:479-87. Wilkins CH, Mathews J, Sheline YI. Late life depression with cognitive impairment: evaluation and treatment. Clin Interv Aging. 2009;4:51-7. Winblad B, Gauthier S, Scinto L et al.; GAL-INT-11/18 Study Group. Safety and eűcacy of galantamine in subjects with mild cognitive impairment. Neurology. 2008;70:2024-35. YaŲe K, Weston AL, Blackwell T, Krueger KA. The metabolic syndrome and development of cognitive impairment among older women. Arch Neurol. 2009;66:324-8. 08.07.11 13:28