Biologische Wirkungen ionisierender Strahlung: Grundlagen für den Strahlenschutz und für die Strahlentherapie (Prof. P. Virsik-Köpp) -Ergänzende KurzfassungDas kritische Target für eine strahleninduzierte Schädigung ist die zelluläre DNA. Insgesamt lassen sich folgende Schäden des DNA-Moleküls experimentell nachweisen: 1. DNA-Basenschäden: irreversible Modifikation oder Verlust (Deletion) einer Base des DNA-Moleküls; D = 1 Gy induziert 4000 – 5000 Basenschäden/Zelle 2. Desoxyribose-Veränderungen: D = 1 Gy induziert 800-1500 Veränderungen/Zelle 3. DNA-Einzelstrangbrüche: ein Strang des DNA-Moleküls wird gebrochen D = 1 Gy induziert 1000 Einfachstrangbrüche /Zelle 4. DNA-Doppelstrangbrüche: beide Stränge des DNA-Moleküls sind auf den exakt (bzw. bis zu 3 Nukleotiden versetzt) gegenüber liegenden Stellen gebrochen D = 1 Gy induziert 30 – 60 Doppelstrangbrüche/Zelle 5. DNA-DNA und DNA-Protein-Vernetzungen (crosslinks): D = 1 Gy induziert etwa 150 DNA-Protein-Vernetzungen 6. Multiple (komplexe) Läsionen: mehrere Schäden liegen dicht beieinander, dabei sind vielfältige Kombinationen möglich (clustered damage); diese Schäden werden sehr häufig durch dicht ionisierende Strahlenarten wie z.B. Alpha-Teilchen, induziert. Dicht ionisierende Strahlung (Alpha-Teilchen, Neutronen, schwere Ionen) ist bei gleicher Dosis wirksamer als dünn ionisierende Strahlung (Röntgenstrahlung, schnelle Elektronen). Direkte und indirekte Strahlenwirkung: Die direkte Wirkung einer ionisierenden Strahlung (z.B. Röntgenstrahlung, GammaStrahlung, Alpha- und Beta-Teilchen, Neutronen) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Energieabsorption durch Ionisationen im empfindlichen biologischen Molekül direkt erfolgt. Energieabsorption und biologische Wirkung erfolgen in derselben Struktur. Bei Röntgenstrahlung beträgt der direkte Anteil 30 – 40 %, bei dicht ionisierender Strahlung (Alpha-Teilchen, Neutronen, schwere Ionen) ist dieser Anteil dominierend. Bei der indirekten Wirkung entstehen durch ionisierende Strahlung zunächst freie Wasserradikale und sekundäre Radikalprodukte der Radiolyse wie z.B. Peroxidradikale, insgesamt als reaktive oxidative Spezies (ROS) bezeichnet. ROS diffundieren zu den biologischen Targetmolekülen hin und können sie durch verschiedenen chemische Wechselwirkungen schädigen. Energieabsorption und biologische Wirkung erfolgen in unterschiedlichen Strukturen. Der strahleninduzierte oxidative Stress kann in den Zellen bis zu mehreren Wochen persistieren. Bei Röntgenstrahlung beträgt der indirekte Anteil 60 – 70%. Die Bildung von strahleninduzierten sekundären Wasserradikalen wird in hypoxischen oder anoxischen Zellen die schlecht mit Sauerstoff versorgt werden, stark vermindert. Die indirekte Strahlenwirkung und die damit assoziierte DNA-Schädigung wird dadurch vermindert. Folglich ist die Dosis die benötigt wird um hypoxische Zellen zu töten, 2-3 mal so hoch im Vergleich mit der tödlichen Dosis bei oxischen Zellen (die mit Sauerstoff gut versorgt sind). In diesem Zusammenhang spricht man von einem Sauerstoffeffekt. Die Wirksamkeit und der Erfolg einer strahlentherapeutischen Behandlung können durch Anwesenheit von hypoxischen Tumorzellen gefährdet werden. Eine geschädigte Zelle kann sich zwischen zwei Hauptstrategien entscheiden um auf eine DNA- Schädigung zu reagieren („to die or not to die“): 1. Programmierter Zelltod, Apoptose (bei hohen Dosen auch Nekrose und bei manchen Zelltypen wie z.B. Fibroblasten auch ein permanenter G1-Arrest, die Seneszenz) 2. Zellzyklus-Arrest und Reparatur Die Möglichkeit, den Zellzyklus an Kontrollpunkten (checkpoints) anzuhalten, ist durch die G1-, G1/S-, intra-S-, G2/M- Blockierung verwirklicht. Der Zellzyklus wird zum Zeitpunkt der DNA-Schädigung angehalten und die Zelle hat Zeit für eine entsprechende DNA-Reparatur. Strahleninduzierte DNA-Schäden können in reparaturprofizienten Zellen unter Beteiligung verschiedener Reparaturprozesse innerhalb von wenigen Minuten bis Stunden repariert werden. 1. Basenschäden und Einzelstrangbrüche werden durch ExcisionsreparaturMechanismen (u. a. Basenexcisionsreparatur BER, Nukleotidexcisionsreparatur NER und Mismatch-Reparatur MMR) fehlerfrei innerhalb von wenigen Minuten repariert. 2. Für die Reparatur von Doppelstrangbrüchen stehen u.a. folgende Hauptreparaturmechanismen zur Verfügung: a) Das Nicht-Homologe-Endjoining NHEJ führt eine direkte End-zu-End Verknüpfung der Bruchenden durch; es ist somit nicht fehlerfrei und führt zum Verlust einiger Basenpaare (Mikrodeletionen). Sie findet in der G0/G1-Phase und in der frühen S-Phase des Zellzyklus statt. b) Die Homologe Rekombinationsreparatur HRR führt eine fehlerfreie Reparatur mittels rekombinatorischer Prozesse, und zwar unter Zuhilfenahme des homologen Schwesterchromatid-Moleküls durch. Sie findet deshalb erst in der späten S-Phase oder in der G2-Phase des Zellzyklus statt. Fehlreparatur von Basenschäden oder Einzelstrangbrüchen sowie NHEJ können Mutationen erzeugen. Weitere fehlerhafte Reparaturmöglichkeiten ergeben sich aus einer engen zeitlichen und räumlichen Nachbarschaft von zwei (oder sogar mehreren) DSBs die sich auf derselbem oder auf unterschiedlichen Chromosomen befinden. Durch Ligation von nicht zusammengehörenden DNA-Enden können einfache und komplexe strukturelle Chromosomenaberrationen entstehen. Unreparierte DSBs können sich für die Zelle letal auswirken oder sie können zu Chromosomendeletionen führen, und somit auch zum Verlust von Genen. Fehlerhafte DNA-Reparatur oder Nichtreparatur können also primär zu Mutationen oder strukturellen Chromosomenaberrationen führen. Mutationen können ihrerseits zu maligner Transformation und Tumorentstehung führen. Chromosomenaberrationen können zu maligner Transformation (z.B. durch Onkogenaktivierung als Folge von reziproken Translokationen) oder zu mitotischem Zelltod (der durch Chromosomenaberrationen, z.B. dizentrische Chromosomen via Anaphase-Brücken ausgelöst wird) führen. In vielen soliden Tumoren sind Gene die für den Eintritt der geschädigten Zellen in die Apoptose wichtig sind, mutiert. Deshalb ist die Apoptose-Induktion während einer Tumor-Strahlentherapie weniger wichtig und der größte Anteil der Zellen wird durch den mitotischen Zelltod eliminiert. Die Strahlenreaktion des Gewebes ist von verschiedenen Faktoren abhängig: 1. Die intrinsische Strahlenempfindlichkeit von unterschiedlichen Zelltypen bzw. Geweben/Organen ist variabel. Sie ist genetisch determiniert und kann durch spezifische Mutationen erhöht oder vermindert werden. Sie spielt eine wichtige Rolle sowohl in normalen Zellen als auch in Tumorzellen. Ursächlich hierfür ist u.a. die unterschiedliche Reparaturfähigkeit verschiedener Zelltypen. Auch die meisten Tumorzellen verfügen über DNA-Reparaturmechanismen. Mutationen in DNA-Reparaturgenen sind für Krebsdisposition der betroffenen Personen verantwortlich. Homozygote Mutationen in einem DNA-Reparaturgen führen zu hereditären Krebssyndromen. 2. Die Strahlenempfindlichkeit von Zellen variiert mit ihrer Position im Zellzyklus zum Zeitpunkt der Bestrahlung, wobei Zellen in der Mitose und in der G2-Phase am sensitivsten und Zellen in der G1- und frühen S-Phase am resistentesten sind. Dies gilt generell nur für reparaturprofiziente normale Zellen. 3. Die Strahlenwirkung ist von der zeitlichen Dosisverteilung abhängig. DosisFraktionierung bedeutet die Aufteilung einer Strahlendosis in 2 oder mehrere Einzeldosen im Abstand von einigen Stunden bis Tagen. Sie ermöglicht eine Reparatur in den bestrahlten Zellen (während der Zeitintervalle zwischen einzelnen Dosisfraktionen) und somit eine Abnahme des Gesamteffekts. Die Strahlentherapie nutzt den Fraktionierungseffekt um Normalgewebe zu schonen. Die Strahlenempfindlichkeit der einzelnen Organe variiert relativ stark. Zu den strahlenempfidlichsten Organen gehört die weibliche Brust, das rote Knochenmark, die Schilddrüse, der gastrointestinale Trakt und die Lunge. Die oben beschriebenen biologischen Strahlenwirkungen treten hauptsächlich in bestrahlten Zellen auf, sie können aber auch in unbestrahlten Zellen vorkommen. Solche Wirkungen werden als Bystander-Effekte bezeichnet. Sie sind von der Dosis unabhängig ! Sie werden manifest in unbestrahlten Zellen die: 1. im Kontakt mit bestrahlten Nachbarzellen sind oder 2. von bestrahlten Nachbarzellen gewisse Signale erhalten haben oder 3. im Medium in dem sich vorher die bestrahlten Zellen befanden, kultiviert waren. Die so induzierten de novo Effekte können wiederum Mutationen, Chromosomenaberrationen, Apoptose, maligne Transformation und mitotischer Zelltod sein. Deterministische und stochastische Strahlenwirkungen 1. Deterministische Wirkungen treten nach Bestrahlung mit mittleren und großen Dosen auf, und zwar immer oberhalb einer entsprechenden Schwellendosis. Diese Wirkungen benötigen viele geschädigte Zellen. Sie sind graduiert, d.h. ihr Schweregrad nimmt mit steigender Dosis zu z.B. (Hauterythem, Augenlinsenkatarakt). 2. Stochastische Wirkungen treten nach Bestrahlung mit sehr kleinen und kleinen Dosen mit einer geringen Wahrscheinlichkeit auf. Diese Effekte haben keine Schwellendosis. Diese Effekte können durch eine einzige geschädigte Zelle verursacht werden. Die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens und nicht der Schweregrad ist dosisabhängig. Die stochastischen Effekte in Keimzellen manifestieren sich als genetische Defekte in den nachfolgenden Generationen (genetische Wirkung) und in verschiedenen Organen als Krebserkrankungen der bestrahlten Personen (somatische Wirkung). Der genetischen Wirkung unterliegt die Induktion von Keimzellmutationen und Chromosomenaberrationen in den Keimzellen (in Eizellen, in Spermien und in ihren VorgängerStufen). Sie betreffen die Population Mensch. Die Wirkung von nicht-letalen rezessiven Mutationen kann erst in den nachfolgenden Generationen beobachtet werden. Als Mutationsverdopplungsdosis (0.6 Sv akut oder 1 Sv protrahiert, d.h. über eine längere Zeit verteilt) wird eine Strahlendosis bezeichnet, die ebenso viele Mutationen zusätzlich erzeugt, wie natürlicherweise (Spontanrate) schon entstehen. Der somatischen Wirkung unterliegt die Induktion von maligner Zelltransformation (die als Folge von somatischen Mutationen und Chromosomenaberrationen in den einzelnen bestrahlten Organen auftreten kann) und die zur Entstehung von Krebs (Leukämien, Lymphome und solide Tumoren) führen kann. Die Zelltransformation kann nach heutigem Verständnis durch mehrere Mutationen in derselben Zelle, durch Onkogenaktivierung in Folge von reziproken Translokationen oder durch Aneuploidie (die ihrerseits auf Mutationen in speziellen Genen beruht) verursacht werden. Die Latenzzeit zwischen einer Bestrahlung und der dadurch verursachten Krebserkrankung kann 3 bis 40 Jahre betragen. Es ist kein fingerprint für die strahleninduzierten Krebserkrankungen bekannt. Epidemiologische Studien zum strahlenbedingten Krebsrisiko wurden bei verschiedenen Personengruppen durchgeführt, und zwar bei: Überlebenden der Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki, Patienten, die zur Diagnostik und Therapie bestrahlt wurden, beruflich strahlenexponierte Personen, Bewohnern in der Umgebung kerntechnischer Anlagen. Für genetische Strahlenschäden gibt es keine gesicherten, am Menschen gewonnenen Erkentnisse. Die Abschätzungen des genetischen Strahlenrisikos stammen daher aus tierexperimentellen Untersuchungen. Strahlenschutz Für die Bevölkerung und für beruflich strahlenexponierte Personen sind Dosisgrenzwerte festgelegt, die nicht überschritten werden dürfen. Basierend auf den Daten aus der Kohorte der Überlebenden der Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki sowie Patientengruppen nach medizinischer Strahlenanwendung wurden die absoluten und relativen Krebsrisiken pro Organdosis abgeschätzt. Basierend auf der Forderung dass die Bevölkerung keine signifikanten Folgen und die beruflich exponierten Personen durch ihre Strahlenexposition ein Mortalitätsrisiko 4. Ordnung (Wahrscheinlichkeit 1 : 10.000) erreichen dürfen, darf die effektive Dosis pro Jahr maximal 1 mSv für die Bevölkerung und 20 mSv für beruflich strahlenexponierte Personen betragen. Die maximale Berufslebensdosis (effektive Gesamtdosis) darf maximal 400 mSv betragen. Zum Vergleich: natürliche Strahlenbelastung in Deutschland hat zur Folge eine effektive Dosis von ca. 2,4 bis 3 mSv.