Technischer Fortschritt und menschliche Würde

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Philosophie
Technischer Fortschritt und menschliche Würde
Forschner, Prof. Dr. phil. Maximilian
Deutsches Ärzteblatt 98, Heft 16 vom 20.04.01, Seite A-1039 [THEMEN DER ZEIT]
Die Diskussion um die „Würde des Menschen“ muss unterscheiden
zwischen einem engeren Rechtsbegriff von Würde, die jedem Menschen
zukommt, und einem ethischen Begriff der Würde, der Idealvorstellungen
über menschliches Handeln beinhaltet.
Die wissenschaftliche Arbeit, so Max Weber 1918 in seinem berühmten Vortrag „Wissenschaft
als Beruf“ (1), ist eingespannt in den Ablauf des Fortschritts. Fortschritt ist das Signum
neuzeitlichen Verständnisses von Wissen. Wissenschaftliches Wissen konstituiert sich für die
Neuzeit, spätestens seit Galilei, durch eine Verbindung von Mathematik und kontrollierter
beziehungsweise experimenteller Erfahrung und den Instrumenten, mit denen wir diese
Erfahrung machen. Der Bereich menschlicher Erfahrung hat über die Begrenzungen der
Sinnesorganisation hinaus keine ersichtliche Grenze, und es gibt in ihm nichts, was der
menschlichen Neugierde und dem Forschungsdrang entzogen wäre. Die Logik neuzeitlicher
Wissenschaft zielt demgemäß auf immer neue Entdeckungen, auf das Erweitert-, Überboten-,
und Widerlegtwerden, auf einen Progress des Wissens und Könnens ad infinitum.
Veränderte Einstellung zum Tod
Dieses erfahrungswissenschaftliche Gesetzeswissen, sein Fortschritt und seine Umsetzung in
Technik und immer neue technische Produkte und Verfahren ist im praktischen Handeln des
Alltags bezogen auf die Beseitigung von Not, Krankheit und Leid sowie auf die Erhöhung der
Mittel und Wege, das menschliche Leben erträglicher und angenehmer zu machen. Das haben
alle großen Theoretiker neuzeitlicher Naturwissenschaft und ihrer Forschungslogik mit Nachdruck
betont. Die Erfolge moderner Wissenschaft und Technik sind in dieser Hinsicht eindeutig und
unbestreitbar. Wir nehmen die durch sie vermittelten Güter weitgehend fraglos und gerne in
Anspruch, wenn wir ihrer bedürfen oder zu bedürfen meinen. Aber das ist, wie bei allen ethisch
neutralen Erkenntnissen und Erfindungen, nur die eine Seite der Medaille. Mit jeder
handlungsrelevanten wissenschaftlichen Erkenntnis stellt sich die Frage ihres möglichen
Missbrauchs; mit jeder wissenschaftsgestützten Erfindung eröffnen sich auch Probleme ihrer
Verwendung, ihrer Kosten und Folgelasten. Weber macht in diesem Zusammenhang auf eine
zentrale Folge aufmerksam, die der Rationalisierungsprozess der westlichen Kultur, dem die
Wissenschaft als Glied und Triebkraft mit angehört, nach sich zieht: auf die veränderte
Einstellung zum Tod.
Der Tod, so Weber, ist für den modernen Kulturmenschen keine sinnvolle Erscheinung mehr.
„Und zwar deshalb nicht, weil ja das zivilisierte, in den ,Fortschritt‘, in das Unendliche
hineingestellte einzelne Leben seinem eigenen immanenten Sinn nach kein Ende haben dürfte . .
. Abraham oder irgendein Bauer der alten Zeit starb ,alt und lebensgesättigt‘, weil er im
organischen Kreislauf des Lebens stand, weil sein Leben auch seinem Sinn nach ihm am Abend
seiner Tage gebracht hatte, was es bieten konnte, weil für ihn keine Rätsel, die er zu lösen
wünschte, übrig blieben, und er deshalb ,genug‘ daran haben konnte. Ein Kulturmensch aber,
hineingestellt in die fortwährende Anreicherung der Zivilisation mit Gedanken, Wissen,
Problemen, der kann ,lebensmüde‘ werden, aber nicht: lebensgesättigt. Denn er erhascht von
dem, was das Leben des Geistes stets neu gebiert, ja nur den winzigsten Teil, und immer nur
etwas Vorläufiges, nichts Endgültiges, und deshalb ist der Tod für ihn eine sinnlose
Begebenheit.“ (2) !
Dem vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt getragenen, auf ihn seine Freuden,
Erwartungen und Hoffnungen setzenden menschlichen Leben sind die Möglichkeiten eines
kultivierten Einverständnisses mit dem Unabänderlichen und Hinzunehmenden begrenzt, wenn
nicht gar genommen. Ein menschliches Leben in Würde hat ohne Zweifel, im Sinne einer
Voraussetzung, mit der Befriedigung elementarer Bedürfnisse und Ansprüche zu tun. Wer
hungert, wer dürstet, wer friert, wer ernsthaft krank ist, hat es ähnlich schwer, Würde zu
entwickeln, Würde zu zeigen und zu bewahren wie jener, der von anderen Menschen
bevormundet, geknechtet oder gequält wird. Mit dem Ziel, der Behebung dieser Not zu dienen,
trat die neuzeitliche Wissenschaft an. Aber ein menschliches Leben in Würde hat ganz
wesentlich auch mit einer kultivierten und gelassenen Einstellung zum Tod zu tun. Und dem dient
sie keineswegs.
Das Lebensgesetz des Marktes ist aggressiv
Das Leben des modernen Kulturmenschen vollzieht sich in erheblichem Ausmaß unter dem
Druck vielfältiger Formen von Konkurrenz und unter Gesetzen des Marktes und des
marktbestimmten Gelderwerbs. Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt bedarf heute
enormer finanzieller Investitionen der Gesellschaft und ist an Interessen des nationalen und
internationalen Marktes gebunden, der aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, aus technischem
Können und seinen Produkten Güter macht, für die ein Bedarf besteht beziehungsweise geweckt
werden kann und die sich entsprechend verkaufen lassen. Eine moderne Ökonomie steht unter
dem Diktat Gewinn bringender Tätigkeit und, im Rahmen der Geldwirtschaft, des (prinzipiell)
unbegrenzten Gelderwerbs. Dies führt zum Versuch einer grundsätzlich unbegrenzten
Erweiterung der Bedürfnisse nach Gütern auf jenen Gebieten, die in den Markt hineingenommen
werden und dort eine wichtige Rolle spielen. Das Lebensgesetz des Marktes ist aggressiv; er
nimmt immer mehr Güter des menschlichen Lebens in sich auf. So verdankt sich der neuere
medizinische Fortschritt und seine bemerkenswerte Beschleunigung nicht nur dem motivierenden
Druck von vorhandener Krankheit und Not, sondern gewaltigen privaten und öffentlichen
Investitionen, die auch auf die Weckung von Bedürfnissen zielen. Denn jede medizintechnische
Möglichkeit führt bei entsprechender sozialpsychologischer Aufbereitung zur gesellschaftlichen
Nachfrage, die sich als Krankheit beschreiben lässt. (3)
Man sollte sich für unsere Gegenwart nicht über etwas hinwegtäuschen, was bereits ein
Aristoteles für die perikleische Zivilisation in aller Klarheit diagnostiziert hat: Unsere Form und
Kultur des bedürfnissteigernden Wirtschaftens, in die wir inzwischen in einem weltweiten Netz
eingebunden sind, wird zu einem erheblichen Teil von der Dynamik eines ziellosen
Lebenshungers beziehungsweise eines geistlosen Hedonismus getragen, die die Kräfte der
Politik, der Wissenschaft, der Kultur und Religion, nicht zuletzt über eine neue Vulgär- und
Trivialitäts-Öffentlichkeit der Massenmedien, in ihre Dienste nimmt. Sie tut dies umso leichter, als
die geistige Vitalität der überkommenen Hochreligionen mit ihrem Askesepotenzial schwindet und
auch die Gegenwartsphilosophie keine bemerkenswert kritische Rolle spielt, ja in der mächtigen
Fraktion eines Common-sense-Utilitarismus dazu neigt, den absoluten Wert eines menschlichen
Lebens nach der Summe seiner angenehmen Erlebnisse zu bemessen, ganz gleichgültig, was
diese Erlebnisse zum Inhalt haben. (4)
Die Warnung vor einer zu rücksichtslosen Betreibung wissenschaftlichen Fortschritts, die
Mahnung zur Abstinenz von bestimmten Experimenten, die Kritik am Einsatz bestimmter
Technologien artikuliert sich gegenwärtig bevorzugt in Begriffen der Respektierung der
Menschenwürde und der Achtung vor der Würde der Person. Wenn es etwa um den Sachverhalt
der künstlichen Fortsetzung der Schwangerschaft einer Hirntoten geht, wenn die Möglichkeit des
Klonens von Menschen zur Debatte steht, wenn der Austausch genetischen Materials in der
menschlichen Keimbahn diskutiert wird, wenn experimentelle Forschung an menschlichen
Stammzellen erwogen wird, stets lautet die kritische Frage, ob dieses oder jenes
wissenschaftsgestützte Verfahren mit der Würde der menschlichen Person vereinbar ist. Diese
Frage hat in Deutschland besonderes Gewicht, da Artikel 1 des Grundgesetzes vor dem
Hintergrund der nicht zuletzt von Deutschland verschuldeten politisch-rechtlichen und
moralischen Katastrophen dieses Jahrhunderts das politische Gemeinwesen allem voran auf die
Achtung und den Schutz der Würde des Menschen verpflichtet. Nun ist der Begriff der Würde
höchst interpretationsbedürftig; er ist im gegenwärtigen Gebrauch mehrdeutig, mit viel Pathos
beladen, und hat eine lange, verzweigte, noch dazu ideologisch umstrittene Geschichte. (5) Hier
tut philosophische Klärung Not.
Ein erster Klärungsschritt sollte ein engeres rechtliches von einem weiteren ethischen
Verständnis unterscheiden. Der juridische Begriff der Menschenwürde geht vom Eigenwert aus,
„der dem Menschen um seiner selbst und nicht um anderer Güter und Zwecke willen zukommt“
(6), und findet im System der Grundrechte seine verbindliche Interpretation. (7) Hier handelt es
sich um Würde als ein Attribut, das jedem einzelnen Menschen als Menschen zukommt und das
von anderen Menschen eine Respektierung seines Trägers verlangt, die von seinem
Persönlichkeitsprofil, von seinem Charakter und Verhalten unabhängig ist. Angesprochen ist ein
Minimalbestand von elementaren Rechten des Einzelnen, der über keinerlei staatliche oder
gesellschaftliche Nutzen- oder Schadenerwägungen zur Disposition gestellt werden darf.
Idealvorstellungen bezüglich menschlicher Einstellungen
Der ethische Begriff der Würde des Menschen ist ungleich weiter und damit auch schillernder und
diffuser. Er beinhaltet Idealvorstellungen bezüglich menschlicher Einstellungen, Haltungen und
Handlungen, Idealvorstellungen, die im Allgemeinen besagen, was sich für einen Menschen
aufgrund der ihm von Natur eigenen, ihn auszeichnenden Möglichkeiten im Umgang mit sich, mit
anderen, mit nichtmenschlicher Natur im Sinne einer Vollendung seines Seins zu tun und zu
lassen gebührt. In diesem Sinn sprechen wir einem Menschen nur dann Würde zu, wenn er sein
Mensch- und Personsein in Einstellung, Habitus und Verhalten auf eine näher zu bestimmende,
jedenfalls großartige und eindrucksvolle Weise aktualisiert und bekundet. Während die Würde im
ersten, im rechtlichen Sinn nur konkret verletzt werden kann, indem man handelnd oder
unterlassend das unantastbare Recht eines einzelnen Menschen verletzt, verletzt man im
zweiten Sinn, wenn man „würdelos“ handelt, durch sein Verhalten nicht notwendigerweise das
unantastbare Recht eines Einzelnen, stets aber Abstraktes, nämlich Normen eines Ethos, das
sich an Zielvorstellungen orientiert, wie Menschen als Menschen und Individuen ihre
naturgegebene Anlage zur Persönlichkeit verwirklichen sollten. (8)
Wenn nach einer möglichen Verletzung der Menschenwürde durch ein neues medizinischtechnisches Verfahren gefragt wird, dann ist die Frage zunächst so zu lesen, ob und inwiefern
durch dieses Verfahren das unantastbare Recht eines Einzelnen verletzt wird. Das mag etwa bei
der experimentellen Embryonenforschung zutreffen, wenn das Gesetz dem Embryo selbst bereits
Personenrechte zuschreibt oder wenn man ein Recht der Mutter verletzt. Wenn durch das in
Rede stehende Verfahren kein unantastbares Recht einzelner Menschen verletzt wird, dann mag
man sich gleichwohl noch fragen, ob mit der rechtlichen Freigabe eines solchen Verfahrens
einem Ethos Abbruch geschieht, das wir auf strenge oder lockere Weise mit der „Würde des
Menschen“ im genannten idealen Sinn verbinden.
Natürlich lässt sich, weil sich mit dem Würdebegriff im zweiten Sinn sehr viel Subjektives und
geschichtlich-kulturell Bedingtes verbindet, über Fragen dieser Art trefflich streiten. Gleichwohl
hängen beide Würdebegriffe zusammen. Dem ersten liegt der Gedanke der Anlage zur Vernunft
und Persönlichkeit zugrunde, die von Natur jedem Menschen eignet, und die wir im neuzeitlichen
Rechts- und Verfassungsstaat grundrechtlich geschützt wissen wollen. Im zweiten Würdebegriff
haben wir Formen der gelungenen Verwirklichung dieser Anlage im Auge. Die entscheidende
Frage in diesem Zusammenhang lautet, ob und inwiefern durch Verletzungen der
Würdevorstellungen im ethischen Sinn die Sicherung der Würde im rechtlichen Sinn gefährdet ist.
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten.
Dem Menschen droht der Verlust seiner sittlichen Würde
Die moderne Technik beruht auf der neuzeitlichen exakten Naturwissenschaft. Umgekehrt gilt,
dass die neuzeitliche Naturwissenschaft als experimentelle unlösbar auf technische Apparaturen
verwiesen ist. Die moderne Naturwissenschaft behandelt Wirklichkeit, das, was ist, unter dem
Gesichtspunkt seiner Analysierbarkeit, Berechenbarkeit, Steuerbarkeit und Machbarkeit. Das ist
völlig unbestritten. Damit ist eine Gefahr verbunden; eine Gefahr, die bereits schicksalhafte Züge
angenommen hat, die jedenfalls nicht von Einzelnen durch moralische Entscheidungen zu
bannen ist und der man gesellschaftlich nicht mit Ethikkommissionen beikommen kann. Es ist
eine Gefahr, die man gewiss nicht mit romantischer Technikfeindschaft im Leib beurteilen sollte.
Es ist die Gefahr der Verkehrung der Rolle von Wissenschaft und Technik von einer ehemals
dienenden, heute gewiss unverzichtbaren, in eine unser Leben und Zusammenleben mehr und
mehr beherrschende. Mit der immer dominanteren lebensweltlichen Rolle technischer
Apparaturen, Systeme und Verfahren und dem immer beherrschenderen gesellschaftlichen
Gewicht naturwissenschaftlich-technischer Einstellungen und Kompetenzen droht der Mensch
seine sittliche Würde zu verlieren. Ist doch mit dieser Würde unlösbar verbunden, sich als
Bedürfnis- und Interessenwesen zu übersteigen, zur Welt in ein freies Verhältnis zu treten,
Wirklichkeit als sie selbst zu vernehmen, Natürliches natürlich sein zu lassen, zu respektieren, zu
schützen, zu kultivieren und nicht nur oder dominant unter Gesichtspunkten seiner
Analysierbarkeit, Berechenbarkeit, Manipulierbarkeit, Machbarkeit und Verwertbarkeit zu
betrachten und zu behandeln.
Die mathematisch-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise hat längst auch den Menschen
erfasst und zum Objekt quantifizierbarer Begriffe, kontrollierter Beobachtung und experimenteller
Forschung gemacht. Gegenwärtig dringen Genforschung, Gentechnik und Reproduktionsmedizin
in einer Weise in den Humanbereich vor, die vielen die Würde des Menschen unmittelbar und
substanziell zu betreffen scheint. Doch die Problematik stellt sich hier grundsätzlich nicht anders
als in anderen Bereichen des Lebens auch. Die Entwicklung ist mit positiven Perspektiven der
Diagnose, der Vorbeugung und Heilung von eindeutigen Krankheiten verbunden. Mit der Sache
selbst ist keine unabwendbare substanzielle Gefahr auf der Ebene der grundrechtlich gesicherten
Würde verknüpft. Es lassen sich doch auf nationaler und internationaler Ebene Regelungen
denken und treffen, die den elementaren Rechtsschutz der Einzelnen sicherstellen und die
Anwendung bestimmter wissenschaftlich-technischer Verfahren auf Menschen nach
Gesichtspunkten möglicher Schädigung oder Heilung eng begrenzen oder ächten.
Die Gefahr betrifft vielmehr auch hier, und in einem solch sensiblen Bereich wie dem der
Entstehung des Menschen ganz besonders, primär den ethischen Würdebegriff. Sie besteht
darin, dass wir nun auch das, was wir ehedem selbst von Natur aus waren, immer stärker unter
Gesichtspunkten des Analysierens, Berechnens, Planens, Steuerns und Machens betrachten und
beurteilen werden und dass es bald nicht mehr als abwegig gilt, wenn Kinder ihre Eltern wegen
irgendeines genetisch bedingten und behebbaren Defekts auf Schadenersatz verklagen werden.
Mehr als ein reines Interessen- und Bedürfniswesen
Es ist eine umstrittene Frage, wie stark und ob überhaupt der moderne Grundrechtsgedanke und
seine politisch-juridische Durchsetzung von einem Ethos der Würde abhängig ist, das im
Menschen mehr als ein komplexes Interessen- und Bedürfniswesen sieht, einem Ethos, dem
durch die Voraussetzungen, Ziele und Zwänge globaler Marktmechanismen und durch den
selbsttätigen Imperialismus eines wissenschaftlich-technischen Progresses der Boden eng
gemacht oder gar entzogen wird. Die moderne Kultur wissenschaftlichen Forschens,
wissenschaftsgestützten Informierens und Machens bedient Interessen, darunter auch
elementare Bedürfnisse, ohne deren Befriedigung wir nicht mehr überleben, geschweige denn
angenehm leben könnten.
Doch unübersehbar ist, dass sie auch einen (standesunabhängigen) Vulgärhedonismus bedient
und Infantilisierungstendenzen fördert. Unübersehbar scheint auch, dass dieser gewaltigen
Mittel-Kultur des Informierens, Steuerns und Machens keine vergleichbare Kraft einer öffentlichen
Kultur von überzeugenden selbstwerthaften Zielen des Informierens und Machens entspricht, die
die natürliche oder künstlich erweiterte Bedürfnisebene übersteigen.
Es mag sein, dass der Grundrechtsgedanke realisierbar bleibt, auch wenn die Welt weitgehend
von Menschen erfüllt ist und beherrscht wird, die sich naturalistisch verstehen, die in ihren Zielen
sich vom Tier nur dem Grad oder Raffinement nach unterscheiden und unterscheiden wollen.
Solange dabei noch Raum bleibt für eine Lebenskultur jener, die der alten Idee der Würde
anhängen, könnten diese der Möglichkeit mit Gelassenheit ins Auge sehen. Aber es könnte auch
sein, dass durch das globale Zusammenspiel von wissenschaftlich-technischem Progress und
verbrauchsintensivem massenhaften Banalhedonismus unsere schöne kleine Welt auf Dauer aus
den Fugen gerät und weder würdigem noch weniger würdigem menschlichen Leben Platz
gewährt.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 1039–1042 [Heft 16]
Literatur
1. In: M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 21951, 566–597.
2. Ebd. 578 f.
3. Vgl. H. Hepp: Die extrakorporale Befruchtung – Fortschritt oder Bedrohung des Menschen?, in: G. W. Hunold und W. Korff
(Hrsg.): Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zukunft, München 1986, 259 f.
4. Vgl. dazu W. Lenzen: Liebe, Leben, Tod. Eine moralphilosophische Studie, Stuttgart 1999, 136–148.
5. Vgl. dazu ausführlicher Verf.: Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung, Darmstadt
1998, 91–119.
6. R. Zippelius: Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, München 2 1996, 246.
7. Zippelius, a. a. 0. 248; vgl. Bonner Kommentar. Kommentar zum Bonner Grundgesetz, 57. Lfg. Dez. 1989 (Drittbearb.
Zippelius), 12 ff.
8. Zu dieser Unterscheidung im Gebrauch des Würdebegriffs vgl. D. Birnbacher: Gefährdet die moderne Reproduktionsmedizin
die menschliche Würde?, in: Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und
Selbstmord. Hg. v. A. Leist, Frankfurt 1990, 266–281.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. phil. Maximilian Forschner
Institut für Philosophie der
Universität Erlangen-Nürnberg
Bismarckstraße 1
91054 Erlangen
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