Sozialerund politischerWandel

Werbung
RüdigerSchmitt-Beck . MartinaWasmer
Achim Koch(Hrsg.)
Sozialerund
politischerWandel
in Deutschland
Analysenmit ALLBUS-Daten
aus zwei Jahrzehnten
.
~.
:
.
L
~
... .
.
l~
'
i
.<>
;
'1'>
.
','
".
.'.; ..
VS VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
- Zum Wandel von Einstellungen in West- und
Ostdeutschland Heinz-Herbert Noll und Bernhard Christoph
1. Einleitung
Als klassisches Thema der Soziologie hat soziale Ungleichheit auch in der
modernen, postindustriellen Gesellschaft kaum an Bedeutung und Interesse
verloren, selbst wenn sich die Betrachtungsweisen und Forschungsperspektiven teilweise verändert haben. Fragen der Verteilung von Einkommen, Vermögen und finanziellen Lasten, Armut und Reichtum, aber auch die Chancen
des Erwerbs von Bildungsabschlüssen und des Zugangs zu attraktiven Berufspositionen stehen nach wie vor im Zentrum wissenschaftlicher und politischer
Diskussionen. Dabei geht es nicht zuletzt auch um die Frage, wie viel
Gleichheit möglich und für das gesellschaftliche Wohlergehen zuträglich ist
und wie viel Ungleichheit akzeptabel, erträglich und für Wettbewerb und
Wachstum erforderlich erscheintl. Dass eine ungleiche Verteilung von
Ressourcen und Belohnungen als inakzeptabel, problematisch oder gar anstößig betrachtet wird, ist keineswegs selbstverständlich, sondern nur dann zu
erwarten, wenn sie aus der Sicht der Gesellschaftsmitglieder mit geltenden
Wertvorstellungen (wie z.B. Gleichheitsidealen) oder sozialen Normen (z.B.
Fairnessregeln) kollidiert. Mit anderen Worten: Sowohl in ihrem Ergebnis als
auch den ihr zugrunde liegenden Verteilungsregeln und Reproduktionsmechanismen bedarf soziale Ungleichheit in modernen Gesellschaften der
Legitimation, aber Ungleichheit kann durchaus auch als legitim angesehen
werden, wenngleich das an bestimmte Voraussetzungen geknüpft und
keineswegs selbstverständlich ist.
Die Auffassungen darüber, welche Formen sozialer Ungleichheit in
welchem Ausmaß und unter welchen Umständen als legitim oder inakzeptabel
erscheinen, sind freilich nicht nur selbst dem sozialen Wandel unterworfen,
sondern können auch zwischen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft und erst
recht interkulturell variieren und differieren: ,.People in different positions
(defined by status, race, gender, or other sodal distinctions) will be expected
to react differently to sodal inequalities that affect them" (Kluegel und Smith
Eine neuere Diskussion des Verhältnisses
findet sich z.B. bei Smith (2002).
von Ungleichheit
und ökonomischem
Wachstum
98
Heinz-Herbert Noll / Bernhard Christoph
1986: 11). Dabei ist nicht nur zu vermuten, sondern auch durch viele empirische Untersuchungen bestätigt, dass diejenigen, die das Distributionssystem
begUnstigt, sozialer Ungleichheit positiver gegenUberstehen als diejenigen,
die es benachteiligt. Neben einer derartigen an Eigeninteresse orientierten
gruppenspezifischen Haltung bzw. inter-individuellen Variation in den Einstellungen zur Ungleichheit von Wegener (1992) als ,sekundäre Ideologie'
bezeichnet gibt es offenbar auch eine durch geschichtliche Erfahrungen,
,cultural scripts' oder die politisch-institutionelle Ordnung geprägte gesellschaftsspezifische bzw. -typische Haltung zur Ungleichheit, für die von
Kluegel und Smith (1986) der Begriff der ,dominant ideology' verwendet
-
worden
-
ist. 2
Inwieweit die mit einer bestimmten sozialen Ordnung verbundene Verteilung von GUternund Lebenschancen auf mehr oder weniger privilegierte
Positionen also die Konfigurationen und Prozesse, die auch als Ungleichheitsregime bezeichnet werden als legitim angesehen wird, welche Unterschiede dabei zwischen verschiedenen sozio-ökonomischen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften bestehen und welchen
Trends die Legitimitätsvorstellungen Uberdie Zeit folgen, sind daher Fragen,
die der soziologischen Analyse bedUrfen und letztlich nur empirisch beantwortet werden können.
Einstellungen zu bzw. Wahrnehmungen und Bewertungen von sozialer
Ungleichheit sind aber nicht nur deshalb von soziologischem Interesse, weil
daraus Erkenntnisse Uber die Legitimität und die Legitimationsgrundlagen
ungleicher Verteilungen und damit sozialer Ordnungen insgesamt gewonnen
werden können. Hinzu kommt, dass derartige Einstellungen auch Hinweise
geben, wie die Ungleichheitsstruktur als Ganzes und die eigene Position darin
wahrgenommen und interpretiert werden, und insofern Hintergrundinformationen fUrdas Verständnis des sozialen und politischen Handeins verschiedener Bevölkerungsgruppen liefern können, z.B. der Wahlentscheidungen für
politische Parteien oder der UnterstUtzung wohlfahrtsstaatlicher Reformmaßnahmen. Und schließlich spiegeln sich darin, wie Ungleichheit von der
Bevölkerung betrachtet und bewertet wird, nicht nur die mit sozialen Positionen verbundenen Interessenstandpunkte einzelner gesellschaftlicher Teilgruppen, sondern auch bestimmte Merkmale und Eigenheiten einer Gesellschaft als Ganzes: "Macro properties of societies ... leave their imprints at the
micro level not only as different life chances but also in different explanations
and interpretations of social conditions. ... A central aspect of this is the
question of how individuals view inequality" (Svallfors 1993: 87).
Was hat man sich nun unter Einstellungen zu sozialer Ungleichheit im
Einzelnen vorzustellen? So komplex und vielschichtig die Frage der sozialen
Ungleichheit selbst ist, so vieldimensional sind auch die Einstellungen dazu.
-
2
-
Wegener (1992) spricht in diesem Zusammenhang
von. primärer Ideologie'.
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
99
Gegenstand diesbezüglicher sozialwissenschaftlicher Erhebungsprogramme
und Analysen sind in der Regel verschiedene auf soziale und ökonomische
Ungleichheit bezogene Perzeptionen, Präferenzen, Überzeugungen, Normvorstellungen und Bewertungen. Verschiedene Untersuchungen - z.B.dievon
Sandberger(1994) haben wiederholt gezeigt, dass Ungleichheits-Einstellungen generell entlang einer Achse strukturiert sind, die von kritisch-egalitärer
Ablehnung bis zu affirmativ-legitimierender Zustimmung gegenüber dem in
einer Gesellschaft anzutreffenden Ungleichheitsgefüge reicht. Quer zu dieser
Strukturierung lassen sich verschiedene inhaltliche Einstellungsdimensionen
unterscheiden, wie z.B. gleichheitsbezogene Wertorientierungen und Ideale,
Perzeptionen und Bewertungen von Verteilungen und Ungleichheitsstrukturen, Einstellungen zur Funktionalität von Ungleichheit, Einstellungen zu
Legitimationsprinzipien, Verteilungsnormen und -mechanismen sowie nicht
zuletzt auch Wahrnehmungen und Bewertungen von Mobilitätsprozessen und
des Statuserwerbs.3
Einstellungen zu sozialer Ungleichheit werden in dem vorliegenden Beitrag aus zwei Untersuchungsperspektiven betrachtet und untersucht. Im Vordergrund steht dabei zunächst die Perspektive des sozialen Wandels über den
Zeitraum der vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte, wie sie dem gesamten
Band zugrunde liegt. Aus dieser Perspektive stellt sich insbesondere die
Frage, ob und in welcher Richtung - hin zu kritisch-egalitärer Ablehnung oder
affirmativ-legitimierender Zustimmung sich die verschiedenen Dimensionen
ungleichheitsbezogener Einstellungen der Bevölkerung insgesamt verändert
haben und wie derartige Veränderungen mit einem Wandel faktischer Ungleichheitsstrukturen korrespondieren.
Eine zweite hier angelegte Untersuchungsperspektive ist die Betrachtung
von Unterschieden in den Einstellungen zur Ungleichheit in Ost- und Westdeutschland. Haben sich die im Hinblick auf die Legitimation und Akzeptanz
sozialer Ungleichheit vielfach konstatierten Differenzen zwischen den beiden
Landesteilen im Zuge des Transformations- und Integrationsprozesses, d.h.
auch mit zunehmendem Abstand von der früheren DDR-Gesellschaft, eingeebnet oder erweisen sich diese Einstellungsunterschiede gegenüber den auf
der Ebene von Sozialstruktur und Lebensbedingungen zu beobachtenden
Angleichungstendenzen als resistent und bestehen fort?
Die Diskussion über eine mögliche Erklärung von Unterschieden in den
Wertorientierungen und Einstellungen der Deutschen in Ost und West ist in
den zurückliegenden Jahren insbesondere durch die Gegenüberstellung von
zwei aus unserer Sicht teilweise überstrapazierten - Erklärungsansätzen, der
sogenannten Sozialisationshypothese auf der einen und der Situationshypo-
-
-
-
3
Eine systematische Diskussion verschiedener Dimensionen von Einstellungen zu sozialer
Ungleichheit findet sich u.a. bei Mayer (1975), KluegellSmith (1986) sowie Sandberger
(1994).
100
Heinz-Herbert Noll! Bernhard Christoph
these auf der anderen Seite, geführt worden.4Im Rahmen der Sozialisationshypothese (z.B. Roller 1997) werden die aktuellen Einstellungsdifferenzen
auf Unterschiede in den langfristigen Werthaltungen und Prägungen zurückgeführt, die im Rahmen der beiden früheren deutschen Gesellschaftssysteme
erworben wurden und sich sowohl auf die Wahrnehmungen als auch insbesondere die Bewertungen der vorhandenen Ungleichheitsstrukturen auswirken. In Übereinstimmung mit dieser Hypothese wären zu Beginn des Vereinigungsprozesses ausgeprägte Ost-West-Differenzen in den Einstellungen zu
erwarten gewesen, die sich dann aber mit wachsendem zeitlichen Abstand
zunehmend einebnen müssten. Die Situationshypothese (vgl. z.B. Pollack
1996; Pollack und Pickel 1998) bestreitet dagegen den über Sozialisationsprozesse vermittelten Systemeffekt und betont stattdessen die Auswirkungen
der in den beiden Teilgesellschaften unterschiedlichen spezifischen Lebensumstände auf Einstellungen und Wertorientierungen. Wenngleich aus dieser
Perspektive das EntwickJungsmuster anfänglich großer, aber sich zunehmend
verringernder Ost-West-Differenzen nicht zwangsläufig folgt, wäre dennoch
auch hier zu erwarten, dass Einstellungsunterschiede in dem Maße abgebaut
werden, wie sich Lebensbedingungen und soziale Strukturen angleichen.
Wahrscheinlicher als das Zutreffen der einen oder der anderen Hypothese
erscheint uns allerdings ein Zusammenwirken der beiden dort betonten Effekte. Demnach stellt sich weniger die Frage, ob Unterschiede in den Einstellungen zur Ungleichheit durch die Nachwirkungen der Sozialisation in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen oder durch die aktuellen Verhältnisse
bedingt sind, sondern in welcher Weise und in welchem Umfang die beiden
behaupteten Effekte zur ErkJärung beitragen.
Darüber hinaus handelt es sich sowohl bei der Sozialisations- als auch bei
der Situationshypothese gewissermaßen um Theorien, die Wertorientierungen
und Einstellungen als "Überbauphänomen" der materiellen Verhältnisse
Institutionen, sozialen Strukturen und Lebensbedingungen - betrachten.
Erstaunlich wenig Beachtung in dieser Diskussion finden demgegenüber - von
sozialen Vergleichsprozessen abgesehen sozialpsychologische Mechanismen, wie z.B. Gruppenidentifikationsprozesse, auf deren Bedeutung für die
Erklärung von Einstellungen zur Ungleichheit zum Beispiel Kluegel und
Smith hingewiesen habens, und die angesichts der vielfach festgestellten
gegenseitigen Ressentiments und unterschiedlichen (Ost-West-)Identitäten
gerade auch für die Erklärung von Einstellungsunterschieden in Ost- und
Westdeutschland eine Rolle spielen könnten.
-
-
4
5
Für einen Überblick vgl. Pickel (1998).
"Group identification can lead to two types of affective response which under certain
conditions can influence responses to inequality: identification
or solidarity with an
ingroup and hostility to an outgroup" (KJuegellSmith 1986: 25).
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
101
Die nachfolgenden Analysen sind nicht primär darauf ausgerichtet,
Hypothesen zur Erklärung innerdeutscher Einstellungsdifferenzen, wie sie
hier in aller Kürze skizziert wurden, auf ihre Stichhaltigkeit und Geltung
zu prüfen. Im Vordergrund der Betrachtung steht vielmehr das deskriptive
Interesse an Tendenzen des sozialen Wandels in der Wahrnehmung und Bewertung sozialer Ungleichheit sowie der Entwicklung der diesbezüglichen
Ost-West-Unterschiede, die jedoch im Lichte der dargelegten Hypothesen betrachtet und interpretiert werden.
2. Methodische Vorbemerkungen
Der vorliegende Beitrag stützt sich auf den kumulierten ALLBUS-Datensatz
von 1980 bis 2000 (ZA 1795), der in einigen Fällen um Daten des ZUMABusses von 1976 (ZA 0861) ergänzt wurde. Darüber hinaus werden die
Datensätze 1992 und 1999 (Social Inequality 11 und III) des International
Social Survey Programme (ISSP) (ZA 2310, 3430) sowie an einer Stelle
Angaben aus einer Studie zum Verhältnis der Bevölkerung zur Rechtspflege
aus dem Jahr 1970 verwendet (Kaupen 1972). Auf dieser Datengrundlage
können Veränderungen in den Einstellungen zur sozialen Ungleichheit über
mehr als zwei Jahrzehnte in Westdeutschland und über fast ein Jahrzehnt in
Ostdeutschland beobachtet und analysiert werden. Bei der Berechnung der
Zeitreihendaten auf der Grundlage des kumulierten ALLBUS-Datensatzes
wurde ein Transformationsgewicht verwendet, um Unterschiede im Stichprobendesign zwischen verschiedenen ALLBUS-Erhebungen auszugleichen.6
Einstellungen zur sozialen Ungleichheit wurden im Rahmen des
ALLBUS mehrfach erhoben. Einen thematischen Schwerpunkt bildeten entsprechende Fragen in den Jahren 1984, 1991 und 1994 sowie darüber hinaus
auch in den zusammen mit dem ALLBUS durchgeführten ISSP-Befragungen
von 1992 und 1999.7Einzelne Fragen zu dieser Thematik wurden zudem auch
in anderen Erhebungsjahren bzw. kontinuierlich gestellt. Aufgrund der
Fokussierung dieses Bandes auf die Betrachtung von Tendenzen des sozialen
Wandels werden in den nachfolgenden Analysen möglichst alle vorhandenen
Beobachtungsjahre berücksichtigt.
Wie oben dargelegt, sind die nachfolgenden Analysen primär darauf
angelegt, signifikante Tendenzen des sozialen Wandels im Allgemeinen
sowie darüber hinaus speziell auch Differenzen zwischen den alten und den
6
7
Vgl. auch den Beitrag von A. Koch und M. Wasmer in diesem Band. Nähere Informationen zur Transformationsgewichtung der ALLBUS-Daten finden sich in den CodebUchem
und Methodenberichlen der ALLBUS-Studien sowie unter hltp:/Iwww.gesis.org/
Dauerbeobachlung/ALLBUS/InhaltelFragenlfragen.htm (Fragen 6 und 7).
Die ISSP-Studie 1999 wurde im Jahr 2000 gemeinsam mit dem ALLBUS durchgeführt.
102
Heinz-Herbert Noll / Bernhard Christoph
neuen Bundesländern sowie deren zeitliche Entwicklung zu ermitteln und zu
diagnostizieren. Die Signifikanz der Ost-West-Unterschiede sowie der Veränderungen über die Zeit in den beiden Landesteilen wurde mit einer Serie
von logistischen Regressionsmodellen überprüft, die jeweils Jahreseffekte
und einen Ost-West-Effekt sowie Interaktionseffekte zwischen beiden enthalten. Die betrachteten Differenzen und Entwicklungen wurden durch die
Berechnung mehrerer Modelle mit unterschiedlichen Referenzkategorien für
Beobachtungszeitpunkt und Landesteil und mit den jeweils zugehörigen
Interaktionen überprüft. In einem weiteren Schritt wurde ein standardisierter
Satz soziodemographischer Variablen eingeführt und überprüft, ob sich auch
unter Kontrolle dieser Variablen noch signifikante Unterschiede zwischen den
Landesteilen und Zeitpunkten feststellen lassen und wie sich die Effektstärken
verändern.8Die Ergebnisse der logistischen Regressionen werden als Hintergrundinformation für die Interpretation der zeitlichen Entwicklungen und der
Ost-West-Differenzen verwendet. Auf eine tabellarische Darstellung der
Regressionsergebnisse wurde aus Platzgründen verzichtet. Für die folgenden
Interpretationen gilt, dass nur solche Differenzen und zeitlichen Veränderungen interpretiert werden, die sich im Rahmen dieser Modelle als
signifikant (Signifikanzniveau mindestens p<O,05)erwiesen haben. Andere in
den Grafiken ausgewiesene Differenzen der Prozentverteilungen werden nicht
interpretiert.
3. Wahrnehmung der sozialen Ungleichheit
Soziale Ungleichheit, z.B. in Form von ungleich verteilten Einkommen und
Vermögen, herkunftsspezifischen Bildungschancen oder gar einer ungleichen
Behandlung der Bürger durch die Justiz, gewinnt ihre Bedeutung für das
individuelle Handeln vielfach erst als subjektiv wahrgenommene und interpretierte Ungleichheit. Von der Frage nach der tatsächlichen Verteilung begehrter und geschätzter Güter ist daher analytisch die Frage zu unterscheiden,
wie die Verteilung aus der Sicht der Bürger perzipiert und darüber hinaus bewertet wird. Die subjektiv wahrgenommene Verteilung muss mit der tatsächlichen Verteilung nicht notwendigerweise übereinstimmen, das heißt die faktische Ungleichheit kann in der subjektiven Wahrnehmung ebenso unter- wie
8
Der volle Satz der verwendeten Kontrollvariablen beinhaltet: Geschlecht, Geburtskohorte
(6 Gruppen), Bildung (3 Gruppen), subjektive Schichteinstufung
(3 Gruppen), Vollzeiterwerbstätigkeit, Haushaltsneuoeinkommen
und Selbsteinstufung der politischen Einstellung (IO-stufige Skala von I "Unks" bis 10 "Rechts"). Bei einigen Analysen wurden auf.
grund fehlender Werte zu einem oder mehreren der BeobachtUngszeitpunkte
bestimmte
Kontrollvariablen nicht berücksichtigt. Zur Klassifikation der Variablen sowie der Wahl
der jeweiligen Referenzkategorie vgl. Tabelle I.
103
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
auch überschätzt werden. Ganz im Sinne des sogenannten Thomas-Theorems
- "if men define situations as real, they are real in their consequences" (Thomas und Thomas 1928: 571-572) - ist jedoch auch unabhängig von ihrem
Realitätsgehalt davon auszugehen, dass die subjektiv wahrgenommene Ungleichheit das individuelle Handeln maßgeblich bestimmt.
Soziale Ungleichheit ist ein komplexes Phänomen und umfasst eine Reihe
von verschiedenen Dimensionen. Am unmittelbarsten sichtbar ist soziale
Ungleichheit als ungleiche Verfügung über materielle Ressourcen in Form
von Einkommen und Vermögen. Während sich bei der Vermögensverteilung
nach einer relativ lang andauernden Phase der Reduzierung in jüngster Zeit
wieder ein Trend zur Stabilisierung bzw. Zunahme von Ungleichheiten feststellen lässt (Stein 2001), hat sich die Einkommensungleichheit während der
1990er Jahre in Westdeutschland nur wenig verändert; in Ostdeutschland hat
sie dagegen in Folge der im Anschluss an die deutsche Vereinigung eingetretenen Lohn- und Einkommensdifferenzierung deutlich zugenommen, bleibt
aber in ihrem Ausmaß nach wie vor unter dem westdeutschen Niveau (Goebel
et al. 2002).
Abbildung J:
Wahrnehmung der Einkommensunterschiede als zu groß
1992 und 1999
100
Q)
E
.5
aOr---1
§]
-----
w_ ::J 60---'ON
C.><
::J ."
...
-::JCi)
N
Q)
E
E
g;
...-------
40----
-------
20----
::e
0
0
West
Ost
101992.19991
DATENBASIS: ISSP 1992 UND 1999.
-
104
Heinz-Herbert Noll / Bernhard Christoph
Fragt man danach, wie die Verteilung der Einkommen aus der Sicht der
Bilrger wahrgenommen wird, so zeigt sich, dass eine ilberwältigende Mehrheit der Deutschen der Ansicht ist, die Einkommensunterschiede in der Bundesrepublik seien zu groß.9 In Westdeutschland teilten diese Ansicht zu Beginn der neunziger Jahre 84% der Befragten und in Ostdeutschland mit 98%
praktisch die gesamte Bevölkerung. Allerdings hat sich die kritische Perzeption der bestehenden Einkommensverteilung insbesondere in den alten, aber
auch in den neuen Bundesländern im Laufe der neunziger Jahre abgeschwächt. In Westdeutschland vertraten 1999 noch 76% die Ansicht, dass die
Einkommensunterschiede in Deutschland zu groß seien, in Ostdeutschland
94%. Die Ost-West-Unterschiede in der Haltung zu dieser Frage haben sich
damit im Zuge des Transformationsprozesses nicht verringert, sondern sogar
noch vergrößert.
Ein anderer - ebenfalls zentraler - Aspekt sozialer Ungleichheit ist die
Gleichheit der Bildungschancen. Chancengleichheit im Sinne gleicher Bildungschancen impliziert die Vorstellung, dass eine Ungleichheit der Ergebnisse, z.B. in Form ungleicher Einkommen, zumindest in gewissem Umfang
durchaus gerechtfertigt sein kann, sofern alle Bilrger ilber die gleichen - d.h.
nur durch Begabung und individuelle Fähigkeiten, nicht aber durch finanzielle oder sonstige herkunftsbedingte Zugangsvoraussetzungen limitierte - Ausgangsbedingungen und Startchancen verfUgen.
Wie hier Abbildung 2 dokumentiert, gehen die Auffassungen darilber, ob
in Deutschland gleiche Bildungschancen gegeben sind, d.h. "heute jeder die
Möglichkeit hat, sich ganz nach seiner Begabung und seinen Fähigkeiten
auszubilden", in Ost- und Westdeutschland erheblich auseinander.1OIm Jahre
2000 wurden die Bildungschancen von 59% der Westdeutschen, aber lediglich 24% der Ostdeutschen als gleich angesehen. Im Westen ist seit Mitte der
80er-Jahre zunächst ein deutlicher Anstieg der Zustimmung um fast 15 Prozentpunkte bis zum Jahr 1994 auf damals 64% festzustellen. Damit sind Mitte
der 1990er Jahre fast zwei Drittel der Westdeutschen der Ansicht, dass in der
Bundesrepublik gleiche Bildungschancen existieren. Im Osten hingegen fällt
die Zustimmung bereits 1994 mit 34% deutlich geringer aus, Danach ist dort
eine Abnahme der Zustimmung um 10 Prozentpunkte zu beobachten, so dass
im Jahr 2000 im Osten nur noch ein Viertel der Bevölkerung die Ansicht
9
10
Die genaue Fragestellung lautet: "Die Einkommensunterschiede
in Deutschland sind zu
groß," Zustimmung oder Ablehnung auf einer 5-stufigen Skala von I ("Stimme stark zu")
bis 5 ("Stimme überhaupt nicht zu"). Die Werte I und 2 ("Stimme stark zu" und "Stimme
zu") wurden für die Darstellung zusammengefasst.
Die genaue Fragestellung lautet: "Was meinen Sie: Hat bei uns heute jeder die Möglichkeit, sich ganz nach seiner Begabung und seinen Fähigkeiten auszubilden ?"; Antwortkategorien: "Ja", "Nein",
105
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
teilt, in Deutschland erhalte jeder die Chance auf eine seinen Fähigkeiten
entsprechende Ausbildung. Allerdings ist die Zustimmung zu dieser Ansicht
gleichzeitig auch im Westen um 5 Prozentpunkte gesunken, so dass sich die
Differenz zwischen den beiden Landesteilen nur geringfügig vergrößert hat.
Abbildung 2:
Möglichkeit einer Begabung und Fähigkeiten entsprechenden
Ausbildung fIlrjeden?
100
80
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------64
51 .--
60
Cu
:>
40
'ifl.
20
~
56
=
59
~-------------------------------------
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------24
o
1~1m1~1~1_1~1~1~1m1~1~1~~OO
Jahr
I
DATENBASIS: ALLBUS
West'"
OSII
1980-2000
Die Gleichheit vor dem Gesetz ist eine weitere elementare Dimension sozialer
Gleichheit und Ungleichheit, die im Vergleich zu den anderen hier diskutierten Dimensionen insofern einen Sonderstatus einnimmt, als sie durch
Artikel 3 des Grundgesetzes geschützt ist. Während man insbesondere im
Falle der Einkommensungleichheit durchaus fragen und diskutieren kann, bis
zu welchem Grad Gleichheit für Gedeihen und Wachstum der Wirtschaft
funktional und gesellschaftlich erstrebenswert erscheint bzw. welches Ausmaß an Ungleichheit akzeptabel oder gar erforderlich wäre, ist eine derartige
Überlegung bei der Frage nach der Gleichheit vor dem Gesetz in jedem Falle
inadäquat.
106
Heinz-Herbert Noll / Bernhard Christoph
Abbildung 3:
Wahrnehmung einer ungleichen Behandlung vor Gericht
100
~
~N
~._~.h
h._~
M
,_"_"~_,
- 1970-2000
,,_,_.~,,_.,,,,,,'"
..........
80
0>
0'"
60
1:
,1.1
c: 40
ci
;>
'#.
20
0
1970West
DATENBASIS: ALLBUS
2000 Ost
2000 West
2000 sowie KAUPEN 1972
Umso bemerkenswerter und für das deutsche Rechtssystem wenig schmeichelhaft ist der Befund, dass eine deutliche Mehrheit von 68% der Westdeutschen und sogar 79% der Ostdeutschen die Ansicht vertritt, dass "der
einfache Mann vor Gericht nicht so gut behandelt wird wie die besseren
Leute", und die durch das Grundgesetz garantierte Gleichheit vor dem Gesetz
damit in der Wahrnehmung der Bürger nicht der gesellschaftlichen Realität
entspricht.1lZudem ist im Westen Deutschlands- nur hier liegen entspre-
-
chende Vergleichsdaten für frühere Jahre vor eine deutliche Erosion des
Vertrauens in das Gut der Rechtsgleichheit festzustellen. Waren im Jahr 1970
mit 46% noch weniger als die Hälfte der Befragten der Ansicht, dass es keine
Gleichheit vor dem Gesetz gebe, ist der entsprechende Anteil in den folgenden drei Jahrzehnten auf über zwei Drittel angewachsen.
Insgesamt nehmen die Befragten die Bundesrepublik also als eine zutiefst
ungleiche Gesellschaft wahr: In beiden Landesteilen sind mehr als drei
Viertel der Bevölkerung der Ansicht. die Einkommensunterschiede seien zu
groß, in Westdeutschland ist nur jeder zweite und in Ostdeutschland gar nur
jeder vierte Befragte der Ansicht. hierzulande erhielte jeder die Möglichkeit.
sich ganz nach seiner Begabung und seinen Fähigkeiten auszubilden, und
11
Die Frageformulierung im ALLBUS 2000 lautet: "Glauben Sie, dass vor Gericht der einfache Mann nicht so gut behandelt wird wie die "besseren" Leute?"; Antwortkategorien
"Ja,
nicht so gut" oder "Nein, kein Unterschied",
107
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
mehr als zwei Drittel aller Bürger glauben nicht daran, dass die durch das
Grundgesetz garantierte Gleichheit vor dem Gesetz auch in der Realität gegeben ist.
4. Legitimation und Bewertung der Ungleichheit
Von der Wahrnehmung der verschiedenen Dimensionen von Ungleichheit zu
unterscheiden ist deren Legitimation und Bewertung aus der Sicht der Bürger.
Während es bei der Wahrnehmung der Verteilungsergebnisse und -voraussetzungen darum geht, wie die Funktionsweise und Effekte des ,Ungleichheitsregimes' einer Gesellschaft perzipiert werden, geht es bei der Frage nach
der Legitimation und Bewertung um Verteilungsprinzipien, Verteilungsnormen und die Gerechtigkeit der Verteilungsergebnisse. Dabei ist davon
auszugehen, dass die Frage nach der Legitimation und den Legitimationsprinzipien, aber auch nach der Gerechtigkeit der Verteilungsergebnisse um so
bedeutsamer ist, je ungleicher Ressourcen und Belohnungen in einer Gesellschaft faktisch verteilt sind: " ...if the distribution is very unequal, then the
stakes are much larger and mobility maUers more. The bigger the prizes, the
more important it is that the competition be a fair one" (McMurrer und
Sawhill 1998: 29).
4.1 Legitimationsprinzipien und Verteilungsnormen
Die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Belohnungen ist in modernen
Gesellschaften legitimationsbedürftig, kann aber auf der Grundlage von
unterschiedlichen Prinzipien und mithilfe von unterschiedlichen Mechanismen legitimiert werden. Die heute in den westlichen durch Konkurrenzdemokratie und Marktwirtschaft charakterisierten Gesellschaften zumeist
vorherrschenden Legitimationsprinzipien und -mechanismen sind das
Leistungsprinzip sowie das Postulat der Chancengleichheit (Mayer, Kraus
und Schmidt 1992: 53). Zu den kennzeichnenden Merkmalen dieser Form der
Legitimation sozialer Ungleichheit gehört, dass letztlich die Individuen durch
Qualifikation und Leistung für ihren eigenen Erfolg oder Misserfolg selbst
verantwortlich sind. Voraussetzung dafür ist aber, dass gleiche Startchancen
garantiert werden, das heißt Chancen des Qualifikationserwerbs und der
Leistungserbringung für alle Bürger gleichermaßen gegeben sind. Dieser
Legitimationsmechanismus steht zumindest partiell im Widerspruch zu wohlfahrtsstaatlichen und mehr noch zu sozialistischen Verteilungskonzepten, die
sich auf Bedarfsgesichtspunkte und andere leistungsunspezifische Kriterien
-
-
108
Heinz-Herbert Nolll Bernhard Christoph
stützen und dem Staat weitgehende Rechte, Aufgaben und Verantwortung
auch auf der Ebene der Verteilung der Ergebnisse zuschreiben (Marshall
1997: 215).
Zu den prominentesten Beiträgen der soziologischen Theorie zur Legitimation sozialer Ungleichheit gehört die funktionalistische Schichtungstheorie
(Davis und Moore 1945). Diese Theorie postuliert, dass die verschiedenen
sozialen Rollen und Positionen nicht nur unterschiedliche Anforderungen an
ihre Inhaber stellen, sondern auch für Erhalt und Funktionieren der Gesellschaft von unterschiedlicher Bedeutung sind. Gesellschaften stehen damit vor
dem Problem, Positionen, die einerseits von hoher Wichtigkeit für die Gesellschaft sind und andererseits hohe Qualifikationsanforderungen an die Positionsinhaber stellen, mit geeigneten Personen zu besetzen. Die Lösung des
Problems wird in unterschiedlichen Belohnungen in Form von Einkommen
und Prestige gesehen, die als Anreize für den Erwerb der benötigten Qualifikationen und die Leistungserfüllung fungieren. Die daraus resultierende
soziale Ungleichheit ist aus der Perspektive dieser Theorie daher insoweit
erforderlich und legitim, wie sie ein angemessenes Funktionieren der Gesellschaft garantiert.
Inwieweit die Bürger gegenüber der sozialen Ungleichheit eher eine
affirmativ-legitimierende oder eher eine kritisch-egalitäre Haltung einnehmen,
d.h. sie mehr oder weniger akzeptieren, lässt sich daran ablesen, wie sie
bestimmten Verteilungsnormen und -mechanismen gegenüberstehen. Für die
nachfolgenden Analysen wurden drei Items als Indikatoren ausgewählt, die
dieses Verhältnis thematisieren und für die sowohl in West- als auch in Ostdeutschland mehrere Beobachtungszeitpunkte vorliegen.'2 Wer den vorherrschenden Prinzipien von Leistung und Chancengleichheit bzw. der von der
funktionalistischen Schichtungstheorie postulierten Anreizfunktion von
ungleichen Belohnungen zustimmt, nimmt eine affirmativ-legitimierende Haltung ein, wer sie ablehnt, eine kritisch-egalitäre. Wer dagegen das Leistungsprinzip als alleinigen Verteilungsmechanismus ablehnt und das Bedarfsprinzip mindestens als ergänzendes Kriterium befürwortet, nimmt eine
kritisch-egalitäre Haltung ein, wer diese Position ablehnt, eine affirmativlegitimierende Haltung.
Betrachtet man, wie sich die Zustimmung zu den drei verwendeten Indikatoren im Einzelnen über die Zeit entwickelt und sich zwischen den alten
und neuen Bundesländern unterscheidet, so ist zunächst festzustellen, dass zu
12
Die drei Items lauten: (\) "Nur wenn die Unterschiede im Einkommen und sozialen Ansehen groß genug sind, gibt es auch einen Anreiz rur persönliche Leistung"; (2) "Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel, weil sie im Wesentlichen ausdrücken, was man aus den Chancen, die man hatte, gemacht hat"; (3) "Das Einkommen
sollte sich nicht allein nach der Leistung des Einzelnen richten. Vielmehr sollte jeder das
haben, was er mit seiner Familie rur ein anständiges Leben braucht". Zustimmung und
Ablehnung werden jeweils auf einer Skala yon I ("Stimme yoll zu") bis 4 ("Stimme
überhaupt nicht zu") gemessen.
109
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
jedem Untersuchungszeitpunkt zwischen 1991 und 2000 die ostdeutsche
Bevölkerung deutlich seltener der Ansicht war als die westdeutsche, dass nur
große Einkommens- und Prestigeunterschiede einen adäquaten Anreiz für
persönliche Leistungen bieten (vgl. Abbildung 4). Diese Ansicht teilten im
Jahr 2000 66% der Westdeutschen. aber lediglich 49% der Ostdeutschen.
Während die Zustimmung zu der Auffassung. dass Unterschiede im Einkommen und sozialen Ansehen als Anreiz für persönliche Leistung erforderlich seien, in Westdeutschland in den achtziger Jahren leicht unter 60% gesunken war, lag sie über die gesamten neunziger Jahre jeweils bei knapp zwei
Dritteln der Befragten.13In Ostdeutschland hatte die Zustimmung noch zu
Beginn der neunziger Jahre mit 59% nur knapp unter dem westdeutschen
Wert gelegen, war dann aber im Zuge des Transformationsprozesses bis auf
44% zurückgegangen, so dass sich die Ost-West-Differenz gegenüber dem
Anfang der neunziger Jahre deutlich vergrößert hat.
Abbildllng 4:
Einkommensunterschiede als Leistungsanreiz erforderlich
100
~
80
.5
o
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------64
61---------
=
-g -~60
~N
- Qj
~.c
'5 Q)40
>
Q)
E
E 20
o
~
55
58n___
~
~--- 59.
62
~
44
----------------------------------------------------------
64--.?.?
~-44--.49
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
cf. o
1976 1978
1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000
Jahr
I
West...Ostl
DATENBASIS:ALLBUS 1980-2000, ZUMA-BUS 1976
Entwicklungsmuster wie dieses, d.h. vergleichsweise geringe Unterschiede
zwischen den alten und neuen Bundesländern am Anfang der neunziger Jahre
sowie eine sich daran anschließende Auseinanderentwicklung der beiden
Landesteile. widersprechen zwar der zunächst verbreiteten Hypothese einer
13
Wobei Zustinunung hier wie auch im Folgenden, soweit nicht anders angegeben, sowohl
starke als auch schwache Zustinunung (also die Antwortkategorien I "Stinune voll zu"
sowie 2 "Stinune eher zu") umfasst.
110
Heinz-Herbert NolI / Bernhard Christoph
sukzessiven und schnellen Einebnung der Ost-West-Unterschiede, sind aber
gerade in Bezug auf politische und soziale Einstellungen wiederholt
beobachtet worden. Die Tatsache, dass sich die früheren DDR-Bürger in der
Auffassung, dass Unterschiede im Einkommen und sozialen Ansehen als
Anreiz für persönliche Leistung "erforderlichseien, am Anfang der neunziger
Jahre nur wenig von den westdeutschen Bundesbürgern unterschieden,
entsprach zwar nicht der Erwartung, war aber doch so überraschend auch
nicht, "wenn man bedenkt, dass die geringe Differenzierung der Einkommen
und das weitgehende Fehlen von entsprechenden Leistungsanreizen in der
DDR ein zentraler Gegenstand der Kritik war und darin auch eine der Ursachen für die unzureichende Effektivität der Wirtschaft gesehen wurde"
(NolI und Schuster 1992: 224). Dass sich die Unterschiede im Laufe der Jahre
vielfach nicht nur nicht verringert haben, sondern sogar größer geworden
sind, ist einerseits vermutlich auf spezifische Erfahrungen und enttäuschte
Erwartungen im Zuge des Transformationsprozesses zurückzuführen, darüber
hinaus wohl aber auch auf eine Änderung von Erwartungshaltungen und eine
Verschiebung der Vergleichsmaßstäbe(NoIl1998; Brunner und Walz 1998).
Auch bei dem zweiten hier betrachteten Indikator für die Befürwortung
der dominierenden Legitimationsmechanismen und Verteilungsnormen, der
Frage, inwieweit die Rangunterschiede zwischen den Menschen als akzeptabel angesehen werden, weil sie im Wesentlichen ausdrücken, was man aus
den Chancen, die man hatte, gemacht hat, ist ein ähnliches Entwicklungsmuster zu beobachten (Abbildung 5).
Abbildung 5:
100
Rangunterschiede als Ausdruck von Chancennutzung akzeptabel
-------------------------------------------------------80
C1>
E
"
.E
1i5 -::0
-"C
N
~
c:
-~
N
~-------------------------------------------------------59
--- --- --- --- --- 57 - ------60
60
_
---------------
___ _.
___
.
49
53 _
___
_ 52 ___
C1>
ii
40
~
C1>
E
.E
20+~~~~~~
~~~~~~----
o
?fl.
---
---
--- --- 34 .--
27----
-------------------------------------------------------0
1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000
Jahr
j+West "'Ost I
DATENBASIS:ALLBUS 1980-2000, ZUMA-BUS 1976
111
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
Während die Zustimmung der Westdeutschen Uber den Zeitraum von
1976 bis 2000 keinen klaren Trend aufweist und zwischen einem minimalen
Zustimmungsanteil von 49% im Jahre 1984 und einer maximalen Zustimmungsrate von 60% im Jahre 2000 schwankt, ist in Ostdeutschland zwischen
1991 und 1998 ein RUckgangder Zustimmung von 46 auf 27% und danach
ein Wiederanstieg der Zustimmung auf 45% also in etwa den Ausgangswert - zu beobachten. Auch in diesem Falle haben sich die Einstellungsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland zunächst vergrößert und erst in
der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wieder verringert. Wie eine detailliertere Analyse der ostdeutschen Entwicklung zwischen 1998 und 2000 ergibt,
haben vor allem die jUngste Geburtskohorte der 1974 bis 1981 Geborenen
sowie Personen mit niedriger und mittlerer Schulbildung Uberdurchschnittlich
zum Einstellungswandel der Ostdeutschen am Ende der neunziger Jahre - d.h.
einer zunehmenden BefUrwortung der Ansicht, die Rangunterschiede
zwischen den Menschen seien akzeptabel, weil sie im Wesentlichen die individuelle Nutzung von Chancen dokumentierten - beigetragen.Bei diesen
Gruppen waren die diesbezUglichen zwischen 1998 und 2000 festzustellenden - Einstellungsänderungen jeweils wesentlich ausgeprägter als bei älteren
-
-
Geburtskohorten
und Personen mit höherer Schulbildung.
14
Inwieweit das Leistungsprinzip uneingeschränkt gelten oder sich die
Verteilung auch an Bedarfsgesichtspunkten orientieren sollte, wird an der
Zustimmung zu der Aussage gemessen, "das Einkommen sollte sich nicht
allein nach der Leistung des Einzelnen richten. Vielmehr sollte jeder das
haben, was er mit seiner Familie fUr ein anständiges Leben braucht". Eine
Einschränkung des Leistungsprinzips durch Bedarfsgesichtspunkte befUrworten im Jahre 2000 mit 45% weniger als die Hälfte der westdeutschen und
mit 55% eine leichte Mehrheit der ostdeutschen Befragten (Abbildung 6).
Während sich der Anteil in Westdeutschland über die gesamte Beobachtungsperiode seit 1984 nur wenig verändert hat, ist die Zustimmung zu einer
Einschränkung des Leistungsprinzips in Ostdeutschland in der zweiten Hälfte
der neunziger Jahre deutlich von 42 auf 55% - gestiegen.NachdemsichOstund Westdeutsche zur Überraschung vieler Beobachter in dieser Haltung in
den Jahren 1991 und 1994 nicht unterschieden hatten, gingen die Einstellungen über die Bedeutung von Bedarfsgesichtspunkten als Verteilungskriterium im Jahre 2000 erstmals signifikant auseinander. Damit ist auch in diesem
Aspekt der Einstellungen zur Ungleichheit mit zunehmender Dauer des
-
14
Zu beachten ist dabei allerdings, dass die jUngste Kohone (im Gegensatz zu allen Ubrigen
hier untersuchten)
nicht zu beiden Befragungszeitpunkten
dieselben Gebunsjahrgänge
umfasst. Dies liegt daran. dass die Stichprobe im Jahre 2000 auch Befragte enthält, die
1998 noch nicht das 18. Lebensjahr erreicht hatten und daher nicht in der Grundgesamtheit
enthalten waren.
112
Heinz-Herbert Noll / Bernhard Christoph
Transformations- und Integrationsprozesses nicht die erwartete Angleichung,
sondern erneut das Entwicklungsmuster einer Zunahme der Ost-WestDifferenzen zu beobachten.
Abbildung 6:
Einkommen nicht nur nach Leistung, sondern auch nach Bedarf
der Familie
100
-~
-t---
Ci;
.r::
CI>
CI>
E
E
q.I
"0
c:
---
___
___
___
________
--------------------------------------------------------
20
o
tfi
---
40
CI>
E
.s
---
--------------------------------------------------------
60
""
"
-"
N
o>
80
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------
0
1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000
Jahr
I+west
DATENBASIS: ALLBUS
I
+ Ost
1980-2000
Um zusammenfassend zu untersuchen, wie sich die Einstellungen zur Legitimation sozialer Ungleichheit in der Bundesrepublik seit 1991 entwickelt
haben, wurde für die folgenden Analysen ein einfacher Index durch Berechnung des arithmetischen Mittels der drei verwendeten Einzelindikatoren gebildet, der wie die ursprünglichen Variablen Werte zwischen 1 und 4 annehmen kannl5. Auf der Grundlage dieses Index wurde mittels einer OLSRegression der Einfluss unterschiedlicher soziodemographischer Variablen
auf die Ausprägung affirmativ-legitimierender Einstellungen untersucht und
ermittelt, inwieweit es in Bezug auf die unterschiedlichen soziodemographischen Gruppen signifikante Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen
gibt.
15
Die Variablen wurden jeweils so (um)codiert, dass hohe Werte des Index im Sinne einer
affirmativ-legitimierenden Haltung interpretiert werden können.
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
113
Wie Modell 1 in Tabelle 1 dokumentiert, war die ungleichheitskritische
Haltung der Ostdeutschen im Jahr 1991 nur wenig stärker ausgeprägt als in
Westdeutschland. Der Unterschied zwischen den beiden Landesteilen hat sich
jedoch in den Folgejahren deutlich vergrößert, wobei die Ostdeutschen 1994
und 2000 in deutlich geringerem, die Westdeutschen in etwas stärkerem Umfang eine ungleichheitsbejahende Position eingenommen haben. Nach der
Kontrolle verschiedener soziodemographischer Variablen ergibt sich ein
weitgehend unverändertes Bild. Lediglich der zuvor für das Jahr 1991 festgestellte (geringe) Ost-West-Unterschied erklärt sich aus Differenzen in den
Kontrollvariablen. Frauen, Angehörige der jüngeren Geburtskohorten (außer
den zwischen 1974 und 1981 Geborenen), Befragte mit tertiärer Bildung und
Personen, die sich der Unter- und Arbeiterschicht zuordnen, weisen jeweils
eine geringere Zustimmung zu Ungleichheit legitimierenden Prinzipien und
Normen auf. Personen, die der oberen Mittel- bzw. Oberschicht angehören,
über ein höheres Haushaltseinkommen verfügen, verheiratet sind oder sich
politisch eher als rechts einstufen, tendieren dagegen stärker zu affirmativlegitimierenden Einstellungen gegenüber sozialer Ungleichheit.
Abschließend wird in Modell 3 untersucht, ob die Zugehörigkeit zu bestimmten soziodemographischen Gruppen in Ost- und Westdeutschland
unterschiedliche Auswirkungen auf die Zustimmung zu affirmativ-legitimierenden Einstellungen hat. In der Tat zeigen sich einige charakteristische
Unterschiede. So weisen z.B. die zwischen 1942 und 1966 geborenen Ostdeutschen eine höhere Neigung zu affirmativ-legitimierenden Einstellungen
auf als die vor 1927 geborenen Ostdeutschen, während die entsprechenden
westdeutschen Jahrgänge (wie auch die jüngeren Kohorten) in geringerem
Umfang zu solchen Einstellungen neigen als die älteste westdeutsche
Kohorte. Ähnliches gilt für Ostdeutsche mit tertiärer Bildung oder solche, die
der oberen Mittel- und Oberschicht angehören. Bei alledem ist allerdings zu
berücksichtigen, dass die Ostdeutschen insgesamt gesehen ein vergleichsweise niedriges Zustimmungsniveau zu affirmativ-legitimierenden Haltungen
aufweisen, wie sich an den Effekten der Zugehörigkeit zu Ostdeutschland
sowie den Ost/Jahr-Interaktionen ablesen lässt.
Insgesamt tendieren die Westdeutschen vor allem am Ende der hier betrachteten Beobachtungsperiode im Hinblick auf die vorherrschenden Legitimationsprinzipien und Verteilungsnormen stärker zu affirmativ-legitimierenden und weniger zu kritisch-egalitären Haltungen als ihre ostdeutschen
Landsleute: Abgesehen von den geringfügig niedrigeren Zustimmungswerten
während der 1980er-Jahre stimmten seit 1991 über 60% einer positiven
Anreizfunktion von Einkommensunterschieden zu, und immer noch deutlich
mehr als jeder Zweite war der Ansicht, die Rangunterschiede in der Gesellschaft seien als Ausdruck einer legitimen Chancennutzung akzeptabel. Für
eine bedarfsorientierte Verteilung der Einkommen fand sich in Westdeutschland zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit.
114
Heinz-Herbert Noll / Bernhard Christoph
Tabelle 1: OLS-Regression: Index für affirmativ-legitimierende Einstellungen
Mf'
i.60f"*'
Konstante
Jahr (Referenz:
~2
"-2A92
1991)
1994
2000
Ost
Ost 1994
Ost 2000
Frau
Geburtskohorte
(Referenz: vor 1927)
1927-1941
1942-1956
1957-1966
1967-1973
1974-1981
Bildung (Referenz: Niedrige
BildunglCasmin I)'
Mittlere Bildung (Casmin 2)
Hohe Bildung (Casmin 3)
Subjektive Schichteinstufung
(Referenz: Mittelschicht)
Unter- und Arbeiterschicht
Obere Mittel- u. Oberschicht
Haushaltsnettoeinkonunen
Links-Rechts
0.113 **'"
0.131 **'"
0.032
-0.257 **'"
0.101 "''''*
0.121 **'"
-0.081 **
-0.236 *"'*
-0.257 *"'*
-0.288 **'"
-0.103 "'**
-0.054 *
0.111 "'**
0.134 "'*'"
-0.099
*
-0.260 ***
-0.306 ***
-0.100 *"''''
-0.142 "'**
-0.045
-0.140 ***
-0.191 ***
-0.169 ***
-0.205
-0.068
-0.115 '"
-0.010
-0.098 "'**
-0.049 *
-0.160 "'**
-0.131 ***
0.077 "''''
-0.144 ***
0.064 '"
-0.097 **'"
0.00002"'''''''
0.043 "'**
0.068 **'"
-0.030 "'**
Verheiratet
HH-Größe
M3.............-....-...-.
23.sir..;;;.;;;............
Geburtskohorte Ostdeutschland
(Referenz: vor 1927, Ost)
1927-1941 (Ost)
1942-1956 (Ost)
1957..1966 (Ost)
1967-1973 (Ost)
1974-1981 (Ost)
Bildung (Referenz: Niedrige
Bildung, Ost)
Mittlere Bildung (Ost)
Hohe Bildung (Ost)
Subjektive Schichteinstufung
(Referenz: Mittelschicht, Ost)
Unter- und Arbeiterschicht
(Ost)
Obere Mittel- und Oberschicht
0.00003
***
**'"
0.042 **'"
0.064 "'**
-0.033 **'"
-0.016
0.101 '"
0.130 '"
0.104
0.142
0.072
0.148 **
0.036
0.193 '"
N
7114
ß~
Q,Q47
7114
,
9.,.!.Q~
7114
,
9,)..1.7..................
DATENBASIS:ALLBUS1980-2000
"'''''''= p< .001 "''''= p< .01 '" = p< .05
I Bei der CASMIN-Bildungsklassifikation handelt es sich um eine Kombination von allgemeinen und beruflichen Bildungsabschlüssen. Zu den Einzelheiten der Klassifikation
vgl. Brauns und Steinmann (1997)
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
115
Was die ostdeutsche Bevölkerung angeht, sind insbesondere zwei Befunde festzuhalten: Erstens tendieren Ostdeutsche zu allen Erhebungszeitpunkten in wesentlich geringerem Ausmaß als ihre westdeutschen MitbUrger
dazu, einem Begründungsschema zuzustimmen, demzufolge Ungleichheit als
Leistungsanreiz erforderlich sei und sich in den faktischen Verteilungsergebnissen Unterschiede in der Wahrnehmung von Chancen widerspiegeln.
Gleichzeitig votieren die Ostdeutschen zumindest im Jahr 2000 in deutlich
stärkerem Umfang für die Berücksichtigung von Bedarfsgesichtspunkten als
Verteilungskriterium.
Bemerkenswert erscheint zudem vor allem, dass die Unterschiede in den
hier diskutierten Haltungen zur ökonomischen und sozialen Ungleichheit
zwischen Ost- und Westdeutschen im Wesentlichen auf einen Einstellungswandel in der ostdeutschen Bevölkerung zurückzuführen sind. Anders als
zunächst vielfach erwartet, führte die Entwicklung häufig nicht zu einer Angleichung an die westdeutschen Muster, sondern ganz im Gegenteil zu einer
Verstärkung der Ost-West-Unterschiede im Zuge des Transformations- und
Vereinigungsprozesses. Welchen Anteil dabei die Erfahrung von durch
unterschiedliche Leistungen vielfach nicht gerechtfertigten Entlohnungs- und
Rangunterschieden zwischen den alten und den neuen Bundesländern hat, ist
in diesem Zusammenhang eine Frage, über die sich auf der Grundlage der
hier verwendeten Daten jedoch allenfalls mutmaßen lässt.
4.2 Verteilungsgerechtigkeit
Neben der Haltung zu Legitimationsprinzipien und Verteilungsnormen, wie
sie im letzten Abschnitt diskutiert wurden, ist für die Frage nach der Akzeptanz der gesellschaftlichen Verhältnisse vor allem auch von Bedeutung, ob
die Bevölkerung die perzipierte Verteilung von Ressourcen und Belohnungen
als gerecht bewertet. Bei der subjektiven Bewertung der Verteilungsgerechtigkeit ist eine Makro- und eine Mikroperspektive zu unterscheiden:
Aus der Makroperspektive betrachtet, geht es darum zu bewerten, ob und
inwieweit die Verteilung insgesamt als gerecht angesehen werden kann.
Davon unabhängig stellt sich aus der Mikroperspektive die Frage, ob und
inwieweit die Befragten ihren eigenen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand als gerecht betrachten. Auch wenn kaum zu erwarten ist, dass Personen,
die der Ansicht sind, einen zu geringen Anteil am gesellschaftlichen
Wohlstand zu erhalten, die Verteilung insgesamt als gerecht bewerten, erscheint es andererseits durchaus denkbar, dass die Verteilung des Wohlstands
insgesamt als ungerecht angesehen wird, auch wenn man seinen eigenen Anteil daran als gerecht beurteilt.
116
Heinz-Herbert NoH/ Bernhard Christoph
Wie Abbildung 7 verdeutlicht, sind die Ost-West-Unterschiede in der
Bewertung der Verteilungsgerechtigkeit eklatant: 2000 betrachteten 47% der
westdeutschen Befragten gegenüber lediglich 18% der ostdeutschen die "sozialen Unterschiede in unserem Land" als gerecht.16
-
Abbildung 7: Soziale Unterschiede sind gerecht % Zustimmung
100
80
.64
Q)
E
E
~
-
-------------------------------------------------------+-------------------------------------------------------___
47
-",
N
"C
~
-~
~
N
Q)
E
.E
o'#.
________
48
42
c:: Q)
g
___
-----------------
60
45 _
__ 47
---
--- -__
40
201---
---
---
---
---
---
~
o
1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988
12
1990 1992 1994 1996 1998 2000
Jahr
I+West "'Ost
DATENBASIS: ALLBUS
1980-2000;
ZUMA-BUS
I
1976
In Ostdeutschland hatte der Anteil in den Vorjahren
- mit einem Minimum
von 10% 1998-sogarnochunterdiesemWertgelegenund warerst amEnde
der neunziger Jahre leicht angestiegen. Die ausgeprägten Ost-WestUnterschiede in der Bewertung der Verteilungsgerechtigkeit mögen unter
anderem auch darauf zurückzuführen sein, dass die nach wie vor bestehenden
Ungleichheiten zwischen den alten und neuen Bundesländern in Ostdeutschland größere Aufmerksamkeit finden und stärker in die Bewertung einbezogen werden. Bemerkenswert ist aber auch die längerfristige Entwicklung der
Bewertung der Verteilungsgerechtigkeit in Westdeutschland, wo der Anteil
derjenigen, die die sozialen Unterschiede als gerecht bewerten, seit 1976
dem Beginn der Beobachtungsperiode von damals noch 64% mit geringen
Schwankungen auf zwischenzeitlich 34% im Jahre 1998 zurückgegangen ist
-
16
-
Die genaue Fragestellung lautete: ..Ich finde die sozialen Unterschiede in unserem Land im
Großen und Ganzen gerecht." Ausgewiesen ist der Anteil derer, die voll bzw. eher zustinunen.
117
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
und insofern eine Tendenz zur Delegitimierung der sozialen Ungleichheit zu
beobachten war. Auch hier hatte sich erst am Ende der neunziger Jahre die
subjektive Beurteilung der Verteilungsgerechtigkeit wieder positiv entwickelt.
Alles in allem ist die Ost-West-Differenz in der Beurteilung der Verteilungsgerechtigkeit jedoch am Ende der Beobachtungsperiode im Jahr 2000 nicht
geringer als 1991.
-
Abbildung 8:
-
-
Subjektive Verteilungsgerechtigkeit % weniger als gerechten
Anteil 17
100
-+--
80
---
---
---
---
---
---
-----83 ----81 ----
---------------
----
~
60 ~
-63
63-------
--------------------------------------------------------
---
40
---
----------34
20 +
28
~
------- ----
---
---
--- -----
-----------..
30
- V 34
--27---~
32
--------------------------------------------------------
31
.
o
1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000
Jahr
,
DATENBASIS: ALLBUS
West
... OstI
1980-2000
Auch bei der Beurteilung der Verteilungsgerechtigkeit aus der Mikroperspektive unterscheiden sich die Deutschen in Ost und West nach wie vor
beträchtlich: Im Jahr 2000 glaubten 31% der Westdeutschen, aber 63% der
Ostdeutschen weniger als den ihnen gerechterweise zustehenden Anteil an
dem zu erhalten, was die Gesellschaft an Ressourcen und Belohnungen zu
verteilen hat. Wie Abbildung 8 zeigt, hat sich diese Beurteilung in Westdeutschland
über den gesamten Zeitraum
-
seit 1980
.
von geringfügigen
Schwankungen abgesehen kaum verändert und bleibt im Zeitverlauf weitgehend stabil. Der Anteil qerjenigen, die glauben, weniger als ihren gerechten
Anteil an Wohlstand und Lebenschancen zu erhalten bzw. nicht in dem ihnen
zustehenden Maße am allgemeinen Lebensstandard zu partizipieren, lag hier
17
Die Fragestellung lautet: ,,1m Vergleich dazu, wie andere hier in Deutschland leben:
Glauben Sie, dass Sie Ihren gerechten Anteil erhalten, mehr als Ihren gerechten Anteil,
etwas weniger oder sehr viel weniger?"
118
Heinz-Herbert Noll / Bernhard Christoph
auch in den frUheren Beobachtungsjahren jeweils bei rund einem Drittel der
Befragten. Während in Ostdeutschland zu Beginn der neunziger Jahre noch
mehr als 80% aller Befragten Uberzeugt waren, weniger als den ihnen
gerechterweise zustehenden Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand zu
erhalten, ist dieser Anteil in der Mitte der neunziger Jahre auf rund zwei
Drittel zurUckgegangen.Der Anteil ist seitdem nicht weiter gesunken und hat
sich auf diesem nach wie vor hohen Niveau stabilisiert. Der Mitte der
neunziger Jahre zu beobachtende RUckgang des Anteils derjenigen, die
glauben, weniger als ihren gerechten Anteil zu erhalten, betraf alle
gesellschaftlichen Gruppen, war aber bei Befragten mit einem hohen Bildungsniveau (Uni/FH) und solchen, die sich mit der Mittel- bzw. der oberen
Mittel-/Oberschicht identifizieren, d.h. statushohen Personen, die sich im
Transformationsprozess erfolgreich behaupten konnten, besonders ausgeprägt.
5. Wahrnehmung und Bewertung des Statuserwerbs
Die Legitimität und Akzeptanz sozialer Ungleichheit hängt in modernen Gesellschaften insbesondere auch davon ab, über welche Mechanismen Personen mehr oder weniger vorteilhaften Positionen zugeordnet werden und wie
die Prozesse der Statuszuweisung bzw. des Statuserwerbs von der Bevölkerung wahrgenommen und bewertet werden. Soziale Ungleichheit scheint in
modernen marktwirtschaftlichen Demokratien nur in dem Maße legitim und
akzeptabel zu sein, wie der Zugang zu den statushohen und hinsichtlich ihrer
Ausstattung mit Ressourcen und Belohnungen privilegierten Positionen auf
der Grundlage von allgemein anerkannten, universalistischen Kriterien, d.h.
insbesondere individueller Leistung und positiv bewerteten individuellen
Fähigkeiten und Begabungen, erfolgt. Als nicht legitim gilt in modernen Gesellschaften dagegen ein Zugang zu attraktiven sozialen Positionen bzw. wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erfolg, der auf zugeschriebene Merkmale
wie soziale Herkunft, auf leistungsunspezifische Faktoren wie Zufall und
GlUck,auf ,Beziehungen' als Mechanismus der sozialen Schließung oder gar
auf illegale Mittel, wie z.B. Korruption, gegrUndetist.
Gemessen wurde die Wahrnehmung und Legitimität des Statuserwerbs im
Rahmen des ALLBUS anhand der Frage, auf welche Faktoren Erfolg zurückgeführt wird und welche Vorstellungen in der Bevölkerung darüber bestehen,
119
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
"wie man in unserer Gesellschaft am ehesten nach oben kommt",lS Die vorgegebenen Faktoren können nach ihrem Bezug zu individuellen Leistungen
und Fähigkeiten klassifiziert werden und repräsentieren damit mehr oder
weniger legitime Mittel und Wege zum Erfolg,19Eine derartige Klassifikation
der verwendeten Items in legitime und illegitime Erfolgsfaktoren hat sich auf
der Grundlage faktorenanalytischer Untersuchungen auch empirisch wiederholt bestätigt.
Tabelle 2: Mittel und Wege zu gesellschaftlichem Erfolg (% ,wichtig' und ,sehr
wichtig')
West
Differenz
2000-1991
West
Ost
Ost
1984
1991
2000
1991
2000
97
98
98
97
95
96
97
96
98
96
96
95
95
95
95
95
97
95
94
93
67
59
72
52
64
85
63
59
81
57
51
87
66
61
75
77
53
LegitimeMittel
(Aus-)Bildung
Initiative, Durchsetzungsvermögen
Leistung, Fleiß
Intelligenz
Neutrale Mittel
Zufall, GlUck
lllegitime Mittel
Beziehungen, Protektion
Geld, Vermögen
Herkunft, Familie
Opportunismus,
Rücksichtslosigkeit
Politische Betätigung
Bestechung, KorruptionI
46
44
54
37
40
19
46
28
I
1: 0
- 1
.
2
.
2
1: 0
:t 0
.
3
+13
+12
91
82
68
+ 6
+ 9
+10
+16
+ 5
+15
47
60
+10
+13
36
20
45
40
+ 6
+ 9
+ 9
+20
I
I
I
.
2
I 1984 nicht erhoben
DATENBASIS:ALLBUS 1980-2000
Der auffälligste Befund der Betrachtung des zeitlichen Wandels ist die
deutlich gestiegene Bedeutung, die illegitimen Mitteln als Weg zum Erfolg in
der deutschen Gesellschaft zugeschrieben wird (Tabelle 2), Im Vergleich zu
1991 hat der Bevölkerungsanteil, der die vorgegebenen illegitimen Mittel als
wichtig betrachtet. um in unserer Gesellschaft nach oben zu kommen, in
18
19
Die Fragestellung lautet: "Wie konunt man in unserer Gesellschaft am ehesten nach oben?
Beurteilen Sie bitte die Wichtigkeit der Eigenschaften und Umstände auf diesen Karten.
Bitte sagen Sie mir zu jeder Aussage, wie wichtig dieses Ihrer Meinung nach für den Auf.
stieg in unserer Gesellschaft gegenwärtig ist." FUr die Antwortvorgaben vgl. Tabelle 2.
Zum Entstehungskontext
und theoretischen Hintergrund dieses Erhebungsinstruments
vgl.
Mayer (1975).
120
Heinz-Herbert Noll / Bernhard Christoph
Westdeutschland um bis zu 10 und in Ostdeutschland sogar um bis zu 20
Prozentpunkte zugenommen. Besonders ausgeprägt ist die Zunahme in beiden
Landesteilen in Bezug auf die Bedeutung von sozialer Herkunft, Opportunismus und Korruption. Bei diesen Faktoren liegt der Zuwachs bei rund 10
Prozentpunkten in Westdeutschland und zwischen 13 und 20 Prozentpunkten
in Ostdeutschland. Dort betrachteten im Jahre 2000 91% der Befragten
Beziehungen und Protektion, 82% Geld und Vermögen, 68% die soziale
Herkunft, 60% Opportunismus und Rücksichtslosigkeit und immerhin noch
40% Bestechung und Korruption als wichtig für den Erfolg in dieser
Gesellschaft. In Westdeutschland wird den illegitimen Faktoren insgesamt
eine etwas geringere Bedeutung beigemessen, aber auch hier sehen 87% in
Beziehungen und Protektion, 66% in Geld und Vermögen, 61% in der
sozialen Herkunft, 54% in Opportunismus und Rücksichtslosigkeit und 28%
in Bestechung und Korruption wichtige Mittel und Wege, um in der
Gesellschaft voran zu kommen.
Auch wenn den legitimen Mitteln und Wegen zum Erfolg wie Leistung,
Bildung, Begabung und fleiß aus der Sicht der Bürger nach wie vor die
größte Bedeutung beigemessen wird und diesbezüglich auch nur geringfügige
Rückgänge zu beobachten sind, deuten die vorliegenden Befunde insgesamt
doch tendenziell auf eine Delegitimierung der Prozesse des Statuserwerbs in
der Bundesrepublik Deutschland hin. Das gilt vor allem für Ostdeutschland,
aber auch für Westdeutschland, wo bis 1991 eine rückläufige Bedeutung der
illegitimen Faktoren zu beobachten war und deren Bedeutungszunahme in
den neunziger Jahren daher besonders bemerkenswert ist. Die Frage, ob es
sich bei dieser Entwicklung um eine Trendwende handelt, kann allerdings
aufgrund der wenigen Messzeitpunkte derzeit nicht eindeutig beantwortet
werden. Erst weitere Beobachtungen werden zeigen, ob es sich bei den dargelegten Entwicklungen um eine generelle Tendenz handelt oder ob der festgestellte Bedeutungsgewinn illegitimer Erfolgsfaktoren mit besonderen Umständen in einer der Beobachtungsperioden zusammenhängt.2o
Auch die Frage, auf welche Umstände die in den neunziger Jahren zu beobachtende Bedeutungszunahme illegitimer Mittel und Wege zum Erfolg in
der Perzeption der Bürger zurückzuführen ist, kann derzeit noch nicht abschließend beantwortet werden. Es liegt nahe zu vermuten, dass für den besonders ausgeprägten Bedeutungsgewinn illegitimer Faktoren in Ostdeutschland auch Erfahrungen und entstandene Ressentiments im Zusammenhang mit
dem Transformationsprozess eine Rolle gespielt haben könnten. Dazu zählt
wohl auch die Beobachtung, dass die Besetzung der begehrten statushohen
Positionen insbesondere unter den speziellen Bedingungen der "durcheinander gewirbelten Sozialstruktur" Ostdeutschlands nicht immer von Leistung
und Qualifikation allein bestimmt war.
-
20
Nicht völlig auszuschließen ist beispielsweise
Beurteilungen der Befragten im Jahr 2000.
-
ein Einfluss der CDU-Spendenaffare
auf die
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
121
6. Fazit
Versucht man aus den Ergebnissen der Analysen zum Wandel der Einstellungen zu sozialer Ungleichheit ein Fazit zu ziehen, so ist zunächst festzustellen,
dass die Entwicklung über die Zeit keinem einheitlichen, an allen Indikatoren
gleichermaßen abzulesenden Trend folgt. Die zentrale Frage, ob soziale Ungleichheit im Zeitverlauf zunehmend akzeptiert und als angemessen und
legitim angesehen wird oder aber an Akzeptanz und Legitimation verliert,
kann daher nicht eindeutig beantwortet werden. Während z.B. die Auffassung, dass die Einkommensunterschiede in Deutschland zu groß seien, eine
leicht rückläufige Tendenz aufweist, nehmen andererseits die Zweifel zu, dass
hierzulande jede/r eine ihren/seinen Begabungen und Fähigkeiten entsprechende Ausbildung erhalten könne. Eine Tendenz hin zu affirmativ-legitimierenden Einstellungen zeigt sich am ehesten im Hinblick auf die Befürwortung von ,funktionalistischen' Legitimationsprinzipien und Verteilungsnormen.
Die Funktion von Ungleichheit als Leistungsanreiz sowie die Auffassung,
gesellschaftliche Rangunterschiede seien durch differentielle Wahrnehmung
von gleichen Chancen legitimiert, erfahren nicht nur in Westdeutschland,
sondern am Ende der neunziger Jahre auch in Ostdeutschland wachsende
Zustimmung. Eine derartige Entwicklung entspricht gewissermaßen auch den
gesellschaftspolitischen Tendenzen einer zunehmenden Liberalisierung von
Märkten, der Förderung von Wettbewerb in den verschiedensten Bereichen
und des Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. In Frage gestellt wird das
Bild einer gestiegenen Akzeptanz sozialer Ungleichheit auf der Grundlage
von Leistung und Qualifikation andererseits vor allem durch den Befund einer
Delegitimation des Statuszuweisungsprozesses in den Augen der Bevölkerung, d.h. der im Verlauf der neunziger Jahre gestiegenen Relevanz, die
illegitimen Mitteln und Wegen zugeschrieben wird, wenn es darum geht, in
dieser Gesellschaft erfolgreich zu sein.
Die von vielen Beobachtern geteilte Erwartung einer raschen Annäherung
und Anpassung der stärker egalitären Werten verpflichteten, soziale Ungleichheit kritischer wahrnehmenden und bewertenden Sicht der ostdeutschen
Bevölkerung an die der westdeutschen hat sich überwiegend nicht erfüllt. Zu
beobachten ist vielmehr häufig ein Entwicklungsmuster sich zumindest zeitweilig - in unterschiedlichen
Phasen des Transformationsprozesses
- vergrö-
ßernder oder jedoch gleichbleibender Unterschiede. Nur bei wenigen Indikatoren - z.B. bezüglich der Bewertung der Verteilungsgerechtigkeit - haben
sich die Einstellungen gegenüber der sozialen Ungleichheit im Zeitverlauf
nennenswert angenähert, obwohl die Niveauunterschiede auch in diesen Fäl-
122
Heinz-Herbert Noll / Bernhard Christoph
len zumeist noch beträchtlich sind. Sofern eine Verringerung der Ost-WestDifferenzen in der Form einer Annäherung der Einstellungen der ostdeutschen Bevölkerung an die der westdeutschen stattgefunden hat, wird sie allem
Anschein nach in erster Linie von den Bevölkerungsteilen getragen, die sich
im Zuge des Transformationsprozesses in höheren Einkommenspositionen
und Statusgruppen platzieren konnten, darüber hinaus aber auch von den
nachwachsenden Generationen, die die DDR nicht mehr als Erwachsene erlebt haben. Das gilt vor allem dann, wenn die Angleichung wie bei einigen
Indikatoren zu beobachten am Ende der neunziger Jahre stattgefunden hat.
-
-
Tabelle3: ZeitlicheEntwicklungenundOst-West-Differenzen
im Überblick(in
Prozentpunktdifferenzen)
Wahrnehmung sozialer
Ungleichheit
Einkommensunterschiede
zu groß
Entwicklung
West1
Entwicklung
Ostl
Entwicklung
Differenz I
Differenz
(Ost-West)
in 2000
-8
-4
+4
+ 182
Ausbildung nach Begabung
u. F'ahigkeitenrur jeden
Ungleiche Behandlung
vor Gericht
-5
- 10
+5
- 35
(+ 22)3
keine Daten
keine Daten
+11
Legitimation u. Bewertung
J'ozialer Ungleichheit
Einkommensunterschiede
als Anreiz erforderlich
=(n.s.)
- 10
+ 12
- 17
+7
=(n.s.)
+8
- 15
=(n.s.)
+6
+7
+ 10
=(n.s.)
=(n.s.)
-4
- 29
+4
- 20
- 24
- 32
Rangunterschiede Ausdruck
von Chancennutzung
Einkommen auch nach
Bedarf
Ve rte ilung sge rechtig ke it
Soziale Unterschiede
sind gerecht
Erhalte weniger als
gerechten Anteil
Wahrnehmung u. Bewertung
der Statuszuweisung
Legitime Mittel
Illegitime Mittel
=(n.s.)
+ 6 bis + 10
::::
(- 2 bis- 3)4
+ 5 bis + 20
::::
(- I bis + 2) - 3 bis (n.s.)5
-4 bis +
II
(n.s.) bis + 164
I Beginn der Beobachtungsperiode: Erstes Jahr, in dem für das Item sowohl Werte für
West als auch fUr Ost vorliegen (Ld.R. 1991-1994); Ende der Beobachtungsperiode:
Letztes Jahr, in dem Werte vorliegen (Ld.R. 1999 oder 2000). Ausgewiesen ist die
Entwicklung des Differenzbetrags unabhängig von der Richtung der Differenz.
2 in ISSP 1999.
3 Vergleichswerte: 1970 und 2000.
4 Nicht bei allen Items sind die Unterschiede signifikant.
5 Nur bei einem Item signifikante Differenz.
123
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
TabeIle 3 fasst nochmals in einer Übersicht zusammen, wie sich die OstWest-Differenzen für die verwendeten Indikatoren am Ende der Beobachtungsperiode darsteIlen und welche Entwicklungen gegenüber dem Beginn
der Beobachtungsperiode in West- und Ostdeutschland sowie hinsichtlich der
Ost-West-Differenz festzustelIen sind.
Das Muster überwiegend persistenter, wenn nicht sogar sich vergrößernder Ost-West-Unterschiede, wie auch die teilweise zu beobachtenden Anpassungsprozesse können weder mithilfe der Sozialisations- noch anhand der
Situationshypothese allein schlüssig erklärt werden. Obwohl einzelne Elemente der Entwicklung durchaus als Sozialisationseffekte wie auch als Situationseffekte zu erklären sein mögen, ist die vielfach zu beobachtende Vergrößerung der Einstellungsunterschiede mit beiden Hypothesen nur schwer zu
vereinbaren. Manches spricht daher für die Vermutung, dass diese rur die
meisten Beobachter überraschende - Entwicklung u.a. auch auf Gruppenidentifikationsprozesse insbesondere innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung
zurückzuführen ist, deren Dynamik sich erst im Laufe des Transformationsund Vereinigungsprozesses entfaltet hat: Ostdeutsche Identitäts- und Solidaritätsgefühle einerseits und Abgrenzungstendenzen gegenüber dem von vielen
als Hegemon empfundenen Westdeutschland andererseits scheinen gerade im
FalIe der EinsteIlungen gegenüber sozialer Ungleichheit zu einer Verhärtung,
wenn nicht sogar Verstärkung ungleichheitskritischer Haltungen beigetragen
zu haben.
-
Literatur
Brauns, H., S. Steinmann, 1997, Educational Reform in France, West-Germany, the
United Kingdom and Hungary. Updating the CASMIN Educational Classijication. Mannheim: MZES Working Papers Nr. 21.
Brunner, W., D. Walz, 1998, Die Selbstidentitikation der Ostdeutschen 1990-1997.
Warum sich die Ostdeutschen zwar als BUrger 2. Klasse fUhlen, wir aber nicht
auf die innere Mauer treffen. In: H. Meulemann (Hg.), Werte und nationale
Identität im vereinten Deutschland. Erklärungsansätze der Umfrageforschung.
Opladen: Leske+Budrich, 229-250.
Davis, K., W. E. Moore, 1945, Some Principles of Stratitication. In: American Sodological Review, 10,242-249.
Goebel, J., R. Habich, P. Krause, 2002, Einkommensverteilung und Armut. In: Statistisches Bundesamt in Zusammenarbeit mit WZB und ZUMA (Hg.), Datenreport
2002. Bonn: Bundeszentrale rur politische Bildung, 582-596.
124
Heinz-Herbert NoH/ Bernhard Christoph
Kaupen, W., 1972, Das Verhältnis der Bevölkerung zur Rechtspflege. In: M.
Rehbinder, H. Schelsky (Hg.), Zur Effektivität des Rechts. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag, 555-563.
Kluegel, J. R., E. R. Smith, 1986, Beliefs About Inequality. New York: Aldine de
Gruyter.
Marshali, G., 1997, Repositioning Class. Sodal Inequality in Industrial Sodeties.
London: Sage.
Mayer, K. U., 1975, Ungleichheit und Mobilität im sozialen Bewusstsein. Opladen:
Westdeutscher Verlag.
Mayer, K. U., V. Kraus, P. Schmidt, 1992, Opportunity and Inequality: Exploratory
Analyses of the Structure of Attitudes toward Stratification in West Germany. In:
F. C. Turner (Hg.), Sodal Mobility and Political Attitudes. New Brunswick,
London: Transaction Publishers, 5I-78.
McMurrer, D. P., I. V. Sawhill, 1998, Getting Ahead. Economic and Sodal Mobility
in America. Washington D.C.: The Urban Institute Press.
Noll, H.-H., 1998, Wahrnehmung und Rechtfertigung sozialer Ungleichheit
1991-1996. In: H. Meulemann (Hg.), Werte und nationale Identität im vereinten
Deutschland: Erklärungsansätze der Umfrageforschung. Opladen: Leske+
Budrich, 61-84.
Noll, H.-H., F. Schuster, 1992, Soziale Schichtung und Wahrnehmung Sozialer Ungleichheit im Ost-West-Vergleich. In: W. Glatzer, H.-H. NoH (Hg.), Lebensverhälmisse in Deutschland: Ungleichheit und Angleichung. Frankfurt, New York:
Campus Verlag, 209-230.
Pickel, G., 1998, Eine ostdeutsche ..Sonder"-mentalität acht Jahre nach der Vereinigung? Fazit einer Diskussion um Sozialisation und Situation. In: S. Pickel, G.
Pickel, D. Walz (Hg.), Politische Einheit - kultureller Zwiespalt? Die Erklärung
politischerund demokratischerEinstellungenin Ostdeutschland vor der Bundestagswahll998. Frankfurt et al.: Peter Lang, 157-177.
Pollack, D., 1996, Sozialstruktureller Wandel, Institutionentransfer und die Langsamkeit der Individuen. Untersuchungen zu den Transformationsprozessen in der
Kölner Zeitschrift fllr Soziologie und Sozialpsychologie, der Zeitschrift für
Soziologie und der sozialen Welt. In: Soziologische Revue, 19/4,412-429.
Pollack, D., G. Pickel, 1998, Die ostdeutsche Identität Erbe des DDR-Sozialismus
oder Produkt der Wiedervereinigung? Die Einstellungen der Ostdeutschen zu
sozialer Ungleichheit und Demokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte,
41-42,9.23.
Roller, E., 1997, Sozialpolitische Orientierungen nach der deutschen Vereinigung. In:
O. W. Gabriel (Hg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland. Opladen: Leske+Budrich, 115-146.
Sandberger, J.-U., 1994, Soziale Legitimation versus Delegitimation Zur Struktur
und Verteilung von Orientierungen gegenüber sozialer Ungleichheit. In: H.
Peisert, W. Zapf (Hg.), Gesellschaft, Demokratie und Lebenschancen. Festschrift
für Ralf Dahrendorf. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 355-367.
Smith, M. R., 2002, Income Inequality and Economic Growth in Rich Countries: A
Reconsideration of the Evidence. In: Current Sodology, 50 (4), 573-593.
-
-
Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit
125
Stein, H., 2001, Trend zur abnehmenden Konzentration der Vermögen scheint
gestoppt. Analysen zur Vermögensverteilung in Deutschland. In: Informationsdienst Soziale Indikatoren (ISI), 25, 1-4.
Svallfors, S., 1993, Policy Regimes and Attitudes to Inequaiity: A Comparison of
Three European Nations. In: Th. Boje, S. E. Olsson (Hg.), Scandinavia in a New
Europe. Oslo: Scandinavian University Press, 87-133.
Thomas, W. 1., D. S. Thomas, 1928, The Child in America: Behavior Problems and
Programs. New York: Alfred A. Knopf.
Wegener, B., 1992, Gerechtigkeitsforschung und Legitimationsnormen. In: Zeitschrift
für Soziologie, 4, 269-283.
Herunterladen