Swiss Medical Forum 36/2016

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SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer
Swiss
Medical Forum
36 7. 9. 2016
739 E. Holsboer-Trachsler,
J. Hättenschwiler, J. Beck, et al.
Erhaltungstherapie und
Rezidivprophylaxe unipolarer
depressiver Störungen
744 M. Anastasiou,
O. Lamy, C. Ribi, et al.
Wenn sich eine Diagnose
hinter einer anderen ver­
steckt
748 S. Wyden,
C. von Garnier, M. Koch
Ungewöhnliche okkulte
bronchiale Fremdkörper­
aspiration
With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly”
733 A. Ambresin, I. Mantel
Altersbedingte
Makulade generation
Offizielles Fortbildungsorgan der FMH
Organe officiel de la FMH pour la formation continue
Bollettino ufficiale per la formazione della FMH
Organ da perfecziunament uffizial da la FMH
www.medicalforum.ch
INHALTSVERZEICHNIS
729
Redaktion
Beratende Redaktoren
Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Prof. Dr. Stefano Bassetti,
Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Dr. Pierre Périat, Basel;
Basel; Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj, Basel (Managing editor);
Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal
Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern;
Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds; Prof. Dr. Gérard
Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern
Advisory Board
Dr. Sebastian Carballo, Genève; Dr. Daniel Franzen, Zürich;
Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds;
Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne;
Dr. Sven Streit, Bern
Und anderswo …?
A. de Torrenté
732 Weibliches Sexualverlangen: ein lukratives Geschäft?
Übersichtsartikel AIM
A. Ambresin, I. Mantel
Altersbedingte Makuladegeneration
733
Die altersbedingte Makuladegeneration ist in den Industriestaaten eine der häufigsten
Ursachen für Sehbeeinträchtigung. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Fortschritte
im Bereich der Pathogenese, bei den Diagnosemethoden und in der Behandlung erzielt.
Richtlinien
E. Holsboer-Trachsler, J. Hättenschwiler, J. Beck, S. Brand, U. M. Hemmeter, M. E. Keck, S. Rennhard, M. Hatzinger, M. Merlo,
G. Bondolfi, M. Preisig, A. Gehret, D. Bielinski, E. Seifritz
739 Erhaltungstherapie und Rezidiv prophylaxe unipolarer depressiver Störungen
Diese Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression und der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie wurden in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie auf der Grundlage der Leitlinien der «World Federation of Societies of Biological Psychiatry» und der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde erstellt.
Was ist Ihre Diagnose?
M. Anastasiou, O. Lamy, C. Ribi, P. Zufferey, F. Gianinazzi, M. Benmachiche
744 Wenn sich eine Diagnose hinter einer anderen versteckt
Ein 53-jähriger Patient mit bekannter, seit 2010 unbehandelter rheumatoider Arthritis und aktiver Raucher mit 30 pack years
weist retrosternale Schmerzen auf, die seit zwölf Stunden bestehen und progressiven Charakter aufweisen.
Das Roman-Debüt von Tanja Kummer
Tanja Kummer
¡ SICHER IST SICHER
IST SICHER
Roman
2015. Geb., 220 Seiten
ISBN 978-3-7296-0897-9
CHF / EUR 32.–
Zytglogge Verlag
«Sicher ist sicher …», denkt Martina Ortolfi ziemlich oft und schaut, dass immer alle Herdschalter ausgeschaltet, Türen abgeschlossen
und die Mahlzeiten mit Handschuhen angerichtet sind. Die junge Buchhändlerin, Mutter und Ehefrau möchte alles richtig machen,
wären da nur nicht ihre Ängste, die immer grösser werden.
Eine rasante Geschichte über Kontrollzwänge und die Anforderungen der Gegenwart. Präzise, poetisch und lakonisch.
Endlich, der erste Roman von Tanja Kummer ist da!
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Tel. +41 (0)61 278 95 77 | Fax +41 55 418 89 19 | [email protected]
INHALTSVERZEICHNIS
730
Fallberichte
S. Wyden, C. von Garnier, M. Koch
Ungewöhnliche okkulte bronchiale Fremdkörperaspiration
748
Ein 64-jähriger Patient wurde uns zur weiteren Abklärung eines linksseitigen Pleuraergusses in die
Sprechstunde zugewiesen. Bei diesem Patienten wurde im Jahr 2004 ein Plattenepithelkarzinom
des Hypopharynx operativ mit totaler Laryngektomie, partieller Pharyngektomie, Thyroidektomie
rechts und neck-dissection behandelt. In den letzten Monaten kam es zu vermehrter Dyspnoe
sowie vermehrtem Abhusten von Sekret über das Tracheostoma.
Leserbriefe
P. Arnold, A. Rossetti, V. Alvarez, G. Di Virgilio, M. Maeder, J. Novy, V. Rey-Bataillard, P. Temperli, P. Ryvlin
751 Epilepsie et l’aptitude à conduire
Extended abstracts from SMW
Arisdörfer Dorfleben in den zwanziger Jahren
Myrtha Kuni
Septemberträume
Dorfgeschichte(n) von
anno 1920
2015. 211 Seiten, 3 Abbildungen.
Gebunden.
sFr. 28.– / ¤ (D) 23.50.– /
¤ (A) 24.ISBN 978-3-03784-069-6
«Septemberträume» versteht es meisterhaft, die Leser in die Zeit der 1920er Jahre in der ländlichen Schweiz zu
entführen. Die Geschichte handelt von zwei jungen Bauern und ihrer Freundschaft, von Fritz, der das Kunstschaffen
entdeckt, und von Albert und seiner Liebe zu Barbara, die durch die standesgeprägten Forderungen der Familien
verunmöglicht wird.
Der Roman erzählt von einer kurzen Zeit des Aufbruchs und Aufbegehrens im engen dörflichen Umfeld. Glück und
Schmerz, Traditionsglaube und Freiheitsdrang zeigt die Autorin in dichtem Wechselspiel. Myrtha Kuni entwickelt in
geschickt verwobenen Strängen eine Arisdörfer Geschichte, die auf tatsächlichen Begebenheiten beruht.
Verlag Johannes Petri | Steinentorstrasse 13 | CH-4010 Basel
Tel. +41 (0)61 467 85 75 | Fax +41 (0)61 467 85 76 | [email protected]
Ve r l a g J o h a n n e s P e t r i
Impressum
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Schweizerisches Medizin-Forum
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und der Schweizerischen Gesellschaft
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Redaktionsassistentin SMF,
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elektronische Ausgabe: 1424-4020
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(EMH), 2016. Das Swiss Medical Forum
ist eine Open-Access-Publikation
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Dosierungen, Indikationen und Applikationsformen, vor allem von Neuzulassungen, sollten in jedem Fall mit
den Fachinformationen der verwendeten Medikamente verglichen werden.
Herstellung: Schwabe AG, Muttenz,
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New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 752.
UND ANDERSWO …?
732
Und anderswo …?
Antoine de Torrenté
Weibliches Sexualverlangen:
ein lukratives Geschäft?
GRADE­Systems beurteilt. Primäre Endpunkte
waren die monatliche Zahl der befriedigenden
sexuellen Interaktionen, die Intensität des
sexuellen Verlangens sowie der weibliche Se­
xualfunktionsindex (Female Sexual Function
Index, FSFI). Bezüglich der Sicherheit wurden
Schwindel, Somnolenz, Übelkeit und Müdig­
keit analysiert.
Fragestellung
10–40% aller Frauen leiden an einer sogenann­
ten «hypoaktiven Sexualfunktionsstörung»
(Hypoactive Sexual Desire Disorder, HSDD).
Bis dato gab es kein Medikament, das spezi­
fisch gegen HSDD wirkt. Durch Dopamin und
Noradrenalin soll das sexuelle Verlangen ge­
steigert, durch Serotonin verringert werden.
Flibanserin wirkt auf bestimmte Serotonin­
rezeptoren und wurde ursprünglich als Anti­
depressivum entwickelt. Nachdem es sich bei
dieser Indikation als wirkungslos erwiesen
hatte, wurde es in ein Mittel zur Steigerung
des weiblichen Sexualverlangens «recycelt».
Nach einigem Hin und Her wurde der Wirk­
stoff schliesslich von der FDA zugelassen.
Resultate
In die ausgewählten Studien waren fast
6000 Frauen eingeschlossen. Die Behandlung
(100 mg Flibanserin pro Tag) führte im Durch­
schnitt zu 0,5 befriedigenden sexuellen Inter­
aktionen mehr und einer Zunahme von
0,3 Punkten gemäss FSFI auf einer Skala von
0–5. Die Risk Ratio war: 4 (Schwindel), 4 (Som­
nolenz), 2,35 (Übelkeit) und 1,64 (Müdigkeit).
Diese Zahlen sind signifikant.
Methode
In der Metaanalyse wurden 5 veröffentlichte
und 3 unveröffentlichte Studien aus 592 Arbei­
ten zum Thema analysiert. Sie waren rando­
misiert, doppelblind sowie plazebokontrol­
liert und betrafen prä­ und postmenopausale
Frauen. Alle Frauen waren heterosexuell und
lebten in einer stabilen Paarbeziehung. Die
Endpunkte wurden anhand des validierten
Kommentar
Die Geschichte dieses Wirkstoffs ist ein typi­
sches Beispiel für die Macht von Pharmalob­
bys. Im Jahr 2004 hatte Boehringer Ingelheim
die Zulassung bei HSDD beantragt. Da die
Nebenwirkungen schwer und die Wirksamkeit
sehr gering waren, lehnte die FDA die Markt­
zulassung ab. Daraufhin verkaufte Boehringer
die Rechte für 1 Milliarde an Sprout Pharma­
Aliskiren bei Herzinsuffizienz?
Eine randomisierte Studie an 7000 Patienten
mit Herzinsuffizienz der NYHA­Klasse II–IV
und einer Ejektionsfraktion ≤35% erhielten
entweder Aliskiren allein, Aliskiren + Enalap­
ril oder Enalapril allein. Nach einem 36,6­mo­
natigen Follow­up variierten die Spitalein­
weisungen aufgrund von HI von 35–33% ohne
Unterschiede zwischen den 3 Gruppen. Bei der
Kombinationsbehandlung traten häufiger
Hypotonie, Hyperkaliämie und Niereninsuffi­
zienz auf. ACE­Hemmer bleiben auch weiter­
hin das Mittel der Wahl …
McMurray JJ, et al. NEJM. 2016;374(16):1521–32.
die Diskrepanz zwischen arm und reich zu. Bei
den oberen 5% war die Lebenserwartung um
3 Jahre gestiegen, während sie bei den unteren
5% gleich blieb. Die grössten Auswirkungen auf
die Lebenserwartung hatte das Verhalten und
nicht die medizinische Versorgung. Ärmere
Menschen sind weniger gebildet, rauchen mehr
und sind weniger körperlich aktiv. Da hilft
nur, immer und immer wieder aufzuklären …
Chetty R, et al. JAMA. 2016;315(16):1750–66.
Lebenserwartung und Sozialstatus
In den USA hat eine Untersuchung der Lebens­
erwartung im Verhältnis zum Einkommen
mit 40 Jahren beunruhigende Zahlen ergeben,
die wahrscheinlich auf andere Gesellschaften
übertragbar sind. Die Lebenserwartung nimmt
mit steigendem Einkommen kontinuierlich zu.
Im Vergleich zum 1% der Männer mit dem nied­
rigsten Einkommen lebt das 1% der Männer mit
dem höchsten Einkommen 15 Jahre und das der
Frauen 10 Jahre länger. Von 2000–2004 nahm
Metformin und Niereninsuffizienz
Es ist bekannt, dass (das vom Markt genom­
mene) Phenformin bei niereninsuffizienten
Patienten zu tödlichen Laktatazidosen führen
kann. Dies gilt in geringerem Masse auch für
Metformin. Nun hat die FDA neue Empfehlun­
gen formuliert: (1.) Vor einer Metforminver­
schreibung und danach mindestens einmal
jährlich ist die glomeruläre Filtrationsrate zu
ermitteln. (2.) Bei einer GFR von <30 ml/
min/1,73 m 2 ist Metformin kontraindiziert
und bei einer GFR von 30–45 ml/min/1,73 m2
darf die Behandlung nicht begonnen werden.
(3.) Bei Patienten mit einer GFR von 30–60 ml/
min/1,73 m2, anamnestisch bekannter Leber­,
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(36):732
ceuticals, die im Jahr 2013 erneut die Zulassung
bei der FDA beantragten. Da die Wirksamkeits­
kriterien anhand eines nicht validierten
Scores und die Nebenwirkungen, insbesondere
beim Konsum von Alkohol zusammen mit
Flibanserin, als schwer beurteilt wurden,
wurde die Zulassung des Wirkstoffs erneut ab­
gelehnt (Sprout hatte eine Studie an 23 Män­
nern (!) durchgeführt: der Konsum von 2
Alkoholeinheiten mit Flibanserin hatte zwei
schwere Hypotonieepisoden zur Folge; auch
die Wechselwirkung mit CYP3A4­Inhibitoren
wie z.B. Fluconazol verursachte schwere Hy­
potonie). Infolgedessen startete Sprout zu­
sammen mit Interessenverbänden und Frau­
envereinigungen eine intensive Werbekam­
pagne bei Journalisten, Senat und FDA. Diese
gab schliesslich nach und liess den Wirkstoff
entgegen dem Anraten der Kliniker, jedoch
mit dem Einverständnis der Leiter der klini­
schen Abteilungen und der Abteilungen für
klinische Pharmakologie zu. So funktioniert
es, gefährliche Wirkstoffe mit minimalem
Nutzen auf den Markt zu bringen. Die Krö­
nung: eine Black­Box­Warnung auf der Ver­
packung, die vor der Gefahr des Alkoholkon­
sums zusammen mit Flibanserin warnt. Wer
das Geld hat, hat wie immer die Macht …
Jaspers L et al. JAMA Intern Med. 2016;176:453.
Alkoholerkrankung oder Herzinsuffizienz
muss die Metforminbehandlung vor oder bei
einer Kontrastmitteluntersuchung abgesetzt
werden. Wichtige Empfehlungen für einen
häufig verschriebenen Wirkstoff …
Physician’s First Watch April 11, 2016, nach FDA
MedWatch safety alert vom 8. April 2016.
Aspirin® zur Primärprävention
Die U.S. Preventive Services Task Force hat
Empfehlungen zur Primärprävention mit
Aspirin® erstellt. Bei 50–60­jährigen Erwach­
senen ist gering dosiertes Aspirin zur Präven­
tion kardiovaskulärer Ereignisse und von
Kolorektalkarzinomen indiziert, wenn das kar­
diovaskuläre 10­Jahres­Risiko bei 10% liegt,
das Blutungsrisiko gering ist und die Lebens­
erwartung 10 oder mehr Jahre beträgt. Bei
60–69­jährigen Patienten muss die Aspirin­
Einnahme individuell entschieden werden.
Bezüglich >60­ und <50­jährigen Patienten
gibt es keine zuverlässigen Daten.
Bibbins-Domingo K, et al. Ann Intern Med.
2016;164(12):836–45.
ÜBERSICHTSARTIKEL AIM
733
Aktuelle Diagnose- und Behandlungsmethoden
Altersbedingte
Makuladegeneration
PD Dr. med. Aude Ambresin, PD Dr. med. Irmela Mantel
Département d’ophtalmologie, Université Lausanne, Hôpital ophtalmique Jules Gonin, Fondation Asile des aveugles, Lausanne
Die altersbedingte Makuladegeneration ist in den Industriestaaten eine der häufigsten Ursachen für Sehbeeinträchtigung. In den letzten Jahren wurden zahlreiche
Fortschritte im Bereich der Pathogenese, bei den Diagnosemethoden und in der
Behandlung erzielt.
Einleitung
Die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) kann
sich bei einer ophthalmoskopischen Untersuchung ab
der fünften Dekade offenbaren. Die Prävalenz nimmt
mit dem Alter zu: In der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen
leiden 0,8% an einer fortgeschrittenen Form mit Visusminderung, in der Gruppe der 75- bis 84-Jährigen 3,7%
und in der Gruppe der über 85-Jährigen 30% [1].
Die Pathogenese der AMD ist zwar noch nicht vollständig geklärt, hängt jedoch von mehreren Faktoren
ab. Die Risikofaktoren sind konstitutionell (Genetik)
oder umweltbedingt (etwa Tabakrauchen) [2].
Bei der Progression einer AMD werden ein Früh- und
ein Spätstadium unterschieden, das wiederum in eine
atrophe und eine feuchte Form eingeteilt wird. Im
Frühstadium zeigt der Patient oftmals keine Symptome, und die Diagnose wird erst bei einer Ophthalmoskopie gestellt. Der Patient könnte fesstellen, dass er
die Kontraste verstärken muss, etwa indem er beim
Lesen eine intensivere Beleuchtung verwendet, oder es
fällt ihm typischerweise schwerer, sich an abrupte Helligkeitswechsel anzupassen, etwa beim Einfahren in
Aude Ambresin
die ihn im Alltag, besonders bei präzisen Tätigkeiten
einen Autobahntunnel. Dieses Frühstadium kommt in
wie Lesen und Schreiben, aber auch im gesellschaft-
der Bevölkerung ungefähr dreimal häufiger vor als die
lichen Leben beeinträchtigt. Dies kann dazu führen,
Spätform und entwickelt sich nicht in jedem Fall zu
dass der Betroffene nicht mehr Auto fahren kann und
einem fortgeschrittenen Stadium.
Gesichter kaum mehr erkennt, was als besonders
Im fortgeschrittenen Stadium der AMD ist die trockene
belastend empfunden wird. Die Angehörigen können
(atrophe) Form durch einen progressiven Schwund der
sich diese Sehschwierigkeiten oftmals nur schwer vor-
Netzhautzellen und des darunterliegenden Pigmente-
stellen. Nach fachmännischer Beratung können den
pithels (Abb. 1) gekennzeichnet, die feuchte Form durch
Patienten Hilfsmittel vorgeschlagen werden, etwa
neovaskuläre Komplikationen (Abb. 2).
Lupenbrillen, Handlupen, Bildschirmlesegeräte und
Derzeit stehen nur für die feuchte Form, zu der etwa
Wohnungsanpassungen.
zwei Drittel der Spätformen der AMD zählen, wirk-
Die Betroffenen neigen dazu, sich sozial zurückzu-
same Behandlungsmöglichkeiten zur Verbesserung
ziehen, wodurch das Risiko von Depressionen und all-
der Sehschärfe zur Verfügung.
gemeiner sensorischer Deprivation steigt. Bei einigen
Im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit kann der
treten folglich visuelle Halluzinationen auf, die als
Patient unter einer schweren Sehbehinderung leiden,
Charles-Bonnet-Syndrom bezeichnet werden [3].
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(36):733–738
ÜBERSICHTSARTIKEL AIM
734
try» (ForeseeHome®), die vom Patienten selbst durchgeführt werden kann, nachdem er im Gebrauch des
Geräts geschult wurde. Dabei wurden gute Ergebnisse
bei der Früherkennung neovaskulärer Komplikationen,
bevor eine Sehverschlechterung einsetzt, erzielt [5].
Zudem stehen Applikationen für Mobiltelefone zur
Verfügung, die zwar die augenärztliche Kontrolluntersuchung nicht ersetzen, aber zur Früherkennung einer
Sehverschlechterung bei Risikopatienten hilfreich sein
können [6]. Durch die frühzeitige Erfassung neovaskulärer Komplikationen verbessert sich die funktionelle
Prognose nach der Behandlung [7].
Abbildung 1: Makulaatrophie (Pfeile) bei atropher AMD
(Fundusuntersuchung).
Die Möglichkeiten zur Vorbeugung von AMD sind
derzeit wenig verheissungsvoll. Im Hinblick auf die
Prävention des Risikos von Spätfolgen wurde für die
orale Supplementierung hoher Dosen der antioxidativen Vitamine E und C in Kombination mit Vitamin-ADerivaten und Zink eine relative Wirksamkeit nachgewiesen: Das Risiko sank im Laufe von fünf Jahren von
28 auf 21% [8]. Vor Kurzem wurde der Nutzen Xanthophyll-haltiger Nahrungssupplemente, etwa Lutein oder
Zeaxanthin, nachgewiesen, mit geringeren Nebenwirkungen als bei Vitamin-A-Derivaten [9].
Diagnosemethoden
Abbildung 2: Makulablutung bei neovaskulärer AMD
(Fundusuntersuchung).
Die Diagnose der AMD erfolgt durch multimodale Bildgebung. Dazu zählen die Fundusfarbfotografie, die
Fundusautofluoreszenz mit blauem Licht, die optische
Früherkennung und Prophylaxe
In der häufig asymptomatischen Frühform wird die
Kohärenztomografie (OCT) und die Angiografie mit
Kontrastmittel. Um die Makulaveränderung zu dokumentieren und sie für Untersuchungszwecke zu klassi-
AMD in den meisten Fällen bei einer augenärztlichen
fizieren kommt häufig die Fundusfarbfotografie zur
Kontrolluntersuchung diagnostiziert, seltener bei einer
Anwendung [10]. Auf diese Weise können typische
Untersuchung, die der Patient aufgrund vager Seh-
Anzeichen wie die Bildung von Drusen beobachtet
schwierigkeiten erbittet. Der Betroffene kann dann
werden (Abb. 3): Dies sind Ablagerungen auf der äusseren
über die Krankheit und deren beängstigende Symp-
Netzhaut, die aus Metaboliten der Fototransduktion
tome, etwa das Auftauchen von Wellenlinien (Meta-
oder modifizierten Makulapigmenten bestehen.
morphopsie) oder von einem blinden Fleck im zentralen
Die Fundusautofluoreszenz mit blauem Licht ist ein
Gesichtsfeld (Zentralskotom), aufgeklärt werden. Die
nicht invasives Bildgebungsverfahren zur Untersuchung
frühzeitige Diagnose der Komplikationen wirkt sich
des Augenhintergrunds, das auf der Veränderung der
positiv auf die Prognose aus. Es bestehen verschiedene
Wellenlänge des Lichts durch Lipofuszin beruht. Lipo-
Möglichkeiten, zu denen dem Patienten zur Selbstkon-
fuszin ist ein im Pigmentepithel verbreiteter retinaler
trolle geraten werden können, die bekannteste ist der
Fluorophor. Dieses In-vivo-Bild gibt Aufschluss über
Amsler-Gitter-Test: Es handelt sich dabei um ein quad-
die Integrität des Pigmentepithels und die Krankheits-
ratisches Rastergitter auf einem Blatt Papier mit einem
progression, besonders der trockenen Spätform (Abb. 4)
Fixierpunkt im Zentrum, der bei guter Beleuchtung
[11, 12].
und mit der Lesebrille angeschaut werden soll. Die
Die OCT ist ebenfalls eine nicht-invasive Methode zur
Analyse der Ergebnisse ergab indes keine besondere
Bildgebung des Augenhintergrunds. Dadurch kann eine
Effektivität zur Früherkennung [4].
Darstellung einer «In-situ-Histologie» mit einer Auf-
In jüngerer Vergangenheit wurden weitere Instrumente
lösung von 10–15 µm erreicht werden. Das Verfahren
zur Früherkennung entwickelt, beispielsweise die Mik-
basiert auf der Verwendung infrarotnaher Wellenlängen
roperimetrie mittels «preferential hyperacuity perime-
(800 nm) und dem Prinzip der niedrigkohärenten
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(36):733–738
ÜBERSICHTSARTIKEL AIM
735
Interferometrie. Die OCT-Methode ermöglicht es,
wichtige Faktoren der Entwicklung der AMD zu beobachten, etwa intraretinale Zysten oder subretinale
Flüssigkeit, die als Kriterien für eine erneute Behandlung herangezogen werden (Abb. 5).
Eine aktuelle Weiterentwicklung des OCT-Verfahrens
ist die OCT-Angiografie: Dadurch kann die Architektur
der Netz- und Aderhaut im Bereich der Makula in der
Tiefe dargestellt werden, ohne dass ein Kontrastmittel
Abbildung 3: AMD im Frühstadium (Fundusuntersuchung).
A: Harte Drusen und Hyperpigmentierung (Pfeil) B: Konfluierende weiche Drusen (Pfeil).
injiziert werden muss. Die Durchblutung der neu gebildeten Blutgefässe könnte einen Hinweis auf die Aktivität
der exsudativen Krankheit sein (Abb. 6) [13].
Die Angiografie mit Fluorescein oder Indocyaningrün
ermöglicht die Untersuchung von Architektur und
Durchblutung der Netz- und Aderhautgefässe nach Injektion eines Kontrastmittels. Sie ist besonders nützlich zur Diagnose der neovaskulären Form. Mithilfe
der Fluorescein-Angiografie können die Bereiche vaskulären Remodellings dargestellt und der Zustand der
inneren, aus retinalen Gefässwänden gebildeten BlutRetina-Schranke untersucht werden. Ausserdem können
Zonen identifiziert werden, in denen vaskuläre Okklusionen, Ischämien oder neovaskuläre Proliferationen
auftreten (Abb. 7A). Die Untersuchung der Aderhautdurchblutung mithilfe der Indocyaningrünangiografie
(Abb. 7B) beruht auf demselben Prinzip.
Behandlung
Abbildung 4: Fundusautofluoreszenz mit blauem Licht einer
atrophen AMD. Die hypoautofluoreszente Zone entspricht
dem Schwund an Pigmentepithel und darunterliegenden
Fotorezeptoren (Pfeile).
Aktuell kann nur die feuchte, neovaskuläre Spätform
behandelt werden. Für die atrophe Form werden zurzeit
verschiedene Therapieansätze in klinischen Studien
getestet.
Abbildung 5: Darstellung einer exsudativen AMD durch optische Kohärenztomografie (OCT). Roter Pfeil: subretinale Flüssigkeit; weisser Pfeil: Flüssigkeit
unter dem Pigmentepithel.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(36):733–738
ÜBERSICHTSARTIKEL AIM
736
Anti-VEGF-Therapie
durch die weiterhin bestehenden anatomischen Stö-
Zur Behandlung der feuchten AMD steht in der klini-
rungen begrenzt, etwa durch die subretinale Fibrose
schen Praxis die Anti-VEGF(vascular endothelial growth
oder die Schädigung der Netzhautzellen, besonders in
factor)-Therapie zur Verfügung. Die monoklonalen An-
den tiefen Schichten.
tikörper oder das VEGF-hemmende Fusionsprotein
Die Wirkung der Anti-VEGF-Medikamente tritt sehr
werden unter lokaler Betäubung aseptisch in den Glas-
rasch ein und erreicht nach einigen Tagen den Höhe-
körper injiziert. Die Inhibition des VEGF hemmt die
punkt, nimmt jedoch aufgrund der kurzen Halbwerts-
Entwicklung neuer Gefässe und bewirkt die Rück-
zeit bald wieder ab. Üblicherweise muss deshalb nach
bildung des Ödems und somit eine Verbesserung des
einem Monat erneut behandelt werden. Zur Blockade
Sehvermögens. Diese Verbesserung ist allerdings
des VEGF stehen mehrere intravitreale Medikamente
zur Verfügung: Ranibizumab und Aflibercept, die für
diese Indikation zugelassen sind, sowie als Off-LabelBehandlung der Wirkstoff Bevacizumab.
In einigen Studien wurden die Wirkung und Risiken
dieser Medikamente bei der Behandlung von AMD verglichen [14]. Die internationalen Studien MARINA und
ANCHOR mit Ranibizumab [15, 16] und VIEW mit Aflibercept [17] haben fixe Behandlungsschemata verwendet.
Während eines Jahres wurde monatlich eine Injektion
resp. in der VIEW-Studie zwei Arme mit Injektion alle
zwei Monate, verabreicht. Dabei wurde eine dauerhafte
Sehverbesserung nachgewiesen. Bei zahlreichen Patienten muss diese Behandlung langfristig aufrechterhalten
werden, damit der anfängliche Nutzen nicht verloren
geht. Die Regelmässigkeit der Behandlung ist also von
entscheidender Bedeutung, um die neovaskuläre Proliferation und die intraretinale Exsudation unter Kontrolle zu halten. Jede neuerliche Exsudation bringt das
Risiko einer irreversiblen Sehminderung mit sich.
Infolge der hohen Prävalenz und Inzidenz der exsudativen AMD wurden die monatlichen Kontrollen und Injektionen bald zu einem Problem für die behandelnden
Abbildung 6: (A) Darstellung eines choroidalen neovaskulären
Komplexes (gelb) durch OCT-Angiografie. (B) OCT-Schnittbild
(Blutflusszone rot). OCT = Optische Kohärenztomografie.
Einrichtungen (Arbeitsaufwand) und für das Gesundheitssystem (Kosten), aber auch für die Patienten (häufige Konsultationen und Injektionen). Deshalb wurden
Abbildung 7: Exsudative AMD. Fluorescein- (A) und Indocyaningrünangiografie (B) der choroidalen Neovaskularisation.
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andere Behandlungsstrategien entwickelt, die nicht auf
werden. Allerdings wird in diesem Fall die Medizin-
monatlichen Injektionen basieren, sondern die indi-
und Forschungsethik nicht vollständig respektiert, da
viduelle Reaktion auf die Behandlung berücksichtigen.
es sich um eine Off-Label-Anwendung handelt.
Der am weitesten verbreitete Rezidivindikator ist ein
Manche Patienten leiden an Formen exsudativer AMD,
bei der OCT-Untersuchung beobachteter Rückfall der
die gegenüber der monatlichen Anti-VEGF-Injektion
intraretinalen Exsudation. Es können zwei Strategien
refraktär sind. Hier kommen adjuvante Therapien mit
unterschieden werden: Der Patient wird «bei Bedarf»
intravitrealem Kortison und/oder Laser (fotodynami-
behandelt, das heisst im Falle eines Rezidivs (Pro re
sche Therapie) infrage. Die Verschlechterung des Allge-
nata [18, 19]), oder die Behandlungen erfolgen in indivi-
meinzustands mit Mobilitäts- oder Kognitionsstörun-
duell angepassten Intervallen mit dem Ziel, Rückfälle
gen beschränkt den Einsatz intravitrealer Injektionen
zu vermeiden («Treat-and-extend»-Protokoll [20, 21]).
meist nicht.
Durch diese Methode konnten die Zahl der Wiederbehandlungen und die Kosten verringert werden, ohne
den Nutzen für das Sehvermögen zu schmälern. Gleichwohl bleibt die Zahl der Konsultationen für die Klini-
Systemische und okulare Nebenwirkungen
der Anti-VEGF-Therapie
ken hoch, aber auch für die Patienten, bei denen man
Die intravitrealen Injektionen von Anti-VEGF-Medi-
eine Erschöpfung riskiert. Dies wirkt sich negativ aus,
kamenten werden lokal gut vertragen, und die Zahl
da sich die Behandlungen oftmals über einen Zeitraum
schwerwiegender systemischer Nebenwirkungen ist
von mehr als zwei Jahren erstrecken und im ersten Jahr
dank der physiologischen Barriere rund um den Glas-
laut mehreren Studien durchschnittlich etwa acht
köper gering. Thromboembolische Ereignisse und Hy-
Injektionen nötig sind, um den anfänglichen Nutzen
pertonie, die bei der intravenösen Anwendung der Anti-
für das Sehvermögen aufrechtzuerhalten. Die hohe In-
VEGF-Medikamente in der Onkologie auftreten, wurden
zidenz der neovaskulären Komplikationen und die
in Studien und Metaanalysen mit intravitrealem Ein-
Dauer der Behandlungen hat eine stete Zunahme der
satz nicht beobachtet. In jenen grossen Studien, in
Patientenzahl zur Folge, während nur wenige Patienten
denen Patienten mit hohem Herz-Kreislauf-Risiko aus-
die Therapie beenden können. Aus diesem Grund muss-
geschlossen wurden, zeigte sich allerdings eine nicht
ten die Kliniken ein hohes Mass an Organisationsarbeit
signifikante Zunahme systemischer Nebenwirkungen
leisten und ihre Ressourcen anpassen.
(etwa zerebrovaskulärer Ereignisse). Mithilfe mehrerer
Zur Bewältigung dieser Situation in der klinischen Pra-
Studien wurden im Tiermodell und beim Menschen die
xis hat unsere Gruppe aktiv zur Ausarbeitung eines
Serumkonzentration und Halbwertszeit der intravitrea-
Behandlungsschemas beigetragen, das auf individuell
len Anti-VEGF-Medikamente in den Stunden nach Injek-
geplanten und angepassten Intervallen beruht. Dadurch
tion analysiert [24]. Bevacizumab und Aflibercept zeig-
konnte die Zahl der Injektionen (wie beim «Treat-and-
ten dabei eine längere systemische Exposition und eine
extend»-Verfahren), aber auch die Zahl der nötigen
stärkere Hemmung des Plasma-VEGF als Ranibizumab.
Kontrollen um das Dreifache verringert werden, unter
In der klinischen Praxis sind Anzeichen potenzieller
Beibehaltung des funktionellen Nutzens, der in den
Nebenwirkungen sorgfältig zu analysieren, besonders
Zulassungsstudien erreicht wurde [22, 23].
bei Patienten mit kürzlich durchgemachtem vaskulä-
Der Preis der Anti-VEGF-Medikamente wurde aufgrund
rem Ereignis oder hohem Risiko, und die Indikation ist
ihrer Wirksamkeit zur Verbesserung des Sehens und
mit dem Patienten und eventuell mit dem Hausarzt zu
den verhinderten indirekten Kosten ausgehandelt. Der
besprechen. In Ermangelung wirksamer Behandlungs-
Gewinn an Sehkraft bringt für die Patienten einen
alternativen und angesichts des Erblindungsrisikos, das
beträchtlichen Nutzen im Alltag und ein höheres Mass
die AMD mit sich bringt, sprechen sich die Patienten
an Unabhängigkeit mit sich und verringert indirekt die
meist für die Anti-VEGF-Therapie aus.
gesellschaftlichen Gesamtkosten. Der hohe Einheits-
Schwerwiegende okulare Nebenwirkungen kommen
preis der Medikamente sollte unter diesem Blickwinkel
selten vor. Am schwersten wiegt die intraokulare In-
betrachtet werden. Die Verringerung der Zahl der Injek-
fektion durch Übertragung von Keimen bei der Injek-
tionen auf das zur Krankheitskontrolle nötige Mini-
tion (Endophthalmitis). Sie erfordert eine systemische
mum ist somit ein wirksamer Ansatz zur Senkung der
und intravitreale Antibiotikatherapie und eine mehr-
Gesamtkosten. Ebenfalls aus Kostengründen empfeh-
tägige Hospitalisation und kann zu einer irreversiblen
len manche den Einsatz von Bevacizumab, das in grö-
Sehminderung führen.
sseren Einheiten vertrieben wird und unter sterilen
Bisweilen sind intraokulare Entzündungsreaktionen
Bedingungen aufgeteilt werden kann. So können die
unterschiedlichen Schweregrads zu beobachten, die
Medikamentenkosten um den Faktor 8 bis 10 reduziert
meist gut auf die topische Behandlung mit Steroiden
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gelingt es nur bei frühzeitig behandelten Fällen, ausgezeichnete funktionelle Erfolge zu erreichen und die
AMD im Frühstadium
vorherige Sehschärfe wiederherzustellen. Meist ist der
Erfolg jedoch durch die strukturellen Makulaveränderungen und das Fortbestehen des hauptsächlich fib-
Atroph oder
trocken
AMD im
Spätstadium
Neovaskulär oder
feucht
Optische Hilfsmittel können
erforderlich sein,
besonders im
Spätstadium
rösen neovaskulären Gefässnetzes begrenzt. Mithilfe
einer Phase-III-Studie wird zurzeit untersucht, inwiefern eine Kombinationstherapie aus Anti-VEGF- und
Anti-PDGF(platelet-derived growth factor)-Wirkstoffen
• Keine
Behandlungsstrategien
in der Klinik
• Wiederholte intraretinale Injektion von
anti-VEGF-Wirkstoffen
bei Patienten mit exsudativer AMD die Rückbildung
des fibrösen Gewebes bewirkt, indem die Rezeptorbindung des PDGF in den Perizyten gehemmt wird. Die
Phase-II-Studie zeigte einen Nutzen hinsichtlich der
• Hemmung der
Entzündung und
von Faktor D
• Stammzelltherapie
• Anti-PDGF-Wirkstoffe
Behandlungs• Stammzellstrategien
therapie
in der Forschung
(Liste nicht vollständig)
Rückentwicklung des neovaskulären Komplexes und
grössere Verbesserungen der Sehschärfe.
Die atrophen oder fibrösen Veränderungen tragen im
Laufe der Jahre zur fortschreitenden Sehminderung
Abbildung 8: Stadien der AMD und Überblick über Behandlungsmethoden in Klinik und
Forschung.
Abkürzungen: AMD = altersbedingte Makuladegeneration; VEGF = vascular endothelial
growth factor; PGDF = platelet-derived growth factor
bei, auch wenn der exsudative Anteil der Krankheit
unter Kontrolle gehalten wird. Gegen diese Entwicklung, die für die Patienten sehr belastend ist, steht derzeit keine Therapie zur Verfügung.
Die rein atrophe Spätform der AMD kann klinisch nicht
ansprechen. Fremdkörpergefühl und Blutungen an der
behandelt werden, allerdings laufen zahlreiche Projekte
Injektionsstelle sind häufig, aber nicht schwerwiegend.
zur Ursachen- und therapeutischen Forschung [25, 26].
Korrespondenz:
Mithilfe einer Phase-III-Studie wird derzeit ein Fragment
Dr Aude Ambresin, PD MER
Département
d’ophtalmologie
Université de Lausanne
Hôpital ophtalmique
Jules Gonin
Fondation Asile des aveugles
CH-1000 Lausanne 7
aude.ambresin[at]fa2.ch
Offene Fragen und therapeutische
Perspektiven
eines intravitrealen Antikörpers (Lampalizumab) gegen den Faktor D des Komplementsystems untersucht,
das als einer der Hauptfaktoren bei der Entstehung von
Hauptziel der Bemühungen ist, nach Beginn der Be-
AMD gilt. Diese Therapie verlangsamte in der Phase-II-
handlung die bestmögliche Sehschärfe zu erlangen
Studie die Progression der atrophen Zone, besonders
und sie langfristig aufrechtzuerhalten (Abb. 8). Derzeit
bei Patienten mit polymorphem Komplementfaktor I.
In Europa und den USA werden zurzeit Phase-I/II-Studien durchgeführt, in denen die Sicherheit und Ver-
Das Wichtigste für die Praxis
träglichkeit menschlicher embryonaler Stammzellen
• Die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) ist eine häufige, progres-
Injektion untersucht werden. Die ersten Resultate wei-
sive Augenkrankheit und trotz wirksamen aktuellen Behandlungen eine
sen darauf hin, dass die transplantierten Zellen über-
der Hauptursachen für Erblindung in den Industriestaaten.
leben können und sich die Sehschärfe des behandelten
des Pigmentepithels nach intravitrealer, subretinaler
• Im Frühstadium ist die AMD häufig asymptomatisch. Augenärztliche
Auges verbessert. Diese Stammzelltherapien geben
Früherkennungsuntersuchungen werden ab dem 50. Lebensjahr emp-
Anlass zu grosser Hoffnung für die künftige Behand-
fohlen. Eine positive Familienanamnese ist ein Risikofaktor.
lung der atrophen AMD, allerdings ist es noch ein weiter
• Im Spätstadium führen die atrophe (Verlust von Netzhautzellen) und neovaskuläre (subretinale Proliferation neuer Gefässe) AMD zur Minderung
der zentralen Sehschärfe.
• Die Behandlungsstrategien, die auf wiederholten intravitrealen Injektionen von Anti-VEGF-Wirkstoffen beruhen, sind gegen die feuchte AMD
wirksam. Die Früherkennung der neovaskulären Form ermöglicht bessere
funktionelle Ergebnisse.
können.
Disclosure Statement
Die Autorinnen haben keine finanziellen oder persönlichen
Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Bildnachweis
Bild S. 733: © Joingate | Dreamstime.com
• Für die atrophe Spätform steht derzeit keine Behandlung zur Verfügung.
Allerdings sind die Forschungsansätze verheissungsvoll, besonders die
Hemmung des Komplementsystems und die Transplantation von Stammzellen.
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Weg, bis sie in die klinische Praxis übernommen werden
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Literatur
Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang
des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch.
LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix
Literatur
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RICHTLINIEN
739
Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen: Update 2016, Teil 2 1
Erhaltungstherapie und Rezidiv­
prophylaxe unipolarer depressiver
Störungen
Prof. Dr. med. Edith Holsboer-Trachsler a , Dr. med. Josef Hättenschwiler a , PD Dr. med. Johannes Beck b ,
PD Dr. phil. Serge Brand b, PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter a , Prof. Dr. med. Martin Ekkehard Keck a ,
Dr. med. Stefan Rennhard a , Prof. Dr. med. Martin Hatzinger b , Prof. Dr. med. Marco Merlo c ,
Prof. Dr. med. Guido Bondolfi a , Prof. Dr. med. Martin Preisig a , Dr. med. Anouk Gehret c , Dr. med. Daniel
Bielinski c , Prof. Dr. med. Erich Seifritz a
a
c
1
Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD); b Schweizerische Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP);
Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP)
Teil 1, «Die Akutbehandlung depressiver
Episoden», erschien im
Heft 35 des «Swiss Medical
Forum».
Diese Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) und der Schweizerischen
Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP) wurden in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie
zeittherapie orientiert sich an den Risikofaktoren und
am bisherigen Verlauf.
Die Erläuterungen zu Evidenz- und Empfehlungsgraden
sowie zur Methodenkritik, die gerade im Hinblick auf
und Psychotherapie (SGPP) auf der Grundlage der Leitlinien der
«World Federation of Societies of Biological Psychiatry» (WFSBP)
2013 [1] sowie der S3-Leitlinie /Nationalen Versorgungsleitlinie
«Unipolare Depression» der Deutschen Gesellschaft für Psychi-
langdauernde psychische Erkrankungen und daraus
atrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) 2015 [2] erstellt. Der vorliegende Text ist ein Update der Version von 2010 [3].
Die Artikel in der Rubrik «Richtlinien» geben nicht unbedingt die
Ansicht der SMF-Redaktion wieder. Die Inhalte unterstehen der
redaktionellen Verantwortung der unterzeichnenden Fachgesellschaft bzw. Arbeitsgruppe.
der depressiven Episoden» (Swiss Medical Forum Heft
folgenden, notwendigen Behandlungen zu berücksichtigen sind, finden sich in Teil 1, «Die Akutbehandlung
35/2016), sowie im Anhang 3 und 4 der oben erwähnten
S3-Leitlinie [2].
Erhaltungsphase
Das Modell des typischen Verlaufes einer depressiven
Episode und deren Behandlung ist in Abbildung 1 dar-
Einleitung
Edith Holsboer-Trachsler
gestellt [4]. Nach der Akutbehandlung (erste Phase) mit
Die vorliegenden Behandlungsempfehlungen für die
möglichst vollständiger Remission folgen die Erhal-
Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe unipolarer
tungsphase und die Rezidivprophylaxe bzw. Langzeit-
depressiver Störungen orientieren sich an den Leitlinien
behandlung. Die Rezidivprophylaxe ist nicht für alle
der World Federation of Societies of Biological Psychiatry
Patienten notwendig, sondern nur für jene mit erhöh-
(WFSBP) [1] und an der S3-Leitlinie/Nationalen Versor-
tem Rückfallrisiko oder mit lebensgeschichtlich er-
gungsleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychia-
worbenen ungünstigen Einflussfaktoren und vermin-
trie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) [2].
derten Bewältigungsressourcen, welche die Krankheit
Bei der Behandlung depressiver Störungen sind kurz-,
unterhalten oder zur Auslösung weiterer Krisen oder
mittel- und langfristige Ziele zu beachten. Die Akut-
Chronifizierung beitragen.
phase der Behandlung erstreckt sich von Beginn der
Ziel der Erhaltungstherapie der Depression ist es, die
Behandlung bis zur Remission, die als primäres Thera-
Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls in die überwundene
pieziel gilt. Die Erhaltungsphase folgt der Akutphase
Depressionsphase zu verhindern. Die Erhaltungsthera-
und dient dem Erhalt und der Aufrechterhaltung der
pie wird in der Regel über 6 und mehr Monate unver-
Remission. Dabei geht es darum, einem frühen Rück-
ändert durchgeführt. Bei Patienten mit längeren und/
fall vorzubeugen, Residualsymptome zu beseitigen und
oder gehäuften depressiven Episoden in der Anamnese
das psychosoziale und berufliche Funktionsniveau
sollte die Erhaltungstherapie 9 und mehr Monate dau-
wieder herzustellen. Die dritte Phase ist die Rezidiv-
ern. Da Residualsymptome Prädiktoren für ein erhöhtes
prophylaxe bzw. die Langzeittherapie. Ihr Ziel ist die
Rückfallrisiko sind, soll die medikamentöse Behand-
Verhinderung einer erneuten depressiven Episode, eines
lung solange fortgesetzt werden, bis die Residualsymp-
Suizids und einer Chronifizierung. Die Dauer der Lang-
tome abgeklungen sind.
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RICHTLINIEN
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den in Tabelle 1 aufgelisteten Faktoren vorhanden
sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines
Rückfalls (Rezidiv).
B: Wie hoch ist der Schweregrad der funktionellen Einschränkungen und der Nebenwirkungen, die im
Rahmen der medikamentösen Erhaltungstherapie
aufgetreten sind?
C: Liegen lebensgeschichtlich erworbene ungünstige,
die Störung unterhaltende Einflussfaktoren und verminderte Bewältigungsressourcen vor, die weitere
Krisen auslösen oder zur Chronifizierung beitragen
könnten?
Abbildung 1: Modell des typischen Verlaufes einer depressiven Störung und deren
Behandlung (nach Kupfer [4]).
Durchführung der Rezidivprophylaxe
Die Langzeitbehandlung von Patienten mit rezidivierenden depressiven Störungen beinhaltet Psychoedukation, Pharmakotherapie, Monitoring der Medi-
Die Auswahl der Medikation für die Erhaltungstherapie
kamentencompliance sowie Psychotherapie.
orientiert sich in der Regel an der Akuttherapie. Es
Ergänzend zu den somatischen Behandlungsempfeh-
wird empfohlen, die Dosis, auf die der Patient in der
lungen wurden im Auftrag der SGPP auch Empfehlungen
Akutbehandlung angesprochen hat, beizubehalten
für Psychotherapie und weitere therapeutische Mass-
(vgl. Behandlungsempfehlungen Teil 1: «Die Akutbe-
nahmen bei chronischer Depression erstellt [5].
handlung der depressiven Episoden»). Bei Patienten
ohne Rückfall in der Erhaltungsphase ist ein langsames
Psychoedukation
Ausschleichen der antidepressiven Medikation ange-
Da die Rezidivprophylaxe eine gute Compliance für die
zeigt, wobei eine sorgfältige Beobachtung des Patienten
Pharmakotherapie voraussetzt, sind Aufklärung und
notwendig ist, um die Stabilität der Remission zu eva-
ein enges therapeutisches Bündnis mit dem Patienten
luieren. Bei allfälligen Frühzeichen einer depressiven
und seinen Angehörigen von grosser Bedeutung. Die
Symptomatik sollte die Behandlung vor einem neuer-
Information von Patienten und ihren Angehörigen vor
lichen Absetzversuch in der ursprünglichen Dosierung
einer Rezidivprophylaxe/Langzeitbehandlung sollte fol-
für mindestens 6 weitere Monate fortgesetzt werden.
gende Themen beinhalten: Charakteristika und Verlauf
Nach einer erfolgreichen Lithium-Augmentation in
der Erkrankung, Behandlungsmöglichkeiten, Wirksam-
der Akutphase ist die weitere kombinierte Behandlung
keit der Medikamente und unerwünschte Nebenwir-
mit einem Antidepressivum sowie Lithium in der Er-
kungen, (täglicher) Gebrauch von Selbstbeurteilungs-
haltungstherapie wirksamer als die Monotherapie. Bei
instrumenten der Stimmung, um Frühwarnzeichen für
suizidgefährdeten Patienten soll die Rezidivprophy-
einen drohenden Rückfall oder ein Rezidiv zu erken-
laxe mit Lithium zur Reduktion von suizidalen Hand-
nen, die Langzeitprognose sowie das voraussichtliche
lungen in Betracht gezogen werden.
Behandlungsende. Es ist wichtig, den Patienten darüber
aufzuklären, dass evtl. mehrere Behandlungsvarianten
Rezidivprophylaktische Behandlung
der depressiven Störung: Langzeit­
behandlung
ausprobiert werden müssen, bevor die individuell beste
Behandlungsform gefunden wird.
Die Häufigkeit der Arztbesuche zur psychiatrischen
Beurteilung und dem Monitoring der Medikation (z.B.
Die Hauptziele der Rezidivprophylaxe bestehen darin,
Beurteilung von Nebenwirkungen, Medikamenten-
einem Rezidiv, einem möglichen Suizid und einer
blutspiegel oder diskreten Restsymptomen) kann bei
Chronifizierung der Erkrankung vorzubeugen. Mit
stabilen Patienten von monatlichen Konsultationen
Rezidiv ist gemeint: Depressive Symptome treten nach
bis zu Terminen alle drei bis sechs Monate variieren.
einer vollständig symptomfreien Periode von mindes-
Bei instabilen Patienten sind häufigere Termine not-
tens 6 und mehr Monaten (Remission) wieder auf.
wendig. Falls der Patient während der Langzeitbehand-
Folgender Algorithmus wird für den Beginn einer Re-
lung eine körperliche Erkrankung entwickelt, sollten
zidivprophylaxe empfohlen:
mögliche Wechselwirkungen zwischen Medikamenten
A: Liegen ein oder mehrere Faktoren für ein erhöhtes
bedacht werden. Eine enge Zusammenarbeit zwischen
Rückfallrisiko vor? Hiermit ist gemeint: Je mehr von
somatisch behandelndem Arzt und psychiatrischem
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RICHTLINIEN
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Tabelle 1: Fragen zur Einschätzung des Rückfallrisikos in eine
depressive Episode (nach [3]).
1. Hat der Patient schon drei oder mehr Episoden einer
depressiven Störung erlitten?
2. War die Rückfallhäufigkeit hoch, d.h. traten innerhalb der
letzten fünf Jahre zwei oder mehr depressive Episoden auf?
von Carbamazepin (Evidenz C) kann bei Lithium-Unverträglichkeit erwogen werden. Quetiapin ist als einziges
atypisches Neuroleptikum für die Langzeittherapie
untersucht und erwies sich als wirksam (Evidenz B).
Von den Johanniskrautextrakten ist WS 5570 (Hyperiplant Rx) bezüglich Rückfall- und Rezidivprophylaxe
3. Trat die letzte depressive Episode innerhalb der letzten
zwölf Monate auf?
mit positivem Ergebnis untersucht (Evidenz B).
4. Wurden Residualsymptome während der Erhaltungstherapie
beobachtet?
Monitoring der Medikamentencompliance
5. Wurden subsyndromale Residualsymptome in der
Remission beobachtet?
einnahme gemäss ärztlicher Verordnung ist mit dem
6. Liegt eine zusätzliche dysthyme Störung vor
(«Doppel-Depression»/«double depression»)?
7. Wurden während der letzten Episode psychotische
Symptome und/oder Suizidalität beobachtet? Handelte es
sich also um eine schwere depressive Episode?
Die Wichtigkeit der regelmässigen MedikamentenPatienten eingehend und gegebenenfalls wiederholt
zu besprechen. Während der Langzeitanwendung von
Lithium sind regelmässige Plasmaspiegelbestimmungen empfohlen: 3–4-mal pro Jahr, bzw. häufiger bei
8. Dauerten die vorangegangenen Episoden lange (d.h. länger
als 6 Monate)?
Veränderungen der Schilddrüsen- und/oder Nieren-
9. Ist der Rückfall aufgrund der fehlenden Einnahme der
Medikamente eingetreten?
krankungen (z.B. akuter Diarrhoe, Medikamenten-
funktionen sowie im Rahmen von körperlichen Er-
10. Besteht ein zusätzlicher Substanzmissbrauch?
interaktionen). Eine regelmässige Spiegelbestimmung
11. Bestehen komorbide Angststörungen oder Angstsymptome?
erlaubt die Objektivierung der Medikamentencompli-
12. Wurde eine depressive Episode auch bei Verwandten
ersten Grades beobachtet?
ance, also auch die notwendige Anpassung der Dosie-
13. Hat die depressive Erkrankung vor dem 30. Lebensjahr
begonnen?
14. Ist das aktuelle Alter bei 60 Jahren oder höher?
rung (bei Unter- oder Überdosierung).
Bei Laborunregelmässigkeiten (Schilddrüse, Niere) unter
langjähriger erfolgreicher Lithiumtherapie soll eine
sorgfältige Risikoabwägung zwischen Weiterführen
und Absetzen erfolgen.
Facharzt ist notwendig. Die Abgabe eines Medikamen-
Psychotherapie
tenpasses kann die interdisziplinäre Zusammenarbeit
Siehe separate Behandlungsempfehlungen der SGPP [5].
erleichtern. Patienten und Angehörige sollten aufgeklärt werden, dass sie ihren behandelnden Arzt informieren, wenn erste Zeichen einer erneuten Depression
Behandlung bei Symptomverschlechterung
und Rezidiv
Kurze, leichte depressive Symptome treten im Rahmen
auftreten.
der Rezidivprophylaxe recht häufig auf. Sie sind ge-
Pharmakotherapie
wöhnlich selbstlimitierend und verlangen in der Regel
Medikamente erster Wahl zur Rezidivprophylaxe von
im Gegensatz zu Rezidiven (wieder auftretende Episo-
unipolaren Depressionen sind entweder das Antidepres-
den) keine spezifische Behandlung oder Änderung des
sivum, mit dem in der Akut- und Erhaltungstherapie
Behandlungsschemas. In der Regel ist das psychiatri-
eine Remission erreicht wurde, oder Lithium. Die Dosis
sche Management hilfreich und ausreichend. Damit
des Antidepressivums, das in der Akut- und Erhaltungs-
sind z.B. Dosisanpassung, Beruhigung des Patienten
phase erfolgreich eingesetzt wurde, sollte im Rahmen
mittels Gesprächen und/oder mit sedierenden Medi-
der Rezidivprophylaxe unverändert belassen werden.
kamenten zur Regulierung der Schlaf- und/oder Angst-
Bei der Wahl des Medikaments empfiehlt es sich, die
zustände und/oder psychotherapeutische Interventio-
Erfahrungen (Wirkungen, Nebenwirkungen) des Patien-
nen mit Fokus auf akute psychosoziale Stressoren und
ten zu berücksichtigen. Bei anamnestisch bekannten
Konfliktsituationen gemeint. Tritt trotz dieser Mass-
Nebenwirkungen unter trizyklischen und tetrazykli-
nahmen ein Rezidiv auf, kann eine Frühintervention
schen Antidepressiva können diese durch neuere Anti-
die Episodenlänge verkürzen. Empfehlenswert ist eine
depressiva ersetzt werden. Die Anwendung von Lithium
erneute differentialdiagnostische Abklärung hinsicht-
in der Langzeittherapie von unipolaren rezidivierenden
lich psychosozialer Veränderungen, Stressoren sowie
Depressionen, also nicht nur von bipolaren Verlaufsfor-
Substanzmissbrauch und anderer komorbider Krank-
men, ist gut belegt. Die langfristige Lithiumprophylaxe
heiten wie der häufig ebenfalls vorliegenden Angst-
senkt das Suizidrisiko und scheint die hohe Mortalitäts-
oder weiterer Störungen. Mögliche Massnahmen zur
rate von Depressionen zu normalisieren. Der Einsatz
Behandlungsoptimierung sind: Erhöhung des Serum-
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RICHTLINIEN
742
spiegels in den oberen Bereich des therapeutischen
Dauer und Ende einer Rezidivprophylaxe
Fensters, «Add-on»-Therapie mit Lithium, zusätzliche
Der optimale Zeitpunkt, eine Langzeitmedikation zu
psychotherapeutische Interventionen und häufigere
beenden, ist schwierig zu bestimmen. Nach Kupfer et
Arztbesuche. Tritt trotz Behandlungsoptimierung keine
al. [6] konnten die günstigsten Verläufe bei jenen Pati-
Besserung ein, sollte eine erneute Akutbehandlung mit
enten beobachtet werden, die über mindestens 5 Jahre
anschliessender Erhaltungstherapie begonnen werden.
die volle Medikamentendosis erhielten. Patienten mit
Abbildung 2 stellt einen Algorithmus zur Rezidivpro-
zwei oder mehr depressiven Episoden und damit ver-
phylaxe einer depressiven Episode dar. Die Behand-
bundenen bedeutsamen funktionellen Einschränkun-
lungsmöglichkeiten umfassen die Kombination eines
gen sollen das Antidepressivum mindestens 2 Jahre in
Antidepressivums mit Lithium, die Monotherapie mit
der Dosierung der Akuttherapie zur Langzeitprophylaxe
Quetiapin, die Kombination von Lithium und Carba-
nehmen [2]. Bei suizidgefährdeten Patienten soll zur
mazepin, die Kombination zweier Antidepressiva ver-
Reduzierung suizidaler Handlungen eine Lithiumme-
schiedener Klassen sowie die Elektrokrampftherapie
dikation in Betracht gezogen werden. Eine 3-jährige Re-
(EKT). Diese wird für Patienten empfohlen, die bereits
zidivprophylaxe wird routinemässig empfohlen, wenn
in der Akuttherapie auf EKT remittiert sind, insbeson-
der aktuellen Episode in den letzten 5 Jahren eine andere
dere wenn eine Erhaltungsmedikation nicht durchführ-
Episode voran ging oder wenn eine Remission nur
bar oder ungenügend wirksam ist. Dabei werden eine
schwer zu erreichen war [1]. Eine 5- oder langjährige
bis zwei EKT-Behandlungen pro Monat empfohlen. Es
Rezidivprophylaxe wird empfohlen bei Patienten mit
gibt keine kontrollierten Studien zu den Effekten einer
einem grösseren Risiko, besonders wenn 2 oder 3 Absetz-
Langzeit-EKT-Behandlung, daher sind die Langzeitri-
versuche eine weitere Episode innerhalb eines Jahres
siken nicht bekannt.
zur Folge hatten [1]. In der klinischen Praxis müssen
Rezidivprophylaxe (RP)*
mit einem Antidepressivum,
wirksam in der Akut- und Erhaltungstherapie
Rezidiv (Breakthrough) während der RP
Behandlung der neu aufgetretenen Episode
Diagnostische Neubeurteilung
Behandlungsoptimierung oder Wechsel der RP**
Wechsel zu einem
Antidepressivum
aus einer anderen Klasse
Wechsel zu einem Antidepressivum
aus einer anderen Klasse
oder
Kombination aus
zwei Antidepressiva
verschiedener Klassen
Wechsel zu Lithium
oder
Antidepressivum + Lithium
Wechsel zu einem Antidepressivum
aus einer anderen Klasse
oder
Lithium + Antidepressivum
aus einer anderen Klasse
oder
Quetiapin oder Carbamazepin
Abbildung 2: Flussdiagramm – Therapeutische Möglichkeiten für eine Rezidivprophylaxe (RP) einer depressiven Episode.
Aus der Medikamentengruppe der Stimmungsstabilisierer sind für die Erhaltungstherapie der unipolaren Depression Lithium
und Quetiapin (Evidenzgrad B) sowie Carbamazepin (Evidenzgrad C) die am besten untersuchten Substanzen. Andere Stimmungsstabilisierer (z.B. Valproinsäure, Lamotrigin oder andere atypische Neuroleptika) sind bisher nicht in Plazebo-kontrollierten oder doppelblinden Vergleichsstudien für die Erhaltungstherapie der unipolaren Depression untersucht worden.
* Elektrokrampftherapie (EKT) ist eine Erhaltungstherapiemöglichkeit für Patienten, die in der akuten Phase der Behandlung
auf EKT angesprochen haben oder bei denen zwei oder mehr rezidivprophylaktische Therapieversuche fehlgeschlagen sind.
** Die Indikation einer störungsspezifischen Psychotherapie sollte geprüft werden.
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Antidepressiva nach einer Rezidivprophylaxe immer
langsam ausgeschlichen werden, da sonst das Rezidivrisiko (Absetzdepression) erhöht wird. In diesem Zusammenhang heisst «langsam» eine Periode von 4–6
Monaten. Hiermit wird ein frühzeitiges Erkennen erneut auftretender Symptome ermöglicht und das Risiko
von Absetzsymptomen minimiert. Absetzsymptome
nach einem abrupten Stopp der Medikation wurden
für alle Antidepressivaklassen berichtet. Typische Absetzsymptome bei selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) und selektiven NoradrenalinWiederaufnahmehemmern (SNRI) sind Schwindel,
Ataxie, gastrointestinale und grippeähnliche Symptome sowie Schlafstörungen. Auch bei Lithium scheint
ein abruptes Absetzen zu einem erhöhten Rezidivrisiko zu führen. Nach Beendigung der Lithiumbehandlung ist das Risiko bei bipolaren Erkrankungen
für unmittelbar auftretende neue manische und depressive Episoden erhöht (vgl. [1]). Unklar ist, ob dies
auch für unipolar depressive Patienten zutrifft.
Unabhängig von der Medikation sollte der Patient in
dieser Phase engmaschiger betreut werden. Besondere
Sorgfalt und Betreuung ist beim Ausschleichen der
Medikamente bei jenen Patienten indiziert, welche
nach den Kriterien aus Tabelle 1 ein erhöhtes RezidivRisiko-Profil aufweisen. Das engmaschige Monitoring
muss über mindestens 6 Monate erfolgen. Manifestiert sich während der Ausschleichperiode eine vollständig neue depressive Episode, sollte erneut die volle
therapeutische Dosis des Medikaments gegeben werden
[1]. Wichtig ist, das Ausschleichen der Medikamente
mit dem Patienten zu besprechen, die Vor- und Nachteile zu diskutieren und über frühe Warnzeichen eines
Rezidivs aufzuklären.
Konversion von einer unipolaren depressiven
Störung zu einer bipolaren Störung
Bei rund 10% bis 20% der Patienten wird eine Diagnose-
Kombination von medikamentöser
Behandlung und Psychotherapie
Diese Behandlungsempfehlung konzentriert sich auf
biologische Behandlungsmethoden. Deshalb werden
psychotherapeutische Behandlungsmethoden nur
kurz erwähnt. Innerhalb der Palette psychotherapeutischer Methoden liegen evidenzbasierte Daten vor, dass
die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) eine wirksame
Behandlungsform ist, um Rezidiven bei Patienten mit
einer depressiven Episode nach erfolgreicher Behandlung oder Residualsymptomen vorzubeugen. Auch die
interpersonelle Psychotherapie (IPT) wurde für Erhaltungstherapie untersucht (siehe hierzu ausführlich
Hautzinger [8] und Grawe [9]). Die Anmerkungen zu
Kriterien der evidenzbasierten Medizin sind in Teil 1,
«Die Akutbehandlung der depressiven Episoden», aufgeführt.
Auch wenn zurzeit für die Erhaltungstherapie noch keine
Langzeitstudien für die Kombination von Psychotherapie
und Pharmakotherapie vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass die Kombinationsbehandlung den besten
Schutz vor einem Rezidiv bietet.
Aktualisierung der Behandlungsempfehlungen
Diese Behandlungsempfehlungen werden in Abstimmung mit
den WFSBP-Leitlinien sowie den Leitlinien S3 der DGPPN aktualisiert
und auf der Website der SGAD (www.sgad.ch), und der SGPP
(www.psychiatrie.ch) publiziert.
Disclaimer
Die SGPP entwickelt Behandlungs- und andere Empfehlungen zu
wichtigen Fragen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung, um ihren Mitgliedern bei ihren Bemühungen um Qualitätssicherung behilflich zu sein. Die Empfehlungen beruhen auf aktuellen
wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten
Verfahren. Im Einzelfall können auch andere Behandlungsarten und
-vorgehen zum Ziel führen. Die Empfehlungen der SGPP werden regelmässig auf ihre Gültigkeit überprüft und von der SGPP mit grösster
Sorgfalt in der für die Mitglieder und allenfalls andere Interessierte
geeigneten Form publiziert. Die Befolgung oder Nichtbefolgung dieser
Empfehlungen hat für den Arzt oder die Ärztin weder haftungsbefreiende noch haftungsbegründende Wirkung.
änderung von einer unipolaren depressiven Störung zu
Korrespondenz:
einer bipolaren Störung beobachtet. Falls unter Antide-
Dr. med. Josef Hätten-
pressivabehandlung ein Switch in die Manie auftritt,
schwiler
sind eine rasche Dosisreduktion des Antidepressivums
Zentrum für Angst- und
Depressionsbehandlung
und eine gleichzeitige Behandlung der manischen Epi-
Zürich ZADZ
sode einzuleiten. Latente bipolare Störungen werden
Riesbachstrasse 61
CH-8008 Zürich
jhaettenschwiler[at]zadz.ch
oft nicht erkannt, wobei diese Patienten besonders gefährdet sind, einen Switch in eine Manie zu erleiden [7].
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Disclosure statement
Die Erstellung dieser schweizerischen Leitlinien der SGAD, SGBP und
SGPP wurde von keiner kommerziellen Organisation finanziell
unterstützt.
Literatur
Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang
des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch.
LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix
Literatur
1
2
3
SWISS MEDI CAL FO RUM
Bauer M, Severus E, Koehler S, Whybrow PC, Angst J, Möller
H-J.WFSBP Task Force on Treatment Guidelines for
Unipolar Depressive Disorders (u.a. Holsboer-Trachsler E):
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S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie «Unipolare
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Auflage, Version 1, November 2015
(http://www.versorgungsleitlinien.de).
Holsboer-Trachsler E, Hättenschwiler J, Beck J, Brand S,
Hemmeter U, Keck ME, et al. Die somatische Behandlung
der unipolaren depressiven Störungen. 2. Teil.
Behandlungsempfehlung der Schweizerischen
Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD), der
Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie
(SGBP), in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP)
und auf der Grundlage der Leitlinien der World Federation
of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP 2008) sowie
4
5
6
7
8
9
der S3-Leitlinie/Nationalen Versorgungsleitlinie
«Unipolare Depression» der Deutschen Gesellschaft für
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Grawe K. Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe; 2004.
WAS IST IHRE DIAGNOSE?
744
Retrosternale Schmerzen
Wenn sich eine Diagnose hinter
einer anderen versteckt
Dr. med. Maria Anastasiou a , Dr. med. Olivier Lamy a , Dr. med. Camillo Ribi b , Prof. Dr. med. Pascal Zufferey c ,
Dr. med. Francesco Gianinazzi c , Dr. med. Malik Benmachiche a
a
b
c
Service de Médecine Interne, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV, Lausanne
Service d’immuno-allergologie, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV, Lausanne
Service de Rhumatologie, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV, Lausanne
Fallbeschreibung
Die Abbildung 1 zeigt das bei Eintritt durchgeführte EKG.
Ein 53-jähriger Patient mit bekannter, seit 2010 unbehandelter rheumatoider Arthritis und aktiver Raucher
mit 30 pack years weist retrosternale Schmerzen auf,
die seit zwölf Stunden bestehen und progressiven Charakter aufweisen.
Er berichtet über unspezifische Thoraxbeschwerden
und seit etwa einer Woche bestehende Grippesymptome. Am Eintrittstag wachte er um 5 Uhr morgens
bereich; es zeigen sich Entzündungszeichen mit einem
CRP-Wert von 255 mg/l und einer Leukozytose von
14 G/l. Eine Anämie oder renale Funktionsstörung liegen
nicht vor.
Frage 1: Welche Untersuchung werden Sie als Notfallmassnahme durchführen?
Störungen. Da mit gewöhnlichen Schmerzmitteln keine
Koronarografie
Echokardiografie
Thorax-Angio-CT
Bestimmung der D-Dimere
Keine weiteren Notfalluntersuchungen; Überwachung der
Troponinwerte
Besserung erreicht wurde, kommt er zwölf Stunden
Die retrosternalen Schmerzen unseres Patienten mit
durch atmungsabhängige, retrosternale, penetrierende
Schmerzen auf, die in die linke Schulter, den Kiefer und
Rücken ausstrahlen, mit Ohrenschmerzen verbunden
sind, aber ohne Kopfschmerzen oder neurologischen
Maria Anastasiou
In der Laborchemie sind die Troponinwerte im Norm-
a)
b)
c)
d)
e)
nach Symptombeginn auf die Notfallstation.
kardiovaskulären Risikofaktoren (Alter, Geschlecht,
Bei der klinischen Untersuchung ist der Blutdruck an
aktiver Raucher) deuten auf eine Myokardischämie hin.
den Armen seitengleich, auch die peripheren Pulse
Das EKG zeigt diffuse, konkave ST-Streckenhebungen
sind symmetrisch. Auskultatorisch sind weder Herz-
sowie eine PR-Streckensenkung in II, aVF und V3–6,
und Gefässgeräusche noch Perikardreiben wahrnehm-
was in erster Linie auf eine Perikarditis schliessen
bar. Die Lungenauskultation ist normal.
lässt. Troponinwerte im Normbereich zwölf Stunden
Abbildung 1: Eintritts-EKG: diffuse, konkave ST-Streckenhebung sowie PR-Streckensenkung in II, aVF und V3–6.
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WAS IST IHRE DIAGNOSE?
745
nach Beginn der Schmerzen schliessen einen Infarkt
Eine infektiöse Ätiologie, obgleich in Industrieländern
aus. Zur Notfall-Koronarografie besteht somit keine
selten, ist umgehend auszuschliessen [1]. Die Blutkul-
Indikation, und eine Überwachung der Troponinwerte
turen à froid sind steril, Syphilis- und Borreliose-Sero-
ist nicht erforderlich. Eine Echokardiografie zeigt einen
logie sind negativ.
minimalen Perikarderguss ohne hämodynamische Aus-
Eine Panarteriitis nodosa mit Beteiligung der grossen
wirkungen und keine Hinweise auf segmentale Wand-
Gefässe kann im Rahmen einer Hepatitis B auftreten.
bewegungsstörungen.
Die Virushepatitis-Serologie ist negativ.
Der stechende Schmerzcharakter und das nur schwache
Wenngleich eine Tuberkulose Ursache einer Perikar-
Ansprechen auf Analgika lassen uns ein Thorax-Angio-
ditis oder Aortitis sein kann, soll mit dem Elispot vor
CT zwecks Abklärung einer Aortendissektion durch-
allem eine latente Tuberkulose ausgeschlossen werden,
führen (Abb. 2). Die Untersuchung zeigt eine Erweite-
bevor eine systemische Kortikoidtherapie eingeleitet
rung der aufsteigenden Aorta um 6 mm mit Infiltration
wird; der Test ist negativ.
des angrenzenden Fettgewebes, was an eine Aortitis
Blutbild, Nierenfunktion und Leberwerte sind im Norm-
denken lässt.
bereich. Die Blutsenkung (BSG) ist mit 52 mm/h erhöht
Ohne klinische Parameter und Risikofaktoren für eine
(N = 10 mm/h).
thromboembolische Erkrankung ist eine Bestimmung
Ein zusätzlicher anamnestischer Hinweis besteht in
der D-Dimere nicht das Verfahren der Wahl.
entzündlichen Gelenkschmerzen der Füsse, die seit etwa
Unser 53-jähriger Patient weist somit eine akute Pe-
einer Woche bestehen. Derartige Schmerzen treten
rikarditis in Verbindung mit einer Aortitis der Aorta
mehrmals monatlich an verschiedenen Gelenken auf,
ascendens auf. Die Schmerzen lassen unter Behand-
insbesondere an Ellbogen und Händen und erfordern
lung mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) und
dann eine vorübergehende NSAR-Einnahme. Fieber
Opiaten rasch nach.
oder Gewichtsverlust bestehen nicht; der Patient berichtet weder über Kopfschmerz noch über Schmerzen
Frage 2: Welche Untersuchung ist für die ätiologische
Diagnose der Aortitis am wenigsten angezeigt?
a)
b)
c)
d)
Blutkulturen à froid
Syphilis- und Borreliose-Serologie
TBC-Elispot
Immunsubtraktion mit IgG4-Bestimmung
e)
Blutsenkung (BSG), antinukleäre Antikörper (ANA), antineutrophile zytoplasmische Antikörper (ANCA), Rheumafaktor,
Anti-CCP
beim Kauen. Seit 2010 erfolgte keinerlei antirheumatische Behandlung, nachdem eine Methotrexat- und
anschliessende Adalimumab-Therapie wegen vieler
Nebenwirkungen abgebrochen worden waren.
Das konventionelle Röntgenbild zeigt Erosionen am
jeweils 5. Fussstrahl. Die Immundiagnostik zur Abklärung einer entzündlichen Aortitis ergibt einen erhöhten Rheumafaktor (RF) von 413 U/ml (N <20 U/ml) sowie erhöhte Antikörper gegen citrullinierte Peptide
(Anti-CCP) von >174 U (N <20 U), was mit dem Krankheitsbild der unbehandelten rheumatoiden Arthritis
vereinbar ist. Die antinukleären Antikörper (ANA) sind
mit 1:80 schwach positiv (N <1:80) bei gesprenkeltem
Muster. Die antineutrophilen zytoplasmischen Antikörper (ANCA) sind negativ. Die Komplementfaktoren
sind im Normbereich. Mittels Immunsubtraktion
kann eine monoklonale Gammopathie ausgeschlossen
werden; der IgG4-Wert ist im Normbereich. Das Urinsediment ist unauffällig.
Mit Blick auf die möglichen Ätiologien existiert somit
kein Argument für eine Kollagenose oder eine WegenerVaskulitis. Es gibt keine klinischen Anzeichen für eine
Polychondritis atropicans, und eine IgG4-Erkrankung,
die durch die lymphoplasmozytäre Infiltration verschiedener Organe gekennzeichnet ist, ist wenig wahrscheinlich.
Bei unserem Patienten liegt demzufolge eine seropositive aktive rheumatische Erkrankung mit einer ent-
Abbildung 2: Thorax-CT: Erweiterung der Wand der aufsteigenden Aorta (Pfeil)
mit Infiltration des angrenzenden Fettgewebes.
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zündlichen Aortitis und einer damit assoziierten akuten Perikarditis vor.
WAS IST IHRE DIAGNOSE?
746
Frage 3: Welche Untersuchung beabsichtigen Sie
in diesem Stadium durchzuführen?
a)
b)
c)
d)
e)
hat sich bei Patienten mit rheumatoider Vaskulitis als
nicht wirksam erwiesen.
TNF-Blocker zeigen bei der Vaskulitis-Therapie keinen
Nutzen [2].
Angiologische Diagnostik
Aortografie
PET/CT
Biopsie der Schläfenarterie
Keine weitere Untersuchung
Tocilizumab inhibiert das Zytokin Interleukin-6 (IL-6)
im Vorfeld der akuten Entzündungsphase. Diese Therapie hat bei rheumatoider Arthritis ihre Wirksamkeit
bewiesen und zeigt sich in nicht-kontrollierten Studien
Unter den nicht-infektiösen Ursachen der Aortitis ist
bei Arteriitis der grossen Gefässe als sehr wirksam, sei
die Riesenzellarteriitis (giant cell arteritis, GCA) am
es im Falle von Morbus Horton, der Takayasu-Arteriitis
häufigsten vertreten [1]. Die angiologische Diagnostik
oder rheumatoider Arthritis.
zur Abklärung von Hinweisen auf eine GCA ist negativ,
Der Patient erhält somit über 1 Monat ein Prednison-
wobei zu bedenken ist, dass die Dopplersonografie
Schema von 60 mg/Tag, danach 1 Monat 40 mg/Tag
der extrathorakalen Aortenäste zur GCA-Diagnose
und schliesslich 1 Monat 30 mg/Tag, bevor eine Tocili-
weder sensitiv noch spezifisch ist. Ohne Biopsie der
zumab-Therapie mit 8 mg/kg/Monat eingeleitet wird.
Schläfenarterie ist eine GCA nicht auszuschliessen,
Die Ermunterung zum Rauchstopp ist gleichermassen
jedoch ist diese Diagnose äusserst unwahrscheinlich,
essentiell, um einerseits die RA begünstigende Faktoren
da hier eine alternative Diagnose sehr viel nahelie-
zu reduzieren und andererseits das mit der Krankheit
gender ist.
und der immunsuppressiven Behandlung assoziierte
Angesichts einer seropositiven rheumatoiden Arthri-
kardiovaskuläre und neoplastische Risiko zu verringern.
tis (RA) mit klinischen, laborchemischen und radiografischen Hinweisen auf eine aktive Erkrankung lassen
an die Diagnose einer entzündlichen Aortitis und einer
Perikarditis denken.
Zur Bestätigung der Vaskulitis-Diagnose und zwecks
Evaluierung des Ausmasses der vaskulären Schädigung
wird (nach 7 Tagen Kortikoidtherapie) eine PET/CT
durchgeführt, die eine FDG(Fluordeoxyglucose)-Anrei-
Frage 5: Welche Untersuchung(en) empfehlen Sie
zur Kontrolle des Ansprechens der Therapie?
a)
b)
c)
d)
e)
PET/CT
Angio-MRT
Angio-CT
PET/CT und Angio-CT
Klinische und laborchemische Kontrolle
cherung Grad I in der Aorta ascendens ohne Befall der
Die PET/CT korreliert möglicherweise besser mit den
Aorta descendens und der Karotis-Gefässe zeigt.
Entzündungsmarkern [3]. Jedoch ist verglichen mit den
andern bildgebenden Verfahren keine Überlegenheit,
Frage 4: Welche Therapie schlagen Sie vor?
a)
b)
c)
d)
e)
Nur Kortikosteroide in abnehmender Dosis
Kortikosteroide und Cyclophosphamid
Kortikosteroide und Methotrexat
Kortikosteroide und ein TNF-Blocker
Kortikosteroide und Tocilizumab (= Interleukin-6-Blocker)
was die Prognose von Rezidiven und die Diagnostik
von Komplikationen angeht, nachweisbar.
Insbesondere bei Ödem und Gefässwanderweiterung
muss mehr Behandlungszeit verstreichen, bevor bei
der Angio-MRT ein signifikanter Unterschied zu detektieren ist.
Patienten, die im Rahmen einer rheumatoiden Arthritis
Die Angio-CT erwies sich als überlegen für den Nach-
eine Vaskulitis entwickeln, sind gewöhnlich Patienten,
weis länger bestehender Schäden mit ausgeprägten
die an einer langfristig aktiven Erkrankung leiden. Die
Stenosen, bei denen die PET/CT negativ sein kann.
Therapie hängt von der Grösse der betroffenen Gefässe
Die Kombination PET/CT und Angio-CT ist für die
und der Organbeteiligung ab.
frühzeitige Diagnostik und Therapie der Vaskulitis der
Die Wirksamkeit der Kortikoidtherapie ist für die An-
grossen Gefässe von hohem Nutzen [3]. Die PET/CT
fangskontrolle einer Vaskulitis der grossen Gefässe gut
kann bereits nach fünf Behandlungstagen mit hohen
belegt. Die Prednison-Anfangsdosis beträgt 1 mg/kg/
Steroiddosen zu einem negativen Ergebnis führen und
Tag bei einer Behandlungsdauer von mindestens sechs
muss deshalb rasch durchgeführt werden.
Monaten.
Zu guter Letzt bildet die Bestimmung der Entzün-
Cyclophosphamid wird bei Beteiligung vitaler Organe
dungsparameter (CRP/BSG) einen guten Näherungs-
(Myokard, zentrales Nervensystem, Verdauungstrakt,
wert für die Aktivität der Vaskulitis der grossen Gefässe,
Niere) zusätzlich zu Kortikosteroiden verabreicht, in
dennoch kann bei Patienten mit Werten im Normbe-
Analogie zu den nekrotisierenden Vaskulitiden (Poly-
reich eine Entzündungsaktivität in den grossen Gefä-
arteriitis nodosa, mikroskopische Polyangiitis, eosino-
ssen fortbestehen. Diese Marker dürfen also nicht iso-
phile Granulomatose mit Polyangiitis). Methotrexat
liert zur Kontrolle der Therapieansprache eingesetzt
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2016;16(36):744–747
WAS IST IHRE DIAGNOSE?
747
werden. Ihre Verknüpfung mit bildgebenden Verfah-
Ulzera treten in 90% der Fälle von rheumatoider Vas-
ren, insbesondere mit der PET/CT, verlangt ergänzende
kulitis auf [5].
Massnahmen zur Evaluierung des Therapieanspre-
In der Diagnostik ist es schwierig, auf Grundlage der
chens [3].
Histopathologie zwischen einer Aortitis rheumatoiden
Ursprungs und sonstiger Ursachen zu differenzieren.
Die Diagnostik beruht im Wesentlichen auf dem klini-
Diskussion
schen Kontext der rheumatoiden Arthritis, nachdem
Bei Patienten mit rheumatoider Arthritis stellt die
andere Ursachen ausgeschlossen wurden.
Perikarditis die häufigste kardiale Komplikation dar [4].
Sobald die Diagnose feststeht, ist die umgehende Ein-
Lediglich 2–4% der Patienten mit rheumatoider Peri-
leitung einer Kortikoidtherapie notwendig, um schwere
karditis berichten über Symptome. Rheumatoide Vas-
Komplikationen wie Stauungsherzinsuffizienz, Aorten-
kulitis betrifft vor allem die kleinen und mittleren Ge-
ruptur und Myokardischämie, die lebensbedrohlich
fässe, aber es sind auch Fälle von Aortitis beschrieben.
sein können, zu verhindern.
Die Risikofaktoren für rheumatoide Vaskulitis sind ein
Bei dem besprochenen Patienten weisen die schon län-
hoher Wert von Rheumafaktoren, ein mindestens ein-
ger bestehende, seit Jahren unbehandelte rheumatoide
jähriger Abstand zwischen Beginn der rheumatoiden
Arthritis, die fehlenden klinischen Hinweise einer an-
Arthritis und der Vaskulitis sowie vorhandene Kno-
deren Ursache der Vaskulitis, die laborchemischen
chenerosionen und rheumatoide Knötchen. Tabakkon-
Werte und die Bildgebung auf eine aktive rheumatoide
sum ist der einzige Umweltfaktor, dessen Vergesellschaf-
Arthritis hin; zusammen mit dem raschen Entzün-
tung mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung
dungsrückgang nach Einleitung der Kortikoidgabe
einer rheumatoiden Vaskulitis belegt ist.
deutet alles auf eine Aortitis rheumatischen Ursprungs.
Die rheumatoide Aortitis ist für 4% der nicht infektiö-
Danksagung
sen Aortitiden verantwortlich. Das mittlere Diagnosealter beträgt 56 Jahre, und das mittlere Intervall zwischen der Diagnose von Polyarthritis und Aortitis liegt
bei 6,4 Jahren. Die Patienten zeigen in der Regel An-
Die Autoren haben keine finanzielle oder persönliche Unterstützung
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Manifestationen der rheumatoiden Vaskulitis sind va-
Literatur
Müdigkeit und Gewichtsverlust umfassen, aber auch
Hautschäden, multiple Mononeuritis, Schädigungen
Dr. Malik Benmachiche
Disclosure statement
zeichen einer schweren rheumatoiden Arthritis. Die
riabel und können allgemeine Symptome wie Fieber,
Korrespondenz:
Wir danken unseren Kollegen des service de Médecine Nucléaire et
de Radiologie du CHUV: Prof. John Prior, Dr Antoine Leimgruber,
Dresse Leonor Alamo Maestre, Dresse Marion Roux.
1
2
viszeraler Organe und Gefässverschlüsse mit Gangrän.
Hautschäden in Form von Purpura, Verdickungen und
3
Chef de clinique
4
Service de médecine interne
CHUV
5
CH-1011 Lausanne
Malik.benmachiche[at]
chuv.ch
Antworten: 1. b), 2. c), 3. c), 4. e), 5. a) und e)
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
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FALLBERICHTE
748
Die vergessene Stimme
Ungewöhnliche okkulte bronchiale
Fremdkörperaspiration
Stefan Wyden, dipl. Arzt a ; Prof. Dr. med. Christophe von Garnier a ; Dr. med. Markus Koch b
a
Klinik für Pneumologie, Spital Tiefenau; b Chirurgische Klinik, Spital Tiefenau
Fallbeschreibung
agnose eines Empyems gestellt wurde. In der anschliesend durchgeführten Bronchoskopie imponierte viel
eitriges Sekret im linken Hauptbronchus. Nach Absau-
Anamnese
gen des Sekrets kam ein von Granulationsgewebe um-
Ein 64-jähriger Patient wurde uns zur weiteren Abklä-
gebener Fremdkörper zur Darstellung, der mittels
rung eines linksseitigen Pleuraergusses in die Sprech-
Zange geborgen und als Provox®-Stimmprothese iden-
stunde zugewiesen.
tifiziert werden konnte (Abb. 3).
Bei diesem Patienten wurde im Jahr 2004 ein Platten-
Neben einer antibiotischen Therapie mit Piperazillin/
epithelkarzinom des Hypopharynx operativ mit tota-
Tazobactam wurde als nächster Schritt bei ultrasono-
ler Laryngektomie, partieller Pharyngektomie, Thyroi-
graphisch ausgeprägter Septenbildung und verdickter
dektomie rechts und neck-dissection behandelt. Seither
Pleura parietalis eine Thorakoskopie durchgeführt.
lebt der Patient mit einer endständigen Tracheostomie
Aufgrund der ausgeprägten chronisch-entzündlichen
sowie einer Provox®-Stimmprothese zur tracheo-öso-
pleuralen Veränderungen mit multiplen Eiteransamm-
phagealen Stimmwiederherstellung. Regelmässige HNO-
lungen war eine offene Thorakotomie mit Empyem-
ärztliche Verlaufskontrollen ergaben keine Hinweise
Dekortikation notwendig.
auf ein Tumorrezidiv, und die Stimmprothese wurde
Verlauf
regelmässig gewechselt.
In den letzten Monaten kam es zu vermehrter Dyspnoe
Der postoperative Verlauf gestaltete sich problemlos,
sowie vermehrtem Abhusten von Sekret über das Tra-
und zwei Thoraxdrainagen konnten sukzessive inner-
cheostoma, begeleitet von einer schleichend zuneh-
halb einer Woche entfernt werden.
menden Müdigkeit. Zudem bemerkten Angehörige seit
eineinhalb Jahren wiederholt einen ab und zu auftretenden stinkigen Geruch.
Befunde
Der Hausarzt führte bei klinischem Verdacht auf eine
Minderventilation links ein konventionelles Röntgen
Thorax durch, in dem eine vollständig verschattete
linke Lunge auffiel (Abb. 1). Im anschliessend veranlassten CT-Thorax liess sich eine Atelektase der linken
Lunge und eine ausgedehnte, gekammerte Flüssigkeitskollektion erkennen (Abb. 2). Die Entzündungswerte
waren mit einer Leukozytenzahl von 30 × 109/l und einem CRP >160 mg/l deutlich erhöht. In der Durchsicht
der CT-Bilder konnte ausserdem ein Fremdkörper im
linken Hauptbronchus identifiziert werden (Abb. 2).
Therapie
In der diagnostischen Punktion des linksseitigen PleuStefan Wyden
raergusses entleerte sich putrides Sekret, worauf die Di-
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(36):748–750
Abbildung 1: Röntgen-Thorax mit vollständig verschatteter
Lunge links.
FALLBERICHTE
749
nicht eruierbar. In der Bronchoskopie zeigten sich
keine Schleimhautveränderungen an anderen Lokalisationen, die einen Rückschluss über eine Dislokation
zulassen würden. Dieser Fremdkörper führte anfangs
zu einer partiellen Lumeneinengung des linken Hauptbronchus, womit mindestens eine intermittierende
Ventilation der linken Lunge über einen gewissen Zeitraum noch gewährleistet war. Dieser «Ventilmechanismus» erklärt auch den durch dem Patienten nahestehende Personen festgestellten intermittierenden faulig
riechenden Foetor.
Die fortschreitenden entzündlichen Veränderungen
führten schliesslich zur kompletten Okklusion mit
Atelektase der linken Lunge sowie im Verlauf zur poststenotischen Pneumonie und konsekutivem Pleuraempyem.
Fremdkörperaspirationen treten bekannterweise häufiger bei Kindern auf; gut 80% der Fälle betreffen Patienten unter 15 Jahren. Grosse Fremdkörper führen zu einer
Verlegung der Atemwege im Bereich des Oropharynx
oder der Trachea und können wegen einer Asphyxie
Abbildung 2: CT-Thorax mit Fremdkörpernachweis im linken Hauptbronchus (Pfeil)
sowie polylobuliertem, inhomogen kontrastiertem Pleuraerguss links.
unmittelbar lebensbedrohlich sein, weshalb eine sofortige Entfernung notwendig ist. Kleinere Fremdkörper können bis in die weiter distal gelegenen Atemwege
gelangen – typischerweise werden sie beim Erwachsenen aufgrund des flacheren Abgangwinkels vom rechten Hauptbronchus rechtsseitig aspiriert.
Bei den Fremdkörpern handelt es sich entweder um
organisches (häufig Nüsse, Kerne von Wassermelonen,
Knochenfragmente) oder anorganisches (beispielsweise
Nägel, Zahnfragmente, Plastikteile, Teile von Ohrsteckern) Material. Der Fremdkörper löst eine unterschiedlich ausgeprägte lokale Entzündungsreaktion der bronchialen Schleimhaut aus, beispielsweise kommt es bei
aspirierten Eisentabletten zu einer Nekrosenbildung
mit Ulzerationen.
Als Risikofaktoren für eine Aspiration gelten Bewusstlosigkeit (Intoxikation, Trauma), Medikamente, die zu
einer Verminderung der Schutzreflexe führen, sowie
Dysphagie oder degenerativ neurologische Erkrankun-
Abbildung 3: Provox -Stimmprothese im linken
Hauptbronchus.
®
gen.
Geschieht die Aspiration unbemerkt, spricht man von
einer «okkulten bronchialen Fremdkörperaspiration»
(OBFBA). Die Symptomatik ist meist nur wenig aus-
Diskussion
geprägt, mit allenfalls trockenem Husten, thorakalen
Bei unserem Patienten mit einem operativ versorgten
Schmerzen, Hämoptysen, faulig-riechendem Sputum,
Hypopharynx-Karzinom und Anlage einer endständi-
Dyspnoe oder Fieber [1]. Eine bronchiale Obstruktion
gen Tracheostomie mit einer Stimmbildungsprothese
kann langfristig, neben rezidivierenden Pneumonien,
kam es mutmasslich bereits vor ungefähr eineinhalb
zu Stenosenbildung, Atelektasen, Bronchiektasen, Me-
Jahren zu einer okkulten bronchialen Fremdkörperas-
diastinitis oder einem Empyem führen [2].
piration.
Die Diagnose einer OBFBA wird häufig erst aufgrund
Ob der Fremdkörper anfangs an einer anderen Lokali-
der Komplikationen gestellt oder im Rahmen einer
sation zu liegen kam und sekundär disloziert ist, war
pneumologischen Abklärung in der Bronchoskopie er-
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(36):748–750
FALLBERICHTE
750
kannt. Schwierigkeiten bestehen darin, dass in den
Wichtig in der Erkennung einer OBFBA ist eine hohe
Stefan Wyden, dipl. Arzt
bildgebenden Verfahren Fremdkörper aufgrund deren
klinische Aufmerksamkeit, insbesondere soll nach Er-
Assistenzarzt Klinik für
Beschaffenheit häufig nicht zur Darstellung kommen.
eignissen, die auf eine unerkannte Aspiration hinwei-
Korrespondenz:
Pneumologie
Spital Tiefenau
Tiefenaustrasse 112
CH-3004 Bern 4
stefan.wyden[at]insel.ch
In der Bronchoskopie kann ein Fremdkörper nach Lo-
sen, gefragt werden [4].
kalisation und Identifikation in der Regel problemlos
Dieser Fall ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert:
entfernt werden [3]. Für die Extraktion stehen ver-
Erstens ist eine okkulte Aspiration aufgrund regelmäs-
schiedene Zangen, Ballon-Katheter, Bergenetze oder
siger Kontrollen und Wechsel einer Stimmbildungs-
Kryosonden zur Verfügung. Selten kann eine endosko-
prothese eine Rarität. Zweitens ist die Lokalisierung der
pische Entfernung nicht durchgeführt werden, sodass
Stimmprothese im linken Hauptbronchus ungewöhn-
eine chirurgische Fremdkörperresektion notwendig ist.
lich.
Im Falle einer OBFBA kommt es zumeist vor Entdeckung des Fremdkörpers zu einer Fehleinschätzung
der Symptomatik als Asthma bronchiale, einem Myko-
Informed consent
Die Publikation erfolgt im Einverständnis des Patienten.
bakterieninfekt, oder es werden wiederholte respirato-
Verdankungen
risch Infekte behandelt. Bei unserem Patienten fehlte
PD Dr. med. Andreas Christe, Chefarzt Radiologie Spital Tiefenau,
für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial.
während langer Zeit eine Symptomatik, zudem zeigten
die regelmässigen Verlaufskontrollen im Rahmen der
Tumornachsorge keine Auffälligkeiten.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Literatur
Das Wichtigste für die Praxis
1
Bei Patienten mit unerklärten, gehäuft auftretenden respiratorischen Infek-
2
ten, Husten oder Dyspnoe sollte an eine okkulte bronchiale Fremdkörperaspiration gedacht werden. Eine weitere Diagnostik ist in diesem Fall mittels CT oder bei fehlendem Fremdkörpernachweis in der Bildgebung mittels
Bronchoskopie und der Möglichkeit der Fremdkörperentfernung sinnvoll.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(36):748–750
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LESERBRIEFE
751
Courrier des lecteurs
Epilepsie et l’aptitude à conduire
Concerne: Krämer G, Bonetti C, Mathis J, Meyer K, Seeck M,
Seeger R, Wiest D. Directives actualisées de la Commission
de la Circulation Routière de la Ligue Suisse contre l’Epilepsie:
Epilepsie et permis de conduire.
Swiss Medical Forum. 2015;15(7):157–60.
Chers Collègues,
Nous avons lu avec beaucoup d’intérêt la mise
à jour des directives suisses. Nous vous remer­
cions pour ce travail important et saluons
votre effort dans l’élaboration et la récente
actualisation de directives précises, afin d’amé­
liorer la sécurité routière. Nous apprécions
aussi l’exigence d’une évaluation par le spé­
cialiste FMH en neurologie, ainsi que votre
appel à des règles plus complètes pour les pa­
thologies neurologiques autres que l’épilepsie
et pour certaines pathologies non neuro­
logiques susceptible d’interférer avec l’aptitude
à la conduite. Nous saluons enfin la liberté ac­
cordée aux spécialistes de moduler le délai de
la carence.
Nous apprécions aussi votre appel à des règles
plus complètes pour les pathologies neurolo­
giques autres que l’épilepsie et pour certaines
pathologies non neurologiques, qui pourraient
interférer avec l’aptitude à la conduite. Nous
avons cependant quelques commentaires et re­
marques par rapport aux directives émises.
Les limitations imposées aux patients avec
épilepsie paraissent sévères. Le risque relatif
habituellement reconnu est de l’ordre de 1,3,
comparable à celui des patients avec diabète
ou souffrant de maladies cardiaques [1]. Une
revue récente remet même en question l’aug­
mentation significative du risque [2], qui ap­
paraît inférieur à celui des patients souffrant
d’une maladie psychiatrique, d’un syndrome
d’apnées du sommeil (RR 3,7) et aux seniors de
plus de 75 ans en bonne santé [3] (RR 3 [3]). Il est
bien moindre que celui des personnes de
25 ans en bonne santé (RR 5), voire celui des
moins de 20 ans (RR 9) [4].
L’analyse comparative des accidents aux Etats
Unis parle en faveur des règles les moins sé­
vères [5]. Par ailleurs, 12–15% de ces accidents
résultent de la première crise [6] et ne peuvent
être prévenus. Enfin, les règles trop sévères
poussent les patients à dissimuler leurs crises,
de telle sorte que le risque d’accident ne dimi­
nue pas et que la bonne prise en charge médi­
cale de l’épilepsie et donc son contrôle peuvent
en être affectés (RR 2,08) [7].
Pour la conduite de véhicules automobiles du
3e groupe, vous préconisez un délai de carence
de six mois après une «première crise» et de
12 mois pour une épilepsie. Cette limite nous
paraît démesurément sévère. Si l’on se réfère à
la littérature, le risque de récidive de crise est
significativement augmenté surtout lors des
trois(–six) premiers mois [8]. Vous soulignez
avec justesse que très peu d’études basées sur
l’effet du risque d’accidents dus aux crises
dans le cadre de l’épilepsie sont disponibles.
Classen [2] n’a en effet pas pu retenir d’étude
de classe I. En Suisse, les données ne sont pas
précises. Selon les statistiques publiées, le
nombre de décès annuel sur la route est d’en­
viron 300/année, l’épilepsie n’étant pratique­
ment jamais tenu pour responsable (heureu­
sement!). Les patients avec épilepsie sont
encouragés à utiliser la bicyclette durant la
période de carence, conseil qui multiplie par 8
leur risque d’accident, selon les mêmes statis­
tiques. Finalement, les statistiques montrent
qu’un peu moins de 40% des accidents sont
imputables au conducteur, dont la moitié est
imputable à l’inattention. Selon la littérature,
la proportion d’accidents induits par l’épilepsie
serait proche de 0,04% (i.e.: 4/10 000!), sans
modification si le délai de carence est réduit
de 12 à 3 mois [9].
Vous préconisez des calculs statistiques pour
déterminer le risque annuel d’accidents, qui
devra être inférieur à 40% maximum pour les
conducteurs de voitures de tourisme, en­deçà
de 2% pour les conducteurs de camions et de
1% pour les conducteurs professionnels de
personnes. Ce genre de calcul théorique ne
tient pas compte du fait que le maintien de
l’attention [10], nécessaire par exemple pour
la conduite, augmente le seuil épileptogène et
réduit donc le risque de crises. La nature et
l’horaire des crises ne sont pas non plus pris
en compte.
Vous indiquez donc que l’autorisation à la
conduite doit être retirée pour toute personne
ayant un risque de 40% de faire une crise épi­
leptique dans les 12 prochains mois, suggérant
qu’il faudrait interdire la conduite à des per­
sonnes «à risque» n’ayant jamais présenté de
crises. En dehors des patients victimes de trau­
matismes crâniens sévères, nous ne voyons
pas quelle population serait concernée. Ces af­
fections du système nerveux central ont des
implications plutôt cognitives qu’épilepto­
logiques, et l’avis du neuropsychologue serait
clairement plus approprié.
D’après la nouvelle définition de l’épilepsie
élaborée par la ligue internationale contre
l’épilepsie, le diagnostic peut être posé sous
certaines conditions, dès la première crise. Le
mot utilisé dans la version française porte à
confusion, puisque «inaugurale» implique
qu’il y ait une épilepsie et que le patient
change de groupes de risques. Nous pensons
qu’il faut plutôt utiliser le terme de «première
crise», ce qui par ailleurs refléterait plus fidè­
lement la version allemande («erster epilepti­
scher Anfall»).
La définition de règles par «catégories» (A­B­C­
D,…) pose problème, puisque l’établissement
des certificats selon l’OAC se fait par groupes,
les véhicules de certaines catégories étant trou­
vés alternativement dans les 2e et 3e groupes
(tab. 1).
Tableau 1: Constatations déterminantes pour l’établissement du diagnostic par le médecin:
éxigences médicales minimales.
a. Avant modification
1er groupe
Permis de conduire de la catégorie D
2e groupe
a. Permis de conduire de la catégorie C
b. Permis de conduire des sous-catégories C1 et D1
c. Autorisation de transporter des personnes à titre professionnel
d. …
e. Experts de la circulation
3 e groupe
a. Permis de conduire des catégories A et B
b. Permis de conduire des sous-catégories A1 et B1
c. Permis de conduire des catégories spéciales F, G et M
d. …
b. Après modification
1er groupe
a. Permis des catégories A et B
b. Permis des sous-catégories A1 et B1
c. Permis des catégories spéciales F, G et M
2e groupe
a. Permis des catégories C et D
b. Permis des sous-catégories C1 et D1
c. Autorisation de transporter des personnes à titre professionnel
d. Experts de la circulation
OAC, Annexe 1 (art. 7, 9, 11a, al. 1, 27, al. 1, 29a, 29b, et 65, al. 2, let. d)
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(36):751–752
LESERBRIEFE
Nous attirons finalement votre attention sur
le fait que les catégories 1 et 2 ont été fusionnées
le 1.7.2016 (tab. 1), et que les règles devront être
modifiées encore une fois. En outre, pour les
chauffeurs professionnels, il sera dès lors exigé
que la personne qui déterminera l’aptitude ait
suivi une formation spécifique. L’exigence
n’est plus dans ces cas d’être neurologue, mais
d’avoir suivi cette formation. Quel est le posi­
tionnement de la Ligue suisse contre l’épilepsie
par rapport à cet aspect?
752
Références
1
2
3
4
5
Avec nos salutations confraternelles,
Dr Pierre Arnold, PD Dr Andrea Rossetti,
Dr Vincent Alvarez, Dr Gabriella Di Virgilio,
Dr Malin Maeder, Dr Jan Novy, Dr Vincianne
Rey-Bataillard, Dr Philippe Temperli,
Pr Philippe Ryvlin
6
7
8
Correspondance:
Dr méd. Pierre Arnold
CH­1950 Sion
pierrearnold[at]bluewin.ch
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10 Arida RM, de Almeida AC, Cavalheiro EA, Scorza FA.
Experimental and clinical findings from physical
exercise as complementary therapy for epilepsy.
Epilepsy Behav. 2013;26(3):273–8.
Note de la rédaction
Nous n’avons malheureusement pas pu obtenir de
réponse de la part des auteurs de l’article en question à ce courrier des lecteurs.
Herunterladen