SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer Swiss Medical Forum 36 7. 9. 2016 739 E. Holsboer-Trachsler, J. Hättenschwiler, J. Beck, et al. Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe unipolarer depressiver Störungen 744 M. Anastasiou, O. Lamy, C. Ribi, et al. Wenn sich eine Diagnose hinter einer anderen ver­ steckt 748 S. Wyden, C. von Garnier, M. Koch Ungewöhnliche okkulte bronchiale Fremdkörper­ aspiration With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly” 733 A. Ambresin, I. Mantel Altersbedingte Makulade generation Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Organe officiel de la FMH pour la formation continue Bollettino ufficiale per la formazione della FMH Organ da perfecziunament uffizial da la FMH www.medicalforum.ch INHALTSVERZEICHNIS 729 Redaktion Beratende Redaktoren Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Prof. Dr. Stefano Bassetti, Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Dr. Pierre Périat, Basel; Basel; Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj, Basel (Managing editor); Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern; Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds; Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern Advisory Board Dr. Sebastian Carballo, Genève; Dr. Daniel Franzen, Zürich; Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds; Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne; Dr. Sven Streit, Bern Und anderswo …? A. de Torrenté 732 Weibliches Sexualverlangen: ein lukratives Geschäft? Übersichtsartikel AIM A. Ambresin, I. Mantel Altersbedingte Makuladegeneration 733 Die altersbedingte Makuladegeneration ist in den Industriestaaten eine der häufigsten Ursachen für Sehbeeinträchtigung. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Fortschritte im Bereich der Pathogenese, bei den Diagnosemethoden und in der Behandlung erzielt. Richtlinien E. Holsboer-Trachsler, J. Hättenschwiler, J. Beck, S. Brand, U. M. Hemmeter, M. E. Keck, S. Rennhard, M. Hatzinger, M. Merlo, G. Bondolfi, M. Preisig, A. Gehret, D. Bielinski, E. Seifritz 739 Erhaltungstherapie und Rezidiv prophylaxe unipolarer depressiver Störungen Diese Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression und der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie wurden in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie auf der Grundlage der Leitlinien der «World Federation of Societies of Biological Psychiatry» und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde erstellt. Was ist Ihre Diagnose? M. Anastasiou, O. Lamy, C. Ribi, P. Zufferey, F. Gianinazzi, M. Benmachiche 744 Wenn sich eine Diagnose hinter einer anderen versteckt Ein 53-jähriger Patient mit bekannter, seit 2010 unbehandelter rheumatoider Arthritis und aktiver Raucher mit 30 pack years weist retrosternale Schmerzen auf, die seit zwölf Stunden bestehen und progressiven Charakter aufweisen. Das Roman-Debüt von Tanja Kummer Tanja Kummer ¡ SICHER IST SICHER IST SICHER Roman 2015. Geb., 220 Seiten ISBN 978-3-7296-0897-9 CHF / EUR 32.– Zytglogge Verlag «Sicher ist sicher …», denkt Martina Ortolfi ziemlich oft und schaut, dass immer alle Herdschalter ausgeschaltet, Türen abgeschlossen und die Mahlzeiten mit Handschuhen angerichtet sind. Die junge Buchhändlerin, Mutter und Ehefrau möchte alles richtig machen, wären da nur nicht ihre Ängste, die immer grösser werden. Eine rasante Geschichte über Kontrollzwänge und die Anforderungen der Gegenwart. Präzise, poetisch und lakonisch. Endlich, der erste Roman von Tanja Kummer ist da! Zytglogge Verlag | Steinentorstrasse 11 | CH-4010 Basel Tel. +41 (0)61 278 95 77 | Fax +41 55 418 89 19 | [email protected] INHALTSVERZEICHNIS 730 Fallberichte S. Wyden, C. von Garnier, M. Koch Ungewöhnliche okkulte bronchiale Fremdkörperaspiration 748 Ein 64-jähriger Patient wurde uns zur weiteren Abklärung eines linksseitigen Pleuraergusses in die Sprechstunde zugewiesen. Bei diesem Patienten wurde im Jahr 2004 ein Plattenepithelkarzinom des Hypopharynx operativ mit totaler Laryngektomie, partieller Pharyngektomie, Thyroidektomie rechts und neck-dissection behandelt. In den letzten Monaten kam es zu vermehrter Dyspnoe sowie vermehrtem Abhusten von Sekret über das Tracheostoma. Leserbriefe P. Arnold, A. Rossetti, V. Alvarez, G. Di Virgilio, M. Maeder, J. Novy, V. Rey-Bataillard, P. Temperli, P. Ryvlin 751 Epilepsie et l’aptitude à conduire Extended abstracts from SMW Arisdörfer Dorfleben in den zwanziger Jahren Myrtha Kuni Septemberträume Dorfgeschichte(n) von anno 1920 2015. 211 Seiten, 3 Abbildungen. Gebunden. sFr. 28.– / ¤ (D) 23.50.– / ¤ (A) 24.ISBN 978-3-03784-069-6 «Septemberträume» versteht es meisterhaft, die Leser in die Zeit der 1920er Jahre in der ländlichen Schweiz zu entführen. Die Geschichte handelt von zwei jungen Bauern und ihrer Freundschaft, von Fritz, der das Kunstschaffen entdeckt, und von Albert und seiner Liebe zu Barbara, die durch die standesgeprägten Forderungen der Familien verunmöglicht wird. Der Roman erzählt von einer kurzen Zeit des Aufbruchs und Aufbegehrens im engen dörflichen Umfeld. Glück und Schmerz, Traditionsglaube und Freiheitsdrang zeigt die Autorin in dichtem Wechselspiel. Myrtha Kuni entwickelt in geschickt verwobenen Strängen eine Arisdörfer Geschichte, die auf tatsächlichen Begebenheiten beruht. Verlag Johannes Petri | Steinentorstrasse 13 | CH-4010 Basel Tel. +41 (0)61 467 85 75 | Fax +41 (0)61 467 85 76 | [email protected] Ve r l a g J o h a n n e s P e t r i Impressum Swiss Medical Forum – Schweizerisches Medizin-Forum Offizielles Fortbildungsorgan der FMH und der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin Marketing EMH / Inserate: Dr. phil. II Karin Würz, Leiterin Marketing und Kommunikation, Tel. +41 (0)61 467 85 49, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected] Redaktionsadresse: Ruth Schindler, Redaktionsassistentin SMF, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 58, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected], www.medicalforum.ch Abonnemente FMH-Mitglieder: FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, Elfenstrasse 18, 3000 Bern 15, Tel. +41 (0)31 359 11 11, Fax +41 (0)31 359 11 12, [email protected] Andere Abonnemente: EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Abonnemente, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 75, Fax +41 (0)61 467 85 76, [email protected] Abonnementspreise: zusammen mit der Schweizerischen Ärztezeitung 1 Jahr CHF 395.– / Studenten CHF 198.– zzgl. Porto; ohne Schweizerische Ärzte zeitung 1 Jahr CHF 175.– / Studenten CHF 88.– zzgl. Porto (kürzere Abonnementsdauern: siehe www.medicalforum.ch) Manuskripteinreichung online: http://www.edmgr.com/smf Verlag: EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 55, Fax +41 (0)61 467 85 56, www.emh.ch ISSN: Printversion: 1424-3784 / elektronische Ausgabe: 1424-4020 Erscheint jeden Mittwoch © EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG (EMH), 2016. Das Swiss Medical Forum ist eine Open-Access-Publikation von EMH. Entsprechend gewährt EMH allen Nutzern auf der Basis der CreativeCommons-Lizenz «Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International» das zeitlich unbeschränkte Recht, das Werk zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen unter den Bedingungen, dass (1) der Name des Autors genannt wird, (2) das Werk nicht für kommerzielle Zwecke verwendet wird und (3) das Werk in keiner Weise bearbeitet oder in anderer Weise verändert wird. Die kommerzielle Nutzung ist nur mit ausdrücklicher vorgängiger Erlaubnis von EMH und auf der Basis einer schriftlichen Vereinbarung zulässig. Hinweis: Alle in dieser Zeitschrift publizierten Angaben wurden mit der grössten Sorgfalt überprüft. Die mit Verfassernamen gezeichneten Veröffentlichungen geben in erster Linie die Auffassung der Autoren und nicht zwangsläufig die Meinung der SMFRedaktion wieder. Die angegebenen Dosierungen, Indikationen und Applikationsformen, vor allem von Neuzulassungen, sollten in jedem Fall mit den Fachinformationen der verwendeten Medikamente verglichen werden. Herstellung: Schwabe AG, Muttenz, www.schwabe.ch Titelbild: © Joingate | Dreamstime.com www.verlag-johannes-petri.ch New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 752. UND ANDERSWO …? 732 Und anderswo …? Antoine de Torrenté Weibliches Sexualverlangen: ein lukratives Geschäft? GRADE­Systems beurteilt. Primäre Endpunkte waren die monatliche Zahl der befriedigenden sexuellen Interaktionen, die Intensität des sexuellen Verlangens sowie der weibliche Se­ xualfunktionsindex (Female Sexual Function Index, FSFI). Bezüglich der Sicherheit wurden Schwindel, Somnolenz, Übelkeit und Müdig­ keit analysiert. Fragestellung 10–40% aller Frauen leiden an einer sogenann­ ten «hypoaktiven Sexualfunktionsstörung» (Hypoactive Sexual Desire Disorder, HSDD). Bis dato gab es kein Medikament, das spezi­ fisch gegen HSDD wirkt. Durch Dopamin und Noradrenalin soll das sexuelle Verlangen ge­ steigert, durch Serotonin verringert werden. Flibanserin wirkt auf bestimmte Serotonin­ rezeptoren und wurde ursprünglich als Anti­ depressivum entwickelt. Nachdem es sich bei dieser Indikation als wirkungslos erwiesen hatte, wurde es in ein Mittel zur Steigerung des weiblichen Sexualverlangens «recycelt». Nach einigem Hin und Her wurde der Wirk­ stoff schliesslich von der FDA zugelassen. Resultate In die ausgewählten Studien waren fast 6000 Frauen eingeschlossen. Die Behandlung (100 mg Flibanserin pro Tag) führte im Durch­ schnitt zu 0,5 befriedigenden sexuellen Inter­ aktionen mehr und einer Zunahme von 0,3 Punkten gemäss FSFI auf einer Skala von 0–5. Die Risk Ratio war: 4 (Schwindel), 4 (Som­ nolenz), 2,35 (Übelkeit) und 1,64 (Müdigkeit). Diese Zahlen sind signifikant. Methode In der Metaanalyse wurden 5 veröffentlichte und 3 unveröffentlichte Studien aus 592 Arbei­ ten zum Thema analysiert. Sie waren rando­ misiert, doppelblind sowie plazebokontrol­ liert und betrafen prä­ und postmenopausale Frauen. Alle Frauen waren heterosexuell und lebten in einer stabilen Paarbeziehung. Die Endpunkte wurden anhand des validierten Kommentar Die Geschichte dieses Wirkstoffs ist ein typi­ sches Beispiel für die Macht von Pharmalob­ bys. Im Jahr 2004 hatte Boehringer Ingelheim die Zulassung bei HSDD beantragt. Da die Nebenwirkungen schwer und die Wirksamkeit sehr gering waren, lehnte die FDA die Markt­ zulassung ab. Daraufhin verkaufte Boehringer die Rechte für 1 Milliarde an Sprout Pharma­ Aliskiren bei Herzinsuffizienz? Eine randomisierte Studie an 7000 Patienten mit Herzinsuffizienz der NYHA­Klasse II–IV und einer Ejektionsfraktion ≤35% erhielten entweder Aliskiren allein, Aliskiren + Enalap­ ril oder Enalapril allein. Nach einem 36,6­mo­ natigen Follow­up variierten die Spitalein­ weisungen aufgrund von HI von 35–33% ohne Unterschiede zwischen den 3 Gruppen. Bei der Kombinationsbehandlung traten häufiger Hypotonie, Hyperkaliämie und Niereninsuffi­ zienz auf. ACE­Hemmer bleiben auch weiter­ hin das Mittel der Wahl … McMurray JJ, et al. NEJM. 2016;374(16):1521–32. die Diskrepanz zwischen arm und reich zu. Bei den oberen 5% war die Lebenserwartung um 3 Jahre gestiegen, während sie bei den unteren 5% gleich blieb. Die grössten Auswirkungen auf die Lebenserwartung hatte das Verhalten und nicht die medizinische Versorgung. Ärmere Menschen sind weniger gebildet, rauchen mehr und sind weniger körperlich aktiv. Da hilft nur, immer und immer wieder aufzuklären … Chetty R, et al. JAMA. 2016;315(16):1750–66. Lebenserwartung und Sozialstatus In den USA hat eine Untersuchung der Lebens­ erwartung im Verhältnis zum Einkommen mit 40 Jahren beunruhigende Zahlen ergeben, die wahrscheinlich auf andere Gesellschaften übertragbar sind. Die Lebenserwartung nimmt mit steigendem Einkommen kontinuierlich zu. Im Vergleich zum 1% der Männer mit dem nied­ rigsten Einkommen lebt das 1% der Männer mit dem höchsten Einkommen 15 Jahre und das der Frauen 10 Jahre länger. Von 2000–2004 nahm Metformin und Niereninsuffizienz Es ist bekannt, dass (das vom Markt genom­ mene) Phenformin bei niereninsuffizienten Patienten zu tödlichen Laktatazidosen führen kann. Dies gilt in geringerem Masse auch für Metformin. Nun hat die FDA neue Empfehlun­ gen formuliert: (1.) Vor einer Metforminver­ schreibung und danach mindestens einmal jährlich ist die glomeruläre Filtrationsrate zu ermitteln. (2.) Bei einer GFR von <30 ml/ min/1,73 m 2 ist Metformin kontraindiziert und bei einer GFR von 30–45 ml/min/1,73 m2 darf die Behandlung nicht begonnen werden. (3.) Bei Patienten mit einer GFR von 30–60 ml/ min/1,73 m2, anamnestisch bekannter Leber­, SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):732 ceuticals, die im Jahr 2013 erneut die Zulassung bei der FDA beantragten. Da die Wirksamkeits­ kriterien anhand eines nicht validierten Scores und die Nebenwirkungen, insbesondere beim Konsum von Alkohol zusammen mit Flibanserin, als schwer beurteilt wurden, wurde die Zulassung des Wirkstoffs erneut ab­ gelehnt (Sprout hatte eine Studie an 23 Män­ nern (!) durchgeführt: der Konsum von 2 Alkoholeinheiten mit Flibanserin hatte zwei schwere Hypotonieepisoden zur Folge; auch die Wechselwirkung mit CYP3A4­Inhibitoren wie z.B. Fluconazol verursachte schwere Hy­ potonie). Infolgedessen startete Sprout zu­ sammen mit Interessenverbänden und Frau­ envereinigungen eine intensive Werbekam­ pagne bei Journalisten, Senat und FDA. Diese gab schliesslich nach und liess den Wirkstoff entgegen dem Anraten der Kliniker, jedoch mit dem Einverständnis der Leiter der klini­ schen Abteilungen und der Abteilungen für klinische Pharmakologie zu. So funktioniert es, gefährliche Wirkstoffe mit minimalem Nutzen auf den Markt zu bringen. Die Krö­ nung: eine Black­Box­Warnung auf der Ver­ packung, die vor der Gefahr des Alkoholkon­ sums zusammen mit Flibanserin warnt. Wer das Geld hat, hat wie immer die Macht … Jaspers L et al. JAMA Intern Med. 2016;176:453. Alkoholerkrankung oder Herzinsuffizienz muss die Metforminbehandlung vor oder bei einer Kontrastmitteluntersuchung abgesetzt werden. Wichtige Empfehlungen für einen häufig verschriebenen Wirkstoff … Physician’s First Watch April 11, 2016, nach FDA MedWatch safety alert vom 8. April 2016. Aspirin® zur Primärprävention Die U.S. Preventive Services Task Force hat Empfehlungen zur Primärprävention mit Aspirin® erstellt. Bei 50–60­jährigen Erwach­ senen ist gering dosiertes Aspirin zur Präven­ tion kardiovaskulärer Ereignisse und von Kolorektalkarzinomen indiziert, wenn das kar­ diovaskuläre 10­Jahres­Risiko bei 10% liegt, das Blutungsrisiko gering ist und die Lebens­ erwartung 10 oder mehr Jahre beträgt. Bei 60–69­jährigen Patienten muss die Aspirin­ Einnahme individuell entschieden werden. Bezüglich >60­ und <50­jährigen Patienten gibt es keine zuverlässigen Daten. Bibbins-Domingo K, et al. Ann Intern Med. 2016;164(12):836–45. ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 733 Aktuelle Diagnose- und Behandlungsmethoden Altersbedingte Makuladegeneration PD Dr. med. Aude Ambresin, PD Dr. med. Irmela Mantel Département d’ophtalmologie, Université Lausanne, Hôpital ophtalmique Jules Gonin, Fondation Asile des aveugles, Lausanne Die altersbedingte Makuladegeneration ist in den Industriestaaten eine der häufigsten Ursachen für Sehbeeinträchtigung. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Fortschritte im Bereich der Pathogenese, bei den Diagnosemethoden und in der Behandlung erzielt. Einleitung Die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) kann sich bei einer ophthalmoskopischen Untersuchung ab der fünften Dekade offenbaren. Die Prävalenz nimmt mit dem Alter zu: In der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen leiden 0,8% an einer fortgeschrittenen Form mit Visusminderung, in der Gruppe der 75- bis 84-Jährigen 3,7% und in der Gruppe der über 85-Jährigen 30% [1]. Die Pathogenese der AMD ist zwar noch nicht vollständig geklärt, hängt jedoch von mehreren Faktoren ab. Die Risikofaktoren sind konstitutionell (Genetik) oder umweltbedingt (etwa Tabakrauchen) [2]. Bei der Progression einer AMD werden ein Früh- und ein Spätstadium unterschieden, das wiederum in eine atrophe und eine feuchte Form eingeteilt wird. Im Frühstadium zeigt der Patient oftmals keine Symptome, und die Diagnose wird erst bei einer Ophthalmoskopie gestellt. Der Patient könnte fesstellen, dass er die Kontraste verstärken muss, etwa indem er beim Lesen eine intensivere Beleuchtung verwendet, oder es fällt ihm typischerweise schwerer, sich an abrupte Helligkeitswechsel anzupassen, etwa beim Einfahren in Aude Ambresin die ihn im Alltag, besonders bei präzisen Tätigkeiten einen Autobahntunnel. Dieses Frühstadium kommt in wie Lesen und Schreiben, aber auch im gesellschaft- der Bevölkerung ungefähr dreimal häufiger vor als die lichen Leben beeinträchtigt. Dies kann dazu führen, Spätform und entwickelt sich nicht in jedem Fall zu dass der Betroffene nicht mehr Auto fahren kann und einem fortgeschrittenen Stadium. Gesichter kaum mehr erkennt, was als besonders Im fortgeschrittenen Stadium der AMD ist die trockene belastend empfunden wird. Die Angehörigen können (atrophe) Form durch einen progressiven Schwund der sich diese Sehschwierigkeiten oftmals nur schwer vor- Netzhautzellen und des darunterliegenden Pigmente- stellen. Nach fachmännischer Beratung können den pithels (Abb. 1) gekennzeichnet, die feuchte Form durch Patienten Hilfsmittel vorgeschlagen werden, etwa neovaskuläre Komplikationen (Abb. 2). Lupenbrillen, Handlupen, Bildschirmlesegeräte und Derzeit stehen nur für die feuchte Form, zu der etwa Wohnungsanpassungen. zwei Drittel der Spätformen der AMD zählen, wirk- Die Betroffenen neigen dazu, sich sozial zurückzu- same Behandlungsmöglichkeiten zur Verbesserung ziehen, wodurch das Risiko von Depressionen und all- der Sehschärfe zur Verfügung. gemeiner sensorischer Deprivation steigt. Bei einigen Im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit kann der treten folglich visuelle Halluzinationen auf, die als Patient unter einer schweren Sehbehinderung leiden, Charles-Bonnet-Syndrom bezeichnet werden [3]. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):733–738 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 734 try» (ForeseeHome®), die vom Patienten selbst durchgeführt werden kann, nachdem er im Gebrauch des Geräts geschult wurde. Dabei wurden gute Ergebnisse bei der Früherkennung neovaskulärer Komplikationen, bevor eine Sehverschlechterung einsetzt, erzielt [5]. Zudem stehen Applikationen für Mobiltelefone zur Verfügung, die zwar die augenärztliche Kontrolluntersuchung nicht ersetzen, aber zur Früherkennung einer Sehverschlechterung bei Risikopatienten hilfreich sein können [6]. Durch die frühzeitige Erfassung neovaskulärer Komplikationen verbessert sich die funktionelle Prognose nach der Behandlung [7]. Abbildung 1: Makulaatrophie (Pfeile) bei atropher AMD (Fundusuntersuchung). Die Möglichkeiten zur Vorbeugung von AMD sind derzeit wenig verheissungsvoll. Im Hinblick auf die Prävention des Risikos von Spätfolgen wurde für die orale Supplementierung hoher Dosen der antioxidativen Vitamine E und C in Kombination mit Vitamin-ADerivaten und Zink eine relative Wirksamkeit nachgewiesen: Das Risiko sank im Laufe von fünf Jahren von 28 auf 21% [8]. Vor Kurzem wurde der Nutzen Xanthophyll-haltiger Nahrungssupplemente, etwa Lutein oder Zeaxanthin, nachgewiesen, mit geringeren Nebenwirkungen als bei Vitamin-A-Derivaten [9]. Diagnosemethoden Abbildung 2: Makulablutung bei neovaskulärer AMD (Fundusuntersuchung). Die Diagnose der AMD erfolgt durch multimodale Bildgebung. Dazu zählen die Fundusfarbfotografie, die Fundusautofluoreszenz mit blauem Licht, die optische Früherkennung und Prophylaxe In der häufig asymptomatischen Frühform wird die Kohärenztomografie (OCT) und die Angiografie mit Kontrastmittel. Um die Makulaveränderung zu dokumentieren und sie für Untersuchungszwecke zu klassi- AMD in den meisten Fällen bei einer augenärztlichen fizieren kommt häufig die Fundusfarbfotografie zur Kontrolluntersuchung diagnostiziert, seltener bei einer Anwendung [10]. Auf diese Weise können typische Untersuchung, die der Patient aufgrund vager Seh- Anzeichen wie die Bildung von Drusen beobachtet schwierigkeiten erbittet. Der Betroffene kann dann werden (Abb. 3): Dies sind Ablagerungen auf der äusseren über die Krankheit und deren beängstigende Symp- Netzhaut, die aus Metaboliten der Fototransduktion tome, etwa das Auftauchen von Wellenlinien (Meta- oder modifizierten Makulapigmenten bestehen. morphopsie) oder von einem blinden Fleck im zentralen Die Fundusautofluoreszenz mit blauem Licht ist ein Gesichtsfeld (Zentralskotom), aufgeklärt werden. Die nicht invasives Bildgebungsverfahren zur Untersuchung frühzeitige Diagnose der Komplikationen wirkt sich des Augenhintergrunds, das auf der Veränderung der positiv auf die Prognose aus. Es bestehen verschiedene Wellenlänge des Lichts durch Lipofuszin beruht. Lipo- Möglichkeiten, zu denen dem Patienten zur Selbstkon- fuszin ist ein im Pigmentepithel verbreiteter retinaler trolle geraten werden können, die bekannteste ist der Fluorophor. Dieses In-vivo-Bild gibt Aufschluss über Amsler-Gitter-Test: Es handelt sich dabei um ein quad- die Integrität des Pigmentepithels und die Krankheits- ratisches Rastergitter auf einem Blatt Papier mit einem progression, besonders der trockenen Spätform (Abb. 4) Fixierpunkt im Zentrum, der bei guter Beleuchtung [11, 12]. und mit der Lesebrille angeschaut werden soll. Die Die OCT ist ebenfalls eine nicht-invasive Methode zur Analyse der Ergebnisse ergab indes keine besondere Bildgebung des Augenhintergrunds. Dadurch kann eine Effektivität zur Früherkennung [4]. Darstellung einer «In-situ-Histologie» mit einer Auf- In jüngerer Vergangenheit wurden weitere Instrumente lösung von 10–15 µm erreicht werden. Das Verfahren zur Früherkennung entwickelt, beispielsweise die Mik- basiert auf der Verwendung infrarotnaher Wellenlängen roperimetrie mittels «preferential hyperacuity perime- (800 nm) und dem Prinzip der niedrigkohärenten SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):733–738 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 735 Interferometrie. Die OCT-Methode ermöglicht es, wichtige Faktoren der Entwicklung der AMD zu beobachten, etwa intraretinale Zysten oder subretinale Flüssigkeit, die als Kriterien für eine erneute Behandlung herangezogen werden (Abb. 5). Eine aktuelle Weiterentwicklung des OCT-Verfahrens ist die OCT-Angiografie: Dadurch kann die Architektur der Netz- und Aderhaut im Bereich der Makula in der Tiefe dargestellt werden, ohne dass ein Kontrastmittel Abbildung 3: AMD im Frühstadium (Fundusuntersuchung). A: Harte Drusen und Hyperpigmentierung (Pfeil) B: Konfluierende weiche Drusen (Pfeil). injiziert werden muss. Die Durchblutung der neu gebildeten Blutgefässe könnte einen Hinweis auf die Aktivität der exsudativen Krankheit sein (Abb. 6) [13]. Die Angiografie mit Fluorescein oder Indocyaningrün ermöglicht die Untersuchung von Architektur und Durchblutung der Netz- und Aderhautgefässe nach Injektion eines Kontrastmittels. Sie ist besonders nützlich zur Diagnose der neovaskulären Form. Mithilfe der Fluorescein-Angiografie können die Bereiche vaskulären Remodellings dargestellt und der Zustand der inneren, aus retinalen Gefässwänden gebildeten BlutRetina-Schranke untersucht werden. Ausserdem können Zonen identifiziert werden, in denen vaskuläre Okklusionen, Ischämien oder neovaskuläre Proliferationen auftreten (Abb. 7A). Die Untersuchung der Aderhautdurchblutung mithilfe der Indocyaningrünangiografie (Abb. 7B) beruht auf demselben Prinzip. Behandlung Abbildung 4: Fundusautofluoreszenz mit blauem Licht einer atrophen AMD. Die hypoautofluoreszente Zone entspricht dem Schwund an Pigmentepithel und darunterliegenden Fotorezeptoren (Pfeile). Aktuell kann nur die feuchte, neovaskuläre Spätform behandelt werden. Für die atrophe Form werden zurzeit verschiedene Therapieansätze in klinischen Studien getestet. Abbildung 5: Darstellung einer exsudativen AMD durch optische Kohärenztomografie (OCT). Roter Pfeil: subretinale Flüssigkeit; weisser Pfeil: Flüssigkeit unter dem Pigmentepithel. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):733–738 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 736 Anti-VEGF-Therapie durch die weiterhin bestehenden anatomischen Stö- Zur Behandlung der feuchten AMD steht in der klini- rungen begrenzt, etwa durch die subretinale Fibrose schen Praxis die Anti-VEGF(vascular endothelial growth oder die Schädigung der Netzhautzellen, besonders in factor)-Therapie zur Verfügung. Die monoklonalen An- den tiefen Schichten. tikörper oder das VEGF-hemmende Fusionsprotein Die Wirkung der Anti-VEGF-Medikamente tritt sehr werden unter lokaler Betäubung aseptisch in den Glas- rasch ein und erreicht nach einigen Tagen den Höhe- körper injiziert. Die Inhibition des VEGF hemmt die punkt, nimmt jedoch aufgrund der kurzen Halbwerts- Entwicklung neuer Gefässe und bewirkt die Rück- zeit bald wieder ab. Üblicherweise muss deshalb nach bildung des Ödems und somit eine Verbesserung des einem Monat erneut behandelt werden. Zur Blockade Sehvermögens. Diese Verbesserung ist allerdings des VEGF stehen mehrere intravitreale Medikamente zur Verfügung: Ranibizumab und Aflibercept, die für diese Indikation zugelassen sind, sowie als Off-LabelBehandlung der Wirkstoff Bevacizumab. In einigen Studien wurden die Wirkung und Risiken dieser Medikamente bei der Behandlung von AMD verglichen [14]. Die internationalen Studien MARINA und ANCHOR mit Ranibizumab [15, 16] und VIEW mit Aflibercept [17] haben fixe Behandlungsschemata verwendet. Während eines Jahres wurde monatlich eine Injektion resp. in der VIEW-Studie zwei Arme mit Injektion alle zwei Monate, verabreicht. Dabei wurde eine dauerhafte Sehverbesserung nachgewiesen. Bei zahlreichen Patienten muss diese Behandlung langfristig aufrechterhalten werden, damit der anfängliche Nutzen nicht verloren geht. Die Regelmässigkeit der Behandlung ist also von entscheidender Bedeutung, um die neovaskuläre Proliferation und die intraretinale Exsudation unter Kontrolle zu halten. Jede neuerliche Exsudation bringt das Risiko einer irreversiblen Sehminderung mit sich. Infolge der hohen Prävalenz und Inzidenz der exsudativen AMD wurden die monatlichen Kontrollen und Injektionen bald zu einem Problem für die behandelnden Abbildung 6: (A) Darstellung eines choroidalen neovaskulären Komplexes (gelb) durch OCT-Angiografie. (B) OCT-Schnittbild (Blutflusszone rot). OCT = Optische Kohärenztomografie. Einrichtungen (Arbeitsaufwand) und für das Gesundheitssystem (Kosten), aber auch für die Patienten (häufige Konsultationen und Injektionen). Deshalb wurden Abbildung 7: Exsudative AMD. Fluorescein- (A) und Indocyaningrünangiografie (B) der choroidalen Neovaskularisation. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):733–738 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 737 andere Behandlungsstrategien entwickelt, die nicht auf werden. Allerdings wird in diesem Fall die Medizin- monatlichen Injektionen basieren, sondern die indi- und Forschungsethik nicht vollständig respektiert, da viduelle Reaktion auf die Behandlung berücksichtigen. es sich um eine Off-Label-Anwendung handelt. Der am weitesten verbreitete Rezidivindikator ist ein Manche Patienten leiden an Formen exsudativer AMD, bei der OCT-Untersuchung beobachteter Rückfall der die gegenüber der monatlichen Anti-VEGF-Injektion intraretinalen Exsudation. Es können zwei Strategien refraktär sind. Hier kommen adjuvante Therapien mit unterschieden werden: Der Patient wird «bei Bedarf» intravitrealem Kortison und/oder Laser (fotodynami- behandelt, das heisst im Falle eines Rezidivs (Pro re sche Therapie) infrage. Die Verschlechterung des Allge- nata [18, 19]), oder die Behandlungen erfolgen in indivi- meinzustands mit Mobilitäts- oder Kognitionsstörun- duell angepassten Intervallen mit dem Ziel, Rückfälle gen beschränkt den Einsatz intravitrealer Injektionen zu vermeiden («Treat-and-extend»-Protokoll [20, 21]). meist nicht. Durch diese Methode konnten die Zahl der Wiederbehandlungen und die Kosten verringert werden, ohne den Nutzen für das Sehvermögen zu schmälern. Gleichwohl bleibt die Zahl der Konsultationen für die Klini- Systemische und okulare Nebenwirkungen der Anti-VEGF-Therapie ken hoch, aber auch für die Patienten, bei denen man Die intravitrealen Injektionen von Anti-VEGF-Medi- eine Erschöpfung riskiert. Dies wirkt sich negativ aus, kamenten werden lokal gut vertragen, und die Zahl da sich die Behandlungen oftmals über einen Zeitraum schwerwiegender systemischer Nebenwirkungen ist von mehr als zwei Jahren erstrecken und im ersten Jahr dank der physiologischen Barriere rund um den Glas- laut mehreren Studien durchschnittlich etwa acht köper gering. Thromboembolische Ereignisse und Hy- Injektionen nötig sind, um den anfänglichen Nutzen pertonie, die bei der intravenösen Anwendung der Anti- für das Sehvermögen aufrechtzuerhalten. Die hohe In- VEGF-Medikamente in der Onkologie auftreten, wurden zidenz der neovaskulären Komplikationen und die in Studien und Metaanalysen mit intravitrealem Ein- Dauer der Behandlungen hat eine stete Zunahme der satz nicht beobachtet. In jenen grossen Studien, in Patientenzahl zur Folge, während nur wenige Patienten denen Patienten mit hohem Herz-Kreislauf-Risiko aus- die Therapie beenden können. Aus diesem Grund muss- geschlossen wurden, zeigte sich allerdings eine nicht ten die Kliniken ein hohes Mass an Organisationsarbeit signifikante Zunahme systemischer Nebenwirkungen leisten und ihre Ressourcen anpassen. (etwa zerebrovaskulärer Ereignisse). Mithilfe mehrerer Zur Bewältigung dieser Situation in der klinischen Pra- Studien wurden im Tiermodell und beim Menschen die xis hat unsere Gruppe aktiv zur Ausarbeitung eines Serumkonzentration und Halbwertszeit der intravitrea- Behandlungsschemas beigetragen, das auf individuell len Anti-VEGF-Medikamente in den Stunden nach Injek- geplanten und angepassten Intervallen beruht. Dadurch tion analysiert [24]. Bevacizumab und Aflibercept zeig- konnte die Zahl der Injektionen (wie beim «Treat-and- ten dabei eine längere systemische Exposition und eine extend»-Verfahren), aber auch die Zahl der nötigen stärkere Hemmung des Plasma-VEGF als Ranibizumab. Kontrollen um das Dreifache verringert werden, unter In der klinischen Praxis sind Anzeichen potenzieller Beibehaltung des funktionellen Nutzens, der in den Nebenwirkungen sorgfältig zu analysieren, besonders Zulassungsstudien erreicht wurde [22, 23]. bei Patienten mit kürzlich durchgemachtem vaskulä- Der Preis der Anti-VEGF-Medikamente wurde aufgrund rem Ereignis oder hohem Risiko, und die Indikation ist ihrer Wirksamkeit zur Verbesserung des Sehens und mit dem Patienten und eventuell mit dem Hausarzt zu den verhinderten indirekten Kosten ausgehandelt. Der besprechen. In Ermangelung wirksamer Behandlungs- Gewinn an Sehkraft bringt für die Patienten einen alternativen und angesichts des Erblindungsrisikos, das beträchtlichen Nutzen im Alltag und ein höheres Mass die AMD mit sich bringt, sprechen sich die Patienten an Unabhängigkeit mit sich und verringert indirekt die meist für die Anti-VEGF-Therapie aus. gesellschaftlichen Gesamtkosten. Der hohe Einheits- Schwerwiegende okulare Nebenwirkungen kommen preis der Medikamente sollte unter diesem Blickwinkel selten vor. Am schwersten wiegt die intraokulare In- betrachtet werden. Die Verringerung der Zahl der Injek- fektion durch Übertragung von Keimen bei der Injek- tionen auf das zur Krankheitskontrolle nötige Mini- tion (Endophthalmitis). Sie erfordert eine systemische mum ist somit ein wirksamer Ansatz zur Senkung der und intravitreale Antibiotikatherapie und eine mehr- Gesamtkosten. Ebenfalls aus Kostengründen empfeh- tägige Hospitalisation und kann zu einer irreversiblen len manche den Einsatz von Bevacizumab, das in grö- Sehminderung führen. sseren Einheiten vertrieben wird und unter sterilen Bisweilen sind intraokulare Entzündungsreaktionen Bedingungen aufgeteilt werden kann. So können die unterschiedlichen Schweregrads zu beobachten, die Medikamentenkosten um den Faktor 8 bis 10 reduziert meist gut auf die topische Behandlung mit Steroiden SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):733–738 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 738 gelingt es nur bei frühzeitig behandelten Fällen, ausgezeichnete funktionelle Erfolge zu erreichen und die AMD im Frühstadium vorherige Sehschärfe wiederherzustellen. Meist ist der Erfolg jedoch durch die strukturellen Makulaveränderungen und das Fortbestehen des hauptsächlich fib- Atroph oder trocken AMD im Spätstadium Neovaskulär oder feucht Optische Hilfsmittel können erforderlich sein, besonders im Spätstadium rösen neovaskulären Gefässnetzes begrenzt. Mithilfe einer Phase-III-Studie wird zurzeit untersucht, inwiefern eine Kombinationstherapie aus Anti-VEGF- und Anti-PDGF(platelet-derived growth factor)-Wirkstoffen • Keine Behandlungsstrategien in der Klinik • Wiederholte intraretinale Injektion von anti-VEGF-Wirkstoffen bei Patienten mit exsudativer AMD die Rückbildung des fibrösen Gewebes bewirkt, indem die Rezeptorbindung des PDGF in den Perizyten gehemmt wird. Die Phase-II-Studie zeigte einen Nutzen hinsichtlich der • Hemmung der Entzündung und von Faktor D • Stammzelltherapie • Anti-PDGF-Wirkstoffe Behandlungs• Stammzellstrategien therapie in der Forschung (Liste nicht vollständig) Rückentwicklung des neovaskulären Komplexes und grössere Verbesserungen der Sehschärfe. Die atrophen oder fibrösen Veränderungen tragen im Laufe der Jahre zur fortschreitenden Sehminderung Abbildung 8: Stadien der AMD und Überblick über Behandlungsmethoden in Klinik und Forschung. Abkürzungen: AMD = altersbedingte Makuladegeneration; VEGF = vascular endothelial growth factor; PGDF = platelet-derived growth factor bei, auch wenn der exsudative Anteil der Krankheit unter Kontrolle gehalten wird. Gegen diese Entwicklung, die für die Patienten sehr belastend ist, steht derzeit keine Therapie zur Verfügung. Die rein atrophe Spätform der AMD kann klinisch nicht ansprechen. Fremdkörpergefühl und Blutungen an der behandelt werden, allerdings laufen zahlreiche Projekte Injektionsstelle sind häufig, aber nicht schwerwiegend. zur Ursachen- und therapeutischen Forschung [25, 26]. Korrespondenz: Mithilfe einer Phase-III-Studie wird derzeit ein Fragment Dr Aude Ambresin, PD MER Département d’ophtalmologie Université de Lausanne Hôpital ophtalmique Jules Gonin Fondation Asile des aveugles CH-1000 Lausanne 7 aude.ambresin[at]fa2.ch Offene Fragen und therapeutische Perspektiven eines intravitrealen Antikörpers (Lampalizumab) gegen den Faktor D des Komplementsystems untersucht, das als einer der Hauptfaktoren bei der Entstehung von Hauptziel der Bemühungen ist, nach Beginn der Be- AMD gilt. Diese Therapie verlangsamte in der Phase-II- handlung die bestmögliche Sehschärfe zu erlangen Studie die Progression der atrophen Zone, besonders und sie langfristig aufrechtzuerhalten (Abb. 8). Derzeit bei Patienten mit polymorphem Komplementfaktor I. In Europa und den USA werden zurzeit Phase-I/II-Studien durchgeführt, in denen die Sicherheit und Ver- Das Wichtigste für die Praxis träglichkeit menschlicher embryonaler Stammzellen • Die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) ist eine häufige, progres- Injektion untersucht werden. Die ersten Resultate wei- sive Augenkrankheit und trotz wirksamen aktuellen Behandlungen eine sen darauf hin, dass die transplantierten Zellen über- der Hauptursachen für Erblindung in den Industriestaaten. leben können und sich die Sehschärfe des behandelten des Pigmentepithels nach intravitrealer, subretinaler • Im Frühstadium ist die AMD häufig asymptomatisch. Augenärztliche Auges verbessert. Diese Stammzelltherapien geben Früherkennungsuntersuchungen werden ab dem 50. Lebensjahr emp- Anlass zu grosser Hoffnung für die künftige Behand- fohlen. Eine positive Familienanamnese ist ein Risikofaktor. lung der atrophen AMD, allerdings ist es noch ein weiter • Im Spätstadium führen die atrophe (Verlust von Netzhautzellen) und neovaskuläre (subretinale Proliferation neuer Gefässe) AMD zur Minderung der zentralen Sehschärfe. • Die Behandlungsstrategien, die auf wiederholten intravitrealen Injektionen von Anti-VEGF-Wirkstoffen beruhen, sind gegen die feuchte AMD wirksam. Die Früherkennung der neovaskulären Form ermöglicht bessere funktionelle Ergebnisse. können. Disclosure Statement Die Autorinnen haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Bildnachweis Bild S. 733: © Joingate | Dreamstime.com • Für die atrophe Spätform steht derzeit keine Behandlung zur Verfügung. Allerdings sind die Forschungsansätze verheissungsvoll, besonders die Hemmung des Komplementsystems und die Transplantation von Stammzellen. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Weg, bis sie in die klinische Praxis übernommen werden 2016;16(36):733–738 Literatur Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch. LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix Literatur 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 SWISS MEDI CAL FO RUM Vingerling JR, Dielemans I, Hofman A, et al. The prevalence of age-related maculopathy in the Rotterdam Study. Ophthalmology 1995;102(2):205–10. Joachim N, Mitchell P, Burlutsky G, Kifley A, Wang JJ. The Incidence and Progression of Age-Related Macular Degeneration over 15 Years: The Blue Mountains Eye Study. Ophthalmology 2015;122(12):2482–9. doi: 10.1016/j.ophtha.2015.08.002. Schadlu AP, Schadlu R, Shepherd JB, 3rd. Charles Bonnet syndrome: a review. Curr. Opin. Ophthalmol. 2009;20(3):219–22. doi: 10.1097/ICU.0b013e328329b643. Zaidi FH, Cheong-Leen R, Gair EJ, et al. The Amsler chart is of doubtful value in retinal screening for early laser therapy of subretinal membranes. The West London Survey. Eye 2004;18(5):503–8. doi: 10.1038/sj.eye.6700708. Chew EY, Clemons TE, Bressler SB, et al. Randomized trial of the ForeseeHome monitoring device for early detection of neovascular age-related macular degeneration. The HOme Monitoring of the Eye (HOME) study design – HOME Study report number 1. Contemp Clin Trials. 2014;37(2):294–300. doi: 10.1016/j.cct.2014.02.003. Phung L, Gregori NZ, Ortiz A, Shi W, Schiffman JC. Reproducibility and Comparison of Visual Acuity Obtained with Sightbook Mobile Application to near Card and Snellen Chart. Retina. 2016;36(5):1009-20. doi: 10.1097/IAE.0000000000000818. Lee AY, Lee CS, Butt T, et al. UK AMD EMR USERS GROUP REPORT V: benefits of initiating ranibizumab therapy for neovascular AMD in eyes with vision better than 6/12. Br J Ophthalmol 2015;99(8):1045–50. doi: 10.1136/bjophthalmol-2014-306229. Age-Related Eye Disease Study Research G. A randomized, placebo-controlled, clinical trial of high-dose supplementation with vitamins C and E and beta carotene for age-related cataract and vision loss: AREDS report no. 9. Archives of ophthalmology 2001;119(10):1439–52. Age-Related Eye Disease Study 2 Research G, et al. Secondary analyses of the effects of lutein/zeaxanthin on age-related macular degeneration progression: AREDS2 report No. 3. JAMA ophthalmology 2014;132(2):142–9. doi: 10.1001/jamaophthalmol.2013.7376. Bird AC, Bressler NM, Bressler SB, et al. An international classification and grading system for age-related maculopathy and age-related macular degeneration. The International ARM Epidemiological Study Group. Surv. Ophthalmol. 1995;39(5):367–74. Bindewald A, Bird AC, Dandekar SS, et al. Classification of fundus autofluorescence patterns in early age-related macular disease. Investigative ophthalmology & visual science 2005;46(9):3309–14. doi: 10.1167/iovs.04-0430. Schmitz-Valckenberg S, Sahel JA, Danis R, et al. Natural History of Geographic Atrophy Progression Secondary to Age-Related Macular Degeneration (Geographic Atrophy Progression Study). Ophthalmology 2016;123(2):361–8. doi: 10.1016/j.ophtha.2015.09.036. Huang D, Jia Y, Rispoli M, Tan O, Lumbroso B. Optical Coherence ­Tomography Angiography of Time Course of Choroidal Neovascularization in Response to Anti- 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 Angiogenic Treatment. Retina 2015;35(11):2260–4. doi: 10.1097/IAE.0000000000000846. Group CR, Martin DF, Maguire MG, et al. Ranibizumab and bevacizumab for neovascular age-related macular degeneration. N.Engl.J Med. 2011;364(20):1897–908. doi: 10.1056/NEJMoa1102673. Rosenfeld PJ, Brown DM, Heier JS, et al. Ranibizumab for neovascular age-related macular degeneration. N.Engl.J Med. 2006;355(14):1419–31. Brown DM, Kaiser PK, Michels M, et al. Ranibizumab versus verteporfin for neovascular age-related macular degeneration. N.Engl.J Med. 2006;355(14):1432–44. Heier JS, Brown DM, Chong V, et al. Intravitreal aflibercept (VEGF trap-eye) in wet age-related macular degeneration. Ophthalmology 2012;119(12):2537–48. doi: 10.1016/j.ophtha.2012.09.006. Lalwani GA, Rosenfeld PJ, Fung AE, et al. A variable-dosing regimen with intravitreal ranibizumab for neovascular age-related macular degeneration: year 2 of the PrONTO Study. Am.J Ophthalmol 2009;148(1):43–58. Fung AE, Lalwani GA, Rosenfeld PJ, et al. An optical coherence tomography-guided, variable dosing regimen with intravitreal ranibizumab (Lucentis) for neovascular age-related macular degeneration. Am.J Ophthalmol 2007;143(4):566–83. Rayess N, Houston SK, 3rd, Gupta OP, Ho AC, Regillo CD. Treatment outcomes after 3 years in neovascular agerelated macular degeneration using a treat-and-extend regimen. American journal of ophthalmology 2015;159(1):3–8. e1 doi: 10.1016/j.ajo.2014.09.011. Gupta OP, Shienbaum G, Patel AH, Fecarotta C, Kaiser RS, Regillo CD. A treat and extend regimen using ranibizumab for neovascular age-related macular degeneration clinical and economic impact. Ophthalmology 2010;117(11):2134–40. Gianniou C, Dirani A, Ferrini W, et al. Two-year outcome of an observe-and-plan regimen for neovascular age-related macular degeneration: how to alleviate the clinical burden with maintained functional results. Eye (London, England) 2015;29(3):450–1. doi: 10.1038/eye.2014.321. Mantel I, Niderprim SA, Gianniou C, Deli A, Ambresin A. Reducing the clinical burden of ranibizumab treatment for neovascular age-related macular degeneration using an individually planned regimen. Br J Ophthalmol 2014;98(9):1192–6. doi: 10.1136/bjophthalmol-2013-304556. Avery RL, Castellarin AA, Steinle NC, et al. Systemic pharmacokinetics following intravitreal injections of ranibizumab, bevacizumab or aflibercept in patients with neovascular AMD. Br J Ophthalmol 2014;98(12):1636–41. doi: 10.1136/bjophthalmol-2014-305252. Querques G, Rosenfeld PJ, Cavallero E, et al. Treatment of dry age-related macular degeneration. Ophthalmic Res. 2014;52(3):107–15. doi: 10.1159/000363187. Hanus J, Zhao F, Wang S. Current therapeutic developments in atrophic age-related macular degeneration. Br J Ophthalmol 2016;100(1):122–7. doi: 10.1136/bjophthalmol-2015-306972. RICHTLINIEN 739 Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen: Update 2016, Teil 2 1 Erhaltungstherapie und Rezidiv­ prophylaxe unipolarer depressiver Störungen Prof. Dr. med. Edith Holsboer-Trachsler a , Dr. med. Josef Hättenschwiler a , PD Dr. med. Johannes Beck b , PD Dr. phil. Serge Brand b, PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter a , Prof. Dr. med. Martin Ekkehard Keck a , Dr. med. Stefan Rennhard a , Prof. Dr. med. Martin Hatzinger b , Prof. Dr. med. Marco Merlo c , Prof. Dr. med. Guido Bondolfi a , Prof. Dr. med. Martin Preisig a , Dr. med. Anouk Gehret c , Dr. med. Daniel Bielinski c , Prof. Dr. med. Erich Seifritz a a c 1 Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD); b Schweizerische Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP); Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) Teil 1, «Die Akutbehandlung depressiver Episoden», erschien im Heft 35 des «Swiss Medical Forum». Diese Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) und der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP) wurden in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie zeittherapie orientiert sich an den Risikofaktoren und am bisherigen Verlauf. Die Erläuterungen zu Evidenz- und Empfehlungsgraden sowie zur Methodenkritik, die gerade im Hinblick auf und Psychotherapie (SGPP) auf der Grundlage der Leitlinien der «World Federation of Societies of Biological Psychiatry» (WFSBP) 2013 [1] sowie der S3-Leitlinie /Nationalen Versorgungsleitlinie «Unipolare Depression» der Deutschen Gesellschaft für Psychi- langdauernde psychische Erkrankungen und daraus atrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) 2015 [2] erstellt. Der vorliegende Text ist ein Update der Version von 2010 [3]. Die Artikel in der Rubrik «Richtlinien» geben nicht unbedingt die Ansicht der SMF-Redaktion wieder. Die Inhalte unterstehen der redaktionellen Verantwortung der unterzeichnenden Fachgesellschaft bzw. Arbeitsgruppe. der depressiven Episoden» (Swiss Medical Forum Heft folgenden, notwendigen Behandlungen zu berücksichtigen sind, finden sich in Teil 1, «Die Akutbehandlung 35/2016), sowie im Anhang 3 und 4 der oben erwähnten S3-Leitlinie [2]. Erhaltungsphase Das Modell des typischen Verlaufes einer depressiven Episode und deren Behandlung ist in Abbildung 1 dar- Einleitung Edith Holsboer-Trachsler gestellt [4]. Nach der Akutbehandlung (erste Phase) mit Die vorliegenden Behandlungsempfehlungen für die möglichst vollständiger Remission folgen die Erhal- Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe unipolarer tungsphase und die Rezidivprophylaxe bzw. Langzeit- depressiver Störungen orientieren sich an den Leitlinien behandlung. Die Rezidivprophylaxe ist nicht für alle der World Federation of Societies of Biological Psychiatry Patienten notwendig, sondern nur für jene mit erhöh- (WFSBP) [1] und an der S3-Leitlinie/Nationalen Versor- tem Rückfallrisiko oder mit lebensgeschichtlich er- gungsleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychia- worbenen ungünstigen Einflussfaktoren und vermin- trie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) [2]. derten Bewältigungsressourcen, welche die Krankheit Bei der Behandlung depressiver Störungen sind kurz-, unterhalten oder zur Auslösung weiterer Krisen oder mittel- und langfristige Ziele zu beachten. Die Akut- Chronifizierung beitragen. phase der Behandlung erstreckt sich von Beginn der Ziel der Erhaltungstherapie der Depression ist es, die Behandlung bis zur Remission, die als primäres Thera- Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls in die überwundene pieziel gilt. Die Erhaltungsphase folgt der Akutphase Depressionsphase zu verhindern. Die Erhaltungsthera- und dient dem Erhalt und der Aufrechterhaltung der pie wird in der Regel über 6 und mehr Monate unver- Remission. Dabei geht es darum, einem frühen Rück- ändert durchgeführt. Bei Patienten mit längeren und/ fall vorzubeugen, Residualsymptome zu beseitigen und oder gehäuften depressiven Episoden in der Anamnese das psychosoziale und berufliche Funktionsniveau sollte die Erhaltungstherapie 9 und mehr Monate dau- wieder herzustellen. Die dritte Phase ist die Rezidiv- ern. Da Residualsymptome Prädiktoren für ein erhöhtes prophylaxe bzw. die Langzeittherapie. Ihr Ziel ist die Rückfallrisiko sind, soll die medikamentöse Behand- Verhinderung einer erneuten depressiven Episode, eines lung solange fortgesetzt werden, bis die Residualsymp- Suizids und einer Chronifizierung. Die Dauer der Lang- tome abgeklungen sind. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):739–743 RICHTLINIEN 740 den in Tabelle 1 aufgelisteten Faktoren vorhanden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls (Rezidiv). B: Wie hoch ist der Schweregrad der funktionellen Einschränkungen und der Nebenwirkungen, die im Rahmen der medikamentösen Erhaltungstherapie aufgetreten sind? C: Liegen lebensgeschichtlich erworbene ungünstige, die Störung unterhaltende Einflussfaktoren und verminderte Bewältigungsressourcen vor, die weitere Krisen auslösen oder zur Chronifizierung beitragen könnten? Abbildung 1: Modell des typischen Verlaufes einer depressiven Störung und deren Behandlung (nach Kupfer [4]). Durchführung der Rezidivprophylaxe Die Langzeitbehandlung von Patienten mit rezidivierenden depressiven Störungen beinhaltet Psychoedukation, Pharmakotherapie, Monitoring der Medi- Die Auswahl der Medikation für die Erhaltungstherapie kamentencompliance sowie Psychotherapie. orientiert sich in der Regel an der Akuttherapie. Es Ergänzend zu den somatischen Behandlungsempfeh- wird empfohlen, die Dosis, auf die der Patient in der lungen wurden im Auftrag der SGPP auch Empfehlungen Akutbehandlung angesprochen hat, beizubehalten für Psychotherapie und weitere therapeutische Mass- (vgl. Behandlungsempfehlungen Teil 1: «Die Akutbe- nahmen bei chronischer Depression erstellt [5]. handlung der depressiven Episoden»). Bei Patienten ohne Rückfall in der Erhaltungsphase ist ein langsames Psychoedukation Ausschleichen der antidepressiven Medikation ange- Da die Rezidivprophylaxe eine gute Compliance für die zeigt, wobei eine sorgfältige Beobachtung des Patienten Pharmakotherapie voraussetzt, sind Aufklärung und notwendig ist, um die Stabilität der Remission zu eva- ein enges therapeutisches Bündnis mit dem Patienten luieren. Bei allfälligen Frühzeichen einer depressiven und seinen Angehörigen von grosser Bedeutung. Die Symptomatik sollte die Behandlung vor einem neuer- Information von Patienten und ihren Angehörigen vor lichen Absetzversuch in der ursprünglichen Dosierung einer Rezidivprophylaxe/Langzeitbehandlung sollte fol- für mindestens 6 weitere Monate fortgesetzt werden. gende Themen beinhalten: Charakteristika und Verlauf Nach einer erfolgreichen Lithium-Augmentation in der Erkrankung, Behandlungsmöglichkeiten, Wirksam- der Akutphase ist die weitere kombinierte Behandlung keit der Medikamente und unerwünschte Nebenwir- mit einem Antidepressivum sowie Lithium in der Er- kungen, (täglicher) Gebrauch von Selbstbeurteilungs- haltungstherapie wirksamer als die Monotherapie. Bei instrumenten der Stimmung, um Frühwarnzeichen für suizidgefährdeten Patienten soll die Rezidivprophy- einen drohenden Rückfall oder ein Rezidiv zu erken- laxe mit Lithium zur Reduktion von suizidalen Hand- nen, die Langzeitprognose sowie das voraussichtliche lungen in Betracht gezogen werden. Behandlungsende. Es ist wichtig, den Patienten darüber aufzuklären, dass evtl. mehrere Behandlungsvarianten Rezidivprophylaktische Behandlung der depressiven Störung: Langzeit­ behandlung ausprobiert werden müssen, bevor die individuell beste Behandlungsform gefunden wird. Die Häufigkeit der Arztbesuche zur psychiatrischen Beurteilung und dem Monitoring der Medikation (z.B. Die Hauptziele der Rezidivprophylaxe bestehen darin, Beurteilung von Nebenwirkungen, Medikamenten- einem Rezidiv, einem möglichen Suizid und einer blutspiegel oder diskreten Restsymptomen) kann bei Chronifizierung der Erkrankung vorzubeugen. Mit stabilen Patienten von monatlichen Konsultationen Rezidiv ist gemeint: Depressive Symptome treten nach bis zu Terminen alle drei bis sechs Monate variieren. einer vollständig symptomfreien Periode von mindes- Bei instabilen Patienten sind häufigere Termine not- tens 6 und mehr Monaten (Remission) wieder auf. wendig. Falls der Patient während der Langzeitbehand- Folgender Algorithmus wird für den Beginn einer Re- lung eine körperliche Erkrankung entwickelt, sollten zidivprophylaxe empfohlen: mögliche Wechselwirkungen zwischen Medikamenten A: Liegen ein oder mehrere Faktoren für ein erhöhtes bedacht werden. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Rückfallrisiko vor? Hiermit ist gemeint: Je mehr von somatisch behandelndem Arzt und psychiatrischem SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):739–743 RICHTLINIEN 741 Tabelle 1: Fragen zur Einschätzung des Rückfallrisikos in eine depressive Episode (nach [3]). 1. Hat der Patient schon drei oder mehr Episoden einer depressiven Störung erlitten? 2. War die Rückfallhäufigkeit hoch, d.h. traten innerhalb der letzten fünf Jahre zwei oder mehr depressive Episoden auf? von Carbamazepin (Evidenz C) kann bei Lithium-Unverträglichkeit erwogen werden. Quetiapin ist als einziges atypisches Neuroleptikum für die Langzeittherapie untersucht und erwies sich als wirksam (Evidenz B). Von den Johanniskrautextrakten ist WS 5570 (Hyperiplant Rx) bezüglich Rückfall- und Rezidivprophylaxe 3. Trat die letzte depressive Episode innerhalb der letzten zwölf Monate auf? mit positivem Ergebnis untersucht (Evidenz B). 4. Wurden Residualsymptome während der Erhaltungstherapie beobachtet? Monitoring der Medikamentencompliance 5. Wurden subsyndromale Residualsymptome in der Remission beobachtet? einnahme gemäss ärztlicher Verordnung ist mit dem 6. Liegt eine zusätzliche dysthyme Störung vor («Doppel-Depression»/«double depression»)? 7. Wurden während der letzten Episode psychotische Symptome und/oder Suizidalität beobachtet? Handelte es sich also um eine schwere depressive Episode? Die Wichtigkeit der regelmässigen MedikamentenPatienten eingehend und gegebenenfalls wiederholt zu besprechen. Während der Langzeitanwendung von Lithium sind regelmässige Plasmaspiegelbestimmungen empfohlen: 3–4-mal pro Jahr, bzw. häufiger bei 8. Dauerten die vorangegangenen Episoden lange (d.h. länger als 6 Monate)? Veränderungen der Schilddrüsen- und/oder Nieren- 9. Ist der Rückfall aufgrund der fehlenden Einnahme der Medikamente eingetreten? krankungen (z.B. akuter Diarrhoe, Medikamenten- funktionen sowie im Rahmen von körperlichen Er- 10. Besteht ein zusätzlicher Substanzmissbrauch? interaktionen). Eine regelmässige Spiegelbestimmung 11. Bestehen komorbide Angststörungen oder Angstsymptome? erlaubt die Objektivierung der Medikamentencompli- 12. Wurde eine depressive Episode auch bei Verwandten ersten Grades beobachtet? ance, also auch die notwendige Anpassung der Dosie- 13. Hat die depressive Erkrankung vor dem 30. Lebensjahr begonnen? 14. Ist das aktuelle Alter bei 60 Jahren oder höher? rung (bei Unter- oder Überdosierung). Bei Laborunregelmässigkeiten (Schilddrüse, Niere) unter langjähriger erfolgreicher Lithiumtherapie soll eine sorgfältige Risikoabwägung zwischen Weiterführen und Absetzen erfolgen. Facharzt ist notwendig. Die Abgabe eines Medikamen- Psychotherapie tenpasses kann die interdisziplinäre Zusammenarbeit Siehe separate Behandlungsempfehlungen der SGPP [5]. erleichtern. Patienten und Angehörige sollten aufgeklärt werden, dass sie ihren behandelnden Arzt informieren, wenn erste Zeichen einer erneuten Depression Behandlung bei Symptomverschlechterung und Rezidiv Kurze, leichte depressive Symptome treten im Rahmen auftreten. der Rezidivprophylaxe recht häufig auf. Sie sind ge- Pharmakotherapie wöhnlich selbstlimitierend und verlangen in der Regel Medikamente erster Wahl zur Rezidivprophylaxe von im Gegensatz zu Rezidiven (wieder auftretende Episo- unipolaren Depressionen sind entweder das Antidepres- den) keine spezifische Behandlung oder Änderung des sivum, mit dem in der Akut- und Erhaltungstherapie Behandlungsschemas. In der Regel ist das psychiatri- eine Remission erreicht wurde, oder Lithium. Die Dosis sche Management hilfreich und ausreichend. Damit des Antidepressivums, das in der Akut- und Erhaltungs- sind z.B. Dosisanpassung, Beruhigung des Patienten phase erfolgreich eingesetzt wurde, sollte im Rahmen mittels Gesprächen und/oder mit sedierenden Medi- der Rezidivprophylaxe unverändert belassen werden. kamenten zur Regulierung der Schlaf- und/oder Angst- Bei der Wahl des Medikaments empfiehlt es sich, die zustände und/oder psychotherapeutische Interventio- Erfahrungen (Wirkungen, Nebenwirkungen) des Patien- nen mit Fokus auf akute psychosoziale Stressoren und ten zu berücksichtigen. Bei anamnestisch bekannten Konfliktsituationen gemeint. Tritt trotz dieser Mass- Nebenwirkungen unter trizyklischen und tetrazykli- nahmen ein Rezidiv auf, kann eine Frühintervention schen Antidepressiva können diese durch neuere Anti- die Episodenlänge verkürzen. Empfehlenswert ist eine depressiva ersetzt werden. Die Anwendung von Lithium erneute differentialdiagnostische Abklärung hinsicht- in der Langzeittherapie von unipolaren rezidivierenden lich psychosozialer Veränderungen, Stressoren sowie Depressionen, also nicht nur von bipolaren Verlaufsfor- Substanzmissbrauch und anderer komorbider Krank- men, ist gut belegt. Die langfristige Lithiumprophylaxe heiten wie der häufig ebenfalls vorliegenden Angst- senkt das Suizidrisiko und scheint die hohe Mortalitäts- oder weiterer Störungen. Mögliche Massnahmen zur rate von Depressionen zu normalisieren. Der Einsatz Behandlungsoptimierung sind: Erhöhung des Serum- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):739–743 RICHTLINIEN 742 spiegels in den oberen Bereich des therapeutischen Dauer und Ende einer Rezidivprophylaxe Fensters, «Add-on»-Therapie mit Lithium, zusätzliche Der optimale Zeitpunkt, eine Langzeitmedikation zu psychotherapeutische Interventionen und häufigere beenden, ist schwierig zu bestimmen. Nach Kupfer et Arztbesuche. Tritt trotz Behandlungsoptimierung keine al. [6] konnten die günstigsten Verläufe bei jenen Pati- Besserung ein, sollte eine erneute Akutbehandlung mit enten beobachtet werden, die über mindestens 5 Jahre anschliessender Erhaltungstherapie begonnen werden. die volle Medikamentendosis erhielten. Patienten mit Abbildung 2 stellt einen Algorithmus zur Rezidivpro- zwei oder mehr depressiven Episoden und damit ver- phylaxe einer depressiven Episode dar. Die Behand- bundenen bedeutsamen funktionellen Einschränkun- lungsmöglichkeiten umfassen die Kombination eines gen sollen das Antidepressivum mindestens 2 Jahre in Antidepressivums mit Lithium, die Monotherapie mit der Dosierung der Akuttherapie zur Langzeitprophylaxe Quetiapin, die Kombination von Lithium und Carba- nehmen [2]. Bei suizidgefährdeten Patienten soll zur mazepin, die Kombination zweier Antidepressiva ver- Reduzierung suizidaler Handlungen eine Lithiumme- schiedener Klassen sowie die Elektrokrampftherapie dikation in Betracht gezogen werden. Eine 3-jährige Re- (EKT). Diese wird für Patienten empfohlen, die bereits zidivprophylaxe wird routinemässig empfohlen, wenn in der Akuttherapie auf EKT remittiert sind, insbeson- der aktuellen Episode in den letzten 5 Jahren eine andere dere wenn eine Erhaltungsmedikation nicht durchführ- Episode voran ging oder wenn eine Remission nur bar oder ungenügend wirksam ist. Dabei werden eine schwer zu erreichen war [1]. Eine 5- oder langjährige bis zwei EKT-Behandlungen pro Monat empfohlen. Es Rezidivprophylaxe wird empfohlen bei Patienten mit gibt keine kontrollierten Studien zu den Effekten einer einem grösseren Risiko, besonders wenn 2 oder 3 Absetz- Langzeit-EKT-Behandlung, daher sind die Langzeitri- versuche eine weitere Episode innerhalb eines Jahres siken nicht bekannt. zur Folge hatten [1]. In der klinischen Praxis müssen Rezidivprophylaxe (RP)* mit einem Antidepressivum, wirksam in der Akut- und Erhaltungstherapie Rezidiv (Breakthrough) während der RP Behandlung der neu aufgetretenen Episode Diagnostische Neubeurteilung Behandlungsoptimierung oder Wechsel der RP** Wechsel zu einem Antidepressivum aus einer anderen Klasse Wechsel zu einem Antidepressivum aus einer anderen Klasse oder Kombination aus zwei Antidepressiva verschiedener Klassen Wechsel zu Lithium oder Antidepressivum + Lithium Wechsel zu einem Antidepressivum aus einer anderen Klasse oder Lithium + Antidepressivum aus einer anderen Klasse oder Quetiapin oder Carbamazepin Abbildung 2: Flussdiagramm – Therapeutische Möglichkeiten für eine Rezidivprophylaxe (RP) einer depressiven Episode. Aus der Medikamentengruppe der Stimmungsstabilisierer sind für die Erhaltungstherapie der unipolaren Depression Lithium und Quetiapin (Evidenzgrad B) sowie Carbamazepin (Evidenzgrad C) die am besten untersuchten Substanzen. Andere Stimmungsstabilisierer (z.B. Valproinsäure, Lamotrigin oder andere atypische Neuroleptika) sind bisher nicht in Plazebo-kontrollierten oder doppelblinden Vergleichsstudien für die Erhaltungstherapie der unipolaren Depression untersucht worden. * Elektrokrampftherapie (EKT) ist eine Erhaltungstherapiemöglichkeit für Patienten, die in der akuten Phase der Behandlung auf EKT angesprochen haben oder bei denen zwei oder mehr rezidivprophylaktische Therapieversuche fehlgeschlagen sind. ** Die Indikation einer störungsspezifischen Psychotherapie sollte geprüft werden. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):739–743 RICHTLINIEN 743 Antidepressiva nach einer Rezidivprophylaxe immer langsam ausgeschlichen werden, da sonst das Rezidivrisiko (Absetzdepression) erhöht wird. In diesem Zusammenhang heisst «langsam» eine Periode von 4–6 Monaten. Hiermit wird ein frühzeitiges Erkennen erneut auftretender Symptome ermöglicht und das Risiko von Absetzsymptomen minimiert. Absetzsymptome nach einem abrupten Stopp der Medikation wurden für alle Antidepressivaklassen berichtet. Typische Absetzsymptome bei selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) und selektiven NoradrenalinWiederaufnahmehemmern (SNRI) sind Schwindel, Ataxie, gastrointestinale und grippeähnliche Symptome sowie Schlafstörungen. Auch bei Lithium scheint ein abruptes Absetzen zu einem erhöhten Rezidivrisiko zu führen. Nach Beendigung der Lithiumbehandlung ist das Risiko bei bipolaren Erkrankungen für unmittelbar auftretende neue manische und depressive Episoden erhöht (vgl. [1]). Unklar ist, ob dies auch für unipolar depressive Patienten zutrifft. Unabhängig von der Medikation sollte der Patient in dieser Phase engmaschiger betreut werden. Besondere Sorgfalt und Betreuung ist beim Ausschleichen der Medikamente bei jenen Patienten indiziert, welche nach den Kriterien aus Tabelle 1 ein erhöhtes RezidivRisiko-Profil aufweisen. Das engmaschige Monitoring muss über mindestens 6 Monate erfolgen. Manifestiert sich während der Ausschleichperiode eine vollständig neue depressive Episode, sollte erneut die volle therapeutische Dosis des Medikaments gegeben werden [1]. Wichtig ist, das Ausschleichen der Medikamente mit dem Patienten zu besprechen, die Vor- und Nachteile zu diskutieren und über frühe Warnzeichen eines Rezidivs aufzuklären. Konversion von einer unipolaren depressiven Störung zu einer bipolaren Störung Bei rund 10% bis 20% der Patienten wird eine Diagnose- Kombination von medikamentöser Behandlung und Psychotherapie Diese Behandlungsempfehlung konzentriert sich auf biologische Behandlungsmethoden. Deshalb werden psychotherapeutische Behandlungsmethoden nur kurz erwähnt. Innerhalb der Palette psychotherapeutischer Methoden liegen evidenzbasierte Daten vor, dass die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) eine wirksame Behandlungsform ist, um Rezidiven bei Patienten mit einer depressiven Episode nach erfolgreicher Behandlung oder Residualsymptomen vorzubeugen. Auch die interpersonelle Psychotherapie (IPT) wurde für Erhaltungstherapie untersucht (siehe hierzu ausführlich Hautzinger [8] und Grawe [9]). Die Anmerkungen zu Kriterien der evidenzbasierten Medizin sind in Teil 1, «Die Akutbehandlung der depressiven Episoden», aufgeführt. Auch wenn zurzeit für die Erhaltungstherapie noch keine Langzeitstudien für die Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass die Kombinationsbehandlung den besten Schutz vor einem Rezidiv bietet. Aktualisierung der Behandlungsempfehlungen Diese Behandlungsempfehlungen werden in Abstimmung mit den WFSBP-Leitlinien sowie den Leitlinien S3 der DGPPN aktualisiert und auf der Website der SGAD (www.sgad.ch), und der SGPP (www.psychiatrie.ch) publiziert. Disclaimer Die SGPP entwickelt Behandlungs- und andere Empfehlungen zu wichtigen Fragen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung, um ihren Mitgliedern bei ihren Bemühungen um Qualitätssicherung behilflich zu sein. Die Empfehlungen beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren. Im Einzelfall können auch andere Behandlungsarten und -vorgehen zum Ziel führen. Die Empfehlungen der SGPP werden regelmässig auf ihre Gültigkeit überprüft und von der SGPP mit grösster Sorgfalt in der für die Mitglieder und allenfalls andere Interessierte geeigneten Form publiziert. Die Befolgung oder Nichtbefolgung dieser Empfehlungen hat für den Arzt oder die Ärztin weder haftungsbefreiende noch haftungsbegründende Wirkung. änderung von einer unipolaren depressiven Störung zu Korrespondenz: einer bipolaren Störung beobachtet. Falls unter Antide- Dr. med. Josef Hätten- pressivabehandlung ein Switch in die Manie auftritt, schwiler sind eine rasche Dosisreduktion des Antidepressivums Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung und eine gleichzeitige Behandlung der manischen Epi- Zürich ZADZ sode einzuleiten. Latente bipolare Störungen werden Riesbachstrasse 61 CH-8008 Zürich jhaettenschwiler[at]zadz.ch oft nicht erkannt, wobei diese Patienten besonders gefährdet sind, einen Switch in eine Manie zu erleiden [7]. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):739–743 Disclosure statement Die Erstellung dieser schweizerischen Leitlinien der SGAD, SGBP und SGPP wurde von keiner kommerziellen Organisation finanziell unterstützt. Literatur Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch. LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix Literatur 1 2 3 SWISS MEDI CAL FO RUM Bauer M, Severus E, Koehler S, Whybrow PC, Angst J, Möller H-J.WFSBP Task Force on Treatment Guidelines for Unipolar Depressive Disorders (u.a. Holsboer-Trachsler E): World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) Guidelines for Biological Treatment of Unipolar Depressive Disorders. Part 2: Maintenance Treatment of Major Depressive Disorder-Update 2015. World J Biol Psychiatry. 2015;16:76–95. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie «Unipolare Depression» der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) 2015, 2. Auflage, Version 1, November 2015 (http://www.versorgungsleitlinien.de). Holsboer-Trachsler E, Hättenschwiler J, Beck J, Brand S, Hemmeter U, Keck ME, et al. Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen. 2. Teil. Behandlungsempfehlung der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD), der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP), in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) und auf der Grundlage der Leitlinien der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP 2008) sowie 4 5 6 7 8 9 der S3-Leitlinie/Nationalen Versorgungsleitlinie «Unipolare Depression» der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN 2009). Schweiz Med Forum. 2010;10(47):818–22. Kupfer DJ. Long-term treatment of depression. J Clin Psychiatry. 1991;52(Suppl):28–34. Küchenhoff J. Psychotherapie der Depression. Behandlungsempfehlungen SGPP. http://www.psychiatrie.ch/sgpp/fachleute-undkommissionen/behandlungsempfehlungen/ Kupfer DJ, Frank E, Perel JM, Cornes C, et al. Five-year outcome for maintenance therapies in recurrent depression. Arch Gen Psychiatry. 1992;49:769–73. Hasler G, Preisig M, Müller T, Kawohl W, Seifritz E, Holsboer-Trachsler E, et al. Bipolare Störungen: Update 2015. Behandlungsempfehlungen der Schweiz. Gesellschaft für Bipolare Störungen (SGBS). Swiss Med Forum. 2015;15(20–21):486–94. Hautzinger M. Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen (5te Auflage). Weinheim: BeltzPVU, 2000. Grawe K. Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe; 2004. WAS IST IHRE DIAGNOSE? 744 Retrosternale Schmerzen Wenn sich eine Diagnose hinter einer anderen versteckt Dr. med. Maria Anastasiou a , Dr. med. Olivier Lamy a , Dr. med. Camillo Ribi b , Prof. Dr. med. Pascal Zufferey c , Dr. med. Francesco Gianinazzi c , Dr. med. Malik Benmachiche a a b c Service de Médecine Interne, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV, Lausanne Service d’immuno-allergologie, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV, Lausanne Service de Rhumatologie, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV, Lausanne Fallbeschreibung Die Abbildung 1 zeigt das bei Eintritt durchgeführte EKG. Ein 53-jähriger Patient mit bekannter, seit 2010 unbehandelter rheumatoider Arthritis und aktiver Raucher mit 30 pack years weist retrosternale Schmerzen auf, die seit zwölf Stunden bestehen und progressiven Charakter aufweisen. Er berichtet über unspezifische Thoraxbeschwerden und seit etwa einer Woche bestehende Grippesymptome. Am Eintrittstag wachte er um 5 Uhr morgens bereich; es zeigen sich Entzündungszeichen mit einem CRP-Wert von 255 mg/l und einer Leukozytose von 14 G/l. Eine Anämie oder renale Funktionsstörung liegen nicht vor. Frage 1: Welche Untersuchung werden Sie als Notfallmassnahme durchführen? Störungen. Da mit gewöhnlichen Schmerzmitteln keine Koronarografie Echokardiografie Thorax-Angio-CT Bestimmung der D-Dimere Keine weiteren Notfalluntersuchungen; Überwachung der Troponinwerte Besserung erreicht wurde, kommt er zwölf Stunden Die retrosternalen Schmerzen unseres Patienten mit durch atmungsabhängige, retrosternale, penetrierende Schmerzen auf, die in die linke Schulter, den Kiefer und Rücken ausstrahlen, mit Ohrenschmerzen verbunden sind, aber ohne Kopfschmerzen oder neurologischen Maria Anastasiou In der Laborchemie sind die Troponinwerte im Norm- a) b) c) d) e) nach Symptombeginn auf die Notfallstation. kardiovaskulären Risikofaktoren (Alter, Geschlecht, Bei der klinischen Untersuchung ist der Blutdruck an aktiver Raucher) deuten auf eine Myokardischämie hin. den Armen seitengleich, auch die peripheren Pulse Das EKG zeigt diffuse, konkave ST-Streckenhebungen sind symmetrisch. Auskultatorisch sind weder Herz- sowie eine PR-Streckensenkung in II, aVF und V3–6, und Gefässgeräusche noch Perikardreiben wahrnehm- was in erster Linie auf eine Perikarditis schliessen bar. Die Lungenauskultation ist normal. lässt. Troponinwerte im Normbereich zwölf Stunden Abbildung 1: Eintritts-EKG: diffuse, konkave ST-Streckenhebung sowie PR-Streckensenkung in II, aVF und V3–6. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):744–747 WAS IST IHRE DIAGNOSE? 745 nach Beginn der Schmerzen schliessen einen Infarkt Eine infektiöse Ätiologie, obgleich in Industrieländern aus. Zur Notfall-Koronarografie besteht somit keine selten, ist umgehend auszuschliessen [1]. Die Blutkul- Indikation, und eine Überwachung der Troponinwerte turen à froid sind steril, Syphilis- und Borreliose-Sero- ist nicht erforderlich. Eine Echokardiografie zeigt einen logie sind negativ. minimalen Perikarderguss ohne hämodynamische Aus- Eine Panarteriitis nodosa mit Beteiligung der grossen wirkungen und keine Hinweise auf segmentale Wand- Gefässe kann im Rahmen einer Hepatitis B auftreten. bewegungsstörungen. Die Virushepatitis-Serologie ist negativ. Der stechende Schmerzcharakter und das nur schwache Wenngleich eine Tuberkulose Ursache einer Perikar- Ansprechen auf Analgika lassen uns ein Thorax-Angio- ditis oder Aortitis sein kann, soll mit dem Elispot vor CT zwecks Abklärung einer Aortendissektion durch- allem eine latente Tuberkulose ausgeschlossen werden, führen (Abb. 2). Die Untersuchung zeigt eine Erweite- bevor eine systemische Kortikoidtherapie eingeleitet rung der aufsteigenden Aorta um 6 mm mit Infiltration wird; der Test ist negativ. des angrenzenden Fettgewebes, was an eine Aortitis Blutbild, Nierenfunktion und Leberwerte sind im Norm- denken lässt. bereich. Die Blutsenkung (BSG) ist mit 52 mm/h erhöht Ohne klinische Parameter und Risikofaktoren für eine (N = 10 mm/h). thromboembolische Erkrankung ist eine Bestimmung Ein zusätzlicher anamnestischer Hinweis besteht in der D-Dimere nicht das Verfahren der Wahl. entzündlichen Gelenkschmerzen der Füsse, die seit etwa Unser 53-jähriger Patient weist somit eine akute Pe- einer Woche bestehen. Derartige Schmerzen treten rikarditis in Verbindung mit einer Aortitis der Aorta mehrmals monatlich an verschiedenen Gelenken auf, ascendens auf. Die Schmerzen lassen unter Behand- insbesondere an Ellbogen und Händen und erfordern lung mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) und dann eine vorübergehende NSAR-Einnahme. Fieber Opiaten rasch nach. oder Gewichtsverlust bestehen nicht; der Patient berichtet weder über Kopfschmerz noch über Schmerzen Frage 2: Welche Untersuchung ist für die ätiologische Diagnose der Aortitis am wenigsten angezeigt? a) b) c) d) Blutkulturen à froid Syphilis- und Borreliose-Serologie TBC-Elispot Immunsubtraktion mit IgG4-Bestimmung e) Blutsenkung (BSG), antinukleäre Antikörper (ANA), antineutrophile zytoplasmische Antikörper (ANCA), Rheumafaktor, Anti-CCP beim Kauen. Seit 2010 erfolgte keinerlei antirheumatische Behandlung, nachdem eine Methotrexat- und anschliessende Adalimumab-Therapie wegen vieler Nebenwirkungen abgebrochen worden waren. Das konventionelle Röntgenbild zeigt Erosionen am jeweils 5. Fussstrahl. Die Immundiagnostik zur Abklärung einer entzündlichen Aortitis ergibt einen erhöhten Rheumafaktor (RF) von 413 U/ml (N <20 U/ml) sowie erhöhte Antikörper gegen citrullinierte Peptide (Anti-CCP) von >174 U (N <20 U), was mit dem Krankheitsbild der unbehandelten rheumatoiden Arthritis vereinbar ist. Die antinukleären Antikörper (ANA) sind mit 1:80 schwach positiv (N <1:80) bei gesprenkeltem Muster. Die antineutrophilen zytoplasmischen Antikörper (ANCA) sind negativ. Die Komplementfaktoren sind im Normbereich. Mittels Immunsubtraktion kann eine monoklonale Gammopathie ausgeschlossen werden; der IgG4-Wert ist im Normbereich. Das Urinsediment ist unauffällig. Mit Blick auf die möglichen Ätiologien existiert somit kein Argument für eine Kollagenose oder eine WegenerVaskulitis. Es gibt keine klinischen Anzeichen für eine Polychondritis atropicans, und eine IgG4-Erkrankung, die durch die lymphoplasmozytäre Infiltration verschiedener Organe gekennzeichnet ist, ist wenig wahrscheinlich. Bei unserem Patienten liegt demzufolge eine seropositive aktive rheumatische Erkrankung mit einer ent- Abbildung 2: Thorax-CT: Erweiterung der Wand der aufsteigenden Aorta (Pfeil) mit Infiltration des angrenzenden Fettgewebes. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):744–747 zündlichen Aortitis und einer damit assoziierten akuten Perikarditis vor. WAS IST IHRE DIAGNOSE? 746 Frage 3: Welche Untersuchung beabsichtigen Sie in diesem Stadium durchzuführen? a) b) c) d) e) hat sich bei Patienten mit rheumatoider Vaskulitis als nicht wirksam erwiesen. TNF-Blocker zeigen bei der Vaskulitis-Therapie keinen Nutzen [2]. Angiologische Diagnostik Aortografie PET/CT Biopsie der Schläfenarterie Keine weitere Untersuchung Tocilizumab inhibiert das Zytokin Interleukin-6 (IL-6) im Vorfeld der akuten Entzündungsphase. Diese Therapie hat bei rheumatoider Arthritis ihre Wirksamkeit bewiesen und zeigt sich in nicht-kontrollierten Studien Unter den nicht-infektiösen Ursachen der Aortitis ist bei Arteriitis der grossen Gefässe als sehr wirksam, sei die Riesenzellarteriitis (giant cell arteritis, GCA) am es im Falle von Morbus Horton, der Takayasu-Arteriitis häufigsten vertreten [1]. Die angiologische Diagnostik oder rheumatoider Arthritis. zur Abklärung von Hinweisen auf eine GCA ist negativ, Der Patient erhält somit über 1 Monat ein Prednison- wobei zu bedenken ist, dass die Dopplersonografie Schema von 60 mg/Tag, danach 1 Monat 40 mg/Tag der extrathorakalen Aortenäste zur GCA-Diagnose und schliesslich 1 Monat 30 mg/Tag, bevor eine Tocili- weder sensitiv noch spezifisch ist. Ohne Biopsie der zumab-Therapie mit 8 mg/kg/Monat eingeleitet wird. Schläfenarterie ist eine GCA nicht auszuschliessen, Die Ermunterung zum Rauchstopp ist gleichermassen jedoch ist diese Diagnose äusserst unwahrscheinlich, essentiell, um einerseits die RA begünstigende Faktoren da hier eine alternative Diagnose sehr viel nahelie- zu reduzieren und andererseits das mit der Krankheit gender ist. und der immunsuppressiven Behandlung assoziierte Angesichts einer seropositiven rheumatoiden Arthri- kardiovaskuläre und neoplastische Risiko zu verringern. tis (RA) mit klinischen, laborchemischen und radiografischen Hinweisen auf eine aktive Erkrankung lassen an die Diagnose einer entzündlichen Aortitis und einer Perikarditis denken. Zur Bestätigung der Vaskulitis-Diagnose und zwecks Evaluierung des Ausmasses der vaskulären Schädigung wird (nach 7 Tagen Kortikoidtherapie) eine PET/CT durchgeführt, die eine FDG(Fluordeoxyglucose)-Anrei- Frage 5: Welche Untersuchung(en) empfehlen Sie zur Kontrolle des Ansprechens der Therapie? a) b) c) d) e) PET/CT Angio-MRT Angio-CT PET/CT und Angio-CT Klinische und laborchemische Kontrolle cherung Grad I in der Aorta ascendens ohne Befall der Die PET/CT korreliert möglicherweise besser mit den Aorta descendens und der Karotis-Gefässe zeigt. Entzündungsmarkern [3]. Jedoch ist verglichen mit den andern bildgebenden Verfahren keine Überlegenheit, Frage 4: Welche Therapie schlagen Sie vor? a) b) c) d) e) Nur Kortikosteroide in abnehmender Dosis Kortikosteroide und Cyclophosphamid Kortikosteroide und Methotrexat Kortikosteroide und ein TNF-Blocker Kortikosteroide und Tocilizumab (= Interleukin-6-Blocker) was die Prognose von Rezidiven und die Diagnostik von Komplikationen angeht, nachweisbar. Insbesondere bei Ödem und Gefässwanderweiterung muss mehr Behandlungszeit verstreichen, bevor bei der Angio-MRT ein signifikanter Unterschied zu detektieren ist. Patienten, die im Rahmen einer rheumatoiden Arthritis Die Angio-CT erwies sich als überlegen für den Nach- eine Vaskulitis entwickeln, sind gewöhnlich Patienten, weis länger bestehender Schäden mit ausgeprägten die an einer langfristig aktiven Erkrankung leiden. Die Stenosen, bei denen die PET/CT negativ sein kann. Therapie hängt von der Grösse der betroffenen Gefässe Die Kombination PET/CT und Angio-CT ist für die und der Organbeteiligung ab. frühzeitige Diagnostik und Therapie der Vaskulitis der Die Wirksamkeit der Kortikoidtherapie ist für die An- grossen Gefässe von hohem Nutzen [3]. Die PET/CT fangskontrolle einer Vaskulitis der grossen Gefässe gut kann bereits nach fünf Behandlungstagen mit hohen belegt. Die Prednison-Anfangsdosis beträgt 1 mg/kg/ Steroiddosen zu einem negativen Ergebnis führen und Tag bei einer Behandlungsdauer von mindestens sechs muss deshalb rasch durchgeführt werden. Monaten. Zu guter Letzt bildet die Bestimmung der Entzün- Cyclophosphamid wird bei Beteiligung vitaler Organe dungsparameter (CRP/BSG) einen guten Näherungs- (Myokard, zentrales Nervensystem, Verdauungstrakt, wert für die Aktivität der Vaskulitis der grossen Gefässe, Niere) zusätzlich zu Kortikosteroiden verabreicht, in dennoch kann bei Patienten mit Werten im Normbe- Analogie zu den nekrotisierenden Vaskulitiden (Poly- reich eine Entzündungsaktivität in den grossen Gefä- arteriitis nodosa, mikroskopische Polyangiitis, eosino- ssen fortbestehen. Diese Marker dürfen also nicht iso- phile Granulomatose mit Polyangiitis). Methotrexat liert zur Kontrolle der Therapieansprache eingesetzt SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):744–747 WAS IST IHRE DIAGNOSE? 747 werden. Ihre Verknüpfung mit bildgebenden Verfah- Ulzera treten in 90% der Fälle von rheumatoider Vas- ren, insbesondere mit der PET/CT, verlangt ergänzende kulitis auf [5]. Massnahmen zur Evaluierung des Therapieanspre- In der Diagnostik ist es schwierig, auf Grundlage der chens [3]. Histopathologie zwischen einer Aortitis rheumatoiden Ursprungs und sonstiger Ursachen zu differenzieren. Die Diagnostik beruht im Wesentlichen auf dem klini- Diskussion schen Kontext der rheumatoiden Arthritis, nachdem Bei Patienten mit rheumatoider Arthritis stellt die andere Ursachen ausgeschlossen wurden. Perikarditis die häufigste kardiale Komplikation dar [4]. Sobald die Diagnose feststeht, ist die umgehende Ein- Lediglich 2–4% der Patienten mit rheumatoider Peri- leitung einer Kortikoidtherapie notwendig, um schwere karditis berichten über Symptome. Rheumatoide Vas- Komplikationen wie Stauungsherzinsuffizienz, Aorten- kulitis betrifft vor allem die kleinen und mittleren Ge- ruptur und Myokardischämie, die lebensbedrohlich fässe, aber es sind auch Fälle von Aortitis beschrieben. sein können, zu verhindern. Die Risikofaktoren für rheumatoide Vaskulitis sind ein Bei dem besprochenen Patienten weisen die schon län- hoher Wert von Rheumafaktoren, ein mindestens ein- ger bestehende, seit Jahren unbehandelte rheumatoide jähriger Abstand zwischen Beginn der rheumatoiden Arthritis, die fehlenden klinischen Hinweise einer an- Arthritis und der Vaskulitis sowie vorhandene Kno- deren Ursache der Vaskulitis, die laborchemischen chenerosionen und rheumatoide Knötchen. Tabakkon- Werte und die Bildgebung auf eine aktive rheumatoide sum ist der einzige Umweltfaktor, dessen Vergesellschaf- Arthritis hin; zusammen mit dem raschen Entzün- tung mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung dungsrückgang nach Einleitung der Kortikoidgabe einer rheumatoiden Vaskulitis belegt ist. deutet alles auf eine Aortitis rheumatischen Ursprungs. Die rheumatoide Aortitis ist für 4% der nicht infektiö- Danksagung sen Aortitiden verantwortlich. Das mittlere Diagnosealter beträgt 56 Jahre, und das mittlere Intervall zwischen der Diagnose von Polyarthritis und Aortitis liegt bei 6,4 Jahren. Die Patienten zeigen in der Regel An- Die Autoren haben keine finanzielle oder persönliche Unterstützung im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Manifestationen der rheumatoiden Vaskulitis sind va- Literatur Müdigkeit und Gewichtsverlust umfassen, aber auch Hautschäden, multiple Mononeuritis, Schädigungen Dr. Malik Benmachiche Disclosure statement zeichen einer schweren rheumatoiden Arthritis. Die riabel und können allgemeine Symptome wie Fieber, Korrespondenz: Wir danken unseren Kollegen des service de Médecine Nucléaire et de Radiologie du CHUV: Prof. John Prior, Dr Antoine Leimgruber, Dresse Leonor Alamo Maestre, Dresse Marion Roux. 1 2 viszeraler Organe und Gefässverschlüsse mit Gangrän. Hautschäden in Form von Purpura, Verdickungen und 3 Chef de clinique 4 Service de médecine interne CHUV 5 CH-1011 Lausanne Malik.benmachiche[at] chuv.ch Antworten: 1. b), 2. c), 3. c), 4. e), 5. a) und e) SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):744–747 Heather L Gornik, Mark A Creager, Aortitis, Circulation. 2008;117:3039–51. Osman M, Pagnoux C, Dryden DM, Storie D, Yacyshyn E. The Role of Biological Agents in the Management of Large Vessel Vasculitis (LVV): A Systematic Review and Meta-Analysis. PLoS One. 2014;Dec 17;9(12). Yamshita H, Kubota K, Mimori A. Clinical value of whole-body PET/ CT in patients with active rheumatic deseases. 2014;16(5):423. Kitas G, Banks MJ, Bacon PA. Cardiac involvement in rheumatoid disease. Clin Med. 2001;Jan–Feb;1(1):18–21. Kaneko S, Yamashita H, et al. Rheumatoid arthritis associated aortitis: a case report and literature review. SpringerPlus. 2014;3:509. FALLBERICHTE 748 Die vergessene Stimme Ungewöhnliche okkulte bronchiale Fremdkörperaspiration Stefan Wyden, dipl. Arzt a ; Prof. Dr. med. Christophe von Garnier a ; Dr. med. Markus Koch b a Klinik für Pneumologie, Spital Tiefenau; b Chirurgische Klinik, Spital Tiefenau Fallbeschreibung agnose eines Empyems gestellt wurde. In der anschliesend durchgeführten Bronchoskopie imponierte viel eitriges Sekret im linken Hauptbronchus. Nach Absau- Anamnese gen des Sekrets kam ein von Granulationsgewebe um- Ein 64-jähriger Patient wurde uns zur weiteren Abklä- gebener Fremdkörper zur Darstellung, der mittels rung eines linksseitigen Pleuraergusses in die Sprech- Zange geborgen und als Provox®-Stimmprothese iden- stunde zugewiesen. tifiziert werden konnte (Abb. 3). Bei diesem Patienten wurde im Jahr 2004 ein Platten- Neben einer antibiotischen Therapie mit Piperazillin/ epithelkarzinom des Hypopharynx operativ mit tota- Tazobactam wurde als nächster Schritt bei ultrasono- ler Laryngektomie, partieller Pharyngektomie, Thyroi- graphisch ausgeprägter Septenbildung und verdickter dektomie rechts und neck-dissection behandelt. Seither Pleura parietalis eine Thorakoskopie durchgeführt. lebt der Patient mit einer endständigen Tracheostomie Aufgrund der ausgeprägten chronisch-entzündlichen sowie einer Provox®-Stimmprothese zur tracheo-öso- pleuralen Veränderungen mit multiplen Eiteransamm- phagealen Stimmwiederherstellung. Regelmässige HNO- lungen war eine offene Thorakotomie mit Empyem- ärztliche Verlaufskontrollen ergaben keine Hinweise Dekortikation notwendig. auf ein Tumorrezidiv, und die Stimmprothese wurde Verlauf regelmässig gewechselt. In den letzten Monaten kam es zu vermehrter Dyspnoe Der postoperative Verlauf gestaltete sich problemlos, sowie vermehrtem Abhusten von Sekret über das Tra- und zwei Thoraxdrainagen konnten sukzessive inner- cheostoma, begeleitet von einer schleichend zuneh- halb einer Woche entfernt werden. menden Müdigkeit. Zudem bemerkten Angehörige seit eineinhalb Jahren wiederholt einen ab und zu auftretenden stinkigen Geruch. Befunde Der Hausarzt führte bei klinischem Verdacht auf eine Minderventilation links ein konventionelles Röntgen Thorax durch, in dem eine vollständig verschattete linke Lunge auffiel (Abb. 1). Im anschliessend veranlassten CT-Thorax liess sich eine Atelektase der linken Lunge und eine ausgedehnte, gekammerte Flüssigkeitskollektion erkennen (Abb. 2). Die Entzündungswerte waren mit einer Leukozytenzahl von 30 × 109/l und einem CRP >160 mg/l deutlich erhöht. In der Durchsicht der CT-Bilder konnte ausserdem ein Fremdkörper im linken Hauptbronchus identifiziert werden (Abb. 2). Therapie In der diagnostischen Punktion des linksseitigen PleuStefan Wyden raergusses entleerte sich putrides Sekret, worauf die Di- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):748–750 Abbildung 1: Röntgen-Thorax mit vollständig verschatteter Lunge links. FALLBERICHTE 749 nicht eruierbar. In der Bronchoskopie zeigten sich keine Schleimhautveränderungen an anderen Lokalisationen, die einen Rückschluss über eine Dislokation zulassen würden. Dieser Fremdkörper führte anfangs zu einer partiellen Lumeneinengung des linken Hauptbronchus, womit mindestens eine intermittierende Ventilation der linken Lunge über einen gewissen Zeitraum noch gewährleistet war. Dieser «Ventilmechanismus» erklärt auch den durch dem Patienten nahestehende Personen festgestellten intermittierenden faulig riechenden Foetor. Die fortschreitenden entzündlichen Veränderungen führten schliesslich zur kompletten Okklusion mit Atelektase der linken Lunge sowie im Verlauf zur poststenotischen Pneumonie und konsekutivem Pleuraempyem. Fremdkörperaspirationen treten bekannterweise häufiger bei Kindern auf; gut 80% der Fälle betreffen Patienten unter 15 Jahren. Grosse Fremdkörper führen zu einer Verlegung der Atemwege im Bereich des Oropharynx oder der Trachea und können wegen einer Asphyxie Abbildung 2: CT-Thorax mit Fremdkörpernachweis im linken Hauptbronchus (Pfeil) sowie polylobuliertem, inhomogen kontrastiertem Pleuraerguss links. unmittelbar lebensbedrohlich sein, weshalb eine sofortige Entfernung notwendig ist. Kleinere Fremdkörper können bis in die weiter distal gelegenen Atemwege gelangen – typischerweise werden sie beim Erwachsenen aufgrund des flacheren Abgangwinkels vom rechten Hauptbronchus rechtsseitig aspiriert. Bei den Fremdkörpern handelt es sich entweder um organisches (häufig Nüsse, Kerne von Wassermelonen, Knochenfragmente) oder anorganisches (beispielsweise Nägel, Zahnfragmente, Plastikteile, Teile von Ohrsteckern) Material. Der Fremdkörper löst eine unterschiedlich ausgeprägte lokale Entzündungsreaktion der bronchialen Schleimhaut aus, beispielsweise kommt es bei aspirierten Eisentabletten zu einer Nekrosenbildung mit Ulzerationen. Als Risikofaktoren für eine Aspiration gelten Bewusstlosigkeit (Intoxikation, Trauma), Medikamente, die zu einer Verminderung der Schutzreflexe führen, sowie Dysphagie oder degenerativ neurologische Erkrankun- Abbildung 3: Provox -Stimmprothese im linken Hauptbronchus. ® gen. Geschieht die Aspiration unbemerkt, spricht man von einer «okkulten bronchialen Fremdkörperaspiration» (OBFBA). Die Symptomatik ist meist nur wenig aus- Diskussion geprägt, mit allenfalls trockenem Husten, thorakalen Bei unserem Patienten mit einem operativ versorgten Schmerzen, Hämoptysen, faulig-riechendem Sputum, Hypopharynx-Karzinom und Anlage einer endständi- Dyspnoe oder Fieber [1]. Eine bronchiale Obstruktion gen Tracheostomie mit einer Stimmbildungsprothese kann langfristig, neben rezidivierenden Pneumonien, kam es mutmasslich bereits vor ungefähr eineinhalb zu Stenosenbildung, Atelektasen, Bronchiektasen, Me- Jahren zu einer okkulten bronchialen Fremdkörperas- diastinitis oder einem Empyem führen [2]. piration. Die Diagnose einer OBFBA wird häufig erst aufgrund Ob der Fremdkörper anfangs an einer anderen Lokali- der Komplikationen gestellt oder im Rahmen einer sation zu liegen kam und sekundär disloziert ist, war pneumologischen Abklärung in der Bronchoskopie er- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):748–750 FALLBERICHTE 750 kannt. Schwierigkeiten bestehen darin, dass in den Wichtig in der Erkennung einer OBFBA ist eine hohe Stefan Wyden, dipl. Arzt bildgebenden Verfahren Fremdkörper aufgrund deren klinische Aufmerksamkeit, insbesondere soll nach Er- Assistenzarzt Klinik für Beschaffenheit häufig nicht zur Darstellung kommen. eignissen, die auf eine unerkannte Aspiration hinwei- Korrespondenz: Pneumologie Spital Tiefenau Tiefenaustrasse 112 CH-3004 Bern 4 stefan.wyden[at]insel.ch In der Bronchoskopie kann ein Fremdkörper nach Lo- sen, gefragt werden [4]. kalisation und Identifikation in der Regel problemlos Dieser Fall ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: entfernt werden [3]. Für die Extraktion stehen ver- Erstens ist eine okkulte Aspiration aufgrund regelmäs- schiedene Zangen, Ballon-Katheter, Bergenetze oder siger Kontrollen und Wechsel einer Stimmbildungs- Kryosonden zur Verfügung. Selten kann eine endosko- prothese eine Rarität. Zweitens ist die Lokalisierung der pische Entfernung nicht durchgeführt werden, sodass Stimmprothese im linken Hauptbronchus ungewöhn- eine chirurgische Fremdkörperresektion notwendig ist. lich. Im Falle einer OBFBA kommt es zumeist vor Entdeckung des Fremdkörpers zu einer Fehleinschätzung der Symptomatik als Asthma bronchiale, einem Myko- Informed consent Die Publikation erfolgt im Einverständnis des Patienten. bakterieninfekt, oder es werden wiederholte respirato- Verdankungen risch Infekte behandelt. Bei unserem Patienten fehlte PD Dr. med. Andreas Christe, Chefarzt Radiologie Spital Tiefenau, für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial. während langer Zeit eine Symptomatik, zudem zeigten die regelmässigen Verlaufskontrollen im Rahmen der Tumornachsorge keine Auffälligkeiten. Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Literatur Das Wichtigste für die Praxis 1 Bei Patienten mit unerklärten, gehäuft auftretenden respiratorischen Infek- 2 ten, Husten oder Dyspnoe sollte an eine okkulte bronchiale Fremdkörperaspiration gedacht werden. Eine weitere Diagnostik ist in diesem Fall mittels CT oder bei fehlendem Fremdkörpernachweis in der Bildgebung mittels Bronchoskopie und der Möglichkeit der Fremdkörperentfernung sinnvoll. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):748–750 3 4 Chen CH, Lai CL, Tsai TT, Lee YC, Perng RP. Foreign body aspiration into the lower airway in chinese adults. Chest.1997;112(1):129. Asadi Gharabaghi M, Asadi Gharabaghi M, Firoozbakhsh S. Empyema caused by foreign body aspiration. BMJ Case Rep.2012;2012. Limper AH, Prakash UB. Tracheobronchial foreign bodies in adults. Ann Intern Med. 1990;112(8):604 Wolkove N, Kreisman H, Cohen C,Frank H. Occult Foreign-Body Aspiration in Adults. JAMA. 1982;248:1350–2. LESERBRIEFE 751 Courrier des lecteurs Epilepsie et l’aptitude à conduire Concerne: Krämer G, Bonetti C, Mathis J, Meyer K, Seeck M, Seeger R, Wiest D. Directives actualisées de la Commission de la Circulation Routière de la Ligue Suisse contre l’Epilepsie: Epilepsie et permis de conduire. Swiss Medical Forum. 2015;15(7):157–60. Chers Collègues, Nous avons lu avec beaucoup d’intérêt la mise à jour des directives suisses. Nous vous remer­ cions pour ce travail important et saluons votre effort dans l’élaboration et la récente actualisation de directives précises, afin d’amé­ liorer la sécurité routière. Nous apprécions aussi l’exigence d’une évaluation par le spé­ cialiste FMH en neurologie, ainsi que votre appel à des règles plus complètes pour les pa­ thologies neurologiques autres que l’épilepsie et pour certaines pathologies non neuro­ logiques susceptible d’interférer avec l’aptitude à la conduite. Nous saluons enfin la liberté ac­ cordée aux spécialistes de moduler le délai de la carence. Nous apprécions aussi votre appel à des règles plus complètes pour les pathologies neurolo­ giques autres que l’épilepsie et pour certaines pathologies non neurologiques, qui pourraient interférer avec l’aptitude à la conduite. Nous avons cependant quelques commentaires et re­ marques par rapport aux directives émises. Les limitations imposées aux patients avec épilepsie paraissent sévères. Le risque relatif habituellement reconnu est de l’ordre de 1,3, comparable à celui des patients avec diabète ou souffrant de maladies cardiaques [1]. Une revue récente remet même en question l’aug­ mentation significative du risque [2], qui ap­ paraît inférieur à celui des patients souffrant d’une maladie psychiatrique, d’un syndrome d’apnées du sommeil (RR 3,7) et aux seniors de plus de 75 ans en bonne santé [3] (RR 3 [3]). Il est bien moindre que celui des personnes de 25 ans en bonne santé (RR 5), voire celui des moins de 20 ans (RR 9) [4]. L’analyse comparative des accidents aux Etats Unis parle en faveur des règles les moins sé­ vères [5]. Par ailleurs, 12–15% de ces accidents résultent de la première crise [6] et ne peuvent être prévenus. Enfin, les règles trop sévères poussent les patients à dissimuler leurs crises, de telle sorte que le risque d’accident ne dimi­ nue pas et que la bonne prise en charge médi­ cale de l’épilepsie et donc son contrôle peuvent en être affectés (RR 2,08) [7]. Pour la conduite de véhicules automobiles du 3e groupe, vous préconisez un délai de carence de six mois après une «première crise» et de 12 mois pour une épilepsie. Cette limite nous paraît démesurément sévère. Si l’on se réfère à la littérature, le risque de récidive de crise est significativement augmenté surtout lors des trois(–six) premiers mois [8]. Vous soulignez avec justesse que très peu d’études basées sur l’effet du risque d’accidents dus aux crises dans le cadre de l’épilepsie sont disponibles. Classen [2] n’a en effet pas pu retenir d’étude de classe I. En Suisse, les données ne sont pas précises. Selon les statistiques publiées, le nombre de décès annuel sur la route est d’en­ viron 300/année, l’épilepsie n’étant pratique­ ment jamais tenu pour responsable (heureu­ sement!). Les patients avec épilepsie sont encouragés à utiliser la bicyclette durant la période de carence, conseil qui multiplie par 8 leur risque d’accident, selon les mêmes statis­ tiques. Finalement, les statistiques montrent qu’un peu moins de 40% des accidents sont imputables au conducteur, dont la moitié est imputable à l’inattention. Selon la littérature, la proportion d’accidents induits par l’épilepsie serait proche de 0,04% (i.e.: 4/10 000!), sans modification si le délai de carence est réduit de 12 à 3 mois [9]. Vous préconisez des calculs statistiques pour déterminer le risque annuel d’accidents, qui devra être inférieur à 40% maximum pour les conducteurs de voitures de tourisme, en­deçà de 2% pour les conducteurs de camions et de 1% pour les conducteurs professionnels de personnes. Ce genre de calcul théorique ne tient pas compte du fait que le maintien de l’attention [10], nécessaire par exemple pour la conduite, augmente le seuil épileptogène et réduit donc le risque de crises. La nature et l’horaire des crises ne sont pas non plus pris en compte. Vous indiquez donc que l’autorisation à la conduite doit être retirée pour toute personne ayant un risque de 40% de faire une crise épi­ leptique dans les 12 prochains mois, suggérant qu’il faudrait interdire la conduite à des per­ sonnes «à risque» n’ayant jamais présenté de crises. En dehors des patients victimes de trau­ matismes crâniens sévères, nous ne voyons pas quelle population serait concernée. Ces af­ fections du système nerveux central ont des implications plutôt cognitives qu’épilepto­ logiques, et l’avis du neuropsychologue serait clairement plus approprié. D’après la nouvelle définition de l’épilepsie élaborée par la ligue internationale contre l’épilepsie, le diagnostic peut être posé sous certaines conditions, dès la première crise. Le mot utilisé dans la version française porte à confusion, puisque «inaugurale» implique qu’il y ait une épilepsie et que le patient change de groupes de risques. Nous pensons qu’il faut plutôt utiliser le terme de «première crise», ce qui par ailleurs refléterait plus fidè­ lement la version allemande («erster epilepti­ scher Anfall»). La définition de règles par «catégories» (A­B­C­ D,…) pose problème, puisque l’établissement des certificats selon l’OAC se fait par groupes, les véhicules de certaines catégories étant trou­ vés alternativement dans les 2e et 3e groupes (tab. 1). Tableau 1: Constatations déterminantes pour l’établissement du diagnostic par le médecin: éxigences médicales minimales. a. Avant modification 1er groupe Permis de conduire de la catégorie D 2e groupe a. Permis de conduire de la catégorie C b. Permis de conduire des sous-catégories C1 et D1 c. Autorisation de transporter des personnes à titre professionnel d. … e. Experts de la circulation 3 e groupe a. Permis de conduire des catégories A et B b. Permis de conduire des sous-catégories A1 et B1 c. Permis de conduire des catégories spéciales F, G et M d. … b. Après modification 1er groupe a. Permis des catégories A et B b. Permis des sous-catégories A1 et B1 c. Permis des catégories spéciales F, G et M 2e groupe a. Permis des catégories C et D b. Permis des sous-catégories C1 et D1 c. Autorisation de transporter des personnes à titre professionnel d. Experts de la circulation OAC, Annexe 1 (art. 7, 9, 11a, al. 1, 27, al. 1, 29a, 29b, et 65, al. 2, let. d) SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):751–752 LESERBRIEFE Nous attirons finalement votre attention sur le fait que les catégories 1 et 2 ont été fusionnées le 1.7.2016 (tab. 1), et que les règles devront être modifiées encore une fois. En outre, pour les chauffeurs professionnels, il sera dès lors exigé que la personne qui déterminera l’aptitude ait suivi une formation spécifique. L’exigence n’est plus dans ces cas d’être neurologue, mais d’avoir suivi cette formation. Quel est le posi­ tionnement de la Ligue suisse contre l’épilepsie par rapport à cet aspect? 752 Références 1 2 3 4 5 Avec nos salutations confraternelles, Dr Pierre Arnold, PD Dr Andrea Rossetti, Dr Vincent Alvarez, Dr Gabriella Di Virgilio, Dr Malin Maeder, Dr Jan Novy, Dr Vincianne Rey-Bataillard, Dr Philippe Temperli, Pr Philippe Ryvlin 6 7 8 Correspondance: Dr méd. Pierre Arnold CH­1950 Sion pierrearnold[at]bluewin.ch Drazkowski J. An overview of epilepsy and driving. Epilepsia. 2007;48 Suppl 9:10–2. Classen S, Crizzle AM, Winter SM, Silver W, Eisenschenk S. Evidence­based review on epilepsy and driving. Epilepsy Behav. 2012;23(2):103–12. Epilepsy and Driving in Europe, A report, of the Second European Working Group on Epilepsy and Driving, an advisory board to the Driving Licence Committee of the European Union. 2005. Roads and Traffic Authority, 2001. Accessed from: http://www.rta.nsw.gov.au/publicationsstatistics­ forms/downloads/stats annual2001.pdf Winston GP, Jaiser SR. Western driving regulations for unprovoked first seizures and epilepsy. Seizure. 2012;21(5):371–6. McLachlan RS, Starreveld E, Lee MA. Impact of mandatory physician reporting on accident risk in epilepsy. Epilepsia. 2007;48(8):1500–5. Faught E, Duh MS, Weiner JR, Guérin A, Cunnington MC. Nonadherence to antiepileptic drugs and increased mortality: findings from the RANSOM Study. Neurology. 2008;71(20):1572–8. Marson A, Jacoby A, Johnson A, Kim L, Gamble C, Chadwick D. Medical Research Council MESS Study Group. Immediate versus deferred antiepileptic drug treatment for early epilepsy and single seizures: a randomised controlled trial. Lancet. 2005;365(9476):2007–13. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(36):751–752 9 Drazkowski JF, Fisher RS, Sirven JI, Demaerschalk BM, Uber­Zak L, Hentz JG, Labiner D. Seizure­related motor vehicle crashes in Arizona before and after reducing the driving restriction from 12 to 3 months. Mayo Clin Proc. 2003;78(7):819–25. 10 Arida RM, de Almeida AC, Cavalheiro EA, Scorza FA. Experimental and clinical findings from physical exercise as complementary therapy for epilepsy. Epilepsy Behav. 2013;26(3):273–8. Note de la rédaction Nous n’avons malheureusement pas pu obtenir de réponse de la part des auteurs de l’article en question à ce courrier des lecteurs.