Das Journal der Staatsoper Hannover seitenbühne 03.04 01 OPER PROSZENIUM FASZINATION BÜHNE Eigentlich bin ich per Zufall ans Theater gekommen. Als ich nach dem Abitur beim Arbeitsamt nach einem Studentenjob fragte, bot man mir einen Job bei den Städtischen Bühnen in Osnabrück an. Zwar hatte ich bis dato schon einige Theater als Zuschauer besucht – jedoch noch nie hinter die Kulissen geblickt. Als ich zum ersten Mal einen Fuß auf »die große Bühne« setzte, kam es mir vor, als würde ich eine fremde Welt betreten: Diese ganz eigene Atmosphäre, die von einem leeren Bühnenraum ausgeht, hatte mich sofort gefangen genommen. Ich stellte schnell fest, dass mir diese fremde Welt liegt. So entschloss ich mich dazu, nach einer Ausbildung in einem handwerklichen Beruf meinen Theatermeister zu machen und anschließend das Studium zum Diplom-Ingenieur für Theater und Veranstaltungstechnik in Berlin zu absolvieren. Parallel dazu arbeitete ich weiterhin an verschiedenen Theatern. Im Laufe der Jahre habe ich dabei nahezu alle Sparten durchlaufen. Letztendlich kommt es mir gar nicht so sehr auf die Sparte an – schließlich hat jede ihren eigenen Charme – es ist vielmehr das Gefühl, an der Entstehung einer Produktion mitzuwirken, konstruktive Lösungen und technische Finessen für Bühnenbilder im Team zu entwickeln: Nachdem ein Bühnenbildner seinen Bühnenbildentwurf vorgestellt hat, muss geprüft werden, ob dieser tatsächlich realisiert werden kann. Hierzu müssen Kosten kalkuliert, ein technisches Konzept entwickelt, statische Berechnungen durchgeführt, Konstruktionszeichnungen angefertigt, Materialen geprüft, Auf- und Abbauzeiten für die Vorstellungsdisposition abgeschätzt werden – um nur einige Vorgänge zu nennen, die vonstatten gehen, bis die Proben ca. sieben Wochen vor der Premiere beginnen können. Dabei ist es unerlässlich, dass ›Kunst‹ und ›Technik‹ sehr eng miteinander zusammenarbeiten. Es ist diese Zusammenarbeit aller beteiligten Gewerke, die den besonderen Reiz meiner Arbeit als Technischer Leiter ausmacht. Wenn sich der Vorhang am Ende eines Premierenabends zum Applaus wieder öffnet, gilt dieser in meinen Augen nicht nur den Künstlern auf der Bühne, sondern auch den Mitarbeitern der Werkstätten, der Requisite, der Beleuchtung, der Maschine, des Tons und der Bühnentechnik – eben all denjenigen, die hinter den Kulissen an der Inszenierung mitgewirkt haben! Bühnenbild- und umbautechnisch gesehen, gehört die Inszenierung von My Fair Lady zu den aufwändigsten des hiesigen Repertoires. Mein ganz persönlicher Favorit aber ist nach wie vor die Inszenierung von Peter Grimes: Da stimmt einfach alles! Insbesondere das Zusammenspiel von bühnentechnischen Verwandlungen und Musik macht die Stärke dieser Inszenierung aus: In dem Moment, wenn nach der Pause der große Kranhaken zu der von den Streichern getragenen Melodie aus dem Bühnenhimmel herabschwebt und Peter Grimes’ Hütte quasi aus der Unterbühne hervorholt, bekomme ich jedes Mal eine Gänsehaut. Einer meiner liebsten Momente im Theateralltag sind die seltenen Augenblicke, in denen ich zu üblichen Probenzeiten eine menschenleere Bühne betrete und so in den Genuss komme, dieser ganz eigenen Atmosphäre nachzuspüren, die mich schon vor fünfundzwanzig Jahren und auch heute noch jedes Mal wieder aufs Neue gefangen nimmt. Ian Harrison Technischer Leiter der Staatsoper Hannover !"# 1 1 0 2 L L A B N OPE R szewski Fotografen Marek Kru Impressionen unseres !"# Wir danken unseren Hauptsponsoren 04.05 BALLETT BRIGITTE KNÖSS WIEN IST ANDERS Zur Uraufführung des Balletts Stirb du, wennst kannst von Jörg Mannes Wien hat bei Touristen ein überaus positives Image und rangiert in der Hitliste der beliebtesten Kurzreiseziele weit oben. Blaue Donau, Strauß, Stephansdom, Mozart, Prater, Gloriette, Opernball, Sachertorte, Heuriger, Hans Moser, Fiaker, Freud, Walzer, Backhendl, Schubert, Mahler, Klimt, Hundertwasser, Hofreitschule und der Dritte Mann ergeben eine Melange aus Klischee und Realität, die das unverwechselbare Image der Stadt ausmachen. Dies zu betonen, war wohl die Absicht der österreichischen Fremdenverkehrswerbung, als sie Mitte der 1980er Jahre die groß angelegte Kampagne »Wien ist anders« kreierte und im In- und Ausland verbreitete. Auf einer Plakattafel an der Westautobahn in Niederösterreich blieb der Slogan bis weit über die Jahrtausendwende erhalten – inzwischen arg verblasst und etwas zerschlissen. Ein Bild von einer Stadt Wien gehört zu den schönsten Städten der Welt, und das verdankt es vor allem seiner Lage. Marco Polo-Reiseführer, 1998 Ein Höhenzug schließt den engeren Stadtraum ab, so dass die Hohlform einer Muschel entsteht, in der die Stadt eingebettet liegt. Die so wie eine Perle in der Muschel ruhende Stadt fand schon auf ihren ältesten, aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert stammenden Darstellungen das Wohlgefallen der Maler. Hugo Hassinger, 1946 Gemalte Stadtansichten kamen im 18. Jahrhundert groß in Mode. Die europaweit anerkannten Meister dieser Veduten-Malerei waren der Venetianer Antonio Canale und sein Neffe Bernardo Bellotto, die sich beide Canaletto nannten. Ausgehend von der Theatermalerei schufen sie mit Hilfe der Camera obscura wirklichkeitsgetreue Bilder, die eine große Strahlkraft besaßen und durch geschickt gesetzte Lichter eine besondere Wirkung erzielten. Um 1760 gab Kaiserin Maria Theresia bei Bellotto dreizehn Veduten von Wien in Auftrag. Ursprünglich waren diese repräsentativen Ansichten für die Ausstattung eines Palastes bestimmt, heute hängen sie in der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums. Für sein Bild Wien vom Belvedere aus gesehen wählte Bernardo Bellotto einen erhöhten Standort. Über die streng gegliederten Gartenanlagen des Schlosses Belvedere im Vordergrund lenkt er den Blick des Betrachters auf die breit hingelagerte Stadt. Zwei barocke Kuppeln – der Karlskirche links und der Salesianerinnenkirche rechts – scheinen die Stadt einzurahmen, die von der Hügelkette mit Kahlen- und Leopoldsberg im Hintergrund abgeschlossen wird. Das Bildzentrum markiert der gotische Stephansturm als christlich-katholisches »Herz von Wien«. Das Gemälde feiert die planvolle Ausgewogenheit, die Synthese zwischen Stadt und Landschaft, Natur und Kultur als scheinbar organisch gewachsen. Allerdings ist hier eine Bebauung festgehalten, die erst möglich geworden war durch die großen Zerstörungen im Zusammenhang mit der Belagerung durch die Türken im Jahr 1683. Bis heute gilt der »Canaletto-Blick« als die Stadtansicht von Wien und ist schon im frühen 19. Jahrhundert zum Signet geworden. Ihre harmonische Grundstimmung wird bis heute immer wieder als Referenz herangezogen und bildet die Basis für ein rückwärts gewandtes Wien-Bild: Der Vorstellung von einem ursprünglichen Zustand, in dem alles noch in Ordnung war. Die nostalgische Verklärung Wiens setzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein und orientierte sich zunächst am verwinkelten mittelalterlichen Stadtbild. Bedingt durch den ökonomischen und gesellschaftlichen Wan- del der Gründerzeit fühlte sich vor allem das Kleinbürgertum verunsichert und in seiner Existenz bedroht. Der exzessiven Bautätigkeit, die in der zweiten Jahrhunderthälfte einsetzte, fiel zusehends die biedermeierliche Substanz zum Opfer, was für viele Menschen den Verlust alles Gewohnten bedeutete. Die Neu-Anlage der Ringstraße schlug eine breite Schneise in die Stadt und gab mit ihrer Repräsentationsarchitektur im Stil des Historismus Wien ein völlig neues Gesicht. In den Vorstädten entstanden Mietskasernen, um die massiv anwachsende Bevölkerung unterzubringen. Auf dieser Basis wurde das Biedermeier zum Sehnsuchtsbild und zum Idyll eines vor-modernen, gemütlichen Stadtlebens stilisiert. »Alt-Wien«, auch wenn es in dieser Form nie existiert hat, lebt als Ideal bis heute – und es wirkt sogar prägend zurück auf das Leben der Wiener, die sich Neuem gegenüber lieber verschließen. Wenn es um städtebauliche Maßnahmen geht, wird noch immer der »Canaletto-Blick« in die Diskussion gebracht, um zu beschreiben, was wünschensund schützenswert ist. Das hat dazu geführt, dass sich das moderne Wien überwiegend auf der anderen Seite des Flusses ausbreitet. Die Hochhäuser der Uno-City und die Wohnund Geschäftstürme der Donaustadt bilden eine neue Skyline jenseits des historischen Zentrums, das 2001 durch die UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Echte Wiener Mei Stolz is’, i bin halt a echt’s Weanakind, a Fiaker, wie man net alle Tag find’t, mei Bluat is so lüftig und leicht wie der Wind, ja, i bin halt: a echt’s Weanakind. Gustav Pick, 1885 Die Sehnsucht danach, unverwechselbar zu sein, spiegelt sich auch im Bewusstsein der BALLETT Bernardo Bellotto, Wien vom Belvedere aus gesehen Stadt. Das »Urwienerische« steht für kulturelle Identität und gesellschaftliche Ganzheit. Als eigentlicher Erfinder des Begriffs kann Karl Lueger gelten, der von 1897 bis 1910 Bürgermeister von Wien war und der diesen – vermeintlichen – Wesenszug propagierte. Er wollte bei Kleinbürgern und Mittelschicht ein Wir-Gefühl stiften in der Absicht, die Massen politisch hinter sich und seine Christlichsoziale Partei zu bringen. Mit rhetorischem Geschick hetzte er gegen Gebildete, Wohlhabende und vor allem gegen Juden. Die Wirkung der Lueger-Kampagne war nachhaltig und bereitete das Terrain für die Nationalsozialisten. Viele Wien-Klischees behaupten sich seit weit über hundert Jahren ungebrochen und wirken bis heute stilbildend. Die »Wiener Gemütlichkeit« ist nicht nur Ausdruck einer lässigen und beschaulichen Lebensart, sondern birgt auch das Verharren im Altherge- brachten. Wehmütig beschwören Walzerseligkeit und Wienerlied die »gute alte Zeit« herauf. Das Wiener Beisl, das Restaurant, das Kaffeehaus und der Heurige sind Bastionen einer speziellen Lebensart, die sich auch in der Sprachfärbung manifestiert und als verbindend erlebt wird. Frauen sind charmant und Männer galant. Das süße Mädel, der schrullige Hofrat und der Zahlkellner halten sich bis heute als »Wiener Typen« – und sind keine Erfindung der ÖsterreichWerbung. Man lebte gut, man lebte leicht und unbesorgt in jenem alten Wien, und die Deutschen im Norden sahen etwas ärgerlich und verächtlich auf uns Nachbarn an der Donau herab, die, statt »tüchtig« zu sein und straffe Ordnung zu halten, sich genießerisch leben ließen, gut aßen, sich an Festen und Theatern freuten und dazu vortreffliche Musik machten. »Leben und leben lassen« war der berühmte Wiener Grundsatz und er setzte sich unwiderstehlich in allen Kreisen durch. Stefan Zweig, 1944 Geprägt durch katholische Kirche, Absolutismus und Beamtentum haben sich Normen und Werte manifestiert, die der einzelne nicht umzustürzen wagt. Auch wenn man gewisse Regeln für sich zu umgehen weiß, hält man sie für die andern trotzdem hoch. Der äußere Schein und das innere Sein stehen oft in großem Widerspruch. Das Theater ist beliebt und wird nicht nur als Zuschauer genossen und ausgiebig diskutiert, sondern ins Leben integriert und im Alltag zelebriert. Man spielt, und niemand kann sicher sein, woran er mit dem anderen ist. Es wird gescherzt und viel geredet, ohne dass je etwas genau gesagt wird, – das macht das Wesen des berühmten »Wiener Schmäh« aus. 06.07 BALLETT Chiara Olocco, Monica Caturegli, Jörg Mannes, Michèle Seydoux Die geschmeidige Oberfläche hat jedoch auch eine andere Seite, die sich in tiefem Misstrauen gegenüber allem Fremden und Andersartigen ausdrückt und die in wirklicher Bösartigkeit zum Ausbruch kommen kann. Überwiegend werden Extreme – zumindest öffentlich und wenn man sich nicht in der Mehrheit weiß – eher gemieden. Man ist immer unzufrieden und bringt das in ständigem »Granteln« zum Ausdruck – um es dabei aber dann auch meist bewenden zu lassen, ohne Initiative zu ergreifen. Für das Handeln sollen doch bitte andere zuständig sein. Diese Kehrseite dessen, was – positiv besetzt – als »Urwienerisch« in der kollektiven Vorstellung existiert und gepflegt wird, ist allerdings gleichermaßen Bestandteil des gemeinsamen Gedächtnisses und Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung und künstlerischen Verarbeitung. Auch wenn es sich sehr wohl unter dem Slogan »Wien ist anders« subsumieren lässt, hat sich die Österreich-Werbung dieses Themas bisher nicht angenommen ... Die schöne Leich Viele Wienerlieder besingen den Wein und den Tod und versichern, dass mit dem Ableben nichts schlechter, sondern alles viel besser wird. Schließlich trifft man im Himmel ja die wieder, mit denen man auf der Erde gesungen und getrunken hat. In Wien gehören die Toten immer noch zu den Lebenden, die man gerne aufsucht – die zwölf Habsburger Kaiser und neunzehn Kaiserinnen und Königinnen in der Kapuzinergruft und auch die vielen anderen auf dem Zentralfriedhof. Das zweieinhalb Millionen Quadratmeter große Gelände am Rand der Stadt beherbergt drei Millionen »Bewohner« – so der offizielle Sprachgebrauch –, darunter sind knapp tausend Prominente, die in städtischen Ehrengräbern beigesetzt sind. Das eigene Begräbnis ist die letzte Chance zum großen Auftritt, denn »die schöne Leich« mit musikalischer Begleitung durch die Vereinigung der Friedhofssänger und anschließendem Leichenschmaus ist ein wienerisches Lebensziel. Ensemble stanzierter Blick trifft auch das Heute und das Morbide. Aus Brüchen und Widersprüchen entstehen eigenwillige Bilder und Typen, die an Franz Xaver Messerschmidts groteske Charakterköpfe erinnern. Jörg Mannes spannt den musikalischen Bogen weit – von Wolfgang Amadeus Mozart über Franz Schubert und Gustav Mahler bis zu Anton Karras und Hans Moser – zu einem ganz eigenen Wiener Totentanz. STIRB DU, WENNST KANNST (UA) Ein Wiener Totentanz. Ballett von Jörg Mannes Musik von Franz Schubert, Gustav Mahler, Maurice Ravel, Wolfgang Amadeus Mozart und anderen MUSIK ALISCHE Murakami Stirb du, wennst kannst Vor diesem Hintergrund wird klar, dass der Titel von Jörg Mannes’ Ballett keinesfalls provokant gemeint ist. Er zitiert damit seine Großmutter, die im Alter Klagen über ihre Krankheiten immer mit dem Satz »Aber stirb du, wennst kannst« abschloss. Sie starb schließlich über hundertjährig. Als Wiener in Norddeutschland schaut der Choreograph auf seine Heimatstadt und schöpft nicht nur aus der Erinnerung. Er misstraut dem schönen Schein, sein di- LEITUNG Stefan CHOREOGRAPHIE mann Feuchter Ackenhausen KOSTÜME Klingele/Toshiaki Jörg Mannes Silke Fischer DRAMATURGIE BÜHNE LICHT Her- Claus Brigitte Knöß Ballett der Staatsoper Hannover Niedersächsisches Staatsorchester Hannover MEZZOSOPRAN PREMIERE Julia Faylenbogen/Julie-Marie Sundal 19. März 2011, 19.30 Uhr DIE NÄCHSTEN VORSTELLUNGEN April 2011 22. März, 10. und 28. n – Foto: liá II Jiří Ky Theater ds Dans BALLETT !« g 13. APRIL ITT WOCH, sstellungseröffnun um uns geschehen annes M 277 u ’s r A a r rg Uh aw n Jö M men Daisy Ko Nederlan o –D 18.00 Ballett v over II I dt Hann chaften« s ta b s z ie n L a e »T hrlich hr » Gefä 19.30 U EATE R II PRIL DAN S TH A . S 2 2 D , N G an A A L IT der Ekm N E DE R K ARFRE stspiel: d Alexan a n G u r n h á U li Ky 19.30 von Ji ř í raphien Choreog n ographe , 23. APRIL bewerb für Chore G TA S M A S K AR ler Wett rnationa E R II 25. Inte S TH EAT de I N DS DAN r Vorrun A h man L U k R E 0 E r D .3 14 lexande piel: N E A ts s d a n G u r h Kylián 20.00 U von Ji ř í raphien g o re o h C phen 24. APRIL werb für Choreogra , G TA N N O be OSTERS ler Wett rnationa 25. Inte II nde hr Vorru 14.30 U le a hr Fin 19.00 U RIL TAG, 25. AP OSTERMON ertag ab 11 Uhr 0 Uhr ett-Kind s ab 19.3 Ball pernhau nd im O Filmabe E G A T Z N A T ER- TER II A E H T S N A NDS D RAPHEN A G L O R E E R D O E H N C : ERB FÜR W GA S T S P I E L E B T T E W ATIONALER N R E T N I . 5 2 OST 11 0 2 . 4 0 . 5 2 13.04.– ng terstützu dlicher Un Mit freun !"# ! '! $&# & %#$ $ !#E$##F Als Findelkind von Pflegeeltern fernab der Zivilisation großgezogen, erfährt er erst als heranwachsender Mann von seiner wahren Herkunft und wird sich nach und nach auch seiner außergewöhnlichen Kräfte bewusst. Schließlich verlässt er das elterliche Heim, um große Taten zu vollbringen – und findet am Ende auch die Liebe einer Frau … Bei dem Helden, von dem hier die Rede ist, handelt es sich natürlich um niemand anderen als … SUPERMAN! Oder Herkules?! Oder Siegfried?! … Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, von der Antike bis in unsere Tage gleichen sich Heldensagen in vielen ihrer zentralen Grundmotive – und das sogar weit über den europäischen Kulturraum hinaus, denn die mythischen Helden der Legenden, Märchen, Comics und Kinofilme sind ein tief im Unterbewusstsein des Menschen verwurzelter Archetypus. Strahlende Helden Das Zedler-Lexikon von 1735 bezeichnet als Held, lat. Heros, jemanden, »der von Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibesstärcke begabet, durch tapfere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben«. Besondere, übermenschliche Kräfte besitzen in der Tat nahezu alle Superhelden: Herkules erwürgt schon als Kind in der Wiege mit bloßen Händen eine ihn und seinen Bruder bedrohende Schlange, Achilles ist der stärkste Krieger im Heer der Griechen vor Troja, Samson zerreißt einen Löwen mit seinen bloßen Händen und erschlägt 1000 Philister mit dem Kieferknochen eines Esels, Siegfried tötet einen Drachen und Superman kann fliegen, ist stark wie eine Lokomotive und schneller als eine Pistolenkugel. Zum unbesiegbaren Helden gehört aber fast unabdingbar immer auch ein Rest an Verwundbarkeit, ein im wahrsten Sinne des Wortes »wunder Punkt«: Bei Achilles ist es die Ferse, die bis heute seinen Namen trägt, Samson verliert mit der Haarpracht auch seine übermenschlichen Kräfte, Siegfried ist am Rücken verwundbar, und selbst Superman kann durch ein fiktives Mineral namens Kryptonit außer Gefecht gesetzt werden. Schon in den Umständen seiner Geburt und seines Heranwachsens unterscheidet sich der Held von normalen Sterblichen. Bereits im Säuglingsalter oder sogar noch davor ist er Not und Verfolgung ausgesetzt, was nicht selten dazu führt, dass er – zumindest zeitweise – nicht von seiner leiblichen Mutter aufgezogen werden kann: Herakles wird aus Angst vor Heras Zorn von der eigenen Mutter ausgesetzt, jedoch von seiner Halbschwester Athene unerkannt zu Hera selbst gebracht, die ihn aus Mitleid an die eigene Brust legt. Superman wird noch als Baby kurz vor der Zerstörung seines Heimatplaneten vom eigenen Vater allein in einer Rakete durchs All zur Erde geschickt, wo ihn das Ehepaar Kent findet und in einer Kleinstadt mit dem bezeichnenden Namen Smallville aufzieht. Siegfrieds Mutter Sieglinde hingegen ist in Wagners Ausformulierung des Mythos mit ihrem noch ungeborenen Kind vor dem Zorn ihres Vaters Wotan geflohen und bringt Siegfried fernab jeglicher Zivilisation, im Wald bei Mime, zur Welt. Böse Schurken »Bei Siegfrieds Geburt stirbt Sieglinde, wie sich’s gebührt«, schreibt C.G. Jung. »Die Pflegemutter ist nun allerdings kein Weib, sondern ein chthonischer [der Erde angehö- !"# render] Gott, ein krüppelhafter Zwerg, der zu jenem Geschlecht gehört, das der Liebe entsagt. […] Mime wird aber zum Feind Siegfrieds und wünscht ihm den Tod durch Fafner. Hier enthüllt sich die dynamische Seine Vorstellungen von Mimes äußerer Gestalt, zu finden in Der junge Siegfried, Wagners erster Textfassung des späteren Siegfried, beinhalten nicht einen einzigen positiven Aspekt: »Er ist von kleiner ge- ge Unbewusstheit und Unbezogenheit abscheuliche Taten. […] Er hält den früheren intellektuellen und moralischen Tiefstand dem höher entwickelten Individuum unter die Augen, damit man nicht vergesse, wie Natur Mimes: Er ist ein männlicher Repräsentant der furchtbaren Mutter, die ihrem Sohn den giftigen Wurm in den Weg legt.« »Glauben sollst du, was ich dir sage: Ich bin dir Vater und Mutter zugleich«, lässt Mime seinen Zögling wissen. Mime übernimmt aber in Wagners Siegfried nicht nur beide Parts der für Heldensagen typischen Pflegeeltern, er ist darüber hinaus auch das Negativbild zu Siegfried, der ebenfalls zu klassischen Heldenmythen gehörende schurkische Widersacher, der Antiheld! Dient der Archetypus des Helden als Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte und bedient sich daher eines nicht nur mit übermenschlichen physischen Kräften bedachten, sondern auch vom Scheitel bis zur Sohle ideal geformten Menschenbildes, so erlangen seine überragende Kraft und Schönheit erst durch das Gegenbild eines an Feigheit und Hässlichkeit kaum zu übertreffenden Widersachers ihre wahre Strahlkraft. Wagner selbst nennt seinen Siegfried den »von uns gewünschten, gewollten Menschen der Zukunft«, spricht vom »jugendlich schönen Siegfriedmenschen«, ja bezeichnet ihn gar als den »schönsten meiner Lebensträume«. drückter Gestalt, etwas verwachsen und hinkend; sein Kopf ist über das Verhältnis groß, sein Gesicht ist dunkelaschfarben und runzlig, sein Auge klein und stechend, mit roten Rändern, sein grauer Bart lang und struppig, sein Haupt ist kahl und von einer roten Mütze bedeckt.« das Gestern aussah.« (C.G. Jung) Siegfried und Mime, Batman und Joker, Held und Antiheld, Kämpfer und Schelm, Muskelprotz und Clown bedingen sich also in gewisser Weise gegenseitig, der Superheld definiert sich und seine Überlegenheit vor der Folie des zurückgebliebenen Missratenen. »Viele von den Schelmen-Zügen wiederholen sich in der Gestalt des mittelalterlichen Gauklers und leben weiter bis auf den heutigen Tag im Hanswurst des Kasperle-Theaters und im Clown.« (Paul Radin) Und die Gegenüberstellung dieser beiden Archetypen vollzieht sich nicht allein in der Fiktion des Theaters oder der Literatur: In Zirkus- und Jahrmarkt-Veranstaltungen des 19. Jahrhunderts wird der Superheld in Form des »strong man« oder des Trapezkünstlers sicherlich nicht ganz unbewusst dem missratenen, deformierten menschlichen Körper in Form von »Freak Shows« gegenübergestellt. »Tatsächlich wird der menschliche Körper im Zirkus gerade wegen seiner Unabhängigkeit, seines Einfallsreichtums und seiner Eigenständigkeit bewundert, wegen seiner Überlebensfähigkeit und seiner Überlegenheit über die Natur. Am Gut und Böse, hässlich und schön Mime ist Batmans großem Widersacher, dem »Joker«, vergleichbar, dessen Gesicht zu einer grotesk verzerrten, unheimlichen ClownsMaske erstarrt ist. Und in der Tat trägt Mime auch Züge einer uns in den Mythen vergangener Jahrtausende immer wieder begegnenden archetypischen Figur, die von Paul Radin, Karl Kerényi und C.G. Jung als »Schelm« oder »Trickster« bezeichnet wurde. Der »Trickster« ist eine ambivalente Figur, er verkörpert das Prinzip der Vereinigung von Gegensätzen, ist weder gut noch böse, er ist listenreich und zugleich ein Tölpel. »Er ist ebenso unter- wie übermenschlich, ein göttlich-tierisches Wesen, dessen durchgehende und eindrucksvollste Eigenschaft die Unbewusstheit ist. […] Obschon er nicht eigentlich boshaft ist, so begeht er doch infol- !"# anderen Ende der Skala, der Idee von Nietzsches ›Übermenschen‹ diametral entgegengesetzt, steigt man die Darwinsche Evolutionsleiter hinunter und landet beim Tier.« (Helen Stoddart) Der Zirkus des 19. Jahrhunderts stellt den durchtrainierten, überlegenen weise trägt Mime unverkennbar jüdische Züge, in seiner stets auch von ihm selbst propagierten Mutterrolle klingen homosexuelle Facetten an, sein Körper ist – wie wir bereits erfahren haben – deformiert, sogar mit einer dunkleren Hautfarbe stattet ihn Körper des Athleten dem deformierten, inferioren Körper der »Missgeburt« schonungslos gegenüber. Es ist in diesem Zusammenhang überaus bemerkenswert, dass die Kostümierung des Superman (also des in wörtlicher Übersetzung »Übermenschen«!) mit seinen über einem eng anliegenden, einteiligen Körperanzug getragenen Shorts aus der klassischen Kleidung des Zirkusathleten, des »Manns aus Stahl« (so auch eine Bezeichnung Supermans), hergeleitet zu sein scheint. Wagner laut seiner ursprünglichen Regieanweisung aus. Wagner macht aus der Trickster-Figur des Mime einen vielschichtigen Charakter. In der Rezeptionsgeschichte gemeinhin auf den lächerlichen, bösartigen Zwerg reduziert, scheint Mime in seiner allzu übertrieben gespielten (mütterlichen) Fürsorge doch auch immer wieder eine innere Verbundenheit mit seinem Pflegekind durchblicken zu lassen. Der Trickster ist gut und böse zugleich. Und umgekehrt ist auch Siegfried alles andere als ein makelloser Held. Wohl gewinnt er am Ende des dritten Ring-Teils seine »Prinzessin« Brünhilde. Aber anders als Superman ist er nicht etwa ausgezogen, um die Welt zu retten, sondern um eigene, rein egoistische Motive zu verfolgen. Dabei ist ihm jede höhere Moral vollkommen fremd: Er tötet seine Gegner gewissenlos und ohne zu zögern. Dem von ihm niedergestreckten Pflegevater, dem einzigen Menschen, den er bis dahin in seinem Leben kennen gelernt hat, weint er keine einzige Träne nach. Ob das der Stoff ist, aus dem Helden gemacht sind? Wagners Genie besteht nicht zuletzt auch Der bösartige Held und der gutherzige Schurke »In Comics, Rockmusik, Zirkus-Shows und Karneval-Vorführungen wird der archetypische Außenseiter nicht durch die Frau, den Homosexuellen, den Juden, die Rothaut oder den Schwarzen repräsentiert […]. Durch alle Jahrhunderte seit Menschengedenken ist es der seltsam geformte Körper, mit dem die Andersartigkeit verkörpert wird.« (Rosemarie Garland Thomson) Wagner aber hat seinen Mime mit Attributen aus der gesamten Palette von Außenseitern versehen: In seiner Musik und seiner Sprech- darin, vorhandene Motive und Archetypen aus den unterschiedlichsten Mythen zwar zu verwenden, dem vorgegebenen Schema dabei aber eben gerade nicht zu folgen, sondern ein ganz eigenes, ebenso widersprüchliches wie modernes Drama zu gestalten. Oper von Richard Wagner Zweiter Tag der Tetralogie Der Ring des Nibelungen Barrie Kosky . Klaus Bruns Robert Wolfgang Bozic . Klaus Künzli Béla Perencz Frank Schneiders ! Grünberg 1 Ulrich Lenz Johannes Albert Preißinger Stefan Adam / Pesendorfer Julie-Marie Sundal .Brigitte Hahn Ania . Vegry / Hinako Yoshikawa Sonntag, 10. April 2011, 11 Uhr Sonntag, 17. April 2011, 16 Uhr — Live im Radio auf NDR Kultur. Mit freundlicher Unterstützung von Hauptsponsor &$ %& ! !% $% B$ & '# & $$%#% Wie Doris Kraus die Bibliothek organisiert und noch viel mehr Auf der Rückseite ihrer Tür kleben unzählige kleine Zettel, die nur darauf warten, vorne angehängt zu werden: »Bin im Archiv«, »Grade auf der Probe!« oder »Sofort wieder zurück«. Doris Kraus ist auf alles vorbereitet, sie hat den Überblick. Sie ist die multifunktionale Bibliothekarin, die sich neben Tausenden von Notenblättern auch um Vertragsverhandlungen über Urheberrechte und sogar den Transport aller Tasteninstrumente kümmert. Die Bibliothek an sich gleicht ein bisschen einem U-Boot – viele Schränke hintereinander lassen sich mit Hilfe großer Räder auseinander steuern, und man meint es manchmal auch piepsen und surren zu hören. Zwischen den einzelnen Wänden verschwindet Doris Kraus wie der Wind und hat im Nu gefunden, was das Musikerherz begehrt, denn es ist alles sorgfältigst archiviert – auch wenn es hier und dort etwas gemütlich-durcheinander aussehen mag, hat doch alles seinen festen Platz, und nicht einmal die kleinste Note kommt abhanden. Sogar uralte Partituren aus vorigen Jahrhunderten sind noch vorhanden, so zum Bei- spiel Götterdämmerung und Siegfried (1887) von Richard Wagner, zuletzt aus dem Schrank geholt – mit dem Kommentar »Vorsicht, heilige Note!« – für GMD Wolfgang Bozic zur Einarbeitung in die beiden noch fehlenden Teile der Ring-Produktion (Siegfried kommt am 17. April, Götterdämmerung am 12. Juni 2011 heraus). Herr Bozic würde diese Schätze zwar am liebsten behalten, wird sie aber schweren Herzens unversehrt wieder abliefern. Die ungewöhnlichste Aufgabe in Doris Kraus’ weitem Arbeitsfeld ist allerdings die ständige Lokalisierung des Foyer-Flügels, der sich nach Lust und Laune an unterschiedlichen Orten aufhält, ob MarschnerSaal oder Laves-Foyer, sie findet ihn überall; die zeitaufwändigste Aufgabe ist wohl die Zusammenstellung der Orchesterausschnitte (oder, wie sie es liebevoll nennt, die »Logistik des Notenherbeizauberns«) vor allem für Ballette: Sie setzt fein säuberlich, gewissermaßen Note für Note, zusammen, was der jeweilige Choreograph sich an Musik für seine aktuelle Produktion ausgesucht hat. Daher sind die Stücke, wie der Zuschauer sie bei der Vorstellung am Ende zu hören bekommt, absolute Unikate, von der Bibliothekarin per Hand hergestellt. Zur Zeit arbeitet sie an dem Ballett Stirb du, wennst kannst (Uraufführung am 19. März 2011), für das sich Choreograph Jörg Mannes acht unterschiedliche Teile aus Partituren von Ravel, Mahler, Schubert, Strauss und Mozart ausgesucht hat. »Das kann zeitlich manchmal ganz schön knapp werden«, sagt Kraus nicht ohne Stolz. »Für den Opernball oder manche Ballette kann das Endergebnis auch gut und gerne mal aus zwanzig Teilen bestehen!«. Dass sie daran etwas länger sitzt und manchmal auch beinahe Nachtschichten schieben muss, kann man sich da gut vorstellen. Trotzdem ist das Ballett Ein Sommernachtstraum ihr favorisiertes Stück der aktuellen Spielzeit. Ansonsten kümmert sich Doris Kraus darum, dass die Staatsoper Hannover auch wirklich das spielen darf, was sie gerne möchte. Sie führt Verhandlungen mit Rechteinhabern, die sich teilweise über mehrere Monate erstrecken können. Bei manchen Stücken beißt allerdings selbst die versierte Bibliothekarin auf Granit, wie etwa bei Liedern der Beatles, die man gerne auf dem Opernball mit dem 60er Jahre-Motto »All You Need Is Love« Ende Februar gespielt hätte (die Computerfirma Apple musste jahrelange Verhandlungen mit Hinterbliebenen führen, bis sie endlich – seit November 2010 – Songs der Beatles online zum Verkauf anbieten durfte. So lange hatte Doris Kraus leider nicht Zeit!). Auf die Frage, wieso man die Musik nicht trotzdem einfach spielen könnte, erwidert sie ernst, dass man in so einem Falle mit hohen Bußgeldern und sogar einer Absage der betroffenen Veranstaltung rechnen könne. Die Lieblingsnote der Bibliothekarin, die Musikwissenschaft und Gesang an der Universität Würzburg studiert hat, ist die Partiturabschrift von Heinrich Marschners Oper Hans Heiling aus der Zeit vor 1921 – immerhin war Marschner unter Ernst August von Hannover Musikdirektor dieser Stadt, zudem ist sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr ein großer Fan seiner Oper Der Vampyr. Da Doris Kraus nach ihrem Studium auch als Sängerin tätig war, sind ihr alle künstlerischen Abläufe bestens bekannt, und es schließt sich der Kreis, wenn sie noch heute begeistert im Anschluss an ihre Arbeit im Extrachor der Staatsoper singt. 12.13 OPER SYLVIA ROTH KOLORATUREN STATT KANONEN Donizettis La Fille du régiment als konzertante Aufführung Nicole Chevalier als Regimentstochter und Sung-Keun Park als Tonio im Koloraturengefecht In den Patchworkfamilien des 21. Jahrhunderts ist es nichts Ungewöhnliches mehr, dass ein Kind mit zwei Vätern aufwächst; aber von ganzen 500 männlichen Erziehungsberechtigten das Milchfläschchen angewärmt zu bekommen – das ist nun wirklich ein Privileg, das einzig und allein Marie vorbehalten ist. Wurde sie doch als elternloser Säugling auf einem Schlachtfeld gefunden und kurzerhand von einem kompletten Regiment, genauer dem französischen 21sten, das in Zeiten der napoleonischen Kriege in Tirol stationiert ist, adoptiert und aufgezogen. Dass eine solche militärische Erziehungsanstalt andere pädagogische Maßstäbe setzt als die bürgerliche Kleinfamilie, versteht sich dabei von selbst: Statt Lesen und Schreiben, kultiviertem Essen mit Messer und Gabel oder Klavierspiel lernt Marie bei ihren soldatischen Kindergärtnern formidables Fluchen, das Schmettern von Schlachtliedern und die pünktliche Lieferung von Biervorräten. Auf diese Weise wächst sie zu einer echten Prachtfrau heran, in die bald nicht nur das ganze Regiment, sondern insbesondere der junge Tiroler Bauer Tonio verliebt ist. Doch Tonio ahnt nicht, was ihm sein Herz damit eingebrockt hat: Denn wer einer Regimentstochter einen Heiratsantrag machen will, muss eine gesamte Armee um die Hand der Angebeteten bitten und hat nicht nur einen, sondern gleich hunderte von eifersüchtigen Vätern vor sich, die ihr heiß geliebtes Töchterchen eigentlich gar nicht an einen anderen Mann herausgeben wollen. So genügt es nicht, dass Tonio all seinen Tiroler Charme aufbietet, nein, er lässt sich kurzerhand vom feindlichen französischen Regiment rekrutieren, um seine Chancen auf Marie zu steigern ... 1838 zog Gaetano Donizetti von Neapel nach Paris, wo bereits seine Lucia di Lammermoor große Erfolge gefeiert hatte. Mit der 1840 uraufgeführten Fille du régiment komponierte der Italiener seine erste opéra comique und wurde dafür zwar vom Publikum stürmisch beklatscht, von den französischen Komponistenkollegen jedoch eher misstrauisch beäugt. Hector Berlioz etwa war der produktive italienische Kollege, der bald mit mehreren Neukompositionen an allen Opernhäusern von Paris vertreten war, ein gewaltiger Dorn im Auge: »Es scheint, dass Monsieur Donizetti uns wie ein erobertes Land behandelt, es ist eine wahre Invasion«, schimpfte Berlioz. »Man kann nicht länger von den Opernhäusern von Paris sprechen, sondern nur noch von den Opernhäusern des Monsieur Donizetti.« »Erobertes Land«, »Invasion« – kriegerisches Vokabular allerorten. Doch das Militär, das Donizetti in La Fille du régiment beschreibt, hat nur wenig mit der Realität des Krieges zu tun. Obwohl er mit Pikkoloflöten, Schellenbaum und Clairons im Orchester militärische Klangwelten zitiert, handelt es sich doch um eines seiner fröhlichsten, unbeschwertesten Werke. »Koloraturen statt Kanonen« scheint das Motto des 21. Regimentes zu sein – denn die Arien sprühen nur so von akrobatischen Kehlkopf-Feuerwerken. Keine leichte Aufgabe für die Sänger, doch der Tenor Sung-Keun Park freut sich schon jetzt darauf, als Tonio innerhalb von einer einzigen Arie ganze neun hohe Cs OPER BRYN TERFEL IN HANNOVER schmettern zu dürfen: »Die Partie des Tonio hat mir in meiner Sängerkarriere unglaublich viel Glück gebracht. Ich hatte sie bei allen Vorsingen dabei, und egal ob in Salzburg oder Hannover: Es war immer die erste Wahl des Zuhörer-Komitees, weil die Arie natürlich so viele technische Tücken hat, dass man damit die Qualität eines Sängers sehr gut testen kann. Aber obwohl ich sie unzählige Male gesungen habe, debütiere ich mit dieser Partie jetzt erstmals öffentlich.« Ob es ihm nicht ein bisschen schwer fällt, sich als Koreaner ausgerechnet mit einem Tiroler zu identifizieren? »Ich entdecke in der Geschichte sehr viele Parallelen zu meiner eigenen Biographie. Ein junger Bauer aus Tirol, der in die Armee eintritt, um das zu bekommen, was er liebt, nämlich Marie, und ein junger Sänger aus Korea, der sich völlig ahnungslos in den deutschen Opernbetrieb begibt, um das zu machen, was er liebt, nämlich singen – das ist gar nicht so weit voneinander entfernt«, lacht Park und ergänzt: »Ich hatte vor fünfzehn Jahren, als ich nach Deutschland gekommen bin, überhaupt keine Ahnung von den Lebensweisen und Strukturen hier. Aber egal, ich habe es einfach getan, so wie Tonio. Inzwischen ist Deutschland meine zweite Heimat und ich bin genauso zufrieden wie Tonio am Ende der Oper.« Selbstverständlich braucht man für La Fille du régiment nicht nur den richtigen Tonio, sondern auch die richtige Marie – und da freut sich Sung-Keun Park sehr, dass er Nicole Chevalier an seiner Seite hat, mit der er schon gemeinsam in Freiburg im Ensemble engagiert war. »Auch für mich ist die Partie ein Debüt«, sagt Nicole Chevalier und ist sehr gespannt darauf, wie sich die Rolle in einer konzertanten Aufführung realisieren lässt. »Die Musik der Marie ist kein typischer Belcanto, es ist völlig anders als beispielsweise die Lucia. Trotz der ausgeprägten Virtuosität geht es viel stärker in Richtung Charakterrolle, ähnlich vielleicht wie Alice Ford in Falstaff. Dadurch, dass wir kein Bühnenbild und keine Regie haben, werde ich noch mehr über die Stimme ausdrücken müssen als sonst.« Und wie empfindet sie die Marie? Kann sie sich mit der quirligen Regimentstochter identifizieren? »Persönlich fühle ich mich nicht so klein, frech und burschikos wie Marie – aber ich liebe den Charakter sehr. Es ist spannend, dass Marie sowohl eine männliche als auch eine weibliche Seite hat. Und es ist faszinierend, wie Marie im Laufe des Stückes reifer wird: Wenn sie sich in Tonio verliebt und bereit ist, für ihn die Armee, also gewissermaßen ihre Familie zu verlassen, wirkt sie plötzlich unglaublich erwachsen und bekommt eine ganz tiefe, lyrische Seite, auch in der Musik.« Diese Entwicklung möchte Nicole Chevalier auch über den Gesang vermitteln – und um das zu erleben, treten wir sicherlich alle gerne für einen Abend lang in die Armee ein. LA FILLE DU RÉGIMENT (DIE REGIMENTSTOCHTER) Komische Oper von Gaetano Donizetti Konzertante Aufführung MUSIK ALISCHE LEITUNG Sylvia Roth MARIE CHOR Karen Kamensek MODERATION Dan Ratiu Nicole Chevalier MARQUISE DE BERKENFELD TONIO Sung-Keun Park LA Julie-Marie Sundal SULPICE Young Kwon KONZERTANTE PREMIERE In den Festlichen Opernabenden präsentiert die Staatsoper Stars der internationalen Opernszene Seite an Seite mit Sängern aus dem Opernensemble in hauseigenen Inszenierungen – am 4. März war Bryn Terfel erstmals in Hannover zu Gast! Er stand in der Neuinszenierung von Falstaff auf der Bühne. Bryn Terfel hat die Titelpartie von Verdis Alterswerk in der ganzen Welt gesungen, von Los Angeles bis Wien, von New York bis Sydney. Seine CD-Aufnahme unter Claudio Abbado wurde mehrfach ausgezeichnet. Der Festliche Opernabend wurde zu einem großen Erfolg – für Terfel, das Ensemble und den 1. Kapellmeister Ivan Repušić. »Der walisische Bassbariton gilt als führender Interpret dieser Charakterrolle und zeigt im ausverkauften Opernhaus, dass es für diese Einschätzung viele Gründe gibt. Eine umwerfende Bühnenpräsenz und eine ebenso kraft- wie prachtvolle Stimme. Obendrein ist Bryn Terfel nicht nur ein Star, sondern eben auch ein famoser Teamplayer.«, freute sich Rainer Wagner in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Henning Queren berichtete in der Neuen Presse über den großen Erfolg des Abends: »Das Publikum feierte das gesamte Ensemble und natürlich den Star mit zehnminütigem Jubel und unzähligen Bravos. Auch in Wien bekommt man zur Zeit zumindest sängerisch keinen besseren Falstaff.« Mittwoch, 27. April 2011, 19.30 Uhr WEITERE VORSTELLUNGEN 29. April, 17., 19. und 29. Mai 2011 Mit freundlicher Unterstützung & !"# &G# & %$G# Ein neues Musiktheater für Kinder ab 5 Jahren: Freunde! von Peter Androsch im Ballhof Zwei Fischkind HARALD hat es satt: Natürlich kann man auch alleine spielen: Schöne-Bögen-springen oder Bläschen-steigen-lassen. Aber wie viel mehr Spaß hätte er, wenn noch andere Fischkinder da wären! Auch INGE ist unzufrieden: Sie ist das einzige Kind im Schweinestall. Die großen Schweine verstehen sie nicht. Und PHILIPP? Das Vogelkind hat keine Lust mehr, alleine Rückenflug zu üben. Stattdessen will Philipp im Dreck wühlen wie ein Schwein oder im Teich schwimmen wie ein Fisch. Eines Tages treffen sich die drei, und sie werden Freunde: ein Fischkind, ein Schweinekind und ein Vogelkind. Aber: Können die überhaupt zusammen spielen? Oh ja, sie können, und wie! Als dritte Produktion der Jungen Oper gab die Staatsoper ein Musiktheater für die Jüngsten bei dem österreichischen Komponisten Peter Androsch in Auftrag: Freunde! nach F.K. Waechters Bilderbuch Wir können noch viel zusammen machen. Erzählt wird die Geschichte von drei Einzelkindern: Ein kleiner Fisch, ein Schweine- und ein Vogelkind finden sich zu einem ungleichen Trio zusammen. Peter Androschs Musiktheater stellt sich auch musikalisch unter das Motto »Wir können noch viel zusammen machen.« Denn hier ist fast alles erlaubt, spielerisch wirbelt Androsch unterschiedlichste Mittel durcheinander. Da wird geschmatzt und geblubbert, gepfiffen, gesprochen und gesungen. Das kleine Orchester mit Akkordeon, Kontrabass, Violine, Klarinette und Schlagzeug schafft zusätzlich atmosphärische Welten im Wasser, in der Luft und im Dreck: »Ich versuche, musikalisch ganz unterschiedliche Temperaturen und Zustände zu erzeugen – wie ich das auch für eine ErwachsenenMusik tun würde. Bei Kindern spielt sich das Ganze eben im Matsch oder im Wasser ab – und das macht irrsinnig viel Spaß!« Freunde! ist ein ebenso sinnliches wie verspieltes Musiktheater, das zum Schluss den gesamten Ballhof Zwei auf den Kopf stellt und alle einlädt, miteinander zu spielen, zu singen, zu pfeifen, zu blubbern oder zu schmatzen. Denn: Wir können noch viel zusammen machen! Peter Androsch ist einer der bekanntesten zeitgenössischen österreichischen Komponisten. Auftragswerke entstanden u.a. für das Landestheater Linz, Stadttheater Klagenfurt, Theater Phönix Linz, Ensemble Wiener Collage, RSO Wien, Stuttgarter Kammerorchester oder das Wiener Konzerthaus. Im Jahr 2009 leitete Androsch das Musikprogramm der Europäischen Kulturhauptstadt Linz, das v.a. mit den Projekten Hörstadt und dem dazugehörigen Akustikon europaweit für Aufsehen sorgte und in den nächsten Jahren zu einer Europäischen Forschungsund Vermittlungsstelle zur nachhaltigen Entwicklung des akustischen Raums ausgebaut werden soll. 7+-2(+/-2;/9 & !"# Deine Freunde! zum Ausmalen Musiktheater für Kinder ab 5 Jahren von Peter Androsch Wir freuen uns auf kleine und große Kunstwerke mit dem Titel »Wir können noch viel zusammen machen«. Fisch Harald, Schweinchen Inge und Vogel Philipp entdecken das Leben im Wasser, zu Lande und in der Luft. Was sie zusammen machen, könnt Ihr mit Wachsmalern, Bunt- oder Filzstiften, Pinsel und Farbe auf Papier festhalten und an Staatsoper Hannover . Stichwort »Freunde!« . Opernplatz 1 . 30159 Hannover schicken. Einsendeschluss ist Donnerstag, der 7. April 2011. Mitmachen kann jeder zwischen 5 und 8 Jahren. Die eingesandten Bilder werden im Foyer des Ballhof Zwei ausgestellt. Unter allen Einsendungen verlosen wir Karten für eine Freunde!-Vorstellung im Ballhof Zwei. Libretto von Dorothea Hartmann nach F.K. Waechters Bilderbuch Wir können noch viel zusammen machen Pablo Mendizábal Toshiaki Murakami . Elvira Freind ! Tiina Lönnmark Tobias Ribitzki . Dorothea Hartmann Nee- le Kramer Seongsoo Ryu !+ Denise Fischer !+ Daniel Eggert Musiker des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover . 10. April 2011, 15 Uhr, Ballhof Zwei 10. Juni 2011. 12. und 28. April, 1., 9., 14., 24. und 29. Mai sowie Mit freundlicher Unterstützung 16.17 KINDER ALLES ZIRKUS! »Das Kinderfest ist der Opernball für kleine Leute« – so hat Intendant Michael Klügl die Bedeutung des Kinderfestes für das Opernhaus beschrieben. Jahr für Jahr lockt es Kinder mit ihren Eltern in den Laves-Bau. Am 13. Februar 2011 wurden 2.400 große und kleine Gäste in zwei Vorstellungen in die Welt des Zirkus entführt: zunächst in der Bühnenaufführung des Kinderzirkus »Giovanni!« aus Hannover, dann beim großen Fest in allen Foyers. Da wurde gebastelt, getanzt, Artistik trainiert und der Wahrsagerin gelauscht, Karussell gefahren, dem stärksten Mann der Welt ein Besuch abgestattet und auf den Lukas gehauen. Mit Hilfe aller Abteilungen des Hauses entstand so ein üppiges, unvergessliches Fest im Opernhaus, das mit der detailreichen Ausstattung von Marie Fischer und unter der Produktionsleitung von Cornelia Kesting-Then-Bergh alle Besucher begeistert hat. Eigentlich gab es nur ein einziges Problem: Das Kinderfest war schon im November ausverkauft. Alle Interessenten für das Kinderfest 2012 sollten sich schon im Herbst 2011 um Karten kümmern! Mit freundlicher Unterstützung FOYER EVA BESSERT-NETTELBECK MISSION MUSIKTHEATER – DIE OPERNGUIDES Seit Beginn dieser Spielzeit haben es sich 28 junge Menschen aus Hannover und Umgebung zum Ziel gemacht, als so genannte Opernguides auszuströmen, um das »Musiktheatervirus« zu verbreiten. Unterschiedliche Motive haben die Jugendlichen dazu bewogen, sich als Opernguide zu melden: Einige sind schon früh über Elternhaus oder Schule an das Musiktheater herangeführt worden. Andere sind mehr oder weniger zufällig durch Jugend-Projekte wie Rheingold — Der Film, das Casting für die Beggar’s Opera oder die Teilnahme an den Kinder- und Jugendclubs der Staatsoper zum ersten Mal mit Musiktheater in Berührung gekommen. Eines haben sie jedoch alle gemein: ihre Begeisterung für das Genre! Ein Opernguide-Ausweis bietet ihnen die Möglichkeit, allein oder mit Freunden zu Sonderpreisen die Vorstellungen im Opernhaus und der Jungen Oper zu besuchen. Bei regelmäßigen Treffen der Gruppe hinter den Kulissen findet ein reger Meinungsaustausch zu den Inszenierungen statt. Beinahe jeder hat eine oder mehrere Lieblingsopern. Oft steht Mozarts Zauberflöte an erster Stelle, für viele – gleich nach Hänsel und Gretel – die erste Begegnung mit Oper. So war es eben dieses Stück, welches auch bei dem sechzehnjährigen Opernguide Harald Hein die Faszination für Musiktheater geweckt hat. Seine Tante hat ihn mit dem Musiktheatervirus angesteckt: »Meine Eltern und Geschwister sind eigentlich keine ausgesprochenen Opernfans, aber meine Tante, die ist ein Opernfan mit Abo in Braunschweig und ist oft mit mir in die Oper gegangen.« Mozarts Musik hat ihn gleich für die Oper eingenommen. Haralds Vorliebe für klassische Musik spiegelt sich auch in seinen zahlreichen Hobbys wider: Er singt seit neun Jahren im Jugendchor der Musikschule Isernhagen, spielt Geige und Klavier, ist Mitglied im Jugendclub der Staatsoper und nimmt seit fünf Jahren Ballettunterricht. »Immer wenn ich im Fernsehen durchgezappt habe, bin ich bei Ballettaufführungen hängen geblieben. Das wollte ich auch können. So kam ich zum Ballettunterricht.« Neben dem Ballett geht Harald zur Tanzstunde, wo er sich ein Jahr lang zusammen mit 87 weiteren Debütanten auf den Eröffnungstanz des diesjährigen Opernballs vorbereitet hat. Aufgrund seiner vielen Hobbys – die ausnahmslos alle untrennbar mit Musik verbunden sind – sind freie Abende meist rar gesät. Dennoch geht er so oft wie möglich ins Opernhaus. Die Liebe zu den drei Orangen mochte er besonders: »Ich fand die Inszenierung sehr lustig und auch die Kostüme waren toll. Insgesamt ein packender Abend.« Im Moment ist allerdings Die Entführung aus dem Serail seine absolute Lieblingsoper, deren Probenprozess er an der Staatsoper während seines Praktikums im Orchesterbüro intensiv verfolgen konnte. »Allerdings habe ich Carmen noch nicht erlebt«, wirft er mit leuchtenden Augen ein. »Ich kenne bisher nur ein paar Stücke daraus, aber die haben mir ausgesprochen gut gefallen, so dass ich mir vorstellen kann, dass – wenn ich erst die ganze Oper gesehen habe – Carmen meine Lieblingsoper wird!« Ohnehin war das Praktikum im Orchesterbüro ein ganz besonderes Erlebnis für Harald. Er schwärmt noch heute von den vielen Probenbesuchen. »Es war so spannend, weil man erst bei den Proben wirklich sieht, wie viel Arbeit dahinter steckt, eine Vorstellung auf die Bühne zu bringen, und dass eben nicht alles sofort so läuft, wie es im Endergebnis zu sehen ist.« Den Höhepunkt seines Praktikums bildete der Abend, als er My Fair Lady im Orchestergraben sitzend erleben durfte. »Das war unglaublich faszinierend, so mitten drin zu sein!« Als eine der ersten Aktionen in seiner Funktion als Opernguide hat Harald seine Mutter gebeten, ihn ins Sinfoniekonzert zu begleiten, da sie zuvor noch nie eines besucht hatte. Zufrieden schmunzelnd bekräftigt er: »Das war bestimmt nicht ihr letzter Besuch im Opernhaus, denn es hat ihr sehr gut gefallen!« Augenscheinlich hat er sie bereits mit dem »Musiktheatervirus« infiziert. 18.19 KONZERT ANNA VOGT REISE IN DEN OSTEN Im 7. Sinfoniekonzert widmet sich das Niedersächsische Staatsorchester Werken großer russischer Komponisten Romantische Musik aus Russland wird heute, aus einer zeitlichen Entfernung von fast 150 Jahren, gerne mit gleichermaßen vereinfachenden und nichtssagenden Klischees wie dem »virtuosen Klangrausch« oder dem »Ausdruck der tiefgründigen russischen Seele« belegt. Die Frage danach, was «russische Musik« überhaupt ist, sorgte jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in St. Petersburg für künstlerische Kämpfe, die von ihrer Bedeutung her den Konflikten zwischen den »Neudeutschen« und den »Konservativen« in Deutschland durchaus vergleichbar waren. Auch in Russland diskutierte man über die Formen der absoluten Musik und der Programmmusik, die Streitpunkte gingen jedoch weit darüber hinaus. Russland war Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach einer »nationalrussischen« Musiksprache, die es in dieser Form bis dahin nicht gegeben hatte. Mit welchen Mitteln man allerdings die Etablierung einer Nationalmusik erreichen solle, darüber gab es gespaltene Meinungen: Wie »westlich« durfte russische Musik sein, welche Bedeutung sollte die akademische Ausbildung spielen, welche die Intuition, das »Genie«? Lautstark meldete sich in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Gruppe von Komponisten in St. Petersburg zu Wort, die von Mili Balakirew angeführt wurde und ihren musiktheoretischen Mentor im Musikkritiker Wladimir Stassow fand. Stassow selbst prägte den – eigentlich nicht ganz glücklichen – Namen der Gruppe, »Das mächtige Häuflein«, in einer Konzertkritik von 1867. Diese »Gruppe der Fünf«, wie sie auch genannte wurde, verband einige der vielversprechendsten Komponisten Russlands: Modest Mussorgsky, Alexander Borodin, Nikolai Rimski-Korsakow und Cesar Cui, die sich unter der Leitung des charismatischen, wenngleich auch etwas despotischen Mili Balakirew für eine nationalrussische Musik nach dem Vorbild Michail Glinkas stark machten. Die Werke sollten – ohne Einflüsse aus dem Westen – alleine dem Genius und der Phantasie der Komponisten entspringen und dabei »typisch russische« Themen und Volksmusikelemente verarbeiten. Eine akademische Ausbildung der Komponisten empfand Balakirew dafür als schädlich, da man sich an den Konservatorien unweigerlich den ausländischen Einflüssen öffne und die Phantasie beschränke. Die Gründung des Petersburger Konservatoriums durch den anders gesinnten Artur Rubinstein im Jahr 1861 und das Engagement von internationalen Lehrkräften wurde vom Kreis um Balakirew dementsprechend als Affront aufgefasst. Anerkennung fand die Gruppe erst in den späten 1870er Jahren, als Rimski-Korsakow und Borodin mit großem Erfolg eigene Werke aufführten. Beide waren auf dem Gebiet der Komposition Autodidakten und übten zunächst andere Berufe aus: Während Borodin sein Leben lang als Chemiker arbeitete und darin durchaus bedeutend war, gehörte Rimski-Korsakow viele Jahre dem Militär an, musste sogar die »Gruppe der Fünf« für eine dreijährige Weltumsegelung verlassen, um seinen Abschluss als Marinekadett zu erhalten. Später jedoch avancierte er zum vielversprechendsten Komponisten des »Mächtigen Häufleins«, distanzierte sich aber von den Idealen seines Mentors Balakirew, um sich selbst musiktheoretisch weiterzubilden, denn er litt sehr unter seinem »Dilettantismus«, wie er zugab. Schließlich wurde er sogar zum Professor an das Petersburger Konservatorium berufen. Wie Rubinstein, Tschaikowsky und Rachmaninow war Rimski-Korsakow dem Westen gegenüber nicht verschlossen und konnte mit Hilfe seiner Kenntnisse der Satztechnik und Instrumen- tation bald zu einem der bekanntesten Komponisten Russlands aufsteigen. Zu seinen wichtigsten Werken gehört das viersätzige sinfonische Werk Scheherazade, das er 1888 beendete, und in dem er auf meisterhafte Art die typisch russische Vorliebe für das »Orientalische« mit moderner Satztechnik und farbenfroher Instrumentation verband. In Scheherazade vertonte er, ganz in der Tradition der Programmmusik, eine literarische Vorlage: die jahrhundertealten Märchen aus 1001 Nacht. Mit charakteristischen musikalischen Motiven kennzeichnete er darin den tyrannischen Sultan Schahriar und die Wesirstochter Scheherazade, die dem Sultan jede Nacht eine andere phantastische Geschichte erzählt, am spannendsten Punkt jedoch abbricht, um sich ihr Leben zu bewahren. Nachdem seine Frau den Sultan betrogen hatte, schwor dieser nämlich, seine zukünftigen Bräute nach der Hochzeitsnacht zu töten. Diesem blutigen Treiben macht die kluge Scheherazade mit ihren Geschichten ein Ende, da der neugierige Sultan den Fortgang der Märchen unbedingt wissen will. Nach 1001 Nächten schließlich sieht er ein, dass er mit seinem Rachefeldzug töricht gewesen war, gibt diesen auf und nimmt Scheherazade offiziell zur Frau. Diese Erzählung liegt Rimski-Korsakows sinfonischer Suite zu Grunde. Die ursprünglichen Titel der einzelnen Sätze (Das Meer und Sindbads Schiff, Die Geschichte vom Prinzen Kalender, Der junge Prinz und die junge Prinzessin, Feier in Bagdad, Das Meer, Das Schiff zerschellt an einer Klippe unter einem bronzenen Reiter) zog RimskiKorsakow jedoch bald wieder zurück, um dem Zuhörer stattdessen die Möglichkeit zu geben, sich ganz unvoreingenommen auf die musikimmanenten Ausdrücke einzulassen. Um die wiederkehrenden Motive von Scheherazade und dem Sultan gruppieren KONZERT Weiter und weiter entfernt sie sich. Das russische Lied und die orientalische Weise verschmelzen zu einer gemeinsamen Harmonie, deren Klänge sich nach und nach in der Ferne verlieren.« In ihrem Aufbau ist die Komposition sehr schlicht gehalten, sie besticht jedoch vor allem durch ihre wiederholten, einprägsamen Melodielinien und ihren melancholischen Grundton, der durch die Verwendung von ungewohnten Instrumentenkopplungen und Rhythmen »fremde« Welten anklingen lässt. So wurde die Steppenskizze bald zu Borodins am häufigsten gespielten und vor allem auch im Ausland bekanntesten Werk. Er widmete die Komposition Franz Liszt, dessen programmatische Werke er überaus bewunderte. Das »Mächtige Häuflein« drohte zu dieser Zeit bereits zu zerbrechen, die gemeinsamen Ideale und Feindbilder der Gruppe waren zu weit auseinandergedriftet – für die Entwicklung und Förderung der russischen Musik im 19. Jahrhundert ist die Rolle diese Gruppe trotz allem kaum zu überschätzen. 7. SINFONIEKONZERT ALEX ANDER BORODIN Eine Steppenskizze aus Mittelasien (1880) SERGEI RACHMANINOW Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 fis-Moll op. 1 (1892/1917) Nikolai Rimski-Korsakow, gemalt von Valentin Serow (1898) NIKOLAI RIMSKI-KORSAKOW Scheherazade op. 35 (1888) sich verschiedenste emotionale Elemente aus der arabischen Erzählung – Ausdrücke etwa der Freude, der Sehnsucht, der Melancholie und der Trauer. So können die Geschichten mit Hilfe der Musik immer wieder neu in der Phantasie des Zuhörers entstehen, wie Rimski-Korsakow erklärte: »Indem diese Motive und Themen jedes Mal in verschiedenen Farben, Formen und Stimmungen erscheinen, entsprechen sie immer verschiedenen Vorstellungen, Handlungen und Bildern.« Ein expliziteres Programm unterlegte Rim- ski-Korsakows Freund und Kollege, Alexander Borodin, seinem nur wenige Jahre zuvor entstandenen, kurzen Werk Eine Steppenskizze aus Mittelasien: »In der einförmigen Steppe Mittelasiens erklingen die bisher fremden Töne eines friedlichen russischen Liedes. Aus der Ferne vernimmt man den Hufschlag von Pferden und Kamelen und den eigentümlichen Klang einer orientalischen Weise. Eine einheimische Karawane nähert sich, die unter dem Schutz russischer Soldaten sicher und sorglos ihren weiten Weg durch die unermessliche Wüste zieht. SOLIST Nikolai Tokarev (Klavier) DIRIGENT Michael Sanderling Sonntag, 6. März 2011, 17.00 Uhr Montag, 7. März 2011, 19.30 Uhr Kurzeinführung jeweils 30 Minuten vor dem Konzert 20 FUNDUS OPERNRÄTSEL In der New York Times als »der heißeste Komponist unserer Zeit« beschrieben, verbindet dieser Künstler in seinen Werken viele verschiedene kulturelle Stile und musikalische Traditionen miteinander, von lateinamerikanischem Flamenco und Rumba über Madrigale aus der Renaissance und italienische Arien bis hin zu Zwischenspielen mit arabischer Gitarre und Rezitativen, die sich dem klassischen griechischen Theater anzunähern versuchen. Anstatt diese unterschiedlichen Traditionen nur als Zitate in seine Werke zu integrieren (wie es oft bei der Begegnung von Klassischer und Volksmusik der Fall ist), sind sie das eigentliche Herz seiner Musik, in der U- und E-Musik tatsächlich eine enge Verbindung eingehen. Diese besondere Symbiose zeigt sich bereits in seiner ersten Oper, die 2007 gleich zwei Grammy Awards gewann: als »Beste zeitgenössische klassische Komposition« und »Beste Opernaufnahme«. Die Oper erzählt die Geschichte eines berühmten spanischen Dichters durch die Augen einer Schauspiele- rin, die es sich zur Aufgabe macht, den Geist seiner Werke auch nach dem gewaltsamen Tod des Dichters zu bewahren. Wie die Schauspielerin versucht auch der Komponist, den Dichter als einen realen, durch Liebe inspirierten Menschen zu zeigen, anstatt ihn auf den Sockel einer politischen Legende zu heben. Unsere Frage Wer ist der Komponist und wie heißt seine preisgekrönte Oper? Ihre Lösung schicken Sie bis zum 04.04.2011 per Postkarte an die Staatsoper Hannover . Presse- und Öffentlichkeitsarbeit . Opernplatz 1 . 30159 Hannover. Oder per Email an [email protected]. Vergessen Sie nicht Ihren Absender! Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir 5x2 Karten für die konzertante Premiere La Fille du régiment am 27.04.2011. Die Lösung des letzten – zugegeben schweren – Opernrätsels in der seitenbühne 01/02.2011 war die Oper Guercœur von Albéric Magnard. KOREANER IN HANNOVER Zum zweiten Mal waren im Januar an der Staatsoper Hannover zehn Gesangstudenten der Yonsei-Universität aus Seoul (Südkorea) zu Gast, um drei Wochen lang den Betrieb an einem deutschen Opernhaus mitzuerleben sowie musikalischen und szenischen Unterricht von Ensemblemitgliedern zu erhalten. Wie 2010 wurde am Ende aus den zehn Studenten einer ausgewählt, der in der kommenden Spielzeit das Ensemble der Jungen Oper für ein Jahr bereichern wird. »AUS EINEM TOTENHAUS« – DAS BUCH Neu in diesem Jahr war hingegen die Unterbringung bei Gasteltern aus Hannover, was sich als Bereicherung für alle Beteiligten erwies. Trotz sprachlicher Hindernisse war der gedankliche und emotionale Austausch so intensiv, dass der Abschied am Flughafen Hannover schließlich überaus tränenreich wurde. Aber schon in knapp zehn Monaten gibt es ja wieder die Möglichkeit, zehn Studenten aus dem »Land der Morgenstille« bei sich aufzunehmen! Pünktlich zur Wiederaufnahme von Janáčeks letzter Oper Aus einem Totenhaus am 18. Februar ist ein von Staatsoper und Musikhochschule herausgegebener Band mit wissenschaftlichen Beiträgen erschienen, Ergebnis eines gemeinsamen Symposiums anlässlich der Premiere im Jahr 2009. Das Buch ist im Werhahn-Verlag Hannover erschienen und zum Preis von 19,80 € im Opernshop und über den Buchhandel erhältlich. Die mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST 2009 ausgezeichnete Inszenierung von Barrie Kosky ist noch ein letztes Mal zu sehen: am 11. März 2011. IMPRESSUM HERAUSGEBER Niedersächsische Staatstheater Hannover GmbH, Staatsoper Hannover, Opernplatz 1, 30159 Hannover INTENDANT Dr. Michael Klügl REDAKDramaturgie, Öffentlichkeitsarbeit GESTALTUNG María José Aquilanti, Birgit Schmidt DRUCK Steppat Druck FOTOS Eva Bessert-Nettelbeck (1, 17), Swantje Gostomzyk/ Mihaela Iclodean (16), Thomas M. Jauk (Titel), Daisy Komen (7), Marek Kruszewski (2/3), Rikarda Plenz (11), Andrea Seifert (13) und Gert Weigelt (6) TITELBILD Falstaff, Stefan Adam (Falstaff). TION seitenbühne . März / April 2011