Tempo! Tempo! - Evangelische Akademie Tutzing

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Tempo! Tempo!
Vom Bewegen in einer beschleunigten Welt
Geschwindigkeit ist alles! Das verdeutlichen nicht nur die soeben beendete Olympiade oder die
Formel-1-Rennen, sondern auch der Alltag. Zeit ist Geld und wird immer knapper. Zeit muss
organisiert werden. Der sinnvolle Umgang mit der Zeit ist zur persönlichen Aufgabe und zu einem
die Wirtschaft bestimmenden Faktor geworden. Doch im Gegensatz dazu wächst das allgemeine
Bedürfnis nach Entschleunigung.
Ob Eisenbahn oder Auto, ob Flugzeug oder Rakete – mit jeder technologischen Erfindung
wurden in den letzten 200 Jahren die von der Natur vorgegebenen Geschwindigkeiten
potenziert. Gegenwärtig ist es vor allem die Computertechnologie, die mit immer schnelleren
Rechnern neue Akzente innerhalb von Zeitabläufen setzt. Der Alltag wird in all seinen
Bereichen ständig beschleunigt. Wer heute – wenn auch zügig – noch schreitet, kommt überall
zu spät.
In der vierten Ausschreibung des Deutschen Studienpreises der Körber-Stiftung waren junge
Forscher dazu aufgefordert, über den Nutzen und die Kosten einer immer schnelleren
Entwicklung unseres Lebens nachzudenken. Leiden wir unter den Beschleunigungsprozessen?
Oder sind wir in erster Linie Nutznießer der größer werdenden Spielräume des Verfüg- und
Machbaren?
Studienleiter Ulrich Dettweiler vom Forum für Junge Erwachsene ging in Zusammenarbeit
mit Julia Clemens, Deutscher Studienpreis, Körber-Stiftung, sowie mit Studienleiter Martin
Held und Professor Karlheinz A. Geißler, Tutzinger Projekt „Ökologie der Zeit“, diesen Fragen
nach. Wir stellen Ihnen nachfolgend einige künstlerische Beiträge von Preisträgern des
Deutschen Studienpreises vor:
Aljoscha Begrich, Jo Preußler und Axel Töpfer
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Zeitzeichen und Zeitwahrnehmungen – Installation der Zeitgenossen
Aljoscha Begrich und Jo Preußler formulieren ihr Anliegen so: Sie wollen auf die „Vertreibung des
Was durch das Wie, der Worte durch die Bilder, der Konzentration durch die Zerstreuung“ im
aktuellen Theater hinweisen. Der Untertitel zu ihrer Arbeit „Die Fotografie des Theaters ist das
Theater der Fotografie“ gibt Rätsel auf: „Ein Versuch, Theaterstücke zu belichten“. Was soll
schwierig daran sein, Theaterstücke zu fotografieren? Kamera draufhalten, abdrücken, fertig.
Doch Begrich und Preußler geht es um mehr als eine Momentaufnahme: Sie wollen
Theateraufführungen in Langzeitbelichtungen festhalten und dabei jeweils die gesamte Dauer einer
Aufführung in eine Aufnahme bannen. Sieben Inszenierungen am „schauspiel frankfurt“ haben sie
auf diese Weise fotografiert. Warum?
„Der Rausch der Geschwindigkeit erreicht das Theater, dessen Ausdrucksformen geraten ins
Schleudern“, sagen die Studenten. Traditionelle Mittel verschwinden auf der Jagd nach dem
Anschluss an die neuen Medien. Bilder vertreiben die Worte von der Bühne: Multimediale
Spektakel lösen das Kammerspiel ab, „durch die deutsche Stadttheaterlandschaft zieht ein sich
selbst zitierendes Poptheater, das Zuschauer mit Informationen und Bildern, nicht aber mit
zusammenhängenden Inhalten konfrontiert“, lautet Begrichs und Preußlers Kritik. Zugleich seien
die Repräsentations- und Archivierungsmethoden des Theaters weitgehend unverändert geblieben:
Kritiken und Strichfassungen, Video- und Audioaufnahmen sowie Fotografie.
Mit ihren Langzeitbelichtungen wollen die beiden Autoren die ganze Inszenierung in eins abbilden,
die Unschärfe des Bildes verweist dabei auf die verfließende Zeit: „Die fotografische
Langzeitbelichtung öffnet dem Theater außerhalb der Bühne einen weiteren Zeitraum.“ Das Bild
wird zum Mahnmal des Vergänglichen. Die abstrakten Bilder der Aufführung demonstrieren die
Unmöglichkeit, einen zeitlichen Ablauf auf einem statischen Bildträger zu bannen. Der Versuch der
Fotografie, der Zeit Herr zu werden, ist vergeblich.
Zug in eine neue Zeit
Die Wahrnehmbarkeit von Geschwindigkeit beschäftigt den Leipziger Medienkunststudenten Axel
Töpfer seit langem. Für seine Arbeit „Ereignislandschaft“ fotografierte der 26-Jährige auf einer
Zugfahrt von Manchester nach Liverpool abwechselnd mit zwei Fotoapparaten aus dem Fenster:
„Es wurde jeweils ein Ereignis in Langzeitbelichtung festgehalten“, erklärt Töpfer. Dabei definiert
er Ereignis als „Veränderung des Horizonts“.
Die drei Diafilme entwickelte und scannte er, legte sie in Originallänge hintereinander und
überblendet jeweils bis zur Hälfte des vorherigen und nächsten Fotos. So werden die Ereignisse zu
Elementen einer Reihe.
Es entstand ein 49-minütiger Film – so lange dauert die Zugfahrt von Manchester nach Liverpool.
Die Landschaft reduziert sich auf verwischte Farblinien. Fahrtgeräusche untermalen die
wechselnden Farbimpressionen, die an William Turner erinnern. Die Strecke hat Töpfer nicht
zufällig gewählt: 1835 eröffnet, war sie die erste, die von einem Personenzug durchgängig befahren
wurde.
Sarah Winter
---------------------Immer einen Schritt voraus – Installation zu Tempo und Gleichzeitigkeit
Eine Verbindung zwischen Beschleunigung und Macht wolle sie ziehen, sagt Sarah Winter. „Ich
verwende Beschleunigung als Mittel, um den ständigen Kampf um die Vormachtstellung zu
ironisieren.“ Für ihre Installation wählte die Kunststudentin ein traditionelles Motiv, das für Grazie
steht: die Ballerina. Lebensgroß aus Zellpapier geformt, dreht sie sich einer Spieluhr gleich auf
ihrem Sockel. Zu ihren Füßen hängt ein Kopfhörer, aus dem Melodien aus Tschaikowskys
„Schwanensee“ und eine Spieluhrmusik dringen. Wenn ihn ein Besucher aufsetzt, muss er um die
Skulptur herum mitlaufen. Und zwar sehr schnell, denn er hat einen viel größeren Radius zu
bewältigen. Mit der bewusst kitschig gestalteten Ballerina wählte die 23-jährige Winter ein Objekt,
das für eine zweckfreie Schönheit steht. Umso größer ist die Irritation, wenn die Skulptur Tempo
macht und den aktiven Part übernimmt. Plötzlich ist nicht mehr bestimmbar, wer Subjekt ist und
wer zum Objekt wird. Zusätzlich macht Winter das Zeitmuster der Postmoderne, die
Vergleichzeitigung, zum Thema: Will der Betrachter der Ballerina folgen, muss er Hören, Sehen
und Handeln koordinieren können.
Martin Rohrmeier
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Flotte Beats – Musikalische Präsentation von Lebenstempo
Auf Musik trifft man allerorten: im Kaufhaus, im Supermarkt, in Bahnhöfen, im Flugzeug, in der
Telefonschleife. Wenn Musik so präsent ist, muss sich die Beschleunigung des Lebenstempos auch
in ihr niederschlagen. Dieser Ansicht ist Martin Rohrmeier. Um seine These zu prüfen, untersucht
der 23-jährige die neuen Produktionsmöglichkeiten vorwiegend von Popmusik. Darüber hinaus
analysiert er innere Eigenschaften wie die Zeitstrukturen von Techno, Pop und Minimal Music.
Dabei stellt Rohrmeier ein typisches Merkmal fest: „Die innere, zeitliche Organisation von Musik
hat sich gewandelt. Statt von einem Anfang über einen Bogen zu einem Schluss zu führen, ist sie oft
‚verunendlicht’.“ Damit ist der Einstieg ins Hören der Stücke jederzeit möglich. Die Ereignisdichte
in Kompositionen spiegele die Rasanz des Lebenstempos wider. Als gegenläufig in der
Beschleunigungsspirale betrachtet Rohrmeier die eigene „menschliche“ Zeit. Ein solches
Gegenmodell zur Beschleunigung sieht er etwa in den Kompositionen von John Cage und Bernd
Alois Zimmermann verwirklicht. Auch Stücke von Huber und Takemitsu erlauben es, der
„Eigenzeit“ nachzuspüren.
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