Verhaltensprobleme als Bewältigungsstrategie

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Verhaltensprobleme als Bewältigungsstrategie
Verhaltensprobleme und Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung
stellen in ihrer Vielfalt, Häufigkeit, Intensität und Beständigkeit eine schwerwiegende Belastung
für Helfer in Einrichtungen der Behindertenhilfe dar. Betrachtet man diese Verhaltensprobleme
nicht einseitig als Störverhalten, sondern als individuell sinnvolles, funktionales und
situationsbezogenes Handeln, so kann das Verhalten als Bewältigungsstrategie interpretiert
werden. Die von der Umwelt problematisierten Verhaltensweisen können als Subjekt sinnvoll
interpretiert werden, also als ein aus der psychischen uns sozialen Logik des Subjekts
nachvollziehbares und verstehbares Verhalten. Dieser subjektive Sinn lässt sich in der Regel
nur aus der Interdependenz personaler, sozialer, situativer, systemimmanenter und
problembezogener Anteile erschließen.
Verschiedene Fragen müssen trotz dieser Interpretationsweise bearbeitet werden, wie z.B. die
Wechselbeziehung von personalen und sozialen Faktoren, die Wirkung von Verhalten auf das
Erleben der Betroffenen und den speziellen Aspekten im Hinblick auf die geistige Behinderung
der Betroffenen.
Verhaltensprobleme unter der Perspektive von Bewältigungen zu betrachten, soll in diesem
Beitrag unternommen werden.
Begriffserklärung:
Problemverhalten sind Verhaltensweisen, die in einem engen Zusammenhang zu aktuellen
Lebensveränderungen, Konflikten oder Krisen verstehbar werden.
Unter Verhaltensauffälligkeiten versteht man dauerhafte bzw. längerfristig auftretende
Verhaltensweisen, die zu einer empfindlichen Störung der
Person -Umwelt -Beziehung führen und deren Kausalität weniger in aktuellen Problemen,
sondern eher in grundsätzliche aus der Lebensgeschichte ableitbaren Faktoren begründet ist.
Folgende Aspekte erklären in integrativer Weise, das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten
und Verhaltensproblemen. So können Verhaltensauffälligkeiten z.B. durch folgende
grundsätzliche Aspekte begründet sein:
als Ausdruck von Selbstbestimmung, z.B. wenn ein Betroffener eigene Wünsche und den
eigenen Willen nicht anders realisieren kann,
als Mangel von sozialer Kompetenz, z.B. wenn ein Betroffener nur auf diese Weise Kontakt
aufnehmen kann.
Verhaltensprobleme werden eher unter der Perspektive aktueller Lebensveränderungen,
Konflikte und Krisen verstehbar:
als Ausdruck von Belastung in psychosozialen Krisen, z.B. nach kritischen
Lebensereignissen, wie dem Auszug aus dem Elternhaus oder dem Tod eines Elternteils,
als Problem- oder Konfliktlösungsversuch z.B. wenn Betroffene regulierend eingreifen oder
sich behaupten wollen.
Im Mittelpunkt werden unterschiedliche Bewältigungsstile konkretisiert und diese in einen
Zusammenhang mit Problemverhaltensweisen zu stellen.
Internale Bewältigung
Bei Personen, die bei einem Problem oder Konflikt die internale Bewältigung als Strategie
wählen, sind die Gedanken und das Gefühlsleben stark involviert. Betroffene haben Angst die
Kontrolle über sich und die Situation zu verlieren und versuchen sich daher innerlich zu
beruhigen, indem sie sich ablenken und über ihre Gefühle klar werden. Meist stellen sie sich
die Frage „Wer hat Schuld?“ oder finden eine neue Erklärung für ihr Problem oder sie
akzeptieren es einfach. Zusammenfassend, die internale Bewältigung ist eine Strategie, die
sich nach innen auf die kognitive Anpassung an die Problematik bezieht und auf eine
Veränderung der eigenen Person abzielt.
Externale Bewältigung
Die externale Bewältigung eines Problems oder Konfliktes findet in dem Verhalten und Handeln
der betroffenen Person Ausdruck, indem sie zum Beispiel versucht andere Menschen auf sich
aufmerksam zu machen um deren Hilfe zu erlangen. Es handelt sich also um eine nach außen
gerichtete Bewältigungsstrategie, die, anders als die internale Bewältigung, auf die
Veränderung der Umwelt abzielt.
Diese beiden Bewältigungen sing jedoch nur theoretisch trennbar, denn in einer realen
Situation ist es schwer diese beiden zu unterscheiden, weil das Verhalten und die
Gedankenwelt einer Person sehr eng miteinander verbunden sind.
1. Offensive lösungsorientierte Bewältigung
Die offensive lösungsorientierte Bewältigung stellt die Idealform einer Bewältigung von
Problemen und Belastungen dar. Hier werden Wirkungsweisen entwickelt und eingesetzt, die
eine Problemlösung ermöglichen. Eine Person wendet sich unter Anwendung vorhandener
oder neu entwickelter Kompetenzen und Ressourcen der Problemlösung zu. Diese
Bewältigung basiert wesentlich auf emotionalen, kognitiven und sozialen Kompetenzen.
2.Die defensiv abwehrorientierte Bewältigung
Durch diesen Typus an Bewältigungsstrategie erfolgt zwar keine Lösung der Problematik,
allerdings gelingt es zeitlich und/oder teilweise auf die bestehende Problemstellung Einfluss zu
nehmen.
Die defensiv abwehrorientierte Bewältigungsstrategie ist gekennzeichnet durch ein
ausweichendes beziehungsweise meidendes Verhalten sowie durch ein rechtfertigendes
beziehungsweise beeinflussendes Verhalten.
Oftmals stellt diese Art der Bewältigung die einzig mögliche Reaktionsweise dar, bei
beispielsweiser ungenügend vorhandener Kompetenz oder bei einer Umgebung, welche
Umgestaltungen nicht billigt.
Bei einer Veränderung der gegebenen Situation treten Verhaltensprobleme häufig als eine
unangemessene Informationsverarbeitung auf und zeigen somit die vorhandene Überforderung
der jeweiligen Person. Unter einer wandelten Gegebenheit versteht man zum Beispiel einen
Betreuerwechsel beziehungsweise einen Wechsel eines Klassenlehrers (ersteres Beispiel
bezieht sich auf geistig behinderte Menschen, letzteres Beispiel ist auf Schüler ausgerichtet).
Grundsätzlich ist eine defensiv abwehrorientierte Bewältigungsstrategie als individuell sinnvoll
zu betrachten, da sie auf einzelne Aspekte der gegenwärtigen Problemstellung einwirken kann.
Diese Bewältigungsstrategie ist diejenige, welche am häufigsten bei geistig behinderten
Menschen vorzufinden ist, was jedoch nicht bedeutet, dass nicht auch unsere späteren
Schülerinnen und Schüler sich dieser Strategie bedienen, um Problematiken zu bewältigen.
Defensiv abwehrorientiertes Vorgehen dient oftmals dazu, unangenehmen Situationen den
Rücken zu kehren oder gar um zu flüchten. Man unterscheidet dabei drei Gründe für dieses
fluchtartige Verhalten:
1. Eingeschränkte Verfügbarkeit von Kompetenzen zur aktiven Lösung der
Angelegenheit und zur angemessenen sprachlichen Darstellungsweise
2. Erlebte Vorbelastung beziehungsweise Verhinderungen hinsichtlich der Entwicklung
3. Fehlende notwendige Verhaltensweisen zur Lösung der vorhandenen Problemstellung
(wurden nicht erlernt durch z.B. Überbehütung
Die häufig getroffene Aussage „Das Kind (oder auch der Behinderte) versteht das sowieso
nicht.“ Ist vollkommen unzutreffend vor dem Hintergrund, dass der Betroffene die Situation
sehr wohl wahrnimmt, eben nur anders auf sie reagiert.
Menschen mit geistiger Behinderung oder auch Personen, welche Zuflucht suchen in dieser
Bewältigungsstrategie erlangen unmittelbar die Aufmerksamkeit der Helfer oder des Lehrers.
Aufgrund von Defiziten in Bezug auf die kommunikativen Fertigkeiten, ist die indirekte
Vorgehensweise die für sie einzig mögliche um sich hinsichtlich ihres Problems zu artikulieren.
Die Helfer beziehungsweise der Lehrer realisieren die Veränderung zwar, jedoch ist eine
gründliche Konfrontation mit der Umwelt des Betroffenen und seiner „Geschichte“ unabdinglich,
da auftretende Auffälligkeiten nicht immer genug Aufschluss zulassen. Bleibt die
Problemkonfrontation des Schülers oder des Patienten aus, so wird dieser als störender Faktor
abgetan und jegliche einschreitende Handlungen zum Zwecke der Störungsvermeidung
betrieben.
Wir unterscheiden im Folgenden zwischen der „internalen“- und der „externalen“
abwehrorientierten Bewältigungsstrategie und wollen diese beiden Unterkategorien anhand
von Beispielen vertiefen (hier: auf geistig Behinderte bezogen):
1. (Internal): Person X möchte ihre Freizeit gerne mit ihrem Verlobten Y verbringen, was
X allerdings verwehrt bleibt, da es Y vorzieht seine Wochenenden außerhalb der
Einrichtung mit seiner Familie zu verbringen. Darauf reagiert X bedrückt, spricht aber
mit niemandem über ihr Leiden und versucht auch nicht, auf ihren Verlobten
einzuwirken. Stattdessen wartet X an der Einrichtungstür und spricht sich selbst Mut zu
mit den Worten „Bald kommt er.“.
2. (External): X möchte aus seinem Elternhaus ausziehen. Ihm glückt es einen
Wohnheimplatz zu erlangen, woraufhin seine Eltern ihm den Auszug aufgrund von
finanziellen Mitteln untersagen. X wehrt sich nicht gegen diese Entscheidung, wird
aber vermehrt auffällig innerhalb seiner Arbeitsgruppe in der Werkstatt, schreit und
rennt aufgeregt umher mit den Worten: „Ich halte das alles nicht mehr aus.“).
Betrachtet man mehrere Beispiele zu dem Umgang mit bestehenden Problemstellungen, so
fällt ein charakteristischer Verlauf auf:
Ø Personen reagieren auf aktuelle Problemstellung und sind keineswegs ein unbeteiligter
Akteur
Ø Die Realisierung der Problematik erfolgt auf instinktive Weise
Ø Jeweilige Reaktion der Betroffen richtet sich nach ihren Fähigkeiten, Problematiken
und sozialen Gegebenheiten
Ø Unmittelbare Problemäußerung, es fällt ihnen daher schwer Beihilfe anzuregen
Ø Möglicherweise sorgen Verhaltensweisen der Person für einen Konflikt seinerseits
gegenüber der sozialen Umwelt (Störung) und schafft somit zusätzliche
Problemstellungen, woraufhin der Lehrer/ Helfer mit einem eingreifenden Verhalten
agiert
Resümee: Die angewendete defensiv abwehrorientierte Strategie löst zwar Teilaspekte der
bestehenden Problematik, kann aber zum Auftreten neuer Probleme führen und von der
Umwelt als Störung wahrgenommen werden. Trotz allem ist die Reaktionsweise der
Betroffenen für sie von immenser Bedeutung, um ihrem Problem Luft zu verschaffen und dient
ihnen als ein Ventil, mit dessen Hilfe sie ihren Frust rauslassen können und als mögliche
Erzielung von Aufmerksamkeit. Neben Aspekten der Ablenkung, des Ausagierens und des
Vertuschens, dient die Reaktionsweise der Selbstbehauptung:
Beispiele Verhaltensprobleme- Ausdruck von Selbstbehauptung:
a) Appellative Form der Selbstbehauptung (z.B. Weinen, motorische Unrast)
b) Unterwürfige Form der Selbstbehauptung (z.B. Anhänglichkeit bei der
Lehrperson)
c) Bündnisform der Selbstbehauptung (z.B. Androhungen gegenüber
Klassenkameraden)
d) Demonstrative Form der Selbstbehauptung (z.B. Angriffe gegenüber
Mitschülern)
3. Verleugnend pathologisch orientierte Bewältigung
Bei der verleugnend pathologisch orientierten Bewältigung hat die betroffene Person den
Bezug zu seinem Problem, zu sich selbst und zu seiner Umwelt verloren. Sie hat keinen
Kontakt zur Realität und verleugnet seine Problematik. Dieser Person mangelt es an
Handlungsmöglichkeiten, die zur Situation und allgemein zur Realität passen und isoliert sich
deshalb emotional von jeder menschlichen Beziehung. An dieser Stelle sollte man sich fragen,
ob der/die Betroffene eine psychische Erkrankung oder Störung hat, denn diese
Bewältigungsstrategie beinhaltet Anzeichen für eine solche Krankheit.
Beispiele (auf geistig behinderte Menschen bezogen):
1)
Ein Bewohner einer Wohnstätte zeigt sich im Umgang mit Konfliktsituationen
vollkommen desorientiert. Vor allem bei Konflikten zwischen seiner Mutter und seinen
Betreuern reagiert er mit zusammenhanglosen Redeweisen, Verkleidungsaktionen als Indianer
und völliger Unselbstständigkeit.
2)
Eine Helferin berichtet von einem geistig behinderten Mann, der in Problem- und
Krisensituationen mit religiösen Wahnphantasien reagiert.
→ Kein Realitätsbezug
→ Verleugnung des Problems
→ Mangel an Handlungsalternativen
Schlussbemerkung:
Ernst Wüllenweber befasste sich hauptsächlich mit der defensiv abwehrorientierten
Bewältigung von Verhaltensproblemen, da sich bei dieser Strategie erkennbare Verbindungen
zwischen einem Verhaltensproblem und einer entsprechenden Bewältigung finden. Die
betroffenen erkennen ihr Problem und versuche darauf einzuwirken. Dabei sind
Verhaltensprobleme für die Betroffenen von zentraler Bedeutung, da diese ihnen helfen besser
mit ihrem Problem umzugehen.
Die Sichtweise, dass Verhaltensprobleme eine Art Bewältigungsstrategie sind unterscheidet
sich sehr von solchen, die Verhaltensprobleme als zugehörig zur geistigen Behinderung
ansehen. Jedoch haben die vorgestellten Bewältigungsstile gezeigt, dass geistig behinderte
Menschen dem Leben nicht hilflos ausgesetzt sind, sondern Kompetenzen besitzen, die ihnen
helfen mit Problemsituationen umzugehen.
In der Praxis soll diese Erkenntnis genutzt werden, um geistig behinderte Menschen besser zu
verstehen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen.
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