Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh

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10.02.2016 10:08 Uhr
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Nordrhein-Westfälische Akademie der
Wissenschaften und der Künste
Gefördert durch
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Dominik Höink, Christian Hornung und Anne Sanders (Hg.)
NEUES FINDEN –
NEUES SCHAFFEN
Studien und Interviews zu Kreativität in
Wissenschaft und Kunst
Ferdinand Schöningh
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10.02.2016 10:08 Uhr
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn
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Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn
ISBN 978-3-506-78188-8
24.04.2015 13:55 Uhr
Seite 5
INHALT
5
Inhalt
01_Vorwort
Dominik Höink, Christian Hornung und Anne Sanders
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
TEIL I: STUDIEN
Sara. A. Wickström
Kreativität und psychische Krankheit . . . . . . . . . . .
15
Xin Li
Mathematik = Kreative Kunst?!? . . . . . . . . . . . . . . .
37
Christian Hornung
Kreativität im antiken Kirchenrecht?
Rechtsschöpfung auf frühkirchlichen Synoden und
in römisch-bischöflichen Schreiben . . . . . . . . . . . .
49
Regina Grundmann
„Lies nicht ‚mit Frieden‘, sondern ‚mit dem Saloon‘!“
Die Talmudparodie Massekhet Prohibition als kreativer
Umgang mit religiösen Diskursformen . . . . . . . . . .
69
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Seite 6
Anne Sanders
Rechtliche Grenzen von Kreativität am Beispiel
des Films „Deutschland bleiche Mutter“ . . . . . . . . .
87
Dominik Höink
Formen der Sakralisierung von Komponisten und
kreativen Schaffensprozessen im Musikschrifttum . .
111
David P. Schweikard
Musikalische Improvisation als kreative
Handlungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Inhalt
6
TEIL II: INTERVIEWS
1. Prof. Dr. Dr. Dr. med. habil. Hanns Hatt
(Klasse für Naturwissenschaften und Medizin) . .
161
2. Prof. Dr. Manfred Neumann
(Klasse für Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften) 169
3. Prof. Dr. Thomas Bauer
(Klasse für Geisteswissenschaften) . . . . . . . . . . .
175
4. Enno Poppe (Klasse der Künste) . . . . . . . . . . . . .
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VORWORT
7
Vorwort
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Kreativität ist in aller Munde. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert sind nahezu alle Lebensbereiche von einem Streben
nach kreativer Gestaltung erfasst. War der Wunsch nach
Kreativität zunächst eng mit dem Feld der Kunst, aber
ebenso demjenigen der Wissenschaft verbunden, so hat das
Begehren kreativ zu sein, zunehmend weitere Bereiche erfasst. Andreas Reckwitz kann daher nicht nur berechtigterweise von der „Unvermeidlichkeit des Kreativen“ sprechen,
sondern überdies seine Studie mit dem Satz beginnen lassen: „Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann
wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen.“1 Unverständnis
ernte derjenige, der nicht kreativ sein wolle. Die gegenwärtige Zeit sei geprägt von der „Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem
Begehren und sozialer Erwartung“. Auf die Kurzformel gebracht bedeutet dies: „Man will kreativ sein und soll es
sein.“2 Die 1970er Jahre markierten nach Reckwitz jenen
Umkehrpunkt, ab dem der sonst vornehmlich von Exponenten einer künstlerischen und antibürgerlichen Bewegung
formulierte Wunsch nach einer kreativen Gestaltung der jeweiligen Umwelt zu einem Anliegen der Mehrheit geworden sei.3
Das besondere Interesse am Thema Kreativität war Anlass, eine entsprechende Arbeitsgruppe im Jungen Kolleg der
Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und
01_Vorwort
Vorwort
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der Künste zu etablieren, in deren Rahmen interdisziplinär
– und dabei auch die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften überschreitend – verschiedene Ansätze
diskutiert worden sind und eigene Studien entstanden. Die
breite interdisziplinäre Zusammensetzung der Arbeitsgruppe spiegelt sich in der großen thematischen Spannweite der Artikel. Es ist keineswegs das Anliegen dieses
Bandes, eine systematische und möglichst umfassende Abhandlung zur Kreativitätsforschung beizusteuern, vielmehr
liegt der besondere Wert in der Vielgestaltigkeit der behandelten Themen, den facettenreichen Betrachtungen und
den divergierenden fachspezifischen Blickwinkeln. Der Gefahr, durch ein vorgeschriebenes Verständnis die jeweilige
disziplinäre Perspektive einzuschränken, wurde mit einer
Offenheit des Kreativitätsbegriffs begegnet. Entsprechend
haben sich die Autorinnen und Autoren nicht einem spezifischen Verständnis von Kreativität oder einer einzigen Definition verschrieben.
Der erste Beitrag wendet sich aus medizinischer Perspektive dem Phänomen zu. In der Betrachtung zahlreicher
Einzelstudien stellt SARA WICKSTRÖM die Zusammenhänge
von Kreativität und Krankheit dar. Insbesondere die Frage
nach den neurologischen Ähnlichkeiten von psychischen Erkrankungen und der Biologie des kreativen Denkens ist
dabei zentral.
XIN LI beleuchtet in seinem Beitrag das Verhältnis zwischen Mathematik und Kreativität. Vor allem die Frage, inwieweit eine nach Exaktheit strebende Wissenschaft, in der
es nur richtig oder falsch gibt, auch kreativ sein kann, steht
im Mittelpunkt der Diskussion.
Mit dem anschließenden dritten Beitrag wird das Spektrum der Texte in historischer Perspektive geweitet und der
Sprung in die Antike unternommen: Kreativität und antikes
Kirchenrecht scheinen auf den ersten Blick Antipoden zu
sein: Das übermächtige Traditionsargument schließt im Kirchenrecht gerade jede Neuerung aus. Dennoch sieht sich
die Kirche in einer ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. enorm
wachsenden Christenheit mit immer neuen disziplinären
Fragen konfrontiert, die erstmals entschieden und rechtlich
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beurteilt werden müssen. Kreativität, die Schöpfung neuen
kirchlichen Rechts, ist also der Sache nach geboten. Der
Beitrag von CHRISTIAN HORNUNG zeigt auf, wie die Alte Kirche
den Hiat zwischen einer der Theorie nach ausgeschlossenen
Neuerung und einer faktisch notwendigen Schöpfung neuen
Rechts überbrückt.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen (religiöser) Tradition und Kreativität wird in dem anschließenden vierten
Beitrag fortgeführt. REGINA GRUNDMANN untersucht den kreativen Umgang mit normativen religiösen Diskursformen in
der 1929 in New York verfassten Talmudparodie Massekhet
Prohibition, mit der ihr Autor Gerson Kiss eine schonungslose Kritik an der amerikanischen Gesellschaft zur Zeit der
Prohibition übt. Es wird gezeigt, wie die Talmudparodie ihre
Vorlage formal, sprachlich, argumentativ-hermeneutisch
und inhaltlich auf unterhaltsame Weise parodiert. In Massekhet Prohibition überlagern sich Tradition und Innovation,
Normativität und Kreativität und gehen eine komplexe Symbiose miteinander ein.
Mit den rechtlichen Grenzen kreativen Schaffens setzt
sich ANNE SANDERS in ihrem Beitrag auseinander. Sie diskutiert am Beispiel des Films „Deutschland bleiche Mutter“ die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach dem
die Veröffentlichung von Kunstwerken untersagt werden
darf, in denen intime Erlebnisse von Figuren geschildert
werden, die erkennbar von realen Personen inspiriert wurden. Der Beitrag geht der Frage nach, ob ein Werk verfremden muss, um von der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheit
geschützt zu werden oder ob nicht auch in einer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit realen Personen und Geschehnissen eine kreative Leistung liegen kann, die rechtlichen Schutz verdient.
Dass Kreativität ein wichtiger Faktor für musikalische
Schaffensprozesse ist, ist evident. So schwer zu ergründen
ist, wie ein Schaffensakt im Detail verläuft, so vielfältig sind
die Vorstellungen, die sich mit dem Komponieren neuer
Werke verbinden. Eine über die Jahrhunderte hinweg
äußerst wirkmächtige Auffassung ist dabei diejenige, der
Komponist erhalte seine Inspiration von oben, durch Gott.
9
Vorwort
01_Vorwort
01_Vorwort
Vorwort
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Ein nicht erklärbarer Entstehungsablauf wird nachgerade sakralisiert. DOMINIK HÖINK spürt in seinem Beitrag verschiedenen Formen der Sakralisierung des Schaffensprozesses und
– freilich untrennbar damit verbunden – des kreativ Schaffenden nach. Im Zentrum steht somit nicht die Frage nach
den Prozessen selbst, sondern ihrer nachträglichen literarischen Inszenierung als quasi-sakrale Phänomene.
Demgegenüber wendet sich DAVID SCHWEIKARD in seiner
Analyse der sozialen Dimension von Jazzimprovisation gerade dem kreativen Prozess zu. Exemplarisch verdeutlicht er
dabei, wie schon das improvisierte Solo, erst recht die Interaktion zwischen Musikern und das Ensemblespiel Merkmale
sozialer Intentionalität aufweisen und mithilfe von Begriffen
der philosophischen Handlungstheorie untersucht werden
können. Damit werden Anhaltspunkte entwickelt, improvisierte Musik als beispielhaft für kreative soziale Praxen zu
verstehen.
Die im zweiten Teil des Bandes abgedruckten Interviews
sind als Ergänzung zu den Studien gedacht, um dem Aspekt
der subjektiven Erfahrung von Kreativität Rechnung zu tragen. Drei Wissenschaftler und ein Künstler, die das Spektrum
der in der Nordrhein-Westfälischen Akademie versammelten
Klassen abbilden, sind zur ihrer Sicht auf Kreativität und
ihrer Bedeutung für die eigene alltägliche Arbeit befragt worden: Interviewpartner waren Prof. Dr. Dr. Dr. med. habil.
Hanns Hatt (Klasse für Naturwissenschaften und Medizin),
Prof. Dr. Manfred Neumann (Klasse für Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften), Prof. Dr. Thomas Bauer (Klasse für
Geisteswissenschaften) und Enno Poppe (Klasse der Künste).
Die Interviews stehen bewusst für sich und sind nicht weiter
kommentiert worden. Alle Interviewpartner schildern ihre eigenen Vorstellungen von Kreativität und beschreiben dabei
persönliche Erfahrungen aus ihrer Arbeit bzw. ihrem Schaffen. Sie stellen Überlegungen zum Verhältnis von kreativem
Einfall und der praktischen handwerklichen Umsetzung in
ein Kunstwerk bzw. eine Veröffentlichung an. Sie gehen
dabei auch der Frage nach, ob und wie kreative Prozesse
ihrer Erfahrung nach durch private aber auch institutionelle
Rahmenbedingungen beeinflusst werden.
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Anmerkungen
1 Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S. 9.
2 Ebd., S. 10 [Hervorhebungen im Original].
3 Ebd., S. 13–15.
11
Vorwort
01_Vorwort
01_Vorwort
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Seite 13
TEIL I:
STUDIEN
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Seite 14
02_Wickstroem
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KREATIVITÄT UND
PSYCHISCHE KRANKHEIT
Sara. A. Wickström
Unsere Kultur weist eine Vielzahl allgemeiner Vorstellungen
über die Funktionsweise des Gehirns auf. Ein seit hunderten
von Jahren lebendiger Mythos ist der Zusammenhang von
psychischer Instabilität und Kreativität und die Vorstellung
bzw. das Klischee eines „verrückten Genies“. Obwohl dieses Konzept ausgiebig diskutiert und erforscht wird, konnte
es bisher weder wissenschaftlich bestätigt noch widerlegt
werden. In dieser Arbeit werde ich aktuelle Studien, die sich
auf den Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und Kreativität in Wissenschaft und Kunst beziehen, diskutieren.
Kreativität als Phänomen und Persönlichkeitseigenschaft
ist ein zentraler Aspekt der Menschheit. Als wichtige Quelle
für Ideen, Fortschritt und Wohlgefühl ist sie eine geschätzte
und wünschenswerte Fähigkeit, die Laien und Wissenschaftler gleichermaßen fasziniert. Bereits im 4. Jahrhundert
v. Chr., als Inspiration mit Verrücktheit in Verbindung gebracht wurde, wurde eine Beziehung zwischen psychischen
Erkrankungen und Kreativität festgestellt, wie sie in einem
berühmten Ausspruch von Aristoteles dokumentiert ist: „Es
gibt kein großes Genie ohne einen Schuss Verrücktheit“1.
Speziell in der Ära der Romantik verstärkte sich dieses noch,
als die Idee des gequälten Künstlers aufkam2. Die Liste der
hiervon betroffenen Künstler ist beeindruckend und erstreckt
sich über alle Bereiche der Kunst. Der Dichter Thomas
Stearns Eliot, die Schriftstellerin Virginia Woolf und der
Sara. A. Wickström
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Kreativität und psychische Krankheit
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Komponist Robert Schumann wurden allesamt im Laufe
ihrer Karriere an einem gewissen Punkt offiziell in eine Klinik eingewiesen. Andere, darunter die Schriftstellerin Sylvia
Plath und der Künstler Vincent van Gogh, starben durch Suizid, wahrscheinlich als Folge ihrer psychischen Erkrankung
(beide litten an einer bipolaren Störung3). Das vielleicht
berühmteste Beispiel eines Wissenschaftlers mit einer
schweren psychischen Erkrankung ist der Mathematiker und
Nobelpreisträger John Forbes Nash, Jr., der an paranoider
Schizophrenie4 litt und im Laufe seiner aktiven Karriere als
Wissenschaftler mehrmals gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Diese prominenten Beispiele
haben stark zu der Aufrechterhaltung des Glaubens an eine
Verbindung von Kreativität und psychischen Erkrankungen
beigetragen.
Die Erforschung der Kreativität in der modernen Wissenschaft begann vor 60 Jahren, als Guilford im Jahr 1950 eine
Ansprache an die American Psychological Association richtete, die die bis dahin vernachlässigte Frage der Kreativität
und deren Ursprünge ins Rampenlicht rückte5. Zu dieser
Zeit galt es auch allgemein als anerkannt, dass Kreativität
nicht allein auf Umweltfaktoren zurückgeführt werden
kann, sondern sich aus individuellen Unterschieden in der
Disposition für Kreativität ergibt6. Seitdem hat sich die Frage
„Was macht einen Menschen kreativ?“ zu einer zentralen
Frage im Bereich der Kreativitätsforschung entwickelt. Diese
Frage beinhaltet weitere Anschlussfragen: A) Wie verhält
sich Kreativität zu kognitiven Merkmalen wie Intelligenz? B)
Welche Persönlichkeitsmerkmale fördern Kreativität und
sind somit notwendig für diese? C) Wie entsteht Kreativität?
Die Frage nach der Verbindung zwischen Kreativität und
psychischen Erkrankungen wurde von zahlreichen Wissenschaftlern, vor allem in bevölkerungsbezogenen Korrelationsstudien, aufgegriffen. Diese Studien lieferten sowohl
Beweise für die Existenz als auch für das Fehlen einer Korrelation zwischen psychischen Erkrankungen und Kreativität.
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I. Theoretische und experimentelle Ansätze
17
Sara. A. Wickström
Obwohl die Beantwortung der Frage, ob psychische Erkrankungen und Kreativität zusammenhängen, auf den ersten
Blick einfach scheint, steht eine definitive Antwort noch aus.
Wesentliche Gründe hierfür sind methodische Einschränkungen, die den Rahmen der verschiedenen Studien weitgehend begrenzen. Probleme ergeben sich bereits bei der
Begriffsbestimmung, da die Kriterien zur Messung von Kreativität, kreativer Leistung und sogar von psychischen Erkrankungen nur vage sind. Aus diesem Grund ist es schwierig,
deutlich signifikante Korrelationen zu finden. Ein weiteres
großes Problem ist die Frage, ob eine korrelative oder eine
kausale Beziehung vorliegt. Die gleiche Erbanlage könnte
sowohl Kreativität fördern als auch gleichzeitig zu psychischen Erkrankungen prädisponieren, ohne dass ein kausaler
Zusammenhang vorliegt.
Es würde über den Rahmen dieses Beitrags hinausgehen, tiefer in die Details der Theorien über Kreativität einzusteigen. Aus diesem Grund liegt dem vorliegenden Beitrag eine Definition zugrunde, die ihrerseits Theorien aus
verschiedenen Quellen zusammenfasst. Im „Handbuch der
Kreativität“7 definiert Mayer Kreativität als Fähigkeit, eine
Lösung zu finden, die sowohl neuartig und angemessen als
auch nützlich ist. Dies trifft insbesondere gut auf wissenschaftliche Kreativität zu, kann aber in den Künsten ein
wenig problematischer angesehen werden, in denen der
Aspekt der Brauchbarkeit oder der Angemessenheit
schwieriger zu bestimmen ist oder es sogar unnötig ist, diesen zu erfüllen. Um diese Schwäche zu beheben, haben
einige Autoren vorgeschlagen, die Definition um eine subjektive Bewertung von Kreativität zu erweitern. Amabile
stellte beispielsweise eine starke Kohärenz (r = 0.80) zwischen den subjektiven Urteilen mehrerer Beobachter darüber fest, was kreativ ist oder nicht8. Als geeignete Beobachter wurden Personen definiert, die über ein fundiertes
Sachwissen auf dem Gebiet verfügen, innerhalb dessen
kreatives Verhalten beurteilt werden sollte. Zusammen bilden diese Definitionen eine für den Zweck dieser aktuellen
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Kreativität und psychische Krankheit
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Übersichtsarbeit hinreichende und umfassende Definition
von Kreativität.
Untersuchungen über den Zusammenhang von Kreativität und psychischer Erkrankung wurden bisher hauptsächlich in drei Arten von Studien umgesetzt: Retrospektive
Studien, die biographische Daten von außerordentlich kreativen Personen nutzen; Studien, die das Auftreten von psychischen Erkrankungen in kreativen Berufen erforschen; und
experimentelle Studien, die sich mit Korrelationen zwischen
verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften und kreativen
Prädispositionen befassen. Innerhalb dieser Studien werden
drei verschiedene Strategien verwendet, um Kreativität zu
erfassen oder zu definieren:
1.) Kreative Leistung. Die meisten retrospektiven Analysen
von Kreativität und Persönlichkeit bzw. psychischer Erkrankung konzentrieren sich auf kreative Leistung und
klassifizieren Kreativität nach deren Ausmaß oder nach
der Anerkennung der kreativen Leistungen. Diese Ansätze berücksichtigen aber häufig weitere Faktoren, von
denen der Schaffenserfolg neben der „puren Kreativität“
stark abhängt, nicht ausreichend, z.B. externe Variablen
wie Bildung, sozioökonomischer Status, Umwelt, historische Faktoren und interne Variablen (Selbstbewusstsein,
Dominanz, Ehrgeiz, Unabhängigkeit, Widerstand gegen
Kritik). Daher erscheint es verständlich, dass Kreativität
und kreative Leistung keine Synonyme, sondern voneinander getrennte Einheiten sind.
2.) Professionelle Kreativität. Mehrere Studien umgingen das
Problem der Definition von Kreativität durch die Erfassung beruflicher Kreativität. Dies ist ziemlich geradlinig,
zumal es einen recht großen Konsens darüber gibt, welche Berufe mit Kreativität verbunden sind. Dazu zählen
Wissenschaftler (oft auf Wissenschaftler an Hochschulen
beschränkt), visuelle künstlerische Berufe (bildende
Künstler, Fotografen, Designer etc.) und nicht-visuelle
künstlerische Berufe (darstellende Künstler, Komponisten
und Musiker, Autoren etc.). Diese Definition weist eine
ähnliche Schwäche auf wie die Definition der kreativen
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Leistung. So können zum Beispiel Intelligenz, Ehrgeiz
und sozioökonomischer Status Faktoren sein, die die
Möglichkeiten der Menschen beeinflussen, einen kreativen Beruf zu finden und auszuüben.
3.) Disposition zur Kreativität. Dieser Parameter wird
hauptsächlich in Studien eingesetzt, in denen Kreativität
durch psychometrische Tests erfasst wird. Diese Tests, genannt divergente Tests, unterscheiden sich von „normalen“ konvergenten kognitiven Tests darin, dass es anstatt
einer einzigen richtigen Antwort mehrere mögliche Antworten gibt. Die Tests beinhalten typischerweise sowohl
verbale als auch non-verbale Aufgaben, in denen Probanden unter anderem aufgefordert sind, Probleme zu
lösen, Ergebnisse vorherzusagen und Hypothesen aufzustellen. Die Antworten werden dann auf objektiven Skalen eingeordnet, um die „kreative Fähigkeit“ vorauszusagen. Diese Tests erfassen typischerweise definierte Dimensionen kreativer geistiger Leistungsmerkmale, am
häufigsten Flüssigkeit (Anzahl der Antworten), Flexibilität
(Anzahl der verschiedenen Kategorien der Antworten),
Originalität (statistische Seltenheit der Antworten) und
Ausgestaltung (Menge der Details in den Antworten). Einige bekannte Beispiele stammen von Guilford9 und Torrance (Torrance Test des kreativen Denkens)10. Obwohl
diese Tests in der Lage waren zu zeigen, dass sie sich auf
beispielsweise durch Selbst- und Peer-Bewertungen eingeschätzte Kreativitätsdispositionen beziehen, wird
deren inhaltliche Validität oft in Frage gestellt, und es
wurde angemerkt, dass sie durch Hervorhebung der
Flüssigkeit gegenüber den anderen Eigenschaften und
ebenso durch die Messung aufgabenspezifischer Kreativität Verzerrungen aufweisen11. Daher wurde vorgeschlagen, dass sie nur verwendet werden sollten, um
einzelne Aspekte der Kreativität zu erfassen, anstatt Kreativität an sich (siehe zum Beispiel Hocevar12). Um dieses
Problem zu lösen, kombinierten neuere Studien divergente Tests mit Selbst-und Peer-Bewertungen kreativen
Verhaltens13.
19
Sara. A. Wickström
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II. Kreative Leistung und psychische Erkrankung
Kreativität und psychische Krankheit
20
Auf der Suche nach statistischen Beweisen dafür, dass psychische Erkrankungen bei Personen mit anerkannten kreativen Leistungen weiter verbreitet sind, stellte die früheste
Forschung zu diesem Thema Korrelationen in den Mittelpunkt. Einer der ersten Anwender dieses Ansatzes war
Lange-Eichbaum, der über 800 historische Personen, die als
Genies14 betrachtet wurden, untersuchte. Er fand heraus,
dass die größten Genies der Vergangenheit Personen mit
außergewöhnlichen Begabungen und einer begleitenden
Psychopathologie waren; veranschaulicht unter anderem an
Beispielen wie Michelangelo, Luther, Napoleon, Beethoven,
Schopenhauer und Strindberg. Im Jahr 1949 untersuchte
Juda 294 „Genies“, hochbegabte Künstler und Wissenschaftler, die zwischen 1650–1900 in deutschsprachigen
Ländern geboren wurden15. Sie schlussfolgerte, dass hochbegabte Personen erhöhte Psychopathologieraten aufwiesen, obwohl es keine eindeutige Beziehung zwischen
geistiger Höchstleistungsfähigkeit und psychischer Krankheit
gab. Sie berichtete, dass Schizophrenie nur in der Gruppe
der Künstler auftrat, während bipolare Störungen in der
Gruppe der Wissenschaftler 10 Mal häufiger vorkamen als
in der Durchschnittsbevölkerung. Judas Forschungsansatz
war modern, da mit Hilfe statistischer Methoden eine Vielzahl von Probanden untersucht wurde. Psychische Auffälligkeiten, zumeist Psychosen, erfasste die Studie mittels der
Analyse von Krankenakten. Psychopathien wie z.B. Nervosität oder sozial auffälliges Verhalten ermittelte sie entweder
durch die Aussage von noch lebenden Auskunftspersonen
aus den Familien der Probanden oder durch Auswertung
von Sekundärquellen16. Hier liegt auch der Schwachpunkt
dieser Studie. Zeitgenössische Schilderungen oder Selbstbeschreibungen unterliegen immer einer Verzerrung durch die
eigene Wahrnehmung oder sind stilisiert.
Darüber hinaus stärkten neuere Studien diese Schlussfolgerungen noch weitergehend. Andreasen stellte fest, dass
eine Gruppe von Schriftstellern, die an einem Schreiblehrgang an der University of Iowa teilnahmen, im Vergleich mit
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einer gesunden Kontrollgruppe ähnlicher Intelligenz, ein erhöhtes Risiko für affektive Störungen im Allgemeinen und
im Speziellen für bipolare Störungen aufwiesen. Sie fand
weiterhin heraus, dass Verwandte ersten Grades sowohl
eher kreativ sind als auch eine Veranlagung zu psychischen
Erkrankungen aufweisen, was auf eine genetische Verbundenheit17 dieser beiden Eigenschaften hindeutet. In ähnlicher Weise fand Jamison unter 47 britischen Schriftstellern
ein erhöhtes Risiko für affektive Störungen18. Ludwig verwendete Biographiebesprechungen, die in der New York
Times zwischen 1960 und 1990 veröffentlicht wurden, um
1004 „herausragende“ Persönlichkeiten ausfindig zu machen. Auf der Grundlage ihrer Biographien fand er eine
Überrepräsentation bipolarer Störungen, schizophrenieähnlicher Psychosen und Depressionen in der kreativen
Künstlergruppe (Dichter, Romanautoren, bildende Künstler,
Musiker und Komponisten sowie Personen, die in den Kontext des Theaters eingebunden sind) verglichen mit anderen
Berufen19. Eine neuere Metaanalyse von Lauronen fand heraus, dass von 13 veröffentlichten Korrelationsstudien bis auf
eine Ausnahme alle die statistische Korrelation zwischen
Kreativität und psychischer Krankheit unterstützen20.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mehrere Studien
in der Lage waren, eine Verbindung zwischen kreativer Leistung und psychischen Erkrankungen, insbesondere in Form
einer bipolaren Störung, zu identifizieren. Allerdings handelte es sich bei allen hier berichteten Studien um reine Korrelationsstudien, weshalb keine kausalen Erklärungen
möglich sind. Weitere Einschränkungen bestehen in der
Größe der untersuchten Gruppen sowie im Ausschluss aller
anderen Formen der Kreativität, mit Ausnahme der kreativen
Leistung.
III. Kreative Berufe und psychische Erkrankung
Um die Einschränkung durch die kleinen Gruppengrößen
zu überwinden, griffen Forscher auf Bevölkerungsregister
zurück, die große, weniger fehleranfällige Längsschnittstu-
21
Sara. A. Wickström
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Kreativität und psychische Krankheit
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dien ermöglichen. In einer Reihe von aktuellen Studien nutzten Kyaga et al. fortlaufende Einwohnermelderegister der
schwedischen Gesamtbevölkerung zur Durchführung von
Fall-Kontroll-Studien über den Zusammenhang zwischen
Kreativität und manifester psychischer Erkrankung21. Die
Krankenblätter der Krankenhäuser in Schweden verzeichneten zwischen 1973 und 2003 Entlassungsdiagnosen für alle
Patienten, die sich aufgrund schizophrener Episoden, bipolarer Störungen, unipolarer Depressionen sowie anderer psychischer Störungen in einer stationären Behandlung befanden. Biologische Verwandte von Patienten wurden ebenfalls
erfasst, und zwar einschließlich aller Personen, die seit 1932
in Schweden geboren wurden bzw. nach 1960 als in
Schweden lebend registriert waren. Volkszählungen, auf der
Basis von verpflichtenden Selbstauskunftsfragebögen, die
von allen erwachsenen Staatsbürgern in den Jahren 1960,
1970, 1980 und 1990 ausgefüllt wurden, gaben Auskunft
über Berufe der gesamten schwedischen Bevölkerung. Als
kreative Berufe wurden Schriftsteller und künstlerische
sowie wissenschaftliche Berufstätigkeiten definiert. Es wurden nur Wissenschaftler an Hochschulen berücksichtigt.
Personen, die in mindestens einer der stattgefundenen
Volkszählungen angaben, eine kreative Berufstätigkeit auszuüben, wurden als kreativ angesehen. Um die Spezifität
der kreativen Berufstätigkeiten zu testen, wurde eine weniger kreative Gruppe (Steuerberater und Wirtschaftsprüfer)
definiert. Über Daten des Militärs, die auf der Grundlage
der Wehrpflicht für alle Männer erhoben werden, wurden
Informationen über den Intelligenzquotienten (IQ; nur Männer) gewonnen. Diese Informationen enthalten IQ-Test Ergebnisse für alle 18- bis 19-jährigen Männer zwischen 1969
und 2006 (n = 1 742 684).
Die Studien fanden eine starke Korrelation zwischen
Kreativität und bipolarer Störung. In der kreativen Gruppe
wurden andere psychiatrische Erkrankungen (Schizophrenie, Angststörungen, Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS22)) nicht vermehrt gefunden. Vielmehr
war die Wahrscheinlichkeit von Einzelpersonen, die einen
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kreativen Beruf ausüben, deutlich geringer, eine Diagnose
aus dem Bereich der Schizophrenie, schizoaffektiven
Störung23, unipolaren Depression, Angststörungen, des Alkoholmissbrauchs, Drogenmissbrauchs, Autismus, ADHS zu
bekommen oder Selbstmord zu begehen. Allerdings gab es
bei Verwandten ersten Grades von Personen in künstlerischen oder wissenschaftlichen Berufen eine deutliche Überrepräsentanz einer Diagnose aus dem Bereich der Schizophrenie oder aus dem Bereich der bipolaren Störungen, was
eine genetische Verbindung annehmen lässt. Beleuchtet
man den Sachverhalt aus einer anderen Perspektive, stellt
man fest, dass, während Verwandte von schizophrenen Patienten sehr oft vermehrt in künstlerischen Berufen zu finden
waren, Verwandte von Patienten mit bipolarer Störung in
wissenschaftlichen Berufen überrepräsentiert sind. Schriftsteller bildeten in dieser Studie eine Ausreißerdomäne, weil
sie mehr als doppelt so häufig wie Teilnehmer der Kontrollgruppe an Schizophrenie und bipolaren Störungen litten.
Bei Schriftstellern wurden auch eher unipolare Depressionen, Angststörungen, Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch und Selbstmordgefährdung diagnostiziert.
Zusammengenommen unterstützt diese Studie das „umgekehrte U-Modell der Beziehung zwischen Psychopathologie und Kreativität, in dem Eigenschaften, die mit
psychiatrischer Morbidität assoziiert werden, bis zu einem
gewissen Punkt Kreativität fördern und ab diesem aber hemmen24. Wie Kyaga berichtet, sind diese Eigenschaften unabhängig von der Intelligenz, obwohl der IQ im Allgemeinen
bei Personen mit kreativen Berufstätigkeiten höher war,
während er bei wegen psychiatrischer Erkrankungen untersuchten Patienten sowie deren Angehörigen niedriger war
als bei Menschen, die diese Diagnosen nicht aufwiesen.
Wenn der IQ aber als kontinuierliche Kovariate einbezogen
wurde, traten diese Überrepräsentationen in der Regel sogar
noch stärker hervor.
Die wesentliche Stärke dieser Studie ist die große, landesweite und unverzerrte Kohorte sowie die Einbeziehung
von Verwandten der Betroffenen. Informationen über gesunde Verwandte wirkten der Tendenz entgegen, dass sich
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Sara. A. Wickström
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psychische Erkrankungen per se auf die Messung der Kreativität, beispielsweise durch Reduzierung der kognitiven
Fähigkeiten, auswirken. Die Schwäche dieser Studie ist offensichtlich die Beschränkung auf fachliche Kreativität. Die
Autoren stellen beispielsweise selbst fest, dass „Schizophrenie mehr mit kreativen Nebenbeschäftigungen anstatt beruflichen Tätigkeiten assoziiert sein könnte.“25
24
Kreativität und psychische Krankheit
IV. Disposition zu Kreativität und Psychopathologie
Eine Reihe von Studien erfasste die Veranlagung zu Kreativität von Patienten mit diagnostizierter Psychopathologie.
Mittels eines Kreativitätstests (Barron-Welsh Art Scale) verglichen Santosa et al. Patienten mit bipolarer Störung bzw.
Depression mit gesunden, kreativen bzw. unkreativen Kontrollgruppen. Sie fanden heraus, dass sowohl die Versuchspersonen der kreativen Kontrollgruppe als auch Patienten
mit bipolarer Störung besser abschnitten als Versuchspersonen der unkreativen Kontrollgruppe und auch als Patienten
mit Depression26. Eine ähnliche Korrelation zwischen bipolarer Störung und kreativer Kontrollgruppe wurde in einer
weiteren Studie beobachtet27.
Um die Grundlage dieser Korrelation zu verstehen, ist es
sinnvoll auf Studien zu verweisen, die die Persönlichkeitseigenschaften kreativer Menschen in den Fokus nahmen.
Unter Zuhilfenahme des Fünf-Faktoren-Modells der Persönlichkeit (FFM28) beurteilte Feist in einer neueren Metaanalyse Persönlichkeitseigenschaften, die kreative von weniger
kreativen Wissenschaftlern und Künstler von Nicht-Künstlern unterscheiden29. Diese weit verbreitete Taxonomie der
Persönlichkeit beinhaltet die Eigenschaften Neurotizismus
(N), Extraversion (E), Offenheit für Erfahrungen (O), Verträglichkeit (V) und Gewissenhaftigkeit (G). N ist die Prädisposition für das Erleben psychischen Stresses, wie er sich in
Ängstlichkeit, Angst, Depression oder anderen negativen
Gefühlen manifestiert; E beinhaltet Geselligkeit, Lebendigkeit, und Heiterkeit; O wird als ästhetisches Empfinden angesehen, intellektuelle Neugier, Abwechslungsreichtum,
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und undogmatische Haltungen; V beinhaltet Vertrauen,
Altruismus und Mitgefühl; und G umfasst das disziplinierte
Streben nach Zielen und eine strikte Einhaltung von
Grundsätzen. In den vergangenen 10 Jahren gab es eine Akkumulation von Daten, die darauf hindeuten, dass das FFM
viele der individuellen Persönlichkeitsunterschiede unter
normalen Erwachsenen erklären kann30.
Feist zeigte, dass kreative Personen dazu neigen „offener
für neue Erfahrungen, weniger konventionell und weniger
gewissenhaft, selbstbewusster, selbstakzeptierender, getrieben, ambitioniert, dominant, feindselig, und impulsiv“ zu
sein. Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Selbstakzeptanz, Feindseligkeit und Impulsivität hatten die stärksten Effekte31. In
Feists Metaanalyse wurden unter kreativen Personen sowohl
Künstler als auch Wissenschaftler verstanden, und es ist interessant festzuhalten, dass die Persönlichkeitseigenschaften
zwischen diesen beiden kreativen Domänen als einander
sehr ähnlich zu betrachten sind, was indirekt die Hypothese
stützt, dass Kreativität in Kunst und Wissenschaft ähnlich ist.
Feist zeigte jedoch auch feine Unterschiede zwischen
beiden Domänen. Künstler, nicht aber kreative Wissenschaftler, zeigten emotionale Instabilität (N). Dies steht in
Einklang mit der Studie von Kyaga über kreative Berufe, in
der Künstler eine höhere Morbiditätsrate für Schizophrenie
aufwiesen als Wissenschaftler, bei denen diese gar nicht
vorkam32. Zur Erfassung von Patienten mit psychischer
Krankheit wurde interessanterweise auch das FFM genutzt.
Es ist nicht überraschend, dass emotionale Instabilität (N)
vermehrt bei Patienten mit affektiven Störungen vorkommt.
Interessanterweise wiesen Patienten mit bipolarer Störung
jedoch höhere Werte in der Eigenschaft Offenheit für Erfahrungen auf, verglichen mit der Allgemeinbevölkerung, aber
auch im Vergleich zu Patienten mit Depressionen, was eine
mögliche Erklärung sein könnte, warum besonders bipolare
Störungen gehäuft unter kreativen Individuen vorkommen33.
Zusammengenommen gibt es verschiedene kognitive
und affektive Eigenschaften, die deutlich mit Kreativität verbunden sind. Diese Eigenschaften bündeln sich zudem bei
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Patienten mit affektiven Störungen. Dies würde dafür sprechen, dass kognitive und zum Teil auch gefühlsbezogene (N
für Künstler) Eigenschaften, die für affektive Störungen typisch sind, Kreativität ebenfalls begünstigen, was den vorher
begründeten statistischen Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit und Kreativität stützt. In Versuchen, Kausalität herzustellen, bezogen manche Studien auch Verwandte
von Patienten mit psychischen Störungen ein. Karlsson zum
Beispiel führte eine retrospektive Studie an 486 männlichen
Verwandten von an Schizophrenie erkrankten Menschen
durch34. Das Ergebnis war eine signifikant erhöhte Anzahl
von Personen mit erfolgreichen kreativen Bemühungen, obwohl die Anzahl der einbezogenen Personen nur gering war.
Beim Vergleich verschiedener Verwandtschaftszweige fand
Karlsson heraus, dass einige von ihnen sowohl an Schizophrenie litten als auch hochbegabt waren, während andere
beides nur in geringem Maße zeigten. Auf dieser Grundlage
und aufgrund weiterer Ergebnisse, die eine gesteigerte Kreativität unter Verwandten von diesen Patienten zeigen, wurde
vorgeschlagen, dass es eine genetische Basis für den Zusammenhang zwischen Kreativität und Psychopathologie
gibt.
In einer neueren Studie mit ein- und zweieiigen Zwillingen erforschte Penke die genetische Komponente der Prädisposition für Kreativität. Durch die Nutzung einer Kombination verschiedener, sich abwechselnder kreativer Testungen und Peer-Evaluationen stellte er fest, dass Kreativität
eine starke genetische Komponente hat (60%)35. Ähnliche
Studien, die Verhaltensgenetik und auch genomweite Assoziationsstudien verwenden, sind nun notwendig, um die
Verbindung zwischen psychischer Krankheit und Kreativität
detaillierter zu erforschen. Dies wird eine Herausforderung
sein, zumal der Kreativität nachgesagt wird, dass sie durch
eine synergetische Interaktion vieler komplexer Eigenschaften, Emergenesis genannt36, in Erscheinung tritt. Wie alle genetischen Eigenschaften sind diese vererbbar, aber verwandte Personen werden niemals dieselbe Kombination
verschiedener erforderlicher Eigenschaften teilen. Aus diesem Grund sind nur Assoziationsstudien, die eine große Ko-
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horte eineiiger Zwillinge umfassen, in der Lage, bedeutende
Informationen zu diesem Thema beizutragen.
V. Die Rolle der Intelligenz
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Verschiedene Studien berichteten, dass die Intelligenz einer
kreativen Person, definiert über den IQ, fast ausnahmslos
mindestens eine Standardabweichung über dem Mittelwert
liegt37. Es zeigte sich allerdings, dass ein hoher IQ für Kreativität unzureichend ist, wie zum Beispiel elegant von Terman gezeigt wurde, der hochbegabte Kinder38 prospektiv
erforschte. Obwohl eine große Mehrheit der Versuchspersonen im späteren Leben beruflich erfolgreich war, zeigte niemand von ihnen einen signifikanten Anhaltspunkt für
Kreativität. Darüberhinaus berichten viele Studien, die eine
Kombination aus Kreativitäts- und IQ-Tests verwenden, fehlende Korrelationen dieser beiden Faktoren untereinander39.
Guilford’s Schwellentheorie der Kreativität integriert diese
Beobachtungen zu der Feststellung, dass ein minimales Maß
an Intelligenz zwar notwendig, aber nicht hinreichend für
Kreativität ist. Es wird ein gewisses Maß an Intelligenz für
Kreativität benötigt, aber die Korrelation ist nicht mehr signifikant, sobald eine bestimmte Schwelle überschritten ist
(oftmals willkürlich auf 120 festgesetzt)40. Hayes vertritt eine
Alternativhypothese, die die Verbindung zwischen Intelligenz und Kreativität in Frage stellt und aussagt, dass die vorhandene Korrelation einfach die Tatsache widerspiegelt,
dass es in unserer Gesellschaft Qualifikationen in Form
einer formalen Bildung bedarf (zum Beispiel Wissenschaftler)41, um erkennbare Kreativität an den Tag zu legen. Da
akademische Leistung mit dem IQ korreliert, erhalten Personen mit niedrigem IQ einfach nicht die Chance, ihre Kreativität in einer Art auszudrücken, die wahrgenommen werden
würde. Das trifft vermutlich mehr auf Wissenschaftler als auf
kreative Künstler zu.
Gemäß Eysencks Kreativitätstheorie wiederum sind die
genetischen, biologischen und kognitiven Grundlagen einer
Veranlagung für einen Kreativitätsstil (Originalität, Eigenwil-
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ligkeit) die selben, die dem Psychotizismus zugrunde liegen42. Dies wird teilweise unterstützt durch die Kognitionsstudien, auf die weiter oben eingegangen wurde. Er nimmt
an, dass sich kreative Erkenntnisse von einem „blinden“
mentalen Kombinationsprozess ableiten, der „Zufalls“Strukturen geistiger Elemente generiert, dessen Ergebnisse
gezielt behalten und ausgearbeitet werden. Ausgedehnte,
defokussierte Aufmerksamkeit, primäres Prozessdenken und
flache Assoziationshierarchien – Faktoren, die auch bei affektiven Störungen verbreitet sind – unterstützen diesen zufälligen Kombinationsprozess. Im Gegensatz dazu wird die
Auswahl und Ausarbeitung einer kreativen Idee aus diesem
stochastischen kombinatorischen Verfahren durch eine hohe
Verarbeitungskapazität, mentale Geschwindigkeit und
Denkfähigkeit unterstützt, allesamt Merkmale der allgemeinen Intelligenz. So schlussfolgert Jensen43, weitgehend auf
Eysencks Theorie basierend, dass kreative Leistung oder
Schöpfergeist das Produkt aus hoher Fähigkeit x hoher Produktivität x hoher Kreativität ist.
Sowohl der Guilford Schwellenhypothese als auch Eysencks Kreativitätstheorie fehlte bis vor kurzem empirische
Evidenz. Carson et al. führten eine Studie an Studierenden
der Harvard-Universität durch und verglichen 25 Studierende mit ausgezeichneten Kreativleistungen mit 23 Studierenden niedriger kreativer Leistungen44. Die Studierenden
mit Leistungen auf hohem Niveau zeigten eine signifikant
niedrigere latente Hemmung45 als Studierende mit niedrigeren Leistungen. Darüber hinaus gab es eine signifikante
Wechselwirkung von latenter Hemmung und IQ auf kreative
Leistung. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass sich ein
hoher IQ in Kombination mit niedriger latenter Hemmung
am günstigsten auf kreative Leistungen auswirkte. Auf dieser
Grundlage schlussfolgerten die Autoren, dass Patienten mit
Schizophrenie „im Prinzip an einer pathologischen und
möglicherweise synergistischen Kombination einer überschüssigen experimentellen, ideellen oder assoziativen Variabilität und einer Absenkung in den Auswahlmethoden aus
diesem Überschuss leiden, während die gesunde, offene
und kreative Einzelperson durch eine breitere Schranke und
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sorgfältige Selektion sowie Auswahl nach dem Erleben charakterisiert wäre“. In Zwillingsstudien von Penke46, die oben
diskutiert wurden, wurde festgestellt, dass Intelligenz nachhaltig mit Kreativität assoziiert wird. Er kommt zu dem
Schluss, dass Intelligenz von „zentraler Bedeutung für den
selektiven Speicherungsprozess“ kreativer Ideen ist47. Ein
Mangel an allgemeiner Intelligenz oder Abbildung der Wirklichkeit, wie bei der Schizophrenie, würde zu nutzlosen und
daher unkreativen Erzeugnissen führen.
Zusammengenommen scheinen diese Daten somit gut
zu den Daten von Kyaga48 zu passen, in denen ein genetisch-prädisponierender, aber kein direkter Zusammenhang
zwischen Schizophrenie und kreativen Berufen gefunden
wurde. Patienten, die sowohl an einer Manie als auch einer
bipolaren Erkrankung leiden, weisen bestimmte kognitive
Defizite auf, die einige gemeinsame Merkmale mit denen
von Schizophreniepatienten haben. Allerdings sind diese
Beeinträchtigungen bei Patienten mit Schizophrenie stärker
und betreffen mehr Lebensbereiche. Wichtig ist, dass Patienten mit bipolarer Störung, im Gegensatz zu Patienten mit
Schizophrenie, keine niedrigeren intellektuellen Fähigkeiten
als die Allgemeinbevölkerung49 aufweisen. Daher könnte
man mutmaßen, dass manische Episoden tatsächlich einen
maximalen Beitrag gemäß der Jensen-Gleichung (hohe
Fähigkeit x hohe Produktivität x hohe Kreativität) darstellen.
Dies wird durch eine erhöhte Leistungsfähigkeit kreativer
Personen während der Hypomanie50 unterstützt. Doch aufgrund der Einschränkungen durch die Messung kreativer
Veranlagung oder kreativer Berufe anstelle der „reinen“
Kreativität können diese Studien die Theorie von Hayes, die
die Verbindung zwischen Intelligenz und Kreativität in Frage
stellt51, nicht vollständig widerlegen.
VI. Neurobiologische Aspekte
Um weitere konkrete biologische Beweise dafür zu gewinnen, wie psychische Erkrankungen und Kreativität zusammenhängen könnten, versuchten Forscher, neurologische
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Ähnlichkeiten zwischen Erkrankungen wie Schizophrenie
und dem kreativen Geist mit Hilfe der funktionellen Bildgebung, Arzneimittelstudien und der Analyse von Läsionen im
Gehirn zu bestimmen. Es gab mehrere Versuche, Kreativität
durch die Kombination verschiedener Arten der Bildgebung
des Gehirns mit divergenten Tests zu „messen“. Eine aktuelle Meta-Analyse von Arden et al. verglich die Ergebnisse
von 45 unabhängigen Publikationen zu diesem Thema und
stellte fest, dass auf der Grundlage dieser Studien keine zuverlässigen Schlussfolgerungen getroffen werden können, da
keine Übereinstimmung in kreativitäts-assoziierter Aktivität
in verschiedenen interessierenden Hirnregionen beobachtet
werden konnte52. Unter den Studien gibt es einfach zu viel
experimentelle Variation, die auf die Schwankung der Messungen, Abweichungen in den bildgebenden Verfahren oder
die Unzuverlässigkeit in einem oder beiden Punkten
zurückzuführen ist. Besonders im Hinblick auf funktionelle
Bildgebungsstudien stellt das Konzept der Kreativität eine
große Herausforderung dar, weil die Operationalisierbarkeit
für eine kontrollierte Untersuchung in einem Magnetresonanztomographen nur schwerlich gegeben ist und jede Studie eine andere Art der Operationalisierung von „Kreativität“ wählt. Somit gibt es immer andere Informationen, die
ebenfalls im Gehirn verarbeitet werden, wodurch es zu der
Heterogenität der Befunde hinsichtlich beteiligter Hirnregionen bei kreativen Prozessen kommt.
Mehr Wissen brachte die Erforschung des Gestaltungswillens (creative drive) hervor, da dieser einfacher zu definieren und auch zu messen ist, als Kreativität. Darüber hinaus führen verschiedene Läsionen im Gehirn zu Veränderungen im Gestaltungswillen, die eine direkte Korrelation
von Erscheinungsformen mit Verhalten erlauben. Die
langjährige Hypothese, dass Kreativität in der rechten Hemisphäre des Gehirns angesiedelt ist, konnte in neueren Studien nicht unterstützt werden. Stattdessen weisen mehrere
Befunde darauf hin, dass der Schläfenlappen (Lobus temporalis) für den Gestaltungswillen entscheidend ist53. Ein neurologisches Phänomen, welches als Hypergraphie (ein
krankhafter Schreibzwang) bezeichnet wird, hat zum Teil
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