000_Hoeink_Titel 10.02.2016 10:08 Uhr Seite 1 Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste Gefördert durch 000_Hoeink_Titel 10.02.2016 10:08 Uhr Seite 2 000_Hoeink_Titel 10.02.2016 10:08 Uhr Seite 3 Dominik Höink, Christian Hornung und Anne Sanders (Hg.) NEUES FINDEN – NEUES SCHAFFEN Studien und Interviews zu Kreativität in Wissenschaft und Kunst Ferdinand Schöningh 000_Hoeink_Titel 10.02.2016 10:08 Uhr Seite 4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn ISBN 978-3-506-78188-8 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 5 INHALT 5 Inhalt 01_Vorwort Dominik Höink, Christian Hornung und Anne Sanders Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 TEIL I: STUDIEN Sara. A. Wickström Kreativität und psychische Krankheit . . . . . . . . . . . 15 Xin Li Mathematik = Kreative Kunst?!? . . . . . . . . . . . . . . . 37 Christian Hornung Kreativität im antiken Kirchenrecht? Rechtsschöpfung auf frühkirchlichen Synoden und in römisch-bischöflichen Schreiben . . . . . . . . . . . . 49 Regina Grundmann „Lies nicht ‚mit Frieden‘, sondern ‚mit dem Saloon‘!“ Die Talmudparodie Massekhet Prohibition als kreativer Umgang mit religiösen Diskursformen . . . . . . . . . . 69 01_Vorwort 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 6 Anne Sanders Rechtliche Grenzen von Kreativität am Beispiel des Films „Deutschland bleiche Mutter“ . . . . . . . . . 87 Dominik Höink Formen der Sakralisierung von Komponisten und kreativen Schaffensprozessen im Musikschrifttum . . 111 David P. Schweikard Musikalische Improvisation als kreative Handlungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Inhalt 6 TEIL II: INTERVIEWS 1. Prof. Dr. Dr. Dr. med. habil. Hanns Hatt (Klasse für Naturwissenschaften und Medizin) . . 161 2. Prof. Dr. Manfred Neumann (Klasse für Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften) 169 3. Prof. Dr. Thomas Bauer (Klasse für Geisteswissenschaften) . . . . . . . . . . . 175 4. Enno Poppe (Klasse der Künste) . . . . . . . . . . . . . 179 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 7 VORWORT 7 Vorwort 01_Vorwort Kreativität ist in aller Munde. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert sind nahezu alle Lebensbereiche von einem Streben nach kreativer Gestaltung erfasst. War der Wunsch nach Kreativität zunächst eng mit dem Feld der Kunst, aber ebenso demjenigen der Wissenschaft verbunden, so hat das Begehren kreativ zu sein, zunehmend weitere Bereiche erfasst. Andreas Reckwitz kann daher nicht nur berechtigterweise von der „Unvermeidlichkeit des Kreativen“ sprechen, sondern überdies seine Studie mit dem Satz beginnen lassen: „Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen.“1 Unverständnis ernte derjenige, der nicht kreativ sein wolle. Die gegenwärtige Zeit sei geprägt von der „Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung“. Auf die Kurzformel gebracht bedeutet dies: „Man will kreativ sein und soll es sein.“2 Die 1970er Jahre markierten nach Reckwitz jenen Umkehrpunkt, ab dem der sonst vornehmlich von Exponenten einer künstlerischen und antibürgerlichen Bewegung formulierte Wunsch nach einer kreativen Gestaltung der jeweiligen Umwelt zu einem Anliegen der Mehrheit geworden sei.3 Das besondere Interesse am Thema Kreativität war Anlass, eine entsprechende Arbeitsgruppe im Jungen Kolleg der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und 01_Vorwort Vorwort 8 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 8 der Künste zu etablieren, in deren Rahmen interdisziplinär – und dabei auch die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften überschreitend – verschiedene Ansätze diskutiert worden sind und eigene Studien entstanden. Die breite interdisziplinäre Zusammensetzung der Arbeitsgruppe spiegelt sich in der großen thematischen Spannweite der Artikel. Es ist keineswegs das Anliegen dieses Bandes, eine systematische und möglichst umfassende Abhandlung zur Kreativitätsforschung beizusteuern, vielmehr liegt der besondere Wert in der Vielgestaltigkeit der behandelten Themen, den facettenreichen Betrachtungen und den divergierenden fachspezifischen Blickwinkeln. Der Gefahr, durch ein vorgeschriebenes Verständnis die jeweilige disziplinäre Perspektive einzuschränken, wurde mit einer Offenheit des Kreativitätsbegriffs begegnet. Entsprechend haben sich die Autorinnen und Autoren nicht einem spezifischen Verständnis von Kreativität oder einer einzigen Definition verschrieben. Der erste Beitrag wendet sich aus medizinischer Perspektive dem Phänomen zu. In der Betrachtung zahlreicher Einzelstudien stellt SARA WICKSTRÖM die Zusammenhänge von Kreativität und Krankheit dar. Insbesondere die Frage nach den neurologischen Ähnlichkeiten von psychischen Erkrankungen und der Biologie des kreativen Denkens ist dabei zentral. XIN LI beleuchtet in seinem Beitrag das Verhältnis zwischen Mathematik und Kreativität. Vor allem die Frage, inwieweit eine nach Exaktheit strebende Wissenschaft, in der es nur richtig oder falsch gibt, auch kreativ sein kann, steht im Mittelpunkt der Diskussion. Mit dem anschließenden dritten Beitrag wird das Spektrum der Texte in historischer Perspektive geweitet und der Sprung in die Antike unternommen: Kreativität und antikes Kirchenrecht scheinen auf den ersten Blick Antipoden zu sein: Das übermächtige Traditionsargument schließt im Kirchenrecht gerade jede Neuerung aus. Dennoch sieht sich die Kirche in einer ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. enorm wachsenden Christenheit mit immer neuen disziplinären Fragen konfrontiert, die erstmals entschieden und rechtlich 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 9 beurteilt werden müssen. Kreativität, die Schöpfung neuen kirchlichen Rechts, ist also der Sache nach geboten. Der Beitrag von CHRISTIAN HORNUNG zeigt auf, wie die Alte Kirche den Hiat zwischen einer der Theorie nach ausgeschlossenen Neuerung und einer faktisch notwendigen Schöpfung neuen Rechts überbrückt. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen (religiöser) Tradition und Kreativität wird in dem anschließenden vierten Beitrag fortgeführt. REGINA GRUNDMANN untersucht den kreativen Umgang mit normativen religiösen Diskursformen in der 1929 in New York verfassten Talmudparodie Massekhet Prohibition, mit der ihr Autor Gerson Kiss eine schonungslose Kritik an der amerikanischen Gesellschaft zur Zeit der Prohibition übt. Es wird gezeigt, wie die Talmudparodie ihre Vorlage formal, sprachlich, argumentativ-hermeneutisch und inhaltlich auf unterhaltsame Weise parodiert. In Massekhet Prohibition überlagern sich Tradition und Innovation, Normativität und Kreativität und gehen eine komplexe Symbiose miteinander ein. Mit den rechtlichen Grenzen kreativen Schaffens setzt sich ANNE SANDERS in ihrem Beitrag auseinander. Sie diskutiert am Beispiel des Films „Deutschland bleiche Mutter“ die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach dem die Veröffentlichung von Kunstwerken untersagt werden darf, in denen intime Erlebnisse von Figuren geschildert werden, die erkennbar von realen Personen inspiriert wurden. Der Beitrag geht der Frage nach, ob ein Werk verfremden muss, um von der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheit geschützt zu werden oder ob nicht auch in einer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit realen Personen und Geschehnissen eine kreative Leistung liegen kann, die rechtlichen Schutz verdient. Dass Kreativität ein wichtiger Faktor für musikalische Schaffensprozesse ist, ist evident. So schwer zu ergründen ist, wie ein Schaffensakt im Detail verläuft, so vielfältig sind die Vorstellungen, die sich mit dem Komponieren neuer Werke verbinden. Eine über die Jahrhunderte hinweg äußerst wirkmächtige Auffassung ist dabei diejenige, der Komponist erhalte seine Inspiration von oben, durch Gott. 9 Vorwort 01_Vorwort 01_Vorwort Vorwort 10 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 10 Ein nicht erklärbarer Entstehungsablauf wird nachgerade sakralisiert. DOMINIK HÖINK spürt in seinem Beitrag verschiedenen Formen der Sakralisierung des Schaffensprozesses und – freilich untrennbar damit verbunden – des kreativ Schaffenden nach. Im Zentrum steht somit nicht die Frage nach den Prozessen selbst, sondern ihrer nachträglichen literarischen Inszenierung als quasi-sakrale Phänomene. Demgegenüber wendet sich DAVID SCHWEIKARD in seiner Analyse der sozialen Dimension von Jazzimprovisation gerade dem kreativen Prozess zu. Exemplarisch verdeutlicht er dabei, wie schon das improvisierte Solo, erst recht die Interaktion zwischen Musikern und das Ensemblespiel Merkmale sozialer Intentionalität aufweisen und mithilfe von Begriffen der philosophischen Handlungstheorie untersucht werden können. Damit werden Anhaltspunkte entwickelt, improvisierte Musik als beispielhaft für kreative soziale Praxen zu verstehen. Die im zweiten Teil des Bandes abgedruckten Interviews sind als Ergänzung zu den Studien gedacht, um dem Aspekt der subjektiven Erfahrung von Kreativität Rechnung zu tragen. Drei Wissenschaftler und ein Künstler, die das Spektrum der in der Nordrhein-Westfälischen Akademie versammelten Klassen abbilden, sind zur ihrer Sicht auf Kreativität und ihrer Bedeutung für die eigene alltägliche Arbeit befragt worden: Interviewpartner waren Prof. Dr. Dr. Dr. med. habil. Hanns Hatt (Klasse für Naturwissenschaften und Medizin), Prof. Dr. Manfred Neumann (Klasse für Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften), Prof. Dr. Thomas Bauer (Klasse für Geisteswissenschaften) und Enno Poppe (Klasse der Künste). Die Interviews stehen bewusst für sich und sind nicht weiter kommentiert worden. Alle Interviewpartner schildern ihre eigenen Vorstellungen von Kreativität und beschreiben dabei persönliche Erfahrungen aus ihrer Arbeit bzw. ihrem Schaffen. Sie stellen Überlegungen zum Verhältnis von kreativem Einfall und der praktischen handwerklichen Umsetzung in ein Kunstwerk bzw. eine Veröffentlichung an. Sie gehen dabei auch der Frage nach, ob und wie kreative Prozesse ihrer Erfahrung nach durch private aber auch institutionelle Rahmenbedingungen beeinflusst werden. 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 11 Anmerkungen 1 Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S. 9. 2 Ebd., S. 10 [Hervorhebungen im Original]. 3 Ebd., S. 13–15. 11 Vorwort 01_Vorwort 01_Vorwort 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 12 01_Vorwort 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 13 TEIL I: STUDIEN 01_Vorwort 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 14 02_Wickstroem 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 15 KREATIVITÄT UND PSYCHISCHE KRANKHEIT Sara. A. Wickström Unsere Kultur weist eine Vielzahl allgemeiner Vorstellungen über die Funktionsweise des Gehirns auf. Ein seit hunderten von Jahren lebendiger Mythos ist der Zusammenhang von psychischer Instabilität und Kreativität und die Vorstellung bzw. das Klischee eines „verrückten Genies“. Obwohl dieses Konzept ausgiebig diskutiert und erforscht wird, konnte es bisher weder wissenschaftlich bestätigt noch widerlegt werden. In dieser Arbeit werde ich aktuelle Studien, die sich auf den Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und Kreativität in Wissenschaft und Kunst beziehen, diskutieren. Kreativität als Phänomen und Persönlichkeitseigenschaft ist ein zentraler Aspekt der Menschheit. Als wichtige Quelle für Ideen, Fortschritt und Wohlgefühl ist sie eine geschätzte und wünschenswerte Fähigkeit, die Laien und Wissenschaftler gleichermaßen fasziniert. Bereits im 4. Jahrhundert v. Chr., als Inspiration mit Verrücktheit in Verbindung gebracht wurde, wurde eine Beziehung zwischen psychischen Erkrankungen und Kreativität festgestellt, wie sie in einem berühmten Ausspruch von Aristoteles dokumentiert ist: „Es gibt kein großes Genie ohne einen Schuss Verrücktheit“1. Speziell in der Ära der Romantik verstärkte sich dieses noch, als die Idee des gequälten Künstlers aufkam2. Die Liste der hiervon betroffenen Künstler ist beeindruckend und erstreckt sich über alle Bereiche der Kunst. Der Dichter Thomas Stearns Eliot, die Schriftstellerin Virginia Woolf und der Sara. A. Wickström 15 02_Wickstroem Kreativität und psychische Krankheit 16 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 16 Komponist Robert Schumann wurden allesamt im Laufe ihrer Karriere an einem gewissen Punkt offiziell in eine Klinik eingewiesen. Andere, darunter die Schriftstellerin Sylvia Plath und der Künstler Vincent van Gogh, starben durch Suizid, wahrscheinlich als Folge ihrer psychischen Erkrankung (beide litten an einer bipolaren Störung3). Das vielleicht berühmteste Beispiel eines Wissenschaftlers mit einer schweren psychischen Erkrankung ist der Mathematiker und Nobelpreisträger John Forbes Nash, Jr., der an paranoider Schizophrenie4 litt und im Laufe seiner aktiven Karriere als Wissenschaftler mehrmals gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Diese prominenten Beispiele haben stark zu der Aufrechterhaltung des Glaubens an eine Verbindung von Kreativität und psychischen Erkrankungen beigetragen. Die Erforschung der Kreativität in der modernen Wissenschaft begann vor 60 Jahren, als Guilford im Jahr 1950 eine Ansprache an die American Psychological Association richtete, die die bis dahin vernachlässigte Frage der Kreativität und deren Ursprünge ins Rampenlicht rückte5. Zu dieser Zeit galt es auch allgemein als anerkannt, dass Kreativität nicht allein auf Umweltfaktoren zurückgeführt werden kann, sondern sich aus individuellen Unterschieden in der Disposition für Kreativität ergibt6. Seitdem hat sich die Frage „Was macht einen Menschen kreativ?“ zu einer zentralen Frage im Bereich der Kreativitätsforschung entwickelt. Diese Frage beinhaltet weitere Anschlussfragen: A) Wie verhält sich Kreativität zu kognitiven Merkmalen wie Intelligenz? B) Welche Persönlichkeitsmerkmale fördern Kreativität und sind somit notwendig für diese? C) Wie entsteht Kreativität? Die Frage nach der Verbindung zwischen Kreativität und psychischen Erkrankungen wurde von zahlreichen Wissenschaftlern, vor allem in bevölkerungsbezogenen Korrelationsstudien, aufgegriffen. Diese Studien lieferten sowohl Beweise für die Existenz als auch für das Fehlen einer Korrelation zwischen psychischen Erkrankungen und Kreativität. 02_Wickstroem 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 17 I. Theoretische und experimentelle Ansätze 17 Sara. A. Wickström Obwohl die Beantwortung der Frage, ob psychische Erkrankungen und Kreativität zusammenhängen, auf den ersten Blick einfach scheint, steht eine definitive Antwort noch aus. Wesentliche Gründe hierfür sind methodische Einschränkungen, die den Rahmen der verschiedenen Studien weitgehend begrenzen. Probleme ergeben sich bereits bei der Begriffsbestimmung, da die Kriterien zur Messung von Kreativität, kreativer Leistung und sogar von psychischen Erkrankungen nur vage sind. Aus diesem Grund ist es schwierig, deutlich signifikante Korrelationen zu finden. Ein weiteres großes Problem ist die Frage, ob eine korrelative oder eine kausale Beziehung vorliegt. Die gleiche Erbanlage könnte sowohl Kreativität fördern als auch gleichzeitig zu psychischen Erkrankungen prädisponieren, ohne dass ein kausaler Zusammenhang vorliegt. Es würde über den Rahmen dieses Beitrags hinausgehen, tiefer in die Details der Theorien über Kreativität einzusteigen. Aus diesem Grund liegt dem vorliegenden Beitrag eine Definition zugrunde, die ihrerseits Theorien aus verschiedenen Quellen zusammenfasst. Im „Handbuch der Kreativität“7 definiert Mayer Kreativität als Fähigkeit, eine Lösung zu finden, die sowohl neuartig und angemessen als auch nützlich ist. Dies trifft insbesondere gut auf wissenschaftliche Kreativität zu, kann aber in den Künsten ein wenig problematischer angesehen werden, in denen der Aspekt der Brauchbarkeit oder der Angemessenheit schwieriger zu bestimmen ist oder es sogar unnötig ist, diesen zu erfüllen. Um diese Schwäche zu beheben, haben einige Autoren vorgeschlagen, die Definition um eine subjektive Bewertung von Kreativität zu erweitern. Amabile stellte beispielsweise eine starke Kohärenz (r = 0.80) zwischen den subjektiven Urteilen mehrerer Beobachter darüber fest, was kreativ ist oder nicht8. Als geeignete Beobachter wurden Personen definiert, die über ein fundiertes Sachwissen auf dem Gebiet verfügen, innerhalb dessen kreatives Verhalten beurteilt werden sollte. Zusammen bilden diese Definitionen eine für den Zweck dieser aktuellen 02_Wickstroem Kreativität und psychische Krankheit 18 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 18 Übersichtsarbeit hinreichende und umfassende Definition von Kreativität. Untersuchungen über den Zusammenhang von Kreativität und psychischer Erkrankung wurden bisher hauptsächlich in drei Arten von Studien umgesetzt: Retrospektive Studien, die biographische Daten von außerordentlich kreativen Personen nutzen; Studien, die das Auftreten von psychischen Erkrankungen in kreativen Berufen erforschen; und experimentelle Studien, die sich mit Korrelationen zwischen verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften und kreativen Prädispositionen befassen. Innerhalb dieser Studien werden drei verschiedene Strategien verwendet, um Kreativität zu erfassen oder zu definieren: 1.) Kreative Leistung. Die meisten retrospektiven Analysen von Kreativität und Persönlichkeit bzw. psychischer Erkrankung konzentrieren sich auf kreative Leistung und klassifizieren Kreativität nach deren Ausmaß oder nach der Anerkennung der kreativen Leistungen. Diese Ansätze berücksichtigen aber häufig weitere Faktoren, von denen der Schaffenserfolg neben der „puren Kreativität“ stark abhängt, nicht ausreichend, z.B. externe Variablen wie Bildung, sozioökonomischer Status, Umwelt, historische Faktoren und interne Variablen (Selbstbewusstsein, Dominanz, Ehrgeiz, Unabhängigkeit, Widerstand gegen Kritik). Daher erscheint es verständlich, dass Kreativität und kreative Leistung keine Synonyme, sondern voneinander getrennte Einheiten sind. 2.) Professionelle Kreativität. Mehrere Studien umgingen das Problem der Definition von Kreativität durch die Erfassung beruflicher Kreativität. Dies ist ziemlich geradlinig, zumal es einen recht großen Konsens darüber gibt, welche Berufe mit Kreativität verbunden sind. Dazu zählen Wissenschaftler (oft auf Wissenschaftler an Hochschulen beschränkt), visuelle künstlerische Berufe (bildende Künstler, Fotografen, Designer etc.) und nicht-visuelle künstlerische Berufe (darstellende Künstler, Komponisten und Musiker, Autoren etc.). Diese Definition weist eine ähnliche Schwäche auf wie die Definition der kreativen 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 19 Leistung. So können zum Beispiel Intelligenz, Ehrgeiz und sozioökonomischer Status Faktoren sein, die die Möglichkeiten der Menschen beeinflussen, einen kreativen Beruf zu finden und auszuüben. 3.) Disposition zur Kreativität. Dieser Parameter wird hauptsächlich in Studien eingesetzt, in denen Kreativität durch psychometrische Tests erfasst wird. Diese Tests, genannt divergente Tests, unterscheiden sich von „normalen“ konvergenten kognitiven Tests darin, dass es anstatt einer einzigen richtigen Antwort mehrere mögliche Antworten gibt. Die Tests beinhalten typischerweise sowohl verbale als auch non-verbale Aufgaben, in denen Probanden unter anderem aufgefordert sind, Probleme zu lösen, Ergebnisse vorherzusagen und Hypothesen aufzustellen. Die Antworten werden dann auf objektiven Skalen eingeordnet, um die „kreative Fähigkeit“ vorauszusagen. Diese Tests erfassen typischerweise definierte Dimensionen kreativer geistiger Leistungsmerkmale, am häufigsten Flüssigkeit (Anzahl der Antworten), Flexibilität (Anzahl der verschiedenen Kategorien der Antworten), Originalität (statistische Seltenheit der Antworten) und Ausgestaltung (Menge der Details in den Antworten). Einige bekannte Beispiele stammen von Guilford9 und Torrance (Torrance Test des kreativen Denkens)10. Obwohl diese Tests in der Lage waren zu zeigen, dass sie sich auf beispielsweise durch Selbst- und Peer-Bewertungen eingeschätzte Kreativitätsdispositionen beziehen, wird deren inhaltliche Validität oft in Frage gestellt, und es wurde angemerkt, dass sie durch Hervorhebung der Flüssigkeit gegenüber den anderen Eigenschaften und ebenso durch die Messung aufgabenspezifischer Kreativität Verzerrungen aufweisen11. Daher wurde vorgeschlagen, dass sie nur verwendet werden sollten, um einzelne Aspekte der Kreativität zu erfassen, anstatt Kreativität an sich (siehe zum Beispiel Hocevar12). Um dieses Problem zu lösen, kombinierten neuere Studien divergente Tests mit Selbst-und Peer-Bewertungen kreativen Verhaltens13. 19 Sara. A. Wickström 02_Wickstroem 02_Wickstroem 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 20 II. Kreative Leistung und psychische Erkrankung Kreativität und psychische Krankheit 20 Auf der Suche nach statistischen Beweisen dafür, dass psychische Erkrankungen bei Personen mit anerkannten kreativen Leistungen weiter verbreitet sind, stellte die früheste Forschung zu diesem Thema Korrelationen in den Mittelpunkt. Einer der ersten Anwender dieses Ansatzes war Lange-Eichbaum, der über 800 historische Personen, die als Genies14 betrachtet wurden, untersuchte. Er fand heraus, dass die größten Genies der Vergangenheit Personen mit außergewöhnlichen Begabungen und einer begleitenden Psychopathologie waren; veranschaulicht unter anderem an Beispielen wie Michelangelo, Luther, Napoleon, Beethoven, Schopenhauer und Strindberg. Im Jahr 1949 untersuchte Juda 294 „Genies“, hochbegabte Künstler und Wissenschaftler, die zwischen 1650–1900 in deutschsprachigen Ländern geboren wurden15. Sie schlussfolgerte, dass hochbegabte Personen erhöhte Psychopathologieraten aufwiesen, obwohl es keine eindeutige Beziehung zwischen geistiger Höchstleistungsfähigkeit und psychischer Krankheit gab. Sie berichtete, dass Schizophrenie nur in der Gruppe der Künstler auftrat, während bipolare Störungen in der Gruppe der Wissenschaftler 10 Mal häufiger vorkamen als in der Durchschnittsbevölkerung. Judas Forschungsansatz war modern, da mit Hilfe statistischer Methoden eine Vielzahl von Probanden untersucht wurde. Psychische Auffälligkeiten, zumeist Psychosen, erfasste die Studie mittels der Analyse von Krankenakten. Psychopathien wie z.B. Nervosität oder sozial auffälliges Verhalten ermittelte sie entweder durch die Aussage von noch lebenden Auskunftspersonen aus den Familien der Probanden oder durch Auswertung von Sekundärquellen16. Hier liegt auch der Schwachpunkt dieser Studie. Zeitgenössische Schilderungen oder Selbstbeschreibungen unterliegen immer einer Verzerrung durch die eigene Wahrnehmung oder sind stilisiert. Darüber hinaus stärkten neuere Studien diese Schlussfolgerungen noch weitergehend. Andreasen stellte fest, dass eine Gruppe von Schriftstellern, die an einem Schreiblehrgang an der University of Iowa teilnahmen, im Vergleich mit 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 21 einer gesunden Kontrollgruppe ähnlicher Intelligenz, ein erhöhtes Risiko für affektive Störungen im Allgemeinen und im Speziellen für bipolare Störungen aufwiesen. Sie fand weiterhin heraus, dass Verwandte ersten Grades sowohl eher kreativ sind als auch eine Veranlagung zu psychischen Erkrankungen aufweisen, was auf eine genetische Verbundenheit17 dieser beiden Eigenschaften hindeutet. In ähnlicher Weise fand Jamison unter 47 britischen Schriftstellern ein erhöhtes Risiko für affektive Störungen18. Ludwig verwendete Biographiebesprechungen, die in der New York Times zwischen 1960 und 1990 veröffentlicht wurden, um 1004 „herausragende“ Persönlichkeiten ausfindig zu machen. Auf der Grundlage ihrer Biographien fand er eine Überrepräsentation bipolarer Störungen, schizophrenieähnlicher Psychosen und Depressionen in der kreativen Künstlergruppe (Dichter, Romanautoren, bildende Künstler, Musiker und Komponisten sowie Personen, die in den Kontext des Theaters eingebunden sind) verglichen mit anderen Berufen19. Eine neuere Metaanalyse von Lauronen fand heraus, dass von 13 veröffentlichten Korrelationsstudien bis auf eine Ausnahme alle die statistische Korrelation zwischen Kreativität und psychischer Krankheit unterstützen20. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mehrere Studien in der Lage waren, eine Verbindung zwischen kreativer Leistung und psychischen Erkrankungen, insbesondere in Form einer bipolaren Störung, zu identifizieren. Allerdings handelte es sich bei allen hier berichteten Studien um reine Korrelationsstudien, weshalb keine kausalen Erklärungen möglich sind. Weitere Einschränkungen bestehen in der Größe der untersuchten Gruppen sowie im Ausschluss aller anderen Formen der Kreativität, mit Ausnahme der kreativen Leistung. III. Kreative Berufe und psychische Erkrankung Um die Einschränkung durch die kleinen Gruppengrößen zu überwinden, griffen Forscher auf Bevölkerungsregister zurück, die große, weniger fehleranfällige Längsschnittstu- 21 Sara. A. Wickström 02_Wickstroem 02_Wickstroem Kreativität und psychische Krankheit 22 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 22 dien ermöglichen. In einer Reihe von aktuellen Studien nutzten Kyaga et al. fortlaufende Einwohnermelderegister der schwedischen Gesamtbevölkerung zur Durchführung von Fall-Kontroll-Studien über den Zusammenhang zwischen Kreativität und manifester psychischer Erkrankung21. Die Krankenblätter der Krankenhäuser in Schweden verzeichneten zwischen 1973 und 2003 Entlassungsdiagnosen für alle Patienten, die sich aufgrund schizophrener Episoden, bipolarer Störungen, unipolarer Depressionen sowie anderer psychischer Störungen in einer stationären Behandlung befanden. Biologische Verwandte von Patienten wurden ebenfalls erfasst, und zwar einschließlich aller Personen, die seit 1932 in Schweden geboren wurden bzw. nach 1960 als in Schweden lebend registriert waren. Volkszählungen, auf der Basis von verpflichtenden Selbstauskunftsfragebögen, die von allen erwachsenen Staatsbürgern in den Jahren 1960, 1970, 1980 und 1990 ausgefüllt wurden, gaben Auskunft über Berufe der gesamten schwedischen Bevölkerung. Als kreative Berufe wurden Schriftsteller und künstlerische sowie wissenschaftliche Berufstätigkeiten definiert. Es wurden nur Wissenschaftler an Hochschulen berücksichtigt. Personen, die in mindestens einer der stattgefundenen Volkszählungen angaben, eine kreative Berufstätigkeit auszuüben, wurden als kreativ angesehen. Um die Spezifität der kreativen Berufstätigkeiten zu testen, wurde eine weniger kreative Gruppe (Steuerberater und Wirtschaftsprüfer) definiert. Über Daten des Militärs, die auf der Grundlage der Wehrpflicht für alle Männer erhoben werden, wurden Informationen über den Intelligenzquotienten (IQ; nur Männer) gewonnen. Diese Informationen enthalten IQ-Test Ergebnisse für alle 18- bis 19-jährigen Männer zwischen 1969 und 2006 (n = 1 742 684). Die Studien fanden eine starke Korrelation zwischen Kreativität und bipolarer Störung. In der kreativen Gruppe wurden andere psychiatrische Erkrankungen (Schizophrenie, Angststörungen, Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS22)) nicht vermehrt gefunden. Vielmehr war die Wahrscheinlichkeit von Einzelpersonen, die einen 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 23 kreativen Beruf ausüben, deutlich geringer, eine Diagnose aus dem Bereich der Schizophrenie, schizoaffektiven Störung23, unipolaren Depression, Angststörungen, des Alkoholmissbrauchs, Drogenmissbrauchs, Autismus, ADHS zu bekommen oder Selbstmord zu begehen. Allerdings gab es bei Verwandten ersten Grades von Personen in künstlerischen oder wissenschaftlichen Berufen eine deutliche Überrepräsentanz einer Diagnose aus dem Bereich der Schizophrenie oder aus dem Bereich der bipolaren Störungen, was eine genetische Verbindung annehmen lässt. Beleuchtet man den Sachverhalt aus einer anderen Perspektive, stellt man fest, dass, während Verwandte von schizophrenen Patienten sehr oft vermehrt in künstlerischen Berufen zu finden waren, Verwandte von Patienten mit bipolarer Störung in wissenschaftlichen Berufen überrepräsentiert sind. Schriftsteller bildeten in dieser Studie eine Ausreißerdomäne, weil sie mehr als doppelt so häufig wie Teilnehmer der Kontrollgruppe an Schizophrenie und bipolaren Störungen litten. Bei Schriftstellern wurden auch eher unipolare Depressionen, Angststörungen, Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch und Selbstmordgefährdung diagnostiziert. Zusammengenommen unterstützt diese Studie das „umgekehrte U-Modell der Beziehung zwischen Psychopathologie und Kreativität, in dem Eigenschaften, die mit psychiatrischer Morbidität assoziiert werden, bis zu einem gewissen Punkt Kreativität fördern und ab diesem aber hemmen24. Wie Kyaga berichtet, sind diese Eigenschaften unabhängig von der Intelligenz, obwohl der IQ im Allgemeinen bei Personen mit kreativen Berufstätigkeiten höher war, während er bei wegen psychiatrischer Erkrankungen untersuchten Patienten sowie deren Angehörigen niedriger war als bei Menschen, die diese Diagnosen nicht aufwiesen. Wenn der IQ aber als kontinuierliche Kovariate einbezogen wurde, traten diese Überrepräsentationen in der Regel sogar noch stärker hervor. Die wesentliche Stärke dieser Studie ist die große, landesweite und unverzerrte Kohorte sowie die Einbeziehung von Verwandten der Betroffenen. Informationen über gesunde Verwandte wirkten der Tendenz entgegen, dass sich 23 Sara. A. Wickström 02_Wickstroem 02_Wickstroem 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 24 psychische Erkrankungen per se auf die Messung der Kreativität, beispielsweise durch Reduzierung der kognitiven Fähigkeiten, auswirken. Die Schwäche dieser Studie ist offensichtlich die Beschränkung auf fachliche Kreativität. Die Autoren stellen beispielsweise selbst fest, dass „Schizophrenie mehr mit kreativen Nebenbeschäftigungen anstatt beruflichen Tätigkeiten assoziiert sein könnte.“25 24 Kreativität und psychische Krankheit IV. Disposition zu Kreativität und Psychopathologie Eine Reihe von Studien erfasste die Veranlagung zu Kreativität von Patienten mit diagnostizierter Psychopathologie. Mittels eines Kreativitätstests (Barron-Welsh Art Scale) verglichen Santosa et al. Patienten mit bipolarer Störung bzw. Depression mit gesunden, kreativen bzw. unkreativen Kontrollgruppen. Sie fanden heraus, dass sowohl die Versuchspersonen der kreativen Kontrollgruppe als auch Patienten mit bipolarer Störung besser abschnitten als Versuchspersonen der unkreativen Kontrollgruppe und auch als Patienten mit Depression26. Eine ähnliche Korrelation zwischen bipolarer Störung und kreativer Kontrollgruppe wurde in einer weiteren Studie beobachtet27. Um die Grundlage dieser Korrelation zu verstehen, ist es sinnvoll auf Studien zu verweisen, die die Persönlichkeitseigenschaften kreativer Menschen in den Fokus nahmen. Unter Zuhilfenahme des Fünf-Faktoren-Modells der Persönlichkeit (FFM28) beurteilte Feist in einer neueren Metaanalyse Persönlichkeitseigenschaften, die kreative von weniger kreativen Wissenschaftlern und Künstler von Nicht-Künstlern unterscheiden29. Diese weit verbreitete Taxonomie der Persönlichkeit beinhaltet die Eigenschaften Neurotizismus (N), Extraversion (E), Offenheit für Erfahrungen (O), Verträglichkeit (V) und Gewissenhaftigkeit (G). N ist die Prädisposition für das Erleben psychischen Stresses, wie er sich in Ängstlichkeit, Angst, Depression oder anderen negativen Gefühlen manifestiert; E beinhaltet Geselligkeit, Lebendigkeit, und Heiterkeit; O wird als ästhetisches Empfinden angesehen, intellektuelle Neugier, Abwechslungsreichtum, 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 25 und undogmatische Haltungen; V beinhaltet Vertrauen, Altruismus und Mitgefühl; und G umfasst das disziplinierte Streben nach Zielen und eine strikte Einhaltung von Grundsätzen. In den vergangenen 10 Jahren gab es eine Akkumulation von Daten, die darauf hindeuten, dass das FFM viele der individuellen Persönlichkeitsunterschiede unter normalen Erwachsenen erklären kann30. Feist zeigte, dass kreative Personen dazu neigen „offener für neue Erfahrungen, weniger konventionell und weniger gewissenhaft, selbstbewusster, selbstakzeptierender, getrieben, ambitioniert, dominant, feindselig, und impulsiv“ zu sein. Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Selbstakzeptanz, Feindseligkeit und Impulsivität hatten die stärksten Effekte31. In Feists Metaanalyse wurden unter kreativen Personen sowohl Künstler als auch Wissenschaftler verstanden, und es ist interessant festzuhalten, dass die Persönlichkeitseigenschaften zwischen diesen beiden kreativen Domänen als einander sehr ähnlich zu betrachten sind, was indirekt die Hypothese stützt, dass Kreativität in Kunst und Wissenschaft ähnlich ist. Feist zeigte jedoch auch feine Unterschiede zwischen beiden Domänen. Künstler, nicht aber kreative Wissenschaftler, zeigten emotionale Instabilität (N). Dies steht in Einklang mit der Studie von Kyaga über kreative Berufe, in der Künstler eine höhere Morbiditätsrate für Schizophrenie aufwiesen als Wissenschaftler, bei denen diese gar nicht vorkam32. Zur Erfassung von Patienten mit psychischer Krankheit wurde interessanterweise auch das FFM genutzt. Es ist nicht überraschend, dass emotionale Instabilität (N) vermehrt bei Patienten mit affektiven Störungen vorkommt. Interessanterweise wiesen Patienten mit bipolarer Störung jedoch höhere Werte in der Eigenschaft Offenheit für Erfahrungen auf, verglichen mit der Allgemeinbevölkerung, aber auch im Vergleich zu Patienten mit Depressionen, was eine mögliche Erklärung sein könnte, warum besonders bipolare Störungen gehäuft unter kreativen Individuen vorkommen33. Zusammengenommen gibt es verschiedene kognitive und affektive Eigenschaften, die deutlich mit Kreativität verbunden sind. Diese Eigenschaften bündeln sich zudem bei 25 Sara. A. Wickström 02_Wickstroem 02_Wickstroem Kreativität und psychische Krankheit 26 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 26 Patienten mit affektiven Störungen. Dies würde dafür sprechen, dass kognitive und zum Teil auch gefühlsbezogene (N für Künstler) Eigenschaften, die für affektive Störungen typisch sind, Kreativität ebenfalls begünstigen, was den vorher begründeten statistischen Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit und Kreativität stützt. In Versuchen, Kausalität herzustellen, bezogen manche Studien auch Verwandte von Patienten mit psychischen Störungen ein. Karlsson zum Beispiel führte eine retrospektive Studie an 486 männlichen Verwandten von an Schizophrenie erkrankten Menschen durch34. Das Ergebnis war eine signifikant erhöhte Anzahl von Personen mit erfolgreichen kreativen Bemühungen, obwohl die Anzahl der einbezogenen Personen nur gering war. Beim Vergleich verschiedener Verwandtschaftszweige fand Karlsson heraus, dass einige von ihnen sowohl an Schizophrenie litten als auch hochbegabt waren, während andere beides nur in geringem Maße zeigten. Auf dieser Grundlage und aufgrund weiterer Ergebnisse, die eine gesteigerte Kreativität unter Verwandten von diesen Patienten zeigen, wurde vorgeschlagen, dass es eine genetische Basis für den Zusammenhang zwischen Kreativität und Psychopathologie gibt. In einer neueren Studie mit ein- und zweieiigen Zwillingen erforschte Penke die genetische Komponente der Prädisposition für Kreativität. Durch die Nutzung einer Kombination verschiedener, sich abwechselnder kreativer Testungen und Peer-Evaluationen stellte er fest, dass Kreativität eine starke genetische Komponente hat (60%)35. Ähnliche Studien, die Verhaltensgenetik und auch genomweite Assoziationsstudien verwenden, sind nun notwendig, um die Verbindung zwischen psychischer Krankheit und Kreativität detaillierter zu erforschen. Dies wird eine Herausforderung sein, zumal der Kreativität nachgesagt wird, dass sie durch eine synergetische Interaktion vieler komplexer Eigenschaften, Emergenesis genannt36, in Erscheinung tritt. Wie alle genetischen Eigenschaften sind diese vererbbar, aber verwandte Personen werden niemals dieselbe Kombination verschiedener erforderlicher Eigenschaften teilen. Aus diesem Grund sind nur Assoziationsstudien, die eine große Ko- 02_Wickstroem 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 27 horte eineiiger Zwillinge umfassen, in der Lage, bedeutende Informationen zu diesem Thema beizutragen. V. Die Rolle der Intelligenz 27 Sara. A. Wickström Verschiedene Studien berichteten, dass die Intelligenz einer kreativen Person, definiert über den IQ, fast ausnahmslos mindestens eine Standardabweichung über dem Mittelwert liegt37. Es zeigte sich allerdings, dass ein hoher IQ für Kreativität unzureichend ist, wie zum Beispiel elegant von Terman gezeigt wurde, der hochbegabte Kinder38 prospektiv erforschte. Obwohl eine große Mehrheit der Versuchspersonen im späteren Leben beruflich erfolgreich war, zeigte niemand von ihnen einen signifikanten Anhaltspunkt für Kreativität. Darüberhinaus berichten viele Studien, die eine Kombination aus Kreativitäts- und IQ-Tests verwenden, fehlende Korrelationen dieser beiden Faktoren untereinander39. Guilford’s Schwellentheorie der Kreativität integriert diese Beobachtungen zu der Feststellung, dass ein minimales Maß an Intelligenz zwar notwendig, aber nicht hinreichend für Kreativität ist. Es wird ein gewisses Maß an Intelligenz für Kreativität benötigt, aber die Korrelation ist nicht mehr signifikant, sobald eine bestimmte Schwelle überschritten ist (oftmals willkürlich auf 120 festgesetzt)40. Hayes vertritt eine Alternativhypothese, die die Verbindung zwischen Intelligenz und Kreativität in Frage stellt und aussagt, dass die vorhandene Korrelation einfach die Tatsache widerspiegelt, dass es in unserer Gesellschaft Qualifikationen in Form einer formalen Bildung bedarf (zum Beispiel Wissenschaftler)41, um erkennbare Kreativität an den Tag zu legen. Da akademische Leistung mit dem IQ korreliert, erhalten Personen mit niedrigem IQ einfach nicht die Chance, ihre Kreativität in einer Art auszudrücken, die wahrgenommen werden würde. Das trifft vermutlich mehr auf Wissenschaftler als auf kreative Künstler zu. Gemäß Eysencks Kreativitätstheorie wiederum sind die genetischen, biologischen und kognitiven Grundlagen einer Veranlagung für einen Kreativitätsstil (Originalität, Eigenwil- 02_Wickstroem Kreativität und psychische Krankheit 28 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 28 ligkeit) die selben, die dem Psychotizismus zugrunde liegen42. Dies wird teilweise unterstützt durch die Kognitionsstudien, auf die weiter oben eingegangen wurde. Er nimmt an, dass sich kreative Erkenntnisse von einem „blinden“ mentalen Kombinationsprozess ableiten, der „Zufalls“Strukturen geistiger Elemente generiert, dessen Ergebnisse gezielt behalten und ausgearbeitet werden. Ausgedehnte, defokussierte Aufmerksamkeit, primäres Prozessdenken und flache Assoziationshierarchien – Faktoren, die auch bei affektiven Störungen verbreitet sind – unterstützen diesen zufälligen Kombinationsprozess. Im Gegensatz dazu wird die Auswahl und Ausarbeitung einer kreativen Idee aus diesem stochastischen kombinatorischen Verfahren durch eine hohe Verarbeitungskapazität, mentale Geschwindigkeit und Denkfähigkeit unterstützt, allesamt Merkmale der allgemeinen Intelligenz. So schlussfolgert Jensen43, weitgehend auf Eysencks Theorie basierend, dass kreative Leistung oder Schöpfergeist das Produkt aus hoher Fähigkeit x hoher Produktivität x hoher Kreativität ist. Sowohl der Guilford Schwellenhypothese als auch Eysencks Kreativitätstheorie fehlte bis vor kurzem empirische Evidenz. Carson et al. führten eine Studie an Studierenden der Harvard-Universität durch und verglichen 25 Studierende mit ausgezeichneten Kreativleistungen mit 23 Studierenden niedriger kreativer Leistungen44. Die Studierenden mit Leistungen auf hohem Niveau zeigten eine signifikant niedrigere latente Hemmung45 als Studierende mit niedrigeren Leistungen. Darüber hinaus gab es eine signifikante Wechselwirkung von latenter Hemmung und IQ auf kreative Leistung. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass sich ein hoher IQ in Kombination mit niedriger latenter Hemmung am günstigsten auf kreative Leistungen auswirkte. Auf dieser Grundlage schlussfolgerten die Autoren, dass Patienten mit Schizophrenie „im Prinzip an einer pathologischen und möglicherweise synergistischen Kombination einer überschüssigen experimentellen, ideellen oder assoziativen Variabilität und einer Absenkung in den Auswahlmethoden aus diesem Überschuss leiden, während die gesunde, offene und kreative Einzelperson durch eine breitere Schranke und 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 29 sorgfältige Selektion sowie Auswahl nach dem Erleben charakterisiert wäre“. In Zwillingsstudien von Penke46, die oben diskutiert wurden, wurde festgestellt, dass Intelligenz nachhaltig mit Kreativität assoziiert wird. Er kommt zu dem Schluss, dass Intelligenz von „zentraler Bedeutung für den selektiven Speicherungsprozess“ kreativer Ideen ist47. Ein Mangel an allgemeiner Intelligenz oder Abbildung der Wirklichkeit, wie bei der Schizophrenie, würde zu nutzlosen und daher unkreativen Erzeugnissen führen. Zusammengenommen scheinen diese Daten somit gut zu den Daten von Kyaga48 zu passen, in denen ein genetisch-prädisponierender, aber kein direkter Zusammenhang zwischen Schizophrenie und kreativen Berufen gefunden wurde. Patienten, die sowohl an einer Manie als auch einer bipolaren Erkrankung leiden, weisen bestimmte kognitive Defizite auf, die einige gemeinsame Merkmale mit denen von Schizophreniepatienten haben. Allerdings sind diese Beeinträchtigungen bei Patienten mit Schizophrenie stärker und betreffen mehr Lebensbereiche. Wichtig ist, dass Patienten mit bipolarer Störung, im Gegensatz zu Patienten mit Schizophrenie, keine niedrigeren intellektuellen Fähigkeiten als die Allgemeinbevölkerung49 aufweisen. Daher könnte man mutmaßen, dass manische Episoden tatsächlich einen maximalen Beitrag gemäß der Jensen-Gleichung (hohe Fähigkeit x hohe Produktivität x hohe Kreativität) darstellen. Dies wird durch eine erhöhte Leistungsfähigkeit kreativer Personen während der Hypomanie50 unterstützt. Doch aufgrund der Einschränkungen durch die Messung kreativer Veranlagung oder kreativer Berufe anstelle der „reinen“ Kreativität können diese Studien die Theorie von Hayes, die die Verbindung zwischen Intelligenz und Kreativität in Frage stellt51, nicht vollständig widerlegen. VI. Neurobiologische Aspekte Um weitere konkrete biologische Beweise dafür zu gewinnen, wie psychische Erkrankungen und Kreativität zusammenhängen könnten, versuchten Forscher, neurologische 29 Sara. A. Wickström 02_Wickstroem 02_Wickstroem Kreativität und psychische Krankheit 30 24.04.2015 13:55 Uhr Seite 30 Ähnlichkeiten zwischen Erkrankungen wie Schizophrenie und dem kreativen Geist mit Hilfe der funktionellen Bildgebung, Arzneimittelstudien und der Analyse von Läsionen im Gehirn zu bestimmen. Es gab mehrere Versuche, Kreativität durch die Kombination verschiedener Arten der Bildgebung des Gehirns mit divergenten Tests zu „messen“. Eine aktuelle Meta-Analyse von Arden et al. verglich die Ergebnisse von 45 unabhängigen Publikationen zu diesem Thema und stellte fest, dass auf der Grundlage dieser Studien keine zuverlässigen Schlussfolgerungen getroffen werden können, da keine Übereinstimmung in kreativitäts-assoziierter Aktivität in verschiedenen interessierenden Hirnregionen beobachtet werden konnte52. Unter den Studien gibt es einfach zu viel experimentelle Variation, die auf die Schwankung der Messungen, Abweichungen in den bildgebenden Verfahren oder die Unzuverlässigkeit in einem oder beiden Punkten zurückzuführen ist. Besonders im Hinblick auf funktionelle Bildgebungsstudien stellt das Konzept der Kreativität eine große Herausforderung dar, weil die Operationalisierbarkeit für eine kontrollierte Untersuchung in einem Magnetresonanztomographen nur schwerlich gegeben ist und jede Studie eine andere Art der Operationalisierung von „Kreativität“ wählt. Somit gibt es immer andere Informationen, die ebenfalls im Gehirn verarbeitet werden, wodurch es zu der Heterogenität der Befunde hinsichtlich beteiligter Hirnregionen bei kreativen Prozessen kommt. Mehr Wissen brachte die Erforschung des Gestaltungswillens (creative drive) hervor, da dieser einfacher zu definieren und auch zu messen ist, als Kreativität. Darüber hinaus führen verschiedene Läsionen im Gehirn zu Veränderungen im Gestaltungswillen, die eine direkte Korrelation von Erscheinungsformen mit Verhalten erlauben. Die langjährige Hypothese, dass Kreativität in der rechten Hemisphäre des Gehirns angesiedelt ist, konnte in neueren Studien nicht unterstützt werden. Stattdessen weisen mehrere Befunde darauf hin, dass der Schläfenlappen (Lobus temporalis) für den Gestaltungswillen entscheidend ist53. Ein neurologisches Phänomen, welches als Hypergraphie (ein krankhafter Schreibzwang) bezeichnet wird, hat zum Teil