Don Juan oder Zwischen Männlichkeit und Endlichkeit

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Sexualität, Liebe, Männlichkeiten
Historische, literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven
9. Fachtagung des Arbeitskreises für interdisziplinäre Männer- und
Geschlechterforschung – Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften (AIM Gender)
Don Juan oder Zwischen Männlichkeit und Endlichkeit
Redefassung von Dr. Katschnig Gerhard
„… jedoch in Spanien sind es schon tausenddrei.“
Don Juan – Don Giovanni1: ein „Deflorationsspezialist“2, Sexualathlet, Erotomane, „Tantalos der
Begier“3, Anarchist der Gesellschaft, „Robin Hood der Liebe“4, die Inkarnation erotisch-sinnlicher
Genialität (Kierkegaard), der „Held von Cordoba“5, ein Mythos – mit diesem Namen und seinen
unzähligen Konnotationen ist eine „vielseitig deutbare und auch gedeutete Gestalt“6 maßgebend für
die europäische Dichtung geworden. Sein Leben ist Legende und Krimi zugleich. Seine verführerische
Wirkung hat sich nicht nur auf die Frauenwelt bezogen, sondern auch zahllose Interpreten ergriffen.
Durch die Jahrhunderte wurden die Motive seines Denkens und Handelns in den verschiedensten
Variationen erörtert. Kaum eine andere literarische Figur hat eine derartige Fülle an Interpretationen
hervorgebracht.
Platt formuliert ist Don Juan eine geniale Erfindung des katholischen Klerus im Spanien des
17. Jahrhunderts. Während wir beinahe zeitgleich im protestantischen Norden mit dem Gelehrten, der
die Geheimnisse der Himmelskörper hinterfragt, den anderen großen europäischen Mythos der
Neuzeit entstehen sehen, repräsentiert Tirso de Molinas El Burlador de Sevilla y combidado de piedra
gegenüber Faust den erotischen Abenteurer inmitten der Brennweite von Inquisition und
Gegenreformation. Der letzte große Freigeist einer feudalen Epoche entstammt der Phantasie des
spanischen Mercedarier-Mönchs mit bürgerlichem Namen Gabriel Tellez. Es ist die Geschichte des
Spötters der Moral und des Verführers aller Frauen, der mit seinem libertinen Verhalten und den
zahllosen erotischen Animositäten die Gesellschaft brüskiert, Frevel und Sünde wider den
(christlichen) Geist betreibt. Er repräsentiert den wenig geisthaften aber dafür zügellosen Triebtäter,
„dessen Lebensweise die Rache der Gesellschaft und des christlichen Gottes herausforderte.“7
Wolfgang Amadeus Mozarts Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni führt die Darstellung des
Durchbrechens von Moralvorstellungen und Verhaltensmaximen fort; hier steht Don Giovanni jedoch
für den rationalistischen, rhetorisch begabten Verführer.
Doch was unterscheidet den zum Mythos gewordenen Urtypus des Verführers von einem
einfachen Frauenhelden, von einer ganzen „Schar weibertoller junger Aristokraten im Umkreis des
Der folgende Beitrag ist gewissermaßen ein Potpourri der gängigsten Don Juan Adaptionen, nimmt aber als Schwerpunkt
neben dem „Ur-Burlador“ Tirso de Molinas (ca. 1613) Mozarts Don Giovanni Aufführung von 1787.
2 Vgl.: Dieckmann, F.: Die Geschichte Don Giovannis. Werdegang eines erotischen Anarchisten, Frankfurt am Main/Leipzig
1991, S. 105.
3 Ibid., S. 286.
4 Ibid., S. 332.
5 Vgl.: Frisch, M.: Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie, Frankfurt am Main 1963, S. 9.
6 Valentin, E.: Don-Juan-Reflexionen. Eine Auswahl literarischer Zeugnisse, Augsburg 1988, S. 7.
7 Vgl.: Gnüg, H.: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, Bielefeld 1993, S. 11.
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Hofes“8? Albert Camus versichert uns: „man versteht Don Juan nur dann richtig, wenn man sich auf
das bezieht, was er gemeinhin symbolisiert: den gewöhnlichen Verführer und Liebling der Frauen“9.
Faszination durch Verführung?
Ein Mythos als solcher ist solange lebendig, wie er fasziniert. Leporellos Aufzeichnungen in der
berühmten Registerarie wären aber zu wenig; er entdeckt noch keine Individualität in Don Giovanni,
er nennt keine Details, verweist nicht auf die sozialen Bedingungen der Abenteuer, welche die
Einmaligkeit erläutern könnten. Er berichtet lediglich in gleichmäßigen Wiederholungen über die
unzähligen Verführten, die sich nur in ihren Namen unterscheiden aber keine eigenständige
Persönlichkeit darstellen. Diese Ausprägung von Quantität würde unweigerlich zu ästhetischer
Langeweile führen und keinen poetischen Reiz ausüben, der bis in die Oper der Gegenwart
Ausstrahlung hätte. Es könnte sich ebenso gut um die Memoiren des gealterten, aber historisch
fassbaren, an Venedig gebundenen Giacomo Casanova handeln, welcher der Mozart’schen
Uraufführung in Prag 1787 vermutlich beiwohnte. Wir müssten Camus Recht geben und Don Juan „in
einer Zelle jener spanischen Klöster, die einsam auf einer Höhe liegen“10, enden lassen, in denen
entflohene Liebschaften durch eine schweigende spanische Ebene ersetzt werden.
„Und nur ‚Abwechslung’ gibt dem Leben Reiz und läßt uns seine Unerträglichkeit
vergessen!“11, sagt Grabbes Don Juan. Keine Schicht der Gesellschaft lässt er aus und kann auch, so
scheint es, von niemandem daran gehindert werden. In einem Rausch der Begierde konsumiert er
Frauen aller Länder, liebt sie über alle kulturellen Vorschriften des Liebens hinweg. Nicht die
Sinnlichkeit an sich ist es, sondern die Demonstration seines Könnens im Begehren12, die ihn von einer
Frau zur anderen stürmen lässt. Er liebt die Lust mehr als das Vergnügen, die Frauen hingegen lieben
ihn. Unerkannt, bestätigt und begehrt fühlt er sich nur im Neuen und Unbekannten. Dabei ist sein
Handlungsspielraum mit wenigen Worten beschrieben: „Verführen, erstechen, lachen, weitergehen“13.
Seine Sinnlichkeit ist auf den Augenblick bezogen, das Verführen ist sein Element. Was ihn in
Tätigkeit versetzt, ist eine Ethik der paradereichen Quantität; nur im Triumph über die Frau existiert
er, wenngleich er diesen ständig wiederholen muss. Wenn Leporello Don Giovanni fragt: „Und Ihr
bringt es übers Herz, sie dann alle zu betrügen?“, so antwortet jener: „Alles aus Liebe. Wer nur einer
einzigen treu ist – grausam ist er zu den andern“14.
Doch wir wissen nicht erst seit Denis Diderot, dass Geist und Kunst ihre Grenzen haben und
man, nach einer gewissen Anzahl von Eroberungen, genötigt ist, sich zu wiederholen.15 Später wird
Max Frisch dieses Eingeständnis übersteigern, wenn er Don Juan beschwichtigen lässt: „Und wenn ein
Jüngling mich fragte: Wie ist das mit Frauen? Ich wüßte es nicht, offengestanden, es vergißt sich wie
Speisen und Schmerzen, und erst wenn es wieder da ist, weiß ich: So ist das, ach ja, so war es immer
…“16. Don Juans zur Tugend gehobene Kreativität scheint seine einzige Heilung vom unentwegten
Konsum zu sein. Wenn er auch als Subiectum durch die kulturellen Sphären bedingt wird, die ihn aus
seinem bisherigen, unbändigen Selbst zu vertreiben suchen, hindern ihn keine Grenzen, weder
kulturell noch politisch – es ist gerade jene Kreativität, die zur Eintönigkeit wird, zur ewiggleichen
Wiederholung verkommt. Hier hat Don Juan seine Grenze, und diese kann er nur im Mythos
Dieckmann, Geschichte Don Giovannis, S. 44.
Camus, A.: Der Don-Juanismus. In: Der Mythos des Sisyphos. Deutsch und mit einem Nachwort von Vincent von
Wroblewsky, Hamburg 2005, S. 96.
10 Ibid., S. 101.
11 Grabbe, C..: Don Juan und Faust, Stuttgart 2005, S. 14.
12 Vgl.: Kristeva, J.: Verführung – Sublimierung. In: Geschichten von der Liebe, Frankfurt am Main 1989, S. 192.
13 Frisch, Don Juan, S. 67.
14 Mozart, W. A./Da Ponte, L.: Don Giovanni. Aus dem Italienischen von Thomas Flasch. Nachwort von Rudolph Angermüller,
Stuttgart 2005, S. 43.
15 Vgl.: Diderot, D.: Rameaus Neffe. In: Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. II. Aus dem Französischen übersetzt von
Raimund Rütten. Mit einer Zeittafel von Robert Steiger sowie Anmerkungen von und einem Nachwort von Hans Hinterhäuser,
Darmstadt 1985, S. 47.
16 Frisch, Don Juan, S. 77.
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überwinden, wenn er im unbegrenzten Moment versinkt. Denn die zahllosen Wiederholungen lassen
Molinas und Mozarts Verführer das Respice finem! übersehen, die Warnungen ihrer getreuen Diener
aus dem Wind schlagen und dem unausweichlichen Ende alle Möglichkeiten seiner Überwindung
aufbieten.
Kapitulation und Tod?
Bei aller Originalität des Stückes am Beginn des 17. Jahrhunderts bleibt Molina doch der Mentalität
seiner Zeit verpflichtet: die Ehre der Frau liegt in ihrer Unberührtheit. Donna Anna ist nur eine von
vielen Entehrten, ihr Vater jedoch will sich an Don Juan rächen, womit es – punto de honor! – zur
entscheidenden Duell-Szene kommt. Bei Molina wie auch bei Mozart findet eine Entpersönlichung
ihrer Figur17 statt. Donna Anna ist beim Kampf körperlich gar nicht anwesend, ihre Schreie kommen
aus dem Hintergrund und tönen mit dem Gewicht aller Geschädigten: „der beleidigte Himmel, die
verletzten Gesetze, die geschändeten Mädchen, die entehrten Familien, die beschimpften Eltern, die
verführten Ehefrauen, die betrogenen Männer“18 – mehr als auf einer Bühne Platz wäre. Ihr Vater
fordert den gefragten Verderber heraus, wird getötet und schwört, dass dieser seine Strafe erhalten
werde.
„Hast du denn eine Jugend nur auf Erden?“19 fragt Nikolaus Lenaus Diego Don Juan nicht
unberechtigt. Einen greisen Don Juan hat der Mythos – mit Ausnahme bei Henri Bataille und Camus –
verwehrt. Doch müssen wir sein frühes Ende betrachten, um mythengerechte Individualität zu
entdecken. Im Fortgang der Handlung wird enthüllt, wofür Don Juan verantwortlich ist. Das Leben
als stetes Fest, das er dem Sozialgefüge seiner Zeit aufzwingt, wird durch die Hinweise zur
Sühnehandlung letztendlich brüchig. Der Düpierung irdischer Instanzen wird die barocke Krone des
Jenseits aufgesetzt, als er selbst das Grabmal des Getöteten verachtet, den Verschiedenen zu einem
erneuten Zweikampf herausfordert und ihn schließlich zu einem Gastmahl einlädt – eben hier
kommen wir zu Don Juans Ende, wenn der Verschiedene als Steinerner Gast die Einladung annimmt.
Er stirbt nicht infolge weltlicher Rache, auch nicht an einem Herzinfarkt, ebenso wenig durch
übermäßigen Alkoholgenuss, schon gar nicht durch die Pest; das wäre zu vulgär, zu einfach, einem
Mythos kaum gerecht. Er verabschiedet sich mit einer letzten bebenden Geste, nachdem ihm der bloße
Erfolg bei den Damen – wie die Libretti von Molina über Molière bis zu Mozart/da Ponte andeuten –
„zu selbstverständlich und damit belanglos geworden ist“20. Es ist die metaphysische Instanz, die er
als Verführer immer geleugnet hat, jene Hybris, die ihm zum Verhängnis wird. Im Schlussdialog mit
dem Komtur, „wo wir das Uebersinnliche schauen und hören“21 – wird später Eduard Mörike
schreiben – müssen wir uns Molina und Mozart genauer ansehen.
Molinas Steinerner Gast ist der Repräsentant eines höllischen Strafgerichts, der seinen
unerschrockenen Besucher mit dem Maß gesellschaftlicher Anforderung ins Verderben zieht. Er agiert
als der „fraglose Vollstrecker einer rächend-strafenden, übermenschlich eingreifenden Gewalt“22 im
katholischen Süden der Gegenreformation, wo göttliche Gnade verwirkt wird, wenn der Wille des
Menschen eigene Wege begeht.23 Der szenische Gestus mit der Aufforderung des Komturs „Gib mir
deine Hand“ kommt nicht unerwartet. Es ist das immer wiederkehrende Versprechen, das Don Juan
seinen unzähligen Frauen gab – zu Isabella: „Warte, Herzogin! Gib mir die Hand!“, zu Tisbea: „Hier
meine Hand und meinen Treueschwur!“, zu Aminta: „Bei dieser Hand schwör ich es, Herrin, die ein
Vgl.: Dieckmann, Geschichte Don Giovannis, S. 49.
Vgl.: Molière: Don Juan. Aus dem Französischen übertragen von Arthur Luther. Mit einem Nachwort von Jürgen von
Stackelberg, Stuttgart 2007, S. 70.
19 Lenau, N.: Don Juan. Dramatische Szenen. In: Sämtliche Werke und Briefe in zwei Bänden. Erster Band: Gedichte und
Versepen, Frankfurt am Main 1971, S. 896.
20 Luhmann, N.: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1994, S. 135.
21 Mörike, E.: Mozart auf der Reise nach Prag, München 2004, S. 81.
22 Dieckmann, Geschichte Don Giovannis, S. 7.
23 Ibid., S. 20.
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Inferno kalten Schnees ist, was ich versprech, dir zu erfüllen“ –, um den Betrug zu manifestieren, der
am Ende zu einer Aufforderung und tödlichen Waffe wird.24
Das Schauspiel des Strafgerichts erfährt durch die Dynamik mentalitären Wandels – vom
gegenreformatorischen Spanien zum aufgeklärten Absolutismus Josephs II. – eine Differenzierung.
Bei Mozart ist der Komtur jenes „unsterbliche Organ des Abgeschiedenen“25, an dem Don Giovanni
zu dieser Widerstandsgröße aufwachsen kann26; jener Komtur, der ihn damit aus der Masse der
sexuellen Raubritter herausholte, durch die Jahrhunderte untergehen und gleichzeitig am Leben ließ.
Molinas Don Juan – im kulturbedingten Weltbild des spanischen Katholizismus durch die
demonstrative Selbstüberschätzung im Angesicht des Todes der exemplarischen Abschreckung und
Läuterung ausgeliefert – kapituliert vor dem Ende. Bei Mozart – Louis Dorimon (1628-1693) und
Molière hatten es in ihren Stücken bereits vorskizziert – begeht Don Giovanni jene Hybris, die ihn
post festum zu einem interessanten Sünder macht.
DON GONZALO. […] Ich hätte nicht geglaubt, daß du
dein Wort mir hieltest, wo du alle hintergehst.
DON JUAN. Hältst du mich etwa gar für einen
Feigling?
DON GONZALO. Ja, denn du bist in jener Nacht, als
du mich tötetest, vor mir geflohn. […] Gib mir deine
Hand! Hab keine Angst, gib mir die Hand!
DON JUAN. Wie sagst du? Wie, ich sollt’ mich
fürchten? Ach, ich verbrenne! Brenn mich nicht mit
deinem Feuer! […] Erlaub, daß ich noch jemand rufe,
der mir die Beichte abnimmt und mich losspricht.
DON GONZALO. Das geht nicht an, du denkst zu spät
daran!
DON JUAN. Ach, ich verbrenne, ich verglühe! Ich bin
des Todes. (Er bricht tot zusammen.)
[…] DON GONZALO. So lautet Gottes Richterspruch:
Wie eines Menschen Taten, so der Lohn. (Unter großem
Getöse versinkt das Grabmal mit Don Juan und Gonzalo.
Catalinón schleppt sich weg.)27
KOMTUR. Du ludest mich zum Essen ein, du kennst
nun deine Pflicht; antworte mir: Kommst du mit mir
zum Essen?
[…] DON GIOVANNI. Ich habe Mut in meiner Brust:
Angst kenn ich nicht, ich komme!
KOMTUR. Gib mir die Hand zum Pfand!
DON GIOVANNI. Da hast du sie! (Er schreit laut auf.)
Ha!
KOMTUR. Was hast du?
DON GIOVANNI. Wie eisig ist mir nur?
KOMTUR. Bereue, ändere dein Leben: Es ist der letzte
Augenblick!
DON GIOVANNI (versucht vergeblich, sich loszumachen).
Nein, nein, ich bereue nichts, geh fort von mir!
KOMTUR. Bereue, Verbrecher!
DON GIOVANNI. Nein, närrischer Alter!
[…] KOMTUR. Ah, Eure Zeit ist um!
(Er geht ab.) (Flammen von verschiedenen Seiten,
Erdbeben.)28
Die Uraufführung von Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni erfolgte am 29. Oktober 1787 im Gräflich
Nostiz’schen Nationaltheater in Prag. Mozart hatte mit Lorenzo da Ponte – ein aus dem Süden wegen
freigeistiger Ansichten und zahlreicher Affären entflohener katholischer Priester, der durch die
geschickte und wohl einzigartige Protektion Josephs II. Dichter des italienischen Theaters am Hof des
Kaisers wurde – einen kühnen Librettisten, der in seinem eigenen Leben ein Stück des Don-Juanismus
zu verkörpern schien. So kommentierte er seine Arbeit am Libretto, als hätte ihm der dissoluto punito
über die Schultern gesehen: „Nachts schreibe ich für Mozart und denke dabei an >Dantes Inferno<
[…] eine Flasche Tokaier zur Rechten, das Tintenfaß in der Mitte, eine Schachtel Sevilla-Tabak zur
Linken. Ein schönes sechzehnjähriges Mädchen – ich hätte es nur wie eine Tochter lieben sollen, nun
ja …“29.
Vgl.: Gnüg, Don Juan, S. 33.
Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag, S. 81.
26 Vgl.: Dieckmann, Geschichte Don Giovannis, S. 7.
27 Molina, T.: Don Juan – Der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast. Übersetzt und mit einem Nachwort von Wolfgang
Eitel, Stuttgart 2007, S. 75-78.
28 Mozart/Da Ponte, Don Giovanni, S. 74f.
29 Da Ponte, L.: Geschichte meines Lebens. Mozarts Librettist erinnert sich. Aus dem Italienischen übertragen und
herausgegeben von Charlotte Birnbaum. Mit einem Nachwort, einem Werkverzeichnis und Anmerkungen von Jörg Krämer
sowie zahlreichen Abbildungen. Frankfurt am Main/Leipzig 2005, S. 142f.
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Das von dem Sänger Luigi Bassi verkörperte Aufbegehren Don Giovannis gegen den
nahenden Tod und die Weigerung, zu bereuen, symbolisieren den Anspruch auf das irdische,
rationalistisch geprägte Wohl des Menschen, wie es in der gegen den barocken Katholizismus
gerichteten Regierungszeit Josephs II. künstlerisch einmalig zum Ausdruck kam. Was wir hier
herauslesen, ist der Funkenflug des zivilisatorisch verlangten Ausgleichs, der bis in die Unterwelt
Feuer fängt. Es beginnt bereits mit der Taktlosigkeit in der Registerarie, die Don Giovannis
Diskretionsbruch wie ein Firmenbuch aus Zahlen und Fakten erörtert und seine Okkupationserotik
als dissoluto aufdeckt.30 Mit dem Tod des Komturs hat die Gesellschaft Don Giovanni den Untergang
geschworen, er will nicht bereuen, also fährt er in die Hölle. In diesem Kampf mit dem Steinernen
Gast geht er aufs Ganze und beeindruckt damit wohl nicht nur Diderot, welcher sagte, dass es wenig
darauf ankommt, ob man sich in seinen Leidenschaften zu den Exzessen des Guten oder des Bösen
bekennt, wenn nur die Größe dabei nicht fehlt. Molinas Don Juan bricht durch die zupackende Hand
des Komturs tot zusammen, Mozarts Don Giovanni trotzt dem Gesandten des Jenseits ein weiteres
Spektakel ab und fordert die Natur zum Erbeben auf.
Wenn es auch bedeutend für die Konzeption einer Oper als Dramma giocoso ist, dass sich das
Gute am Ende durchsetzt, stellt sich die Frage: welche Schicksale lässt Don Giovanni zurück? Was
passiert mit den Frauen, die mit ihm in Berührung kamen? Sie wirken etwas schwerfällig, da sie
scheinbar ihren markantesten, unschuldsbewussten Verräter, vielleicht aber auch ihren größten
Illusionisten enttabuisierter Triebsphäre verloren haben. Wenn wir Jean Pauls Notizen zum Tod, zum
Ende und zum Vergangensein in seinem Ideen-Gewimmel aufgreifen, wo es an einer Stelle heißt:
„Unsterblichkeit ist Leben in einem Gedächtnis, das selber stirbt – man lebt von einem Vergessenden
zum andern.“31 – so kann sich Don Giovanni seiner Vergegenwärtigung bewusst sein. Man muss sich
nicht so weit ereifern, zu behaupten, dass Don Giovanni erst dann als Problem auftaucht, wenn von
Frauen die Rede ist. Der Komtur belegte den „sozialen Anspruch der Geschädigten“32, um die
moralischen Verstöße gegen die Sinnlichkeit zu bestrafen. Doch selbst dieser Auftritt zur
Verhaltensregulierung bleibt innerhalb ständischer Ordnung nur der patriarchalen Machtsphäre
vorbehalten und zeichnet die kultureigene Bedingtheit aus – oder könnte man sich
themengeschichtlich einen einfachen Bauern als rächende Reiterstatue vorstellen, ohne in eine Parodie
zu verfallen?
Don Giovanni aber stieg in seiner Größe und Bedeutung. Nachdem er mit dem Tod des
Komturs alle besiegt, alle hintergangen, alles Irdische hinter sich gelassen hatte, traf ihn der Neid der
Götter, wie es bei Friedrich Nietzsche in Homers Wettkampf heißt: „Und dieser göttliche Neid
entzündet sich, wenn er den Menschen ohne jeden Wettkämpfer gegnerlos auf einsamer Ruhmeshöhe
erblickt. Nur die Götter hat er jetzt neben sich – und deshalb hat er sie gegen sich. Diese aber verleiten
ihn zu einer Tat der Hybris, und unter ihr bricht er zusammen.“33 Selbst sein letzter Hauch hatte
Erhabenheit gegenüber den Anmaßungen alltäglich moralischer Charaktermasken und trotzte der
Reue – das bewahrte ihn davor, als lächerliches Zerrbild seiner Hormone und Kümmerling seines
Triebes jeden Anspruch auf einen Mythos zu verlieren. Er lebte jene Begierden aus, die anderen durch
soziale Schranken auszuleben nicht gestattet war. Dass er dennoch Melancholie spürte, war der große
Preis, den seine prinzipielle Unergründlichkeit verlangte. Das stets wiederkehrende Phantasma seines
Könnens und Begehrens kennt keine Erinnerung oder Befriedigung. Erst am steinernen Arm des
Komturs konnte er im unbegrenzten Moment versinken.
Die Verführer wachsen freilich nach und finden sich heute als Männer mit ausgeprägtem
Sexualtrieb, wie es Don Juan in populärer Darstellung zweifelsohne ist, bei den großen Fußballstars
und international bekanntesten Musikern, die gewiss ihre eigenen Register führen. Ob sie allerdings
Vgl.: Borchmeyer, D.: Mozart oder Die Entdeckung der Liebe. Frankfurt am Main/Leipzig 2005, S. 165.
Paul, J.: Ideen-Gewimmel. Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß herausgegeben von Thomas Wirtz
und Kurt Wölfel, München 2000, S. 242.
32 Göbler, F. (Hrsg.): Don Juan – Don Giovanni – Don Žuan. Europäische Deutungen einer theatralen Figur, Tübingen 2004, S.
45.
33 Nietzsche, F.: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. Homers Wettkampf. In: Werke in drei Bänden, Bd. 3,
München 1954, S. 298.
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an der Schwundstufe des Ruhmes34 unserer heutigen Mediengesellschaft mit ihren Talkshows,
Boulevardblättern und Viertelstundenberühmtheiten Don Juan/Don Giovanni den Rang ablaufen
können, will hier nicht weiter kommentiert werden. Sein Gelächter ohne Reue, zwischen Männlichkeit
und Endlichkeit, erschallt heute noch … er ist ein Mythos, was sonst?!
Literatur:
Borchmeyer, Dieter: Mozart oder Die Entdeckung der Liebe. Frankfurt am Main/Leipzig 2005.
Camus, Albert: Der Don-Juanismus. In: Der Mythos des Sisyphos. Deutsch und mit einem Nachwort
von Vincent von Wroblewsky, Hamburg 2005.
Da Ponte, Lorenzo: Geschichte meines Lebens. Mozarts Librettist erinnert sich. Aus dem Italienischen
übertragen und herausgegeben von Charlotte Birnbaum. Mit einem Nachwort, einem
Werkverzeichnis und Anmerkungen von Jörg Krämer sowie zahlreichen Abbildungen.
Frankfurt am Main/Leipzig 2005.
Diderot, Denis: Rameaus Neffe. In: Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. II. Aus dem
Französischen übersetzt von Raimund Rütten. Mit einer Zeittafel von Robert Steiger sowie
Anmerkungen von und einem Nachwort von Hans Hinterhäuser, Darmstadt 1985.
Dieckmann, Friedrich: Die Geschichte Don Giovannis. Werdegang eines erotischen Anarchisten,
Frankfurt am Main/Leipzig 1991.
Frisch, Max: Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie, Frankfurt am Main 1963.
Gnüg, Hiltrud: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit, Bielefeld 1993.
Göbler, Frank (Hrsg.): Don Juan – Don Giovanni – Don Žuan. Europäische Deutungen einer theatralen
Figur, Tübingen 2004.
Grabbe, Christian Dietrich: Don Juan und Faust, Stuttgart 2005.
Kierkegaard, Sören: Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische. In:
Entweder – Oder. Aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck, München 2005.
Kristeva, Julia: Verführung – Sublimierung. In: Geschichten von der Liebe. Aus dem Französischen
von Dieter Hornig und Wolfram Bayer, Frankfurt am Main 1989.
Lenau, Nikolaus: Don Juan. Dramatische Szenen. In: Sämtliche Werke und Briefe in zwei Bänden.
Erster Band: Gedichte und Versepen, Frankfurt am Main 1971.
Liessmann, Konrad P.: Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit. In:
Ders.: (Hrsg.): Philosophicum Lech, Bd. 7, S. 7-19.
Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1994.
Molière: Don Juan. Aus dem Französischen übertragen von Arthur Luther. Mit einem Nachwort von
Jürgen von Stackelberg, Stuttgart 2007.
Molina, Tirso de: Don Juan – Der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast. Aus dem Spanischen
von Wolfgang Eitel, Stuttgart 2007.
Mozart, Wolfgang A./Da Ponte, Lorenzo: Don Giovanni. Aus dem Italienischen von Thomas Flasch,
Stuttgart 2005.
Mörike, Eduard: Mozart auf der Reise nach Prag, München 2004.
Müller-Kampel, Beatrix (Hrsg.): Mythos Don Juan. Zur Entwicklung eines männlichen Konzepts,
Leipzig 1999.
Nietzsche, Friedrich: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. Homers Wettkampf. In: Werke
in drei Bänden, Bd. 3, München 1954.
Paul, Jean: Ideen-Gewimmel. Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß
herausgegeben von Thomas Wirtz und Kurt Wölfel, München 2000.
Valentin, Erich: Don-Juan-Reflexionen. Eine Auswahl literarischer Zeugnisse, Augsburg 1988.
34 Vgl.: Liessmann, K. P.: Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit. In: Ders.: (Hrsg.):
Philosophicum Lech, Bd. 7, S. 13.
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