7 Ressourcenbasierte Psychodynamische Therapie (RPT)

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7 Ressourcenbasierte Psychodynamische
­Therapie (RPT)
7.1Psychodynamisches
und traumatherapeutisches
­Grundverständnis
Unser Ansatz der Ressourcenbasierten Psychodynamischen Therapie (RPT) für Patienten
mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung
verknüpft eine psychodynamische Grund­orien­
tierung mit einem traumatherapeutischen
Verständnis der Störung und einem ressourcenbasierten therapeutischen Vorgehen.
Die psychodynamische Grundorientierung
unseres Konzepts können wir wie folgt umschreiben:
Wir gehen von der primären Bedeutung
yy
von Beziehungen als wichtigster Grundlage
für jedes therapeutische Handeln aus. Angesichts der regelhaften Präsenz unsicherer
oder desorganisierter Bindungsmuster bei
den Patienten nehmen wir an, dass sich die
Bindungs- und Beziehungsstörung nicht
nur auf alle persönlich bedeutsamen interpersonellen Beziehungen auswirkt, sondern
im besonderen Maße auch die therapeutische Beziehung betrifft.
Intensive Übertragungsmanifestationen und
yy
belastende Gegenübertragungserfahrungen,
die die konflikthaften Bindungsmuster mit
den früheren Bezugspersonen widerspiegeln, erschweren die Herstellung einer tragfähigen therapeutischen Arbeitsbeziehung.
Täter- oder Retterübertragungen erfordern
ebenso eine professionelle Handhabung wie
häufig anzutreffende Überidentifikationen,
Rettungsimpulse oder therapieschädliche
Distanzierungen. Das Beziehungsverständnis der psychodynamischen Therapie, ihre
Konzeptualisierung der Phänomene von
Übertragung und Gegenübertragung und
das Bewusstsein, dass wir im Kontakt mit
unseren Patientinnen unweigerlich in bestimmte Muster der Beziehungsgestaltung
einbezogen werden, sind für die Therapie
von Borderline-Patienten zentral (Wöller
2013, S. 422 ff.).
Die Verinnerlichung einer positiven Bezieyy
hungserfahrung ist gerade für Patienten mit
einer Borderline-Störung ein kaum zu unterschätzender Wirkfaktor (Balint 2002;
Winnicott 2006). Aus der empirischen Psychotherapieforschung (Luborsky et al. 1988)
wissen wir, welche herausragende Bedeutung die Gestaltung der therapeutischen
Beziehung für den Erfolg einer Psychotherapie hat. Einsichtsförderung und die Vermittlung einer positiven Beziehungserfahrung sind eng miteinander verbunden. Ein
empathisches Verstehen der Patienten ist
ohne eine fundierte Einsicht in die Dynamik ihrer Beziehungsmuster nicht möglich
(Pulver 1992).
Psychodynamisches Verständnis stellt die
yy
zentrale Bedeutung der Emotionen heraus.
Wenn der Zugang zur Emotionalität durch
frühe Abwehrmechanismen oder dissoziative Symptome blockiert ist, ist die Ver­
besserung der Emotionswahrnehmung der
erste Schritt zur Verbesserung der Emo­
tions­re­g u­lierung. Affektklarifizierende Interventionen können durch die kognitive
Einordnung entscheidend zur Modulation
der Emotionen beitragen.
Psychodynamisches Verständnis kann helyy
fen, Widerstandsphänomene gegen thera-
Wöller: Bindungstrauma und Borderline-Störung. ISBN: 978-3-7945-3065-6. © Schattauer GmbH
78 II Grundlinien der Behandlung
peutische Maßnahmen als Schutzmechanismen zu erkennen, und zwar als Schutz
vor einer als bedrohlich erlebten therapeutischen Beziehung (Wöller u. Kruse 2014).
Psychodynamisches Denken widmet sich
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ausdrücklich der Bedeutung unbewusster
Prozesse. Diese können sich auf Aspekte
des »dynamischen Unbewussten« beziehen,
wenn beispielsweise dissoziative Abwehrmechanismen die Wahrnehmung unerträglicher Emotionen oder Selbstanteile blockieren und projektive Abwehrformen eine
verzerrte Wahrnehmung wichtiger Beziehungen bewirken. Die Beschäftigung mit
unbewussten Prozessen kann sich aber
auch auf das »prozedurale Unbewusste« beziehen, den riesigen Fundus des impliziten
Beziehungswissens, das bei Patienten mit
einer Borderline-Störung schwerwiegende
Defizite aufweisen kann. Geht es bei der
Analyse realitätsverzerrender Abwehrmechanismen darum, unbewusste konflikt­
hafte Inhalte mit den Mitteln konfliktbezogener Psychotherapie bewusst zu machen,
so besteht die Aufgabe im Umgang mit implizitem Beziehungswissen darin, durch
strukturbezogene Arbeit implizites Beziehungswissen verfügbar oder wieder verfügbar zu machen (Erdelyi 1992; Modell 2008;
Stern et al. 2002).
Ein traumatherapeutisches Verständnis erscheint uns nicht nur wegen der hohen Traumatisierungsraten von Patienten mit einer
Borderline-Störung (▶ Kap. 2.1) und der ebenfalls hohen Komorbidität mit der Posttraumatischen Belastungsstörung (▶ Kap. 6.2 u. 6.3),
sondern auch aus therapeutischen Gründen
unverzichtbar. Indem wir die Psychopathologie der Borderline-Störung wesentlich als eine
Anpassungsreaktion auf traumatische Erfahrungen auffassen, implizieren wir eine therapeutische Haltung, die zur Entlastung von
Schuld- und Schamgefühlen beiträgt, ohne die
Patientinnen – entgegen einem verbreiteten
Missverständnis – aus ihrer Mitverantwortung für den Erfolg der Therapie zu entlassen
und vor allem ohne sie in einem Opferstatus
zu fixieren.
Die ausdrückliche Verknüpfung der psychodynamischen Grundhaltung mit dem Prinzip
der Ressourcenaktivierung ist ein Kernbestandteil des Konzepts. Ressourcen­orien­tierung gilt
heute als ein wichtiger Bestandteil aller erfolgreichen Therapien. Dass eine Lenkung der
Aufmerksamkeit auf die individuellen Fähigkeiten und Ziele des Patienten reproduzierbar
die therapeutische Beziehung verbessert und
zudem mit günstigeren Behandlungsverläufen
verknüpft ist, wurde inzwischen weithin rezipiert (Flückinger et al. 2008, 2009; Gassmann
u. Grawe 2006).
Tatsächlich betrachten heute die meisten
Therapieansätze eine ressourcenorientierte
Grundeinstellung als eine Selbstverständlichkeit.
In unserem Verständnis beschränkt sich
Ressourcenaktivierung jedoch nicht darauf,
eine emotional positiv getönte therapeutische
Atmosphäre zu schaffen und die positiven Seiten der Patienten hervorzuheben. So wichtig
dies ist, schöpft es die therapeutischen Möglichkeiten von Ressourcenaktivierung nicht
aus. Kritiker des ressourcenorientierten Ansatzes, die von einem solchermaßen verkürzten Verständnis von Ressourcenaktivierung
ausgehen, beklagen dann zu Recht eine Ver­
flachung des Therapieverständnisses durch
Beschränkung auf einige unspezifische Wirkfaktoren.
Wenn wir von einer Ressourcenbasierung
unseres psychodynamischen Therapieansatzes
sprechen, meinen wir dies in einem spezifischeren Sinne. Wir meinen damit, dass Patienten systematisch alle Potenziale in sich selbst
entdecken und aktivieren sollen, die zur Lösung beitragen können. Um sie dazu in die La­
ge zu versetzen, unterstützen wir sie mit­hilfe
Wöller: Bindungstrauma und Borderline-Störung. ISBN: 978-3-7945-3065-6. © Schattauer GmbH
7 Ressourcenbasierte Psychodynamische ­Therapie (RPT)
psychodynamischer Interventionen bei der
Präzisierung der Problemstellungen. Praktische Übungen und Hausaufgaben können helfen, die Ergebnisse dieser Arbeit abzusichern.
Wir wollen an dieser Stelle auf eine ausführliche Diskussion verzichten, wie Ressourcen zu definieren sind. Der Hinweis mag ge­
nügen, dass wir Ressourcen mit Willutzki u.
Teismann (2013) als Konstruktionen verstehen,
die nicht inhaltlich definiert, sondern durch
die Dimensionen der Evaluation und Funktionalität bestimmt sind. Der Bereich dessen, was
als Ressource in Betracht kommt, ist damit
prinzipiell unbeschränkt; er kann äußere Ressourcen ebenso umfassen wie innere Ressourcen in Form von Erfahrungen, Körperempfindungen, Gedanken oder Vorstellungen in Bezug auf die Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft – soweit diese eine positive Bewegung
in Richtung auf das therapeutische Ziel des
Wohlbefindens in Gang bringen.
Patienten, die höher strukturiert sind und
Konfliktpathologien (Rudolf 2013) aufweisen,
können eigene Ressourcen relativ leicht aktivieren; ein ressourcenbasiertes therapeutisches
Vorgehen ist bei diesen Patienten daher weniger notwendig. Doch bei Patienten mit ­einer
Borderline-Störung hat es erhebliche Vorzüge:
Speziell bei Borderline-Patienten, die als Folyy
ge ihrer schwierigen Beziehungserfahrungen
und durch den Sog ihrer negativen Emotionen nur schwer Zugang zu kon­struk­tiven
Problemlösungen finden, erscheint uns ein
ressourcenaktivierendes Vorgehen von großem Vorteil zu sein. Denn die Frage, welche
Ressource von welchem Patienten im Moment zu welchem Zweck gebraucht wird
und wie sie aktiviert oder beschafft werden
kann, fördert gezielt eine lösungsorientierte
Sichtweise.
In der strukturellen Arbeit an Ich-Funk­tio­
yy
nen stoßen wir immer wieder darauf, dass
bestimmte Potenziale einmal vorhanden
waren, aktuell aber nicht mehr verfügbar
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sind. Ressourcenaktivierende Techniken
können helfen, die früher einmal vorhandenen Potenziale zu reaktivieren. Ebenso
können sie dazu beitragen, bewusst und
­gezielt bestimmte Fähigkeiten einzuüben,
um die defizitären impliziten Prozeduren
entweder zu reaktivieren oder zu kompensieren. So ermöglichen uns verschiedene
Techniken der Ressourcenaktivierung, den
Einfluss der dysregulierten undifferenziert
negativen Affektzustände durch die Aktivierung positiver emotionaler Zustände zu
verringern (▶ Kap. 11.2). Ein kognitives Verständnis, warum und mit welchem Ziel
neue Prozeduren einzuüben sind, ist uns
dabei besonders wichtig.
Mithilfe der Ressource Imagination gewinyy
nen wir einen therapeutischen Zugang, der
es den Patientinnen gestattet, positive Beziehungserfahrungen nicht nur im realen
Kontakt mit der Therapeutin, sondern auch
im eigenen Inneren zu machen. Positive regressive Erfahrungen können symbolisch
auf der inneren Bühne geschehen, ohne dass
es zu einer Regression in der therapeutischen Beziehung kommen muss. Indem die
therapeutische Arbeit explizit die nicht regredierte »erwachsene« Patientin anspricht,
kommt es weniger zu kontraproduktiven
Retter- und Täterprojektionen oder anderen ungünstigen Übertragungsmanifesta­
tio­nen. Schließlich bietet die Imagination
die Möglichkeit, angst- und schambesetzte
Verhaltensmuster probeweise durchzuspielen.
Dass der Gedanke der Ressourcenorientieyy
rung zudem gut mit modernen Theorien
neuronaler Netzwerke und dem neueren
neurowissenschaftlichen Kenntnisstand zu
traumabedingten Persönlichkeitsstörungen
vereinbar ist, kommt unserer Arbeit zusätzlich zugute (Wöller 2013). Da Ressourcenaktivierung an die Befriedigung mensch­
licher Grundbedürfnisse anknüpft und das
Wöller: Bindungstrauma und Borderline-Störung. ISBN: 978-3-7945-3065-6. © Schattauer GmbH
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