Christel Brüggenbrock Die Ehre in den Zeiten der Demokratie Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit Vandenhoeck & Ruprecht Historische Semantik Herausgegeben von Gadi Algazi, Bemhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Ludolf Kuchenbuch Band8 Vandenhoeck & Ruprecht Christel Brüggenbrock Die Ehre in den Zeiten der Demokratie Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit Vandenhoeck & Ruprecht Umschlogabbildlmg: Hllmenkampf. Randschale Cl Slaallichc Antikensammlungen und Glypcodlck MOneben Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliodlek Die Deutsche Nationalbibliodlck verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Ober <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. ISBN 10: 3-S2S-36708·2 ISBN 13: 978-3-S2S-36708-7 Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Bochringer lngelhcim Stiftung ftlr Geisteswissenschaften in lngelhcim am Rhein sowie der FAZIT-Stiftung, Frankfurlam Main. Cl 2006, Vandcnhocck &: Ruprecht GmbH &: Co. KG. Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Flllcn bedarf der vorbcrigcn schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu§ S2a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dOrfcn ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zuglnglich gernacht werden. Dies gilt auch bei einer cntsprKhcndcn Nutzung ftlr Lehr- und Untarichtszwecke. Printed in Gcrmany. Druck und Bindung: ~Huben &: Co. Göttingen Gedruckt auf altcrunpbcstlndigcm Papier. Inhalt Vorwort .................................................................................................. 7 I. Einleitung: Ehre und Polis .............................................................. 9 I. Methodische Überlegungen ....................................................... II 2. Der Begriff der Ehre .................................................................. 16 3. Die Vorstellung der Ehre und die Ordnung der Polis................ 20 4. Die Athener als Ehrenmänner .................................................... 27 Die Ehre der Homerischen Helden................................................. 40 111. Der Agon als Wettkampf um Ehre................................................. 61 I. Die Geburt der Griechen aus dem Geiste des Agonalen ........... 64 2. Im Wettlaufzur Ehre: Die athenischen Olympioniken .................................................. 82 II. 3. Das Stadion der Ehre: Athenische Ehrenmänner in Olympia ........................................ I 00 4. Der Agon als Schau-Spiel um Ehre: Hahnenkämpfe im Dionysostheater ........................................... 127 Resümee: Das agonale Verhalten der Athener ............................... 140 IV. Nike ist eine Frau! Das andere Geschlecht der Ehre...................... 143 V. Die fragile Gleichheit der ehrenhaften Polisbürger ....................... 161 I. Ehre als Bedrohung der Polis: Das Phänomen der Hybris ......................................................... 163 2. Die Polis als Bedrohung der Ehre: Atimie als Schande .................................................................... 181 Resümee: Gleichheit und Ungleichheit in der Polis ...................... 192 6 Inhalt VI. Die ehrenhafte Art der Konfliktfilhrung: Rache oder Recht? . .. ..... 193 I. Die Ehre vor Gericht: Meidias, Konon und Eratosthenes ............ ................................. 205 2. Die Ehre auf der Straße: Simon, Nikostratos und Euergos ............................................... 236 3. Die Ehre (in) der Polis: Demosthenes, weitere Bürger und ein Invalide ........... .............. 265 Resümee: Die Verbindung von Recht und Rache .. .............. .. ........ 306 VII. Zusammenfassung: Das Zusammenspiel von Ehre und Polis ....... 309 Anhang .................................................................................................... 321 Abkürzungen .................................................................................. 321 Quellen- und Literaturverzeichnis ........ .... .................. .. ........ .... .. ... . 322 Register ........................................................................................... 346 Vorwort Ehre, wem Ehre gebührt: An dieser Stelle möchte ich jenen danken, die zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben. Sie wurde im Juli 2003 als Dissertation von der Fakultät filr Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bietefeld angenommen und für die Druckfassung an einigen Stellen überarbeitet und aktualisiert. Winfried Schmitz danke ich für seine stete Förderung und Diskussionsbereitschaft und fiir den großen Freiraum, den er mir bei der Wahl thematischer Schwerpunkte und Akzente ließ. Er bewahrte mich vor allzu phantasiereichen Exkursen in quellenarme Gebiete und gab mir zahlreiche Anregungen, von denen das Kapitel zu den Hahnenkämpfen nur eine ist. Tassilo Schmitt danke ich besonders herzlich: Er hat meine Studien seit meinem ersten Semester mit fachkundigem Interesse und inspirierenden Gesprächen begleitet. Ohne seine Leidenschaft für die Alte Geschichte und sein Vertrauen in mich und meine Arbeit wäre dieses Buch nicht entstanden. Für viele gute Ratschläge und eine allzeit kritische Haltung meiner Arbeit gegenüber danke ich Oliver Müller; er hat das Werk häufiger gelesen als jeder andere. Wertvolle Kritik und wichtige Hinweise verdanke ich auch Mischa Meier, der mich vor einigen dummen Fehlern bewahrte. Für die teilnehmende Begleitung des Schaffensprozesses gerade in kritischen Phasen möchte ich Wolfgang Will und meinen ehemaligen Bietefelder Kollegen danken. Die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Historische Semantik« verdanke ich insbesondere Bernhard Jussen, der sich bei meiner Disputatio spontan filr das Thema begeistern konnte. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag gestaltete sich dank Dörte Rohwedder stets angenehm und professionell. Die Geschwister Boehringer lngelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und die Fazit-Stiftung haben die Drucklegung der Arbeit dankenswerterweise großzügig unterstützt. Der Dissertationspreis der WestßllischLippischen Universitätsgesellschaft ehrte mich und trug ebenfalls zur Finanzierung bei. Für Beistand in Rat und Tat - insbesondere in schwierigen Zeiten - danke ich meinen Eltern, meinen Geschwistern und meinen Freunden. Und Giovanni Maccioni danke ich für alles. St. Gallen, im Januar 2006 Christel Brüggenbrock I. Einleitung: Ehre und Polis Während der Belagerung Troias durch die Griechen wird Achilleus von Agamemnon in seiner Ehre gekränkt. Achill verschanzt sich daraufhin mit seinen Männern bei den griechischen Schiffen und verweigert die weitere Teilnahme am Kampf. Nach einigen Tagen sendet Agamemnon Aias, 0dysseus und Phoinix zu ihm, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. Da die Gesandten wissen, dass es filr Achill um seine Ehre geht, appelliert Odysseus an sein Ehrgefilhl und erinnert ihn an die Worte, die ihm sein Vater Peleus mit auf den Weg gegeben hat: ou St IJ.EY«Ä.TttOpa 9UIJ.OV ioXElV tv ott19tool" qnÄ.O<ppooUVJ'l 'YUP ciiJ,tivrov· ÄTt'YEIJ.EVal l)' fp18oc; KaKOIJ.TtXcivou, öcppa OE IJ,äÄ.Ä.ov tic.oo' 'AP'Ytic.ov TtiJ.EV vi01 t18t 'Yipovttc;. 1 Mit dem Hinweis auf die verbindlicheren Tugenden, die einen Mann von Ehre auszeichnen sollten, setzt Odysseus einen alternativen Ehrbegriff an die Stelle der Ehre des Achill, die sehr agonal und konfliktorientiert ist. Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Rolle der Ehre bei den Athenern in der klassischen Zeit. Sie untersucht die Beziehung zwischen den normativen Erwartungen der Ehre und den Ansprüchen der demokratischen Polis an das Verhalten eines Atheners. Wie spannungsreich dieses Verhältnis zwischen der Ehre und dem Gemeinwesen sein kann, deutet sich in obiger Szene bereits an. Das beschriebene Verhalten der homerischen Helden ist geeignet, einige wichtige Aspekte von Ehre zu verdeutlichen, deren Wirkung sich nicht auf die homerische Gesellschaft beschränkt. Vor einigen aus der Vorstellung von Ehre resultierenden Problemen stehen die Athener auch in klassischer Zeit. Der Verlauf des Streits zwischen Achill und Agamemnon zeigt zunächst die Bedeutung der Ehre eines Mannes. Das Verhalten eines Ehrenmannes orientierte sich maßgeblich an seiner Vorstellung von Ehre. Der Ehrbegriff umfasste dabei verschiedene ehrenhafte Verhaltensmuster, so etwa die stetige Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit anderen Ehrenmännern und eine schnelle Erregung von Konflikten, wenn das Ehrgefiihl betroffen war, aber auch die Anerkennung der Ehre von Statusgleichen und den reziproken Austausch von Gaben. Als ehrenhaft galten verschiedene, untereinander auch widersprüchliche Verhaltensweisen, die in einer gegebenen Situation I Hom. II. 9, 2SS-2S9: »Du aber halte den großherzigen Mut fest in der Brust. denn Freundlichkeit ist besser! Laß ab von dem unheilstiftenden Streit, so werden mehr dich ehren die Argeier, die Jungen wie auch die Alten!cc Übersetzung W. Schadewaldt. 10 Einleitung eine Mehrzahl von ehrenhaften Handlungen ermöglichten. Das Urteil darüber, was eine ehrenhafte Handlung ausmachte, sprachen signifikante Andere, wie die Freunde des Achill oder sein Vater und die öffentliche Meinung, hier in Gestalt der Achaier. Als handlungsleitender Wert war die Ehre fllr die Griechen so entscheidend, dass Achill um seiner Ehre willen die Gemeinschaft im Stich ließ, deren höchster Wert die Ehre darstellte. Die heterogenen Verhaltensmuster der Ehre sind das Problem jeder Gesellschaft, in der Ehre eine große Rolle spielt. Größere Spannungen treten gewöhnlich zwischen dem Wert der Ehre und anderen sozialen und rechtlichen Regeln sozialer Einheiten auf. Die Konzentration der Untersuchung auf die demokratische Polis Athen in klassischer Zeit bietet sich aus mehreren Gründen an. Zum einen waren es die ehrenhaften Athener selbst, die eine politische Ordnung schufen, die sich mit einigen Verhaltensmaximen des nach wie vor äußerst wichtigen Wertes der Ehre schwer vereinbaren ließ. Zum anderen erforderte und flirderte die athenische Demokratie ein hohes Maß an aktiver Beteiligung und latenter Loyalität ihrer Bürger sowie an stetiger Reflexion der entstandenen politischen Möglichkeiten. Die Konstellation der Ehre als dem überragenden gesellschaftlichen Wert und der demokratischen Polis als einer populären Ordnung, deren Regeln und Gesetze von vielen getragen wurden, erzeugte große Reibungsflächen. Auf der anderen Seite enthielt die Vorstellung von Ehre durchaus Elemente, die der Demokratisierung der athenischen Bürger Vorschub leisteten. Das Spannungsfeld zwischen den normativen Ansprüchen der Ehre und der Polis lässt sich in Athen besonders gut abstecken. Die Analyse des Verhältnisses, in dem die Ehre und die Polis in klassischer Zeit zueinander standen, verspricht einen ergiebigen Beitrag zum Verständnis der athenischen Demokratie, die in einem von Ehre geprägten sozialen Umfeld geschaffen und aufrechterhalten wurde. Denn die Ehre und die Polis bildeten die zwei Pole, nach denen die athenischen Bürger ihr Verhalten ausrichteten. Zu analytischen Zwecken werden die Ordnungssysteme der Ehre und der Polis, deren Verbindung in der Praxis untersucht werden soll, hier strikt getrennt. Unter diesem methodischen Vorzeichen lassen sich die unvereinbaren und widersprüchlichen Elemente beider normativer Ordnungen besser identifizieren. Im Blickpunkt steht das Verhalten der athenischen Bürger innerhalb des normativen Spannungsfeldes der Ehre einerseits und der demokratischen Polis andererseits, wobei besonders das Miteinander beider auf der Ebene der konkreten Handlungen interessiert. Da es sich bei der Ehre um das ältere Gut mit den länger validen normativen Ansprüchen handelt, ist davon auszugehen, dass sich die entwickelnde Demokratie in ihr Wertesystem eingepasst hat, so gut beide eben kompatibel waren. Die Offenheit und Wandlungsflhigkeit der demokratischen Ordnung äußert sich praktisch in der Pluralität der Meinungen und Reden Methodische Überlegungen II und der regen Diskussion öffentlicher Angelegenheiten, die das politische Tagesgeschäft prägten. Zwar basieren auch ehrenhafte Handlungen in einem nicht zu unterschätzenden Maße auf ihrer Interpretation, aber generell handelt es sich bei der Ehre um das behäbigere Ordnungsprinzip. Der Erklärungsbedarf in dem Prozess der Verknüpfung beider Regelwerke bezieht sich deshalb primär auf die Ehre, deren Rolle in dem viel besser erforschten Kontext der athenischen Demokratie untersucht werden soll. 2 Die Einleitung gliedert sich wie folgt: Zunächst werden einige methodische Überlegungen angestellt und die zentralen Prämissen der Arbeit erörtert (I). Darauf folgt die Klärung des komplexen Begriffes der Ehre (2). Anschließend werden die Ehre und die Polis als normative Ordnungen gefasst und einander gegenüber gestellt (3). Hier hat auch die Forschung zur Ehre in Athen und zur athenischen Demokratie ihren Platz. Die Anwendung des theoretischen Konzeptes auf den Untersuchungsgegenstand erfolgt anband der habituellen Formen: Es gilt, die konkreten Bezugsfelder innerhalb der athenischen Gesellschaft abzustecken, in denen das Verhalten der Athener analysiert werden soll, und die wichtigsten Fragen aufzuwerfen, die im Laufe der Untersuchung zu beantworten sind (4). Eine Diskussion der Quellen schließt sich den jeweiligen Bezugsgebieten an. I. Methodische Überlegungen Ehre ist ein soziales Konstrukt und gestaltet die gedachte Ordnung1 einer Gesellschaft. Die Vorstellung von Ehre ergibt sich nicht aus einer bestimmten vorgefundenen Ordnung der Lebenswelt, sondern Ehre wird geschaffen, um zu einer sinnhaften Ordnung zu gelangen. Infolgedessen kann Ehre nicht allgemeingültig definiert werden. Sie ist geprägt von der spezifischen Lebenswelt einer Gesellschaft, die sie dem Einzelnen sinnhaft verftlgbar machen soll. Der negative Befund bei dem Versuch der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs Ehre bedeutet nicht, dass sie keinen Inhalt hat, sondern dass er abhängig ist von der Interpretation derer, die sich dem Wert der Ehre verpflichtet fllhlen. 4 Offensichtlich muss ihr nicht ein bestimmter 2 Ehre taucht in der Forschung regelmlßig als wichtiger Einflussfaktor neben anderen auf. wenn es um die Werte der Athener oder um die Bedingungen filr soziale Ungleichheit geht und wenn jene Wirkungskreise analysiert werden. auf die die Ehre einen prlgenden Einfluss ausübt. Eine speziell der Ehre gewidmete Monographie. die Ober die Auflistung und Exegese der einschllgigen Quellenstellen hinausginge. fehlt. 3 Vgl. zum Begriff der »gedachten Ordnung« M.R. lepsius. Nation und Nationalismus in Deutschland. in: ders .• Interessen. 232·246. 233. der sich hier (terminologisch E. Francis folgend) auf die Nation bezieht. 4 P. Bourdieu. Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfun a.M. 1976, 44; J. Pin-Rivers, Honour and Social Status, in: J.G. 12 Einleitung Wertekanon zugrunde liegen, der sich aus der Bedeutung oder inneren Logik des Begriffs ergibt bzw. filr ihre Funktion unerlässlich ist. Im Gegenteil: Gerade durch die inhaltliche Unbestimmtheit kann Ehre die Einhaltung der Normen und Werte einer Gesellschaft herbeifilhren, ohne selbst in Konflikt mit ihnen zu geraten. Die normative Kraft der Ehre zeigt sich auf formaler Ebene: Ehre erzeugt bestimmte Muster der Kommunikation und der sozialen Beziehungen, die typisch sind filr alle ehrenhaften Gesellschaften. Eine Konzeption von Ehre, die sich auf die athenische Gesellschaft anwenden lässt, muss deshalb auf formaler Ebene klare Kriterien entwickeln daftlr, was ehrenhaftes Verhalten ist, und inhaltlich einen gewissen Raum ftlr die spezifisch athenische Variante der Vorstellung von Ehre offenlassen. Die Vielschichtigkeil des Phänomens ))Ehre« schlägt sich auch auf sprachlicher Ebene in einer entsprechenden Menge von Ausdrucksmöglichkeiten nieder. Um der Komplexität des Phinomens sprachlich gerecht zu werden, müsste konsequent vom ))Komplex der Ehre« gesprochen werden, der die begrifflichen, konzeptuellen, normativen, handlungsleitenden und ideellen Aspekte (sowie jene Faktoren, die davon in den Bann gezogen werden) erfasst. Um stilistische oder syntaktische Verrenkungen zu vermeiden, wird im Folgenden dort verkürzt von ))Ehre« gesprochen werden, wo dieses Konglomerat an Eigenschaften mitgedacht ist. Allein der Begriff der ))Ehrungen« hat eine besser fassbare Bedeutung: Er bezeichnet die konkreten Auszeichnungen, mit denen die Athener ihre Mitbürger in einem öffentlichen Akt versehen. 5 Auch bei den Griechen ist die Wirkung der Ehre begrifflich fassbar. Die Untersuchung der verschiedenen Benennungs- und Bedeutungsmöglichkeiten von Ehre bietet einen quellennahen Ansatz zur Klärung von Ehre bei den Athenern. Dieser methodische Zugang wird hier vernachlässigt werden. Denn eine vornehmlich philologische Analyse hätte den gravierenden Nachteil einer zu ausschließlichen Fokussierung auf die terminologische Ebene.' Gerade der Begriff der Ehre widersetzt sich jedoch einer allzu leichten Verbalisierung, sodass auf die Äußerungen der Athener in dieser Hinsicht wenig Verlass ist. 7 Weil Ehre in einem kommunikativen, band- Peristiany (Hg.). Honour and Shame. Tbe Values of Mediterranean Society. London 1966. 19-77. 27(. S Vgl. dazu die ausfllhrlichere Definition Kap. VI. 3 .• S. 254-257. 6 Eine ausftlhrliche. philologisch orientierte Analyse der Begrifflichkeil von Ehre bietet G. Steinkopf. Untersuchungen zur Geschichte des Ruhmes bei den Griechen. Diss. phil .. Halle a.d.S. 1937. 7 Vgl. F. Guttandin. Das paradoxe Schicksal der Ehre. Zum Wandel der adeligen Ehre und zur Bcdeunmg von Duell und Ehre ftlr den monarchischen Zenlralstaat, Bcrlin 1993, 27: »Das Wissen der Ehre ist wesentlich begriffslos« und Bourdieu. Entwurf. 43: »Das Wertsystem der Ehre wird Methodische Überlegungen 13 lungsorientierten Prozess von den Akteuren beständig aktualisiert werden muss, erfasst eine sozial- bzw. kulturgeschichtliche Analyse einen größeren Wirkungsradius dieses Phänomens. Sie macht die semantische Bandbreite und Flexibilität der Begriffe deutlich, mit denen die Athener ihre Verhaltensweisen als ehrenhaft bezeichnen. Besser als jede Übersetzung der verschiedenen, heute allesamt recht blutleeren Begriffe der Ehre filhrt eine Untersuchung des Verhaltens der Athener und seiner Interpretation durch sie vor, was ihnen Ehre bedeutet und was sie meinen, wenn sie von ihr sprechen. Als verbales Deutungsmuster ist Ehre nur dort relevant, wo es um die Begründung von Handlungen geht, wo also der Interpretationsspielraum ehrenhaften Verhaltens von den Athenern genutzt wird oder wo eine Debatte über die Ehre als ein Indikator gewertet werden kann dafiir, dass der Wert der Ehre grundsätzlich reflektiert bzw. in Zweifel gezogen wird. Eine theoretische Behandlung der Ehre in klassischer Zeit unternimmt Aristoteles. In seiner Rhetorik legt er dar, wie die Ehre des Einzelnen in Wechselwirkung mit den Affekten tritt. 8 Dabei beschränkt er sich jedoch auf die emotionale Dynamik und daraus resultierende Manipulierbarkeil der Hörer seiner rhetorischen Finessen. 9 Darüber hinausgehende Aspekte nimmt er selten in den Blick, sie sind nicht Thema seiner Abhandlung. Auch der Philosoph ist ein Mitglied der ehrenhaften athenischen Gesellschaft und kommt als solches über einen bestimmten Abstand zu den zeitgenössischen sozialen Verhältnissen nicht hinaus. Eine AufschlüsseJung der aristotelischen Darlegungen zum Ehrgefilhl und verwandten Phänomenen bietet ebenfalls eine originär griechische Vorstellung von Ehre, beschränkt den Blickwinkel aber zugleich auf sie. Um die Bestimmung der Perspektive, aus der die Ehre bei den Athenern betrachtet werden soll, nicht zeitgenössischen Auffassungen zu überlassen, erfolgt die Klärung des Begriffs zunächst unabhängig von der griechischen Gesellschaft. Als analytischer Bezugsrahmen bieten sich mit dem Phänomen der Ehre befass~e Untersuchungen aus dem Bereich der Anthropologie und Ethnologie an. Sie konzentrieren sich in der Regel auf überschaubare dörfliche Gesellschaften, in denen die Vorstellung von Ehre die Kommunikation und das soziale Leben der Bewohner prlgt. Diese Studien können eine Vorstellung davon vermitteln, worum es sich bei der Ehre überhaupt handelt. Gefragt ist dabei nicht nach einer möglichst zutreffenden Definition, sondern nach der Veranschaulichung der sozialen Dynamik, die Ehre entfaltet. Ihre Funktion ist die eines Erklärungsmodells, das einen begriftlieher •praktizien< als gedacht. und die Grammatik der Ehre kann den Handlungen Fonn geben, ohne selbst fonnulien werden zu müssen.« 8 Aristol. Rhet. II, 1-18. 9 Die psychische Dimension des Ehrgeßlhls ist sicherlich nicht die unwesentlichste, naturgemäß aber eine in den Quellen kaum fassbare. 14 Einleitung eben und theoretischen Rahmen stellt, innerhalb dessen anband der Quellen ein Bild der spezifisch griechischen Ehre ausgestaltet werden kann. Es gibt eine Vielzahl von anthropologischen Studien, die an sehr unterschiedlichen sozialen Einheiten illustrieren, was Ehre ist und wie eine durch Ehre geprägte Gesellschaft »funktioniert«. Die anthropologischen Untersuchungen bieten nicht nur ein geographisch weit gefasstes, sondern auch ein über verschiedene Jahrzehnte und Jahrhunderte sich spannendes Panorama der Lebenswelten von Gesellschaften, die durch Ehre strukturiert sind. 10 Die Fülle und Verschiedenartigkeit der Beschreibungen spiegeln den Facettenreichtum des Ehrbegriffs, der die Basis ganz unterschiedlich sich gestaltender sozialer Welten sein kann. 11 Gerade die Divergenz der untersuchten Gesellschaften im Hinblick auf andere Faktoren macht die durch Ehre geprägten Denk- und Handlungsmuster als solche evident. Denn ungeachtet aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Gesellschaften und der Heterogenität ihrer sozialen Normen lassen sich doch einige gemeinsame Züge beobachten, die sich aus der inneren Logik und als Konsequenz der Ehre ergeben. 10 Genannt seien hier nur einige der Wichtigsten, um einen Eindruck der Spannweite ihres Untersuchungsraumes zu geben: Bourdieu, Entwurf, untersucht den Zusammenbang von Ehre und Ehrgetnhl in der kabylischen Gesellschaft; J. du Boulay, Portrait of a Greek Mountain Village, Oxford 1974 und J. Campbell, Honour. Family and Patronage. A Study of Institutionsand Moral Values in a Greek Mountain Community, Oxford 1964 beschreiben die Beziehungs- und Handlungsmuster in kleinen griechischen Dörfern; wAhrend J. Schneider und P. Schneider, Culture and Political Economy in Western Sicily, New York 1976, dasselbe tnr Sizilien bzw. Kreta tun: M. Herzfehi. The Poetics of Manhood. Contestand ldentity in a Cretan Mountain Village, Princeton 1985. J.G. Peristiany, Honour and Shame in a Cypriot Highland Village, in: ders. {Hg.), Honour and Shame. The Values ofMeditenanean Society. London 1966. 171-190 geht von einer zunlchst begrenzt phlnornenologischen Studie aus, um dann zu einer Obergreiferenden Einschätzung zu gelangen, vgl. ders.,lntroduction, in: ders., Values, 9-17. Ebenso ist es Pitt-Rivers. Status. um eine Konzeptualisierung des EhrbegritTs auf der Grundlage anthropologischer Studien zu tun. Berücksichtigt wurden ebenso einige soziologische und sozialhistorische Arbeiten, die sich mit der Ehre oder ihr verwandten Themen, wie etwa dem Duell, beschäftigen. II Die Tatsache, dass sich das Studienobjekt der meisten dieser Arbeiten im Mittelmeerraum - so groß dieser auch ist - lokalisieren llsst, hat in der Forschung zur umstrittenen These der Einheitlichkeit des Mittelmeerraumes aufgrund eben dieser tradierten gesellschaftliche Kraft der Ehre gefnhrt. Vgl. zur Diskussion um die Universalillt des Konzepts der Ehre im Mittelmeerraum den Sammelband Peristiany, Honour, dem diese These zugrunde liegt. sowie kritisch dazu E. Saurer. Auf der Suche nach Ehre und Scham. Europa. sein mediterraner Raum und die Mittelmeeranthropologie, in: Historische Anthropologie 10,2 {2002), 206-224; M. Herzfeld. The Horns of the Mediterraneanist Dilemma, in: American Ethnologist II {1984 ), 439-454; J. Davis, People of the Mediterranean. An essay in comparative social anthropology, London 1977. Studien wie jene von M. Asano-Tamanoi, Sharne, Family, and State in Catalonia and Japan. in: D.D. Gilmore (Hg.), Honor and Shame and the Unity of the Mediterranean, Washington 1987, 104-120 oder U. Frevert. >>Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Diß'ef!:IIZCII in der Modeme. MOnehen 199S belegen. dass die typischen Interaktionsmuster ehrenhafter Gesellschaften nicht Teil eines bestimmten Kulturraumes sein müssen. Methodische Überlegungen 15 Die einzelnen Arbeiten konzentrieren sich auf die Beschreibung und Interpretation von bestimmten Verhaltensweisen und Kommunikationsarten, die das Miteinander in den jeweiligen Gesellschaften ausmachen. Denn die Ehre einer Person lässt sich nur in Gegenwart anderer aktualisieren und der Anspruch eines Mannes auf Ehre zeigt sich durch ein entsprechend ehrenhaftes Verhalten. Eine Untersuchung der athenischen Gesellschaft innerhalb des analytischen Bezugsrahmens anthropologischer Forschungen fragt danach, inwieweit sich in Athen Verhaltensweisen und Interaktionsmuster nachweisen lassen, wie sie typisch sind filr ehrenhafte Gesellschaften. Zu einem Nachteil dieses methodischen Vorgehens können die häufigen Analogieschlüsse geraten. Zusammen mit dem anthropologischen Fundament, das die allgemeinmenschliche Dimension sozialen Handeins unter bestimmten normativen Bedingungen betont, entsteht leicht die Gefahr der Reduzierung aller Vergleichsobjekte auf die auserkorenen Schlüsselkriterien. Um eine derartige Nivellierung zu vermeiden, sollen die Besonderheiten Athens inmitten vieler ähnlicher Charakteristika aller ehrenhaften Gesellschaften immer wieder hervorgehoben werden. Die Vorteile dieses Ansatzes zeigen sich vor allem in der veränderten Perspektive auf die athenische Polis der klassischen Zeit: Einerseits entsteht mit der Behandlung der Athener als einer vormodernen ehrenhaften Gesellschaft ein Verfremdungseffekt, der zu neuen Einsichten filhren kann und andererseits wird das Verhalten der Athener durch die Einbindung in übergreifende Sinnzusammenhänge anschaulicher. Letzteres leisten die anthropologischen Darstellungen der Wirkungsweise von Ehre. Sie liefern eine grundlegende Vorstellung davon, was Ehre filr die Art der Vergesellschaftung und den Lebensstil des Einzelnen in einer sozialen Einheit bedeuten kann. Dies umso mehr, als es sich bei der Ehre um ein dem modernen Forschenden relativ erlebnisfernes Konzept einer fremden Gesellschaft handelt.12 Das phänomenologische Fundament der anthropologischen Arbeiten verweist auf die Lebensbereiche, in denen die Erscheinungsformen und die Wirkung von Ehre am besten zu identifizieren sind. Ohne einen solchen Verweis würde sich das Aufzeigen eines derart abstrakten Begriffs wie der Ehre als allzu schwierig erweisen. Durch die anthropologischen Studien soll deshalb geklärt werden, wo sich Ehre manifestiert und was dabei eigentlich zu suchen ist. 12 Vgl. P.L. Berger. Über den BegritT der Ehre und seinen Niedergang. in: ders .• B. Berger und H. Kellner (Hg), Das Unbehagen in der Modemitlt. Frankfun a.M. 1987, 7S-8S: »Die heutige Leugnung der Realitlt von Ehre und Ehrverletzungen ist so sehr Teil einer als selbstverstlndlich empfundenen Welt. dass es einer bewussten Anstrengung bedarf, dies Oberhaupt als ein Problem zu sehen«. 76. 16 Einleitung 2. Der Begriff der Ehre Trotz der Verschiedenartigkeit der einzelnen durch Ehre verfassten Gesellschaften lassen sich einige Züge ausmachen, die ihnen allen zu Eigen sind. Bei der Betrachtung der Studien zu diesen sozialen Einheiten flllt zunächst auf, dass die Forschungsobjekte durchweg - aus der Sicht des modernen westlichen Menschen -der gleichen evolutionlren Kategorie angehören: Es handelt sich stets um so genannte vormoderne Gesellschaften. Ihre Ökonomie ist vorwiegend agrarisch orientiert und infrastrukturell schwach. Ihre politische Einbindung ist unzuverlässig, d. h. die Staats- oder Verfassungsform ist relativ unwichtig. da sie in nur geringem Maße auf die Organisation der kleinen Gemeinschaften rückwirkt Kulturell und sozial schließt sich der Horizont an den Grenzen des Dorfes. Kennzeichnend filr diese Gesellschaften ist damit in erster Linie ein eklatanter Mangel dessen, was als die Errungenschaften der Modeme gelten. Dazu werden ebenso schlagkräftig wie vage die umfassende Bürokratisierung und Institutionalisierung aller Lebensbereiche, die Individualisierung und Anonymität als Erfahrungen des Individuums und die Mobilität und Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung als soziale Merkmale gezäh)t.D Vormodeme Strukturen und der Einfluss von Ehre scheinen hier Hand in Hand zu gehen. Tatsächlich erweisen sich einige Charakteristika, die typisch ftlr diese Art der Vergesellschaftung sind, als notwendige Bedingungen ftlr das Vorhandensein von Ehre. Sie stecken quasi das Terrain ab, auf dem Ehre als soziale Norm gedeihen kann. Eine der Bedingungen ist die buchstäblich überschaubare Größe der sozialen Einheiten. Ihre Mitglieder finden ihre signifikanten Anderen ausschließlich hier und kennen sich untereinander in einem Maße, das es jedem erlaubt, jeden beliebigen anderen persönlich zu kennen und über zumindest einen Teil seiner Biographie informiert zu sein.' 4 Die Klassifikation als Face-ta-face-Gesellschaft veranschaulicht diesen Sachverhalt. Die Folge davon ist eine umfassende soziale Kontrolle, die über die Einhaltung der 13 Berger, Begriff. analysiert den Niedergang der Ehre in der modernen Wc:lt. an deren Genese er folgende Faktoren beteiligt sieht: >~Technologie und Industrialisierung. Bürokratie, Verstädterung und Bevölkerungswachstwn. die enonne Zunahme an Kommunikation zwischen allen nur denkbaren Menschengruppen. soziale MobilitAt. die Pluralisierung der sozialen Wehen«, 82. Zum Problem des Begriffs >~Modeme« vgl. M.R. Lepsius, Soziologische Theoreme Ober die Sozialstruktur der >Modeme< und die >Modemisierung<, in: ders., Interessen. Ideen und Institutionen. Opladen 1990. 211-231. Er beuac:htet die Dimensionen der Differenzierung, der Mobilisierung, der Partizipation und der lnstitutionalisierung von Konflikten als Gradmesser ftlr die ModemisierungskapazitAt einer Gesellschaft. 230. 14 Vgl. J. Peristiany,lntroduction, in: ders., Honour. 9-17, II; Bourdieu, Entwurf, 28. Der Begriff der Ehre 17 sozialen Normen wacht, und eine nicht zu überschätzende Bedeutung des öffentlichen Raumes. 15 Die Öffentlichkeit als sozialer Raum aber ermöglicht erst die Existenz von Ehre. Denn es erfordert immer andere, um ehrenhaft zu sein. 16 Zwar kann der Einzelne seine Ehre als naturgemäß gegeben empfinden, doch dieses individuelle Ehrgefilhl besteht im Wesentlichen in dem Anspruch an die Mitmenschen, ihm seine Ehrenhaftigkeit zu bestätigen. 17 Nur im öffentlichen Raum und im Abschätzen der eigenen Ehre im Vergleich zu anderen, die denselben Anspruch erheben, kann die Ehre des Einzelnen in Kraft treten. Dass jemand überhaupt Ehre innehat, ist also weitgehend, wenn nicht gänzlich abhängig von der Zuschreibung durch andere. Die hohe Bedeutung der Öffentlichkeit gründet in der Bereitstellung eines Raumes, in dem die öffentliche Meinung gebildet und artikuliert werden kann. Grundsätzlich ist der öffentliche Raum den Männern vorbehalten. Als weiterer vormoderner, die Ehre begünstigender Umstand ist deshalb die streng patriarchale Gesellschaft zu nennen. Die Lebenswelt der Frauen ist auf den häuslichen Bereich begrenzt und überschneidet sich kaum mit den Wirkungskreisen der Männer, die sich im öffentlichen Raum behaupten müssen. Beide Geschlechter agieren entsprechend ihrer geschlechtsspezifisch gefassten Ehre. Ihre Rollen und sozialen Räume ergänzen sich komplementär." Schon diese beiden Bedingungen ehrenhafter Gesellschaften verdeutlichen, dass Ehre nicht nur bestimmte gesellschaftliche Strukturen erfordert, sondern dass diese Strukturen auch ihr Fortdauern gewährleisten können. Das Wechselverhältnis zwischen bestimmten gesellschaftlichen Grundgegebenheiten wie einer Face-to-face-Gesellschaft und patriarchalen Strukturen auf der einen Seite und der Ehre als dem sozial wichtigsten Wert auf der anderen Seite wirkt auch in umgekehrter Richtung: Ehre trägt zur Erhaltung JS Der Tenninus »ÖfTentlichkeitcc wird hier in seiner allllglichsten Bedeutung verwandt. Er bezieht sich auf jene Orte. zu denen kein kontrollierter Zugang besteht. wo also potentiell jeder sich aufhalten und angetroffen werden kann. Zu denken ist hier vor allem an Straßen und Plltze, die als Versammlungsorte der Mlnner in mediterranen Gesellschaften eine große Rolle spielen. Bezogen auf die athenische Gesellschaft steht der Begriff der »Öffentlichkeitcc als mlnnlicher DomiRe auch im Gegensatz zum >IÜikoscc, dem sozialen Raum der Frauen. 16 Vgl. Bourdieu, Entwurf, 26: »Das Gefllhl der Ehre wird vor den anderen gelebt.« Ähnlich Campbell. Honour, 304-306; Davis, People, 94; M. Dinges, Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie, in: K. Schreiner und G. Schwerboff (Hg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der frOhen Neuzeit. KGin 1995, 29-62, SO; C. Giordano: Mediterrane Ehrvorstellungen: archaisch, anachronistisch und doch immer aktuell, in: Soziologisches Jahrbuch 7,2 ( 1991 ). 113-138, 123fT.; Herzfeld, Poetics. 56-67; Schneider und Schneider, Culture. 88ff.; l. Vogt. Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften, in: dies. und A. Zingerle. F.hre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfun a.M. 1994, 291-314, 296. 17 Boulay, Portrait. I 08. 18 Vgl. Bourdieu. Entwurf, JS-43; Campbell, Honour, 274-280; Peristiany, Village, 182. 18 Einleitung bestimmter gesellschaftlicher Umstände bei. Dem nimmt auch die Tatsache nichts, dass der Begriff der Ehre, versuchte man ihn inhaltlich zu filllen, sich nicht als Garant einer bestimmten Ordnung der mit ihm verbundenen Werte erweist. Im Gegenteil ist der Inbegriff dessen, was unter Ehre verstanden wird bzw. was Ehre ausmacht. sehr variabel und von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Ehre kann nicht einheitlich mit bestimmten Werten oder Idealen verknüpft werden, deren Befolgung automatisch zu Ehre filhren würde. 19 Weder charakterliche Tugenden, noch die Geschlechtsidentität, die Herkunft oder der soziale Status einer Person gewährleisten sui generis das Innehaben von Ehre. Diese Faktoren können die Ehre einer Person llirdem oder beeinträchtigen, aber nicht wirklich inszenieren. 20 Ehre konstituiert sich auf der BOhne des öffentlichen Raumes über den sozialen Konsens. Deshalb werden persönliche Eigenschaften erst durch ehrenhafte Handlungen, an denen sie ursächlich oder resultativ beteiligt sein mögen, wirksam. Der Erfolg der Ehre als einem sozialen Ordnungsfaktor resultiert im Wesentlichen aus dem Umstand, dass Ehre als persönliches Attribut erst in der Zuschreibung durch andere real wird. Funktional verbindet Ehre die Werte einer Gesellschaft mit ihrer sozialen Struktur und bewirkt dadurch idealiter bei ihren Mitgliedern die Akzeptanz der sozialen Ungleichheiten. 2 ' Das Wechselverhältnis zwischen dem Anspruch einer Person auf Ehre und der 19 So beziehen sich Definitionen von Ehre eher auf ihre formalen als ihre inhaltlichen Aspekte. Nach Campbell. Honour. drückt der Begriff die Idee des Wertes aus: »social worth evaluated in a complex of competing groups and individuals«, 268; H. Reiner. Ehre. in: Historisches Wönerbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt/Basel 1972, 319-326: »Die Grundbedeutung ... des Begriffs war... : im Zusammenleben gegenOber einem anderen durch Won und Tat bekundetes Ansehen oder Achtung.<<. 319; Sehneider und Schneider. Culture, 86: •>Generally speaking. honor refers to a person's worth as judged by others. One's vinue. dignity, morality, and status constitute one's honor.«; Vogt und Zingerle. Aktualitit, 9 sprechen von einer >.Chiffie filr Universalien des gesellschaftlichen Lebenscc; J. Pin-Rivers, Honor, in: International Encyclopedia ofthe Social Seiences, Bd. 5, New York 1968, 503-510 verzichtet gAnzlieh auf eine Definition. 20 Über den Einfluss des materiellen Status auf die Ehrenhaftigkeit einer Person etwa bestehen in verschiedenen Gesellschaften divergente Auffassungen. Sie hingen ab von der Quelle des Reichturns einer Person und von der ihr zugesprochenen Möglichkeit. trotzmaterieller ZwAnge ein ehrenhaftes Verhalten an den Tag zu legen. Die Kabylen etwa sind der Auffassung. dass »Armut ganz und gar nicht im Widerspruch zur Achtbarkeil steht oder diese ausschließt. sondern im Gegenteil das Verdienst dessen. der besonders stark der Gefahr der Beleidigung ausgesetzt ist und sich trotz allem Respekt zu verschaffen weiß. nur noch vergrößert«, so Bourdieu. Entwurf. 34. Die Sarakatsani betrachten das Verhlltnis zwischen Reichtum und Ehre ebenso logisch vom entgegen gesetzten Standpunkt aus: »A poor man is dependent on others for employment. or favours, if bis family is to survive. He is not in a position to insist upon an equality in honour which. in any case. the community will not allow him«, Campbell. Honour, 273, vgl. ebd .• 298-300. Die Ehre eines reichen Mannes allerdings. dies sei angemerkt. wird nicht auf dieser grundsitzliehen Ebene diskutien. Er hat indes andere Möglichkeiten, sich durch sein Verhalten zu diskreditieren. 21 Pin-Rivers, Status. 36-38; ders .• Honor, 503; Zingerle, VorOberlegwJgen. 32; vgl. Freven. Mann. 169-176. Der Begriff der Ehre 19 Bestätigung der Berechtigung dieses Anspruchs durch andere Personen spielt dabei eine zentrale Rolle. 22 Zwischen ihnen vennittelt das ehrenhafte Verhalten, das von beiden Seiten als solches interpretiert werden muss. Jene Verhaltensweisen, die mit dem Prädikat der Ehrenhaftigkeit versehen sind, werden zu bevorzugten Handlungsaltemativen, weil sie mit der Sicherung oder Erhöhung des sozialen Status belohnt werden. Auf diese Weise legitimiert sich soziale Ungleichheit durch Ehre: Einerseits ist das Innehaben von Ehre Indikator fiir gesellschaftlich gutgeheißenes Verhalten, andererseits bewirkt Ehre als soziales Konstrukt die Anerkennung einer nicht mehr in Zweifel zu ziehenden Überlegenheit bestimmter Personen.n Um einen legitimen Anspruch auf Ehre stellen zu können, müssen sich die Mitglieder solcher Gesellschaften ein ehrenhaftes Verhalten an den Tag zu legen. Entscheidend ist das Wie, d. h. in welcher Fonn sieb jemand verhält, weniger, was er aus welchem Grund tut. Die Vorstellung von Ehre geht einher mit einem sozialen Wissen darum, wie ehrenhafte Interaktion sich abspielt. Die Kriterien dafilr sind fonnaler Natur und auf verschiedene Situationen übertragbar. Es gibt einige charakteristische habituelle Fonnen, welche die ehrenhafte Kommunikation und Interaktion sbukturieren und als solche kenntlich und interpretierbar machen. 22 Pitt-Rivers. Status. 22. bringt das Wechselverhlltnis auf die Formel: >>Honour feit becomes honour claimed and honour claimed becomes honour paid.«, vgl. Campbell, Honour, 291 und Bourdieu. Entwurf, 27f., der den Zusammenhang eher auf philosophisch-psychologischer Ebene beschreibt: >>Das EhrgefllJll ist das Fundament einer Moral, in der der Einzelne sich immer unter dem Blick der anderen begreift. wo der Einzelne die anderen braucht. um zu existieren, weil das Bild. das er sich von sich selbst macht, ununterscheidbar ist von dem Bild von sich, das ihm von den anderen zurliekgeworfen wird.cc 23 Bourdieu, Sinn, 236f.: Pitt-Rivers. Honor, 507f.: Vogt und Zingerle, AktualiiAt. 18. Tatsichlieh beruht die Akzeptanz der sozialen Überlegenheit ehrenhafter Personen nicht unwesentlich auf der FaktiziiAt der Macht. Hier kommen jene sekundlr statusbildenden Faktoren ins Spiel, die Ehre beR)rdem können. Sie mögen realiter filr eine soziale Vorrangstellung verantwonlich sein, legitimien wird diese jedoch durch die Ehre. Denn wenn ehrenhaftes Verhalten das Kriterium filr einen hohen sozialen Status ist, so gilt umgekehrt. dass sich Personen, die einen hohen sozialen Status haben, ehrenhaft verhalten. vgl. Pitt-Rivers, Status, 23: »lf honour establishes status, the converse is also true, and where status is ascribed by birth, honour derives not only from individual reputation but from antecedence.cc Unter dieser Prlmisse wird Personen, die - aus welchen Gründen auch immer - offensichtlich privilegien sind, ein ehrenhaftes Verhalten unterstellt, womit wiederum das einzige Kriterium erfilllt ist. nach dem jemand Ehre innehat. Solange die mit der Idee von Ehre verbundene Vorstellung der nalilrlichen Überlegenheit ehrenhafter Personen besteht. wird ihr Führungsanspruch als selbstverstlndlich, weil durch ihre besonderen Flhigkeiten legitimiert. akzeptien. Aus diesem Grunde erweist sich eine durch Ehre strukturiene Gesellschaft als sehr stabil. ln diesem Konstruktcharakter von Ehre gründet andererseits auch die Möglichkeit der Verinderuns der gesellschaftlichen Verhlltnisse: Da die Vorstellung und Zuschreibuns von Ehre auf dem Konsens aller Mitglieder einer Gesellschaft beruht. ist genau dies der einzige Weg sie umzudefinieren. 20 Einleitung 3. Die Vorstellung der Ehre und die Ordnung der Polis Diese habituellen Fonneo lassen sich regelmäßig in nahezu allen durch Ehre strukturierten Gesellschaften ausmachen. Es sind jene Besonderheiten, die Anthropologen bevorzugt beschreiben, wenn sie die typische Dynamik des sozialen Miteinanders aufzeigen wollen. Einerseits, weil sie sich phänomenologisch gut beobachten und wiedergeben lassen, andererseits, weil sie die auffälligsten Andersartigkeiten zu modernen Gesellschaften bilden. Sie ergeben sich logisch aus der Vorstellung von Ehre und aus der Funktionsweise ihres Konzeptes. Deshalb können sie als Kriterien filr ehrenhaftes Verhalten identifiziert und als in jeder ehrenhaften Gesellschaft präsent angenommen werden. So auch in der ehrenhaften Gesellschaft der Athener im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. Um die Bedeutung der Ehre filr die Athener festzustellen. sind die habituellen Formen ehrenhaften Verhaltens aufzudecken. Das oben entwickelte Konzept der Ehre als sozialer Norm, die bestimmte Handlungen favorisiert hat den Zweck, jene Verhaltensmuster identifizieren zu können. die durch Ehre geprägt sind. Es setzt einige klar umrissene gesellschaftliche Bedingungen voraus, die relativ problemlos auf die Antike übertragen werden können. So handelt es sich bei der athenischen Polis zweifellos um eine relativ autonome soziale Einheit, die als Face-ta-face-Gesellschaft klassifiziert werden kann/~ in der die Öffentlichkeit damit eine große Rolle spielt und die streng patriarchal organisiert ist. Diese gesellschaftlichen Grundbedingungen stellen die athenische Gesellschaft in eine Reihe mit anderen ehrenhaften Gemeinwesen. Die Prämisse, dass die Athener sich ehrenhaft verhielten, rechtfertigt sich zunächst hieraus. Das ehrenhafte Verhalten und die spezifische Ausprägung von Ehre bei den Athenern gilt es im Folgenden zu belegen. Im Gegensatz zu anderen ehrenhaften Gesellschaften steht in der athenischen die politische Ordnung in hohem Ansehen und prägt das alltägliche, soziale Leben der Athener. Die demokratische Polis wird von einer großen Mehrheit der Bürger mitgestaltet und ihre Gesetze und normativen Anfor24 Gegen den Einwand, dass die Einwohner Athens ßlr eine Face-ta-face-Gesellschaft zu zahlreich waren. lassen sich zwei Argumente anfllhren: Erstens erfolgte die Sozialisation der einzelnen Athener in den Demen, so dass die Erfahrung, in einer Oberschaubaren sozialen Einheit zu leben. fest verankert gewesen sein muss. Und zweitens sind es auf Polisebene die immergleichen Bllrger. die in den Quellen genannt werden und notorisch von sich reden machen. so dass sie jedermann bekannt sein mllßten. Ähnlich argumentiert D. Cohen. lntroduc:tion, in: ders. (Hg .. unter Mitarbeit von E. MOIIer-Luckner). Demokratie. Recht und soziale Kontrolle im klassischen Athen. München 2002. V-IX.