Die Ehre in den Zeiten

Werbung
Christel Brüggenbrock
Die Ehre in den Zeiten
der Demokratie
Das Verhältnis von athenischer Polis
und Ehre in klassischer Zeit
Vandenhoeck & Ruprecht
Historische Semantik
Herausgegeben von
Gadi Algazi, Bemhard Jussen,
Christian Kiening, Klaus Krüger
und Ludolf Kuchenbuch
Band8
Vandenhoeck & Ruprecht
Christel Brüggenbrock
Die Ehre in den Zeiten
der Demokratie
Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre
in klassischer Zeit
Vandenhoeck & Ruprecht
Umschlogabbildlmg:
Hllmenkampf. Randschale
Cl Slaallichc Antikensammlungen und Glypcodlck MOneben
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliodlek
Die Deutsche Nationalbibliodlck verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet Ober <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 10: 3-S2S-36708·2
ISBN 13: 978-3-S2S-36708-7
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Bochringer lngelhcim Stiftung ftlr
Geisteswissenschaften in lngelhcim am Rhein sowie
der FAZIT-Stiftung, Frankfurlam Main.
Cl 2006, Vandcnhocck &: Ruprecht GmbH &: Co. KG. Göttingen.
Internet: www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Flllcn bedarf der vorbcrigcn
schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu§ S2a UrhG: Weder das Werk noch
seine Teile dOrfcn ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zuglnglich gernacht werden. Dies gilt auch bei einer cntsprKhcndcn Nutzung ftlr Lehr- und
Untarichtszwecke. Printed in Gcrmany.
Druck und Bindung:
~Huben &:
Co. Göttingen
Gedruckt auf altcrunpbcstlndigcm Papier.
Inhalt
Vorwort ..................................................................................................
7
I.
Einleitung: Ehre und Polis ..............................................................
9
I. Methodische Überlegungen .......................................................
II
2. Der Begriff der Ehre ..................................................................
16
3. Die Vorstellung der Ehre und die Ordnung der Polis................
20
4. Die Athener als Ehrenmänner ....................................................
27
Die Ehre der Homerischen Helden.................................................
40
111. Der Agon als Wettkampf um Ehre.................................................
61
I. Die Geburt der Griechen aus dem Geiste des Agonalen ...........
64
2. Im Wettlaufzur Ehre:
Die athenischen Olympioniken ..................................................
82
II.
3. Das Stadion der Ehre:
Athenische Ehrenmänner in Olympia ........................................ I 00
4. Der Agon als Schau-Spiel um Ehre:
Hahnenkämpfe im Dionysostheater ........................................... 127
Resümee: Das agonale Verhalten der Athener ............................... 140
IV. Nike ist eine Frau! Das andere Geschlecht der Ehre...................... 143
V.
Die fragile Gleichheit der ehrenhaften Polisbürger ....................... 161
I. Ehre als Bedrohung der Polis:
Das Phänomen der Hybris ......................................................... 163
2. Die Polis als Bedrohung der Ehre:
Atimie als Schande .................................................................... 181
Resümee: Gleichheit und Ungleichheit in der Polis ...................... 192
6
Inhalt
VI. Die ehrenhafte Art der Konfliktfilhrung: Rache oder Recht? . .. ..... 193
I. Die Ehre vor Gericht:
Meidias, Konon und Eratosthenes ............ ................................. 205
2. Die Ehre auf der Straße:
Simon, Nikostratos und Euergos ............................................... 236
3. Die Ehre (in) der Polis:
Demosthenes, weitere Bürger und ein Invalide ........... .............. 265
Resümee: Die Verbindung von Recht und Rache .. .............. .. ........ 306
VII. Zusammenfassung: Das Zusammenspiel von Ehre und Polis ....... 309
Anhang .................................................................................................... 321
Abkürzungen .................................................................................. 321
Quellen- und Literaturverzeichnis ........ .... .................. .. ........ .... .. ... . 322
Register ........................................................................................... 346
Vorwort
Ehre, wem Ehre gebührt: An dieser Stelle möchte ich jenen danken, die zur
Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben. Sie wurde im Juli 2003 als
Dissertation von der Fakultät filr Geschichtswissenschaft und Philosophie
der Universität Bietefeld angenommen und für die Druckfassung an einigen
Stellen überarbeitet und aktualisiert.
Winfried Schmitz danke ich für seine stete Förderung und Diskussionsbereitschaft und fiir den großen Freiraum, den er mir bei der Wahl thematischer Schwerpunkte und Akzente ließ. Er bewahrte mich vor allzu phantasiereichen Exkursen in quellenarme Gebiete und gab mir zahlreiche Anregungen, von denen das Kapitel zu den Hahnenkämpfen nur eine ist. Tassilo
Schmitt danke ich besonders herzlich: Er hat meine Studien seit meinem
ersten Semester mit fachkundigem Interesse und inspirierenden Gesprächen
begleitet. Ohne seine Leidenschaft für die Alte Geschichte und sein Vertrauen in mich und meine Arbeit wäre dieses Buch nicht entstanden.
Für viele gute Ratschläge und eine allzeit kritische Haltung meiner Arbeit gegenüber danke ich Oliver Müller; er hat das Werk häufiger gelesen
als jeder andere. Wertvolle Kritik und wichtige Hinweise verdanke ich auch
Mischa Meier, der mich vor einigen dummen Fehlern bewahrte. Für die
teilnehmende Begleitung des Schaffensprozesses gerade in kritischen Phasen möchte ich Wolfgang Will und meinen ehemaligen Bietefelder Kollegen danken.
Die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Historische Semantik« verdanke
ich insbesondere Bernhard Jussen, der sich bei meiner Disputatio spontan
filr das Thema begeistern konnte. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag
gestaltete sich dank Dörte Rohwedder stets angenehm und professionell.
Die Geschwister Boehringer lngelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und die Fazit-Stiftung haben die Drucklegung der Arbeit dankenswerterweise großzügig unterstützt. Der Dissertationspreis der WestßllischLippischen Universitätsgesellschaft ehrte mich und trug ebenfalls zur Finanzierung bei.
Für Beistand in Rat und Tat - insbesondere in schwierigen Zeiten - danke ich meinen Eltern, meinen Geschwistern und meinen Freunden. Und
Giovanni Maccioni danke ich für alles.
St. Gallen, im Januar 2006
Christel Brüggenbrock
I. Einleitung: Ehre und Polis
Während der Belagerung Troias durch die Griechen wird Achilleus von
Agamemnon in seiner Ehre gekränkt. Achill verschanzt sich daraufhin mit
seinen Männern bei den griechischen Schiffen und verweigert die weitere
Teilnahme am Kampf. Nach einigen Tagen sendet Agamemnon Aias, 0dysseus und Phoinix zu ihm, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. Da die
Gesandten wissen, dass es filr Achill um seine Ehre geht, appelliert Odysseus an sein Ehrgefilhl und erinnert ihn an die Worte, die ihm sein Vater
Peleus mit auf den Weg gegeben hat: ou St IJ.EY«Ä.TttOpa 9UIJ.OV ioXElV
tv ott19tool" qnÄ.O<ppooUVJ'l 'YUP ciiJ,tivrov· ÄTt'YEIJ.EVal l)' fp18oc; KaKOIJ.TtXcivou, öcppa OE IJ,äÄ.Ä.ov tic.oo' 'AP'Ytic.ov TtiJ.EV vi01 t18t 'Yipovttc;. 1 Mit dem Hinweis auf die verbindlicheren Tugenden, die einen Mann
von Ehre auszeichnen sollten, setzt Odysseus einen alternativen Ehrbegriff
an die Stelle der Ehre des Achill, die sehr agonal und konfliktorientiert ist.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Rolle der Ehre bei den Athenern in
der klassischen Zeit. Sie untersucht die Beziehung zwischen den normativen Erwartungen der Ehre und den Ansprüchen der demokratischen Polis
an das Verhalten eines Atheners. Wie spannungsreich dieses Verhältnis
zwischen der Ehre und dem Gemeinwesen sein kann, deutet sich in obiger
Szene bereits an. Das beschriebene Verhalten der homerischen Helden ist
geeignet, einige wichtige Aspekte von Ehre zu verdeutlichen, deren Wirkung sich nicht auf die homerische Gesellschaft beschränkt. Vor einigen
aus der Vorstellung von Ehre resultierenden Problemen stehen die Athener
auch in klassischer Zeit.
Der Verlauf des Streits zwischen Achill und Agamemnon zeigt zunächst
die Bedeutung der Ehre eines Mannes. Das Verhalten eines Ehrenmannes
orientierte sich maßgeblich an seiner Vorstellung von Ehre. Der Ehrbegriff
umfasste dabei verschiedene ehrenhafte Verhaltensmuster, so etwa die
stetige Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit anderen Ehrenmännern und
eine schnelle Erregung von Konflikten, wenn das Ehrgefiihl betroffen war,
aber auch die Anerkennung der Ehre von Statusgleichen und den reziproken
Austausch von Gaben. Als ehrenhaft galten verschiedene, untereinander
auch widersprüchliche Verhaltensweisen, die in einer gegebenen Situation
I Hom. II. 9, 2SS-2S9: »Du aber halte den großherzigen Mut fest in der Brust. denn Freundlichkeit ist besser! Laß ab von dem unheilstiftenden Streit, so werden mehr dich ehren die Argeier,
die Jungen wie auch die Alten!cc Übersetzung W. Schadewaldt.
10
Einleitung
eine Mehrzahl von ehrenhaften Handlungen ermöglichten. Das Urteil darüber, was eine ehrenhafte Handlung ausmachte, sprachen signifikante Andere, wie die Freunde des Achill oder sein Vater und die öffentliche Meinung, hier in Gestalt der Achaier. Als handlungsleitender Wert war die Ehre
fllr die Griechen so entscheidend, dass Achill um seiner Ehre willen die
Gemeinschaft im Stich ließ, deren höchster Wert die Ehre darstellte.
Die heterogenen Verhaltensmuster der Ehre sind das Problem jeder Gesellschaft, in der Ehre eine große Rolle spielt. Größere Spannungen treten
gewöhnlich zwischen dem Wert der Ehre und anderen sozialen und rechtlichen Regeln sozialer Einheiten auf. Die Konzentration der Untersuchung
auf die demokratische Polis Athen in klassischer Zeit bietet sich aus mehreren Gründen an. Zum einen waren es die ehrenhaften Athener selbst, die
eine politische Ordnung schufen, die sich mit einigen Verhaltensmaximen
des nach wie vor äußerst wichtigen Wertes der Ehre schwer vereinbaren
ließ. Zum anderen erforderte und flirderte die athenische Demokratie ein
hohes Maß an aktiver Beteiligung und latenter Loyalität ihrer Bürger sowie
an stetiger Reflexion der entstandenen politischen Möglichkeiten. Die
Konstellation der Ehre als dem überragenden gesellschaftlichen Wert und
der demokratischen Polis als einer populären Ordnung, deren Regeln und
Gesetze von vielen getragen wurden, erzeugte große Reibungsflächen. Auf
der anderen Seite enthielt die Vorstellung von Ehre durchaus Elemente, die
der Demokratisierung der athenischen Bürger Vorschub leisteten. Das
Spannungsfeld zwischen den normativen Ansprüchen der Ehre und der
Polis lässt sich in Athen besonders gut abstecken.
Die Analyse des Verhältnisses, in dem die Ehre und die Polis in klassischer Zeit zueinander standen, verspricht einen ergiebigen Beitrag zum
Verständnis der athenischen Demokratie, die in einem von Ehre geprägten
sozialen Umfeld geschaffen und aufrechterhalten wurde. Denn die Ehre und
die Polis bildeten die zwei Pole, nach denen die athenischen Bürger ihr
Verhalten ausrichteten. Zu analytischen Zwecken werden die Ordnungssysteme der Ehre und der Polis, deren Verbindung in der Praxis untersucht
werden soll, hier strikt getrennt. Unter diesem methodischen Vorzeichen
lassen sich die unvereinbaren und widersprüchlichen Elemente beider normativer Ordnungen besser identifizieren. Im Blickpunkt steht das Verhalten
der athenischen Bürger innerhalb des normativen Spannungsfeldes der Ehre
einerseits und der demokratischen Polis andererseits, wobei besonders das
Miteinander beider auf der Ebene der konkreten Handlungen interessiert.
Da es sich bei der Ehre um das ältere Gut mit den länger validen normativen Ansprüchen handelt, ist davon auszugehen, dass sich die entwickelnde
Demokratie in ihr Wertesystem eingepasst hat, so gut beide eben kompatibel waren. Die Offenheit und Wandlungsflhigkeit der demokratischen
Ordnung äußert sich praktisch in der Pluralität der Meinungen und Reden
Methodische Überlegungen
II
und der regen Diskussion öffentlicher Angelegenheiten, die das politische
Tagesgeschäft prägten. Zwar basieren auch ehrenhafte Handlungen in einem nicht zu unterschätzenden Maße auf ihrer Interpretation, aber generell
handelt es sich bei der Ehre um das behäbigere Ordnungsprinzip. Der Erklärungsbedarf in dem Prozess der Verknüpfung beider Regelwerke bezieht
sich deshalb primär auf die Ehre, deren Rolle in dem viel besser erforschten
Kontext der athenischen Demokratie untersucht werden soll. 2
Die Einleitung gliedert sich wie folgt: Zunächst werden einige methodische Überlegungen angestellt und die zentralen Prämissen der Arbeit erörtert (I). Darauf folgt die Klärung des komplexen Begriffes der Ehre (2).
Anschließend werden die Ehre und die Polis als normative Ordnungen
gefasst und einander gegenüber gestellt (3). Hier hat auch die Forschung
zur Ehre in Athen und zur athenischen Demokratie ihren Platz. Die Anwendung des theoretischen Konzeptes auf den Untersuchungsgegenstand erfolgt
anband der habituellen Formen: Es gilt, die konkreten Bezugsfelder innerhalb der athenischen Gesellschaft abzustecken, in denen das Verhalten der
Athener analysiert werden soll, und die wichtigsten Fragen aufzuwerfen,
die im Laufe der Untersuchung zu beantworten sind (4). Eine Diskussion
der Quellen schließt sich den jeweiligen Bezugsgebieten an.
I. Methodische Überlegungen
Ehre ist ein soziales Konstrukt und gestaltet die gedachte Ordnung1 einer
Gesellschaft. Die Vorstellung von Ehre ergibt sich nicht aus einer bestimmten vorgefundenen Ordnung der Lebenswelt, sondern Ehre wird geschaffen,
um zu einer sinnhaften Ordnung zu gelangen. Infolgedessen kann Ehre
nicht allgemeingültig definiert werden. Sie ist geprägt von der spezifischen
Lebenswelt einer Gesellschaft, die sie dem Einzelnen sinnhaft verftlgbar
machen soll. Der negative Befund bei dem Versuch der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs Ehre bedeutet nicht, dass sie keinen Inhalt hat, sondern dass er abhängig ist von der Interpretation derer, die sich dem Wert der
Ehre verpflichtet fllhlen. 4 Offensichtlich muss ihr nicht ein bestimmter
2 Ehre taucht in der Forschung regelmlßig als wichtiger Einflussfaktor neben anderen auf.
wenn es um die Werte der Athener oder um die Bedingungen filr soziale Ungleichheit geht und
wenn jene Wirkungskreise analysiert werden. auf die die Ehre einen prlgenden Einfluss ausübt.
Eine speziell der Ehre gewidmete Monographie. die Ober die Auflistung und Exegese der einschllgigen Quellenstellen hinausginge. fehlt.
3 Vgl. zum Begriff der »gedachten Ordnung« M.R. lepsius. Nation und Nationalismus in
Deutschland. in: ders .• Interessen. 232·246. 233. der sich hier (terminologisch E. Francis folgend)
auf die Nation bezieht.
4 P. Bourdieu. Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfun a.M. 1976, 44; J. Pin-Rivers, Honour and Social Status, in: J.G.
12
Einleitung
Wertekanon zugrunde liegen, der sich aus der Bedeutung oder inneren
Logik des Begriffs ergibt bzw. filr ihre Funktion unerlässlich ist. Im Gegenteil: Gerade durch die inhaltliche Unbestimmtheit kann Ehre die Einhaltung
der Normen und Werte einer Gesellschaft herbeifilhren, ohne selbst in Konflikt mit ihnen zu geraten.
Die normative Kraft der Ehre zeigt sich auf formaler Ebene: Ehre erzeugt
bestimmte Muster der Kommunikation und der sozialen Beziehungen, die
typisch sind filr alle ehrenhaften Gesellschaften. Eine Konzeption von Ehre,
die sich auf die athenische Gesellschaft anwenden lässt, muss deshalb auf
formaler Ebene klare Kriterien entwickeln daftlr, was ehrenhaftes Verhalten
ist, und inhaltlich einen gewissen Raum ftlr die spezifisch athenische Variante der Vorstellung von Ehre offenlassen.
Die Vielschichtigkeil des Phänomens ))Ehre« schlägt sich auch auf
sprachlicher Ebene in einer entsprechenden Menge von Ausdrucksmöglichkeiten nieder. Um der Komplexität des Phinomens sprachlich gerecht zu
werden, müsste konsequent vom ))Komplex der Ehre« gesprochen werden,
der die begrifflichen, konzeptuellen, normativen, handlungsleitenden und
ideellen Aspekte (sowie jene Faktoren, die davon in den Bann gezogen
werden) erfasst. Um stilistische oder syntaktische Verrenkungen zu vermeiden, wird im Folgenden dort verkürzt von ))Ehre« gesprochen werden, wo
dieses Konglomerat an Eigenschaften mitgedacht ist. Allein der Begriff der
))Ehrungen« hat eine besser fassbare Bedeutung: Er bezeichnet die konkreten Auszeichnungen, mit denen die Athener ihre Mitbürger in einem öffentlichen Akt versehen. 5
Auch bei den Griechen ist die Wirkung der Ehre begrifflich fassbar. Die
Untersuchung der verschiedenen Benennungs- und Bedeutungsmöglichkeiten von Ehre bietet einen quellennahen Ansatz zur Klärung von Ehre bei
den Athenern. Dieser methodische Zugang wird hier vernachlässigt werden.
Denn eine vornehmlich philologische Analyse hätte den gravierenden
Nachteil einer zu ausschließlichen Fokussierung auf die terminologische
Ebene.' Gerade der Begriff der Ehre widersetzt sich jedoch einer allzu
leichten Verbalisierung, sodass auf die Äußerungen der Athener in dieser
Hinsicht wenig Verlass ist. 7 Weil Ehre in einem kommunikativen, band-
Peristiany (Hg.). Honour and Shame. Tbe Values of Mediterranean Society. London 1966. 19-77.
27(.
S Vgl. dazu die ausfllhrlichere Definition Kap. VI. 3 .• S. 254-257.
6 Eine ausftlhrliche. philologisch orientierte Analyse der Begrifflichkeil von Ehre bietet G.
Steinkopf. Untersuchungen zur Geschichte des Ruhmes bei den Griechen. Diss. phil .. Halle a.d.S.
1937.
7 Vgl. F. Guttandin. Das paradoxe Schicksal der Ehre. Zum Wandel der adeligen Ehre und zur
Bcdeunmg von Duell und Ehre ftlr den monarchischen Zenlralstaat, Bcrlin 1993, 27: »Das Wissen
der Ehre ist wesentlich begriffslos« und Bourdieu. Entwurf. 43: »Das Wertsystem der Ehre wird
Methodische Überlegungen
13
lungsorientierten Prozess von den Akteuren beständig aktualisiert werden
muss, erfasst eine sozial- bzw. kulturgeschichtliche Analyse einen größeren
Wirkungsradius dieses Phänomens. Sie macht die semantische Bandbreite
und Flexibilität der Begriffe deutlich, mit denen die Athener ihre Verhaltensweisen als ehrenhaft bezeichnen. Besser als jede Übersetzung der verschiedenen, heute allesamt recht blutleeren Begriffe der Ehre filhrt eine
Untersuchung des Verhaltens der Athener und seiner Interpretation durch
sie vor, was ihnen Ehre bedeutet und was sie meinen, wenn sie von ihr
sprechen. Als verbales Deutungsmuster ist Ehre nur dort relevant, wo es um
die Begründung von Handlungen geht, wo also der Interpretationsspielraum
ehrenhaften Verhaltens von den Athenern genutzt wird oder wo eine Debatte über die Ehre als ein Indikator gewertet werden kann dafiir, dass der
Wert der Ehre grundsätzlich reflektiert bzw. in Zweifel gezogen wird.
Eine theoretische Behandlung der Ehre in klassischer Zeit unternimmt
Aristoteles. In seiner Rhetorik legt er dar, wie die Ehre des Einzelnen in
Wechselwirkung mit den Affekten tritt. 8 Dabei beschränkt er sich jedoch
auf die emotionale Dynamik und daraus resultierende Manipulierbarkeil der
Hörer seiner rhetorischen Finessen. 9 Darüber hinausgehende Aspekte
nimmt er selten in den Blick, sie sind nicht Thema seiner Abhandlung.
Auch der Philosoph ist ein Mitglied der ehrenhaften athenischen Gesellschaft und kommt als solches über einen bestimmten Abstand zu den zeitgenössischen sozialen Verhältnissen nicht hinaus. Eine AufschlüsseJung der
aristotelischen Darlegungen zum Ehrgefilhl und verwandten Phänomenen
bietet ebenfalls eine originär griechische Vorstellung von Ehre, beschränkt
den Blickwinkel aber zugleich auf sie.
Um die Bestimmung der Perspektive, aus der die Ehre bei den Athenern
betrachtet werden soll, nicht zeitgenössischen Auffassungen zu überlassen,
erfolgt die Klärung des Begriffs zunächst unabhängig von der griechischen
Gesellschaft. Als analytischer Bezugsrahmen bieten sich mit dem Phänomen der Ehre befass~e Untersuchungen aus dem Bereich der Anthropologie
und Ethnologie an. Sie konzentrieren sich in der Regel auf überschaubare
dörfliche Gesellschaften, in denen die Vorstellung von Ehre die Kommunikation und das soziale Leben der Bewohner prlgt. Diese Studien können
eine Vorstellung davon vermitteln, worum es sich bei der Ehre überhaupt
handelt. Gefragt ist dabei nicht nach einer möglichst zutreffenden Definition, sondern nach der Veranschaulichung der sozialen Dynamik, die Ehre
entfaltet. Ihre Funktion ist die eines Erklärungsmodells, das einen begriftlieher •praktizien< als gedacht. und die Grammatik der Ehre kann den Handlungen Fonn geben,
ohne selbst fonnulien werden zu müssen.«
8 Aristol. Rhet. II, 1-18.
9 Die psychische Dimension des Ehrgeßlhls ist sicherlich nicht die unwesentlichste, naturgemäß aber eine in den Quellen kaum fassbare.
14
Einleitung
eben und theoretischen Rahmen stellt, innerhalb dessen anband der Quellen
ein Bild der spezifisch griechischen Ehre ausgestaltet werden kann.
Es gibt eine Vielzahl von anthropologischen Studien, die an sehr unterschiedlichen sozialen Einheiten illustrieren, was Ehre ist und wie eine durch
Ehre geprägte Gesellschaft »funktioniert«. Die anthropologischen Untersuchungen bieten nicht nur ein geographisch weit gefasstes, sondern auch ein
über verschiedene Jahrzehnte und Jahrhunderte sich spannendes Panorama
der Lebenswelten von Gesellschaften, die durch Ehre strukturiert sind. 10 Die
Fülle und Verschiedenartigkeit der Beschreibungen spiegeln den Facettenreichtum des Ehrbegriffs, der die Basis ganz unterschiedlich sich gestaltender sozialer Welten sein kann. 11 Gerade die Divergenz der untersuchten
Gesellschaften im Hinblick auf andere Faktoren macht die durch Ehre geprägten Denk- und Handlungsmuster als solche evident. Denn ungeachtet
aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Gesellschaften und der Heterogenität ihrer sozialen Normen lassen sich doch einige gemeinsame Züge beobachten, die sich aus der inneren Logik und als Konsequenz der Ehre ergeben.
10 Genannt seien hier nur einige der Wichtigsten, um einen Eindruck der Spannweite ihres
Untersuchungsraumes zu geben: Bourdieu, Entwurf, untersucht den Zusammenbang von Ehre und
Ehrgetnhl in der kabylischen Gesellschaft; J. du Boulay, Portrait of a Greek Mountain Village,
Oxford 1974 und J. Campbell, Honour. Family and Patronage. A Study of Institutionsand Moral
Values in a Greek Mountain Community, Oxford 1964 beschreiben die Beziehungs- und Handlungsmuster in kleinen griechischen Dörfern; wAhrend J. Schneider und P. Schneider, Culture and
Political Economy in Western Sicily, New York 1976, dasselbe tnr Sizilien bzw. Kreta tun: M.
Herzfehi. The Poetics of Manhood. Contestand ldentity in a Cretan Mountain Village, Princeton
1985. J.G. Peristiany, Honour and Shame in a Cypriot Highland Village, in: ders. {Hg.), Honour
and Shame. The Values ofMeditenanean Society. London 1966. 171-190 geht von einer zunlchst
begrenzt phlnornenologischen Studie aus, um dann zu einer Obergreiferenden Einschätzung zu
gelangen, vgl. ders.,lntroduction, in: ders., Values, 9-17. Ebenso ist es Pitt-Rivers. Status. um eine
Konzeptualisierung des EhrbegritTs auf der Grundlage anthropologischer Studien zu tun. Berücksichtigt wurden ebenso einige soziologische und sozialhistorische Arbeiten, die sich mit der Ehre
oder ihr verwandten Themen, wie etwa dem Duell, beschäftigen.
II Die Tatsache, dass sich das Studienobjekt der meisten dieser Arbeiten im Mittelmeerraum
- so groß dieser auch ist - lokalisieren llsst, hat in der Forschung zur umstrittenen These der
Einheitlichkeit des Mittelmeerraumes aufgrund eben dieser tradierten gesellschaftliche Kraft der
Ehre gefnhrt. Vgl. zur Diskussion um die Universalillt des Konzepts der Ehre im Mittelmeerraum
den Sammelband Peristiany, Honour, dem diese These zugrunde liegt. sowie kritisch dazu E.
Saurer. Auf der Suche nach Ehre und Scham. Europa. sein mediterraner Raum und die Mittelmeeranthropologie, in: Historische Anthropologie 10,2 {2002), 206-224; M. Herzfeld. The Horns
of the Mediterraneanist Dilemma, in: American Ethnologist II {1984 ), 439-454; J. Davis, People
of the Mediterranean. An essay in comparative social anthropology, London 1977. Studien wie
jene von M. Asano-Tamanoi, Sharne, Family, and State in Catalonia and Japan. in: D.D. Gilmore
(Hg.), Honor and Shame and the Unity of the Mediterranean, Washington 1987, 104-120 oder U.
Frevert. >>Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Diß'ef!:IIZCII in der Modeme.
MOnehen 199S belegen. dass die typischen Interaktionsmuster ehrenhafter Gesellschaften nicht
Teil eines bestimmten Kulturraumes sein müssen.
Methodische Überlegungen
15
Die einzelnen Arbeiten konzentrieren sich auf die Beschreibung und Interpretation von bestimmten Verhaltensweisen und Kommunikationsarten,
die das Miteinander in den jeweiligen Gesellschaften ausmachen. Denn die
Ehre einer Person lässt sich nur in Gegenwart anderer aktualisieren und der
Anspruch eines Mannes auf Ehre zeigt sich durch ein entsprechend ehrenhaftes Verhalten. Eine Untersuchung der athenischen Gesellschaft innerhalb
des analytischen Bezugsrahmens anthropologischer Forschungen fragt
danach, inwieweit sich in Athen Verhaltensweisen und Interaktionsmuster
nachweisen lassen, wie sie typisch sind filr ehrenhafte Gesellschaften.
Zu einem Nachteil dieses methodischen Vorgehens können die häufigen
Analogieschlüsse geraten. Zusammen mit dem anthropologischen Fundament, das die allgemeinmenschliche Dimension sozialen Handeins unter
bestimmten normativen Bedingungen betont, entsteht leicht die Gefahr der
Reduzierung aller Vergleichsobjekte auf die auserkorenen Schlüsselkriterien. Um eine derartige Nivellierung zu vermeiden, sollen die Besonderheiten Athens inmitten vieler ähnlicher Charakteristika aller ehrenhaften Gesellschaften immer wieder hervorgehoben werden.
Die Vorteile dieses Ansatzes zeigen sich vor allem in der veränderten
Perspektive auf die athenische Polis der klassischen Zeit: Einerseits entsteht
mit der Behandlung der Athener als einer vormodernen ehrenhaften Gesellschaft ein Verfremdungseffekt, der zu neuen Einsichten filhren kann und
andererseits wird das Verhalten der Athener durch die Einbindung in übergreifende Sinnzusammenhänge anschaulicher. Letzteres leisten die anthropologischen Darstellungen der Wirkungsweise von Ehre. Sie liefern eine
grundlegende Vorstellung davon, was Ehre filr die Art der Vergesellschaftung und den Lebensstil des Einzelnen in einer sozialen Einheit bedeuten
kann. Dies umso mehr, als es sich bei der Ehre um ein dem modernen Forschenden relativ erlebnisfernes Konzept einer fremden Gesellschaft handelt.12 Das phänomenologische Fundament der anthropologischen Arbeiten
verweist auf die Lebensbereiche, in denen die Erscheinungsformen und die
Wirkung von Ehre am besten zu identifizieren sind. Ohne einen solchen
Verweis würde sich das Aufzeigen eines derart abstrakten Begriffs wie der
Ehre als allzu schwierig erweisen. Durch die anthropologischen Studien soll
deshalb geklärt werden, wo sich Ehre manifestiert und was dabei eigentlich
zu suchen ist.
12 Vgl. P.L. Berger. Über den BegritT der Ehre und seinen Niedergang. in: ders .• B. Berger
und H. Kellner (Hg), Das Unbehagen in der Modemitlt. Frankfun a.M. 1987, 7S-8S: »Die heutige
Leugnung der Realitlt von Ehre und Ehrverletzungen ist so sehr Teil einer als selbstverstlndlich
empfundenen Welt. dass es einer bewussten Anstrengung bedarf, dies Oberhaupt als ein Problem
zu sehen«. 76.
16
Einleitung
2. Der Begriff der Ehre
Trotz der Verschiedenartigkeit der einzelnen durch Ehre verfassten Gesellschaften lassen sich einige Züge ausmachen, die ihnen allen zu Eigen sind.
Bei der Betrachtung der Studien zu diesen sozialen Einheiten flllt zunächst
auf, dass die Forschungsobjekte durchweg - aus der Sicht des modernen
westlichen Menschen -der gleichen evolutionlren Kategorie angehören: Es
handelt sich stets um so genannte vormoderne Gesellschaften. Ihre Ökonomie ist vorwiegend agrarisch orientiert und infrastrukturell schwach. Ihre
politische Einbindung ist unzuverlässig, d. h. die Staats- oder Verfassungsform ist relativ unwichtig. da sie in nur geringem Maße auf die Organisation der kleinen Gemeinschaften rückwirkt Kulturell und sozial schließt sich
der Horizont an den Grenzen des Dorfes.
Kennzeichnend filr diese Gesellschaften ist damit in erster Linie ein eklatanter Mangel dessen, was als die Errungenschaften der Modeme gelten.
Dazu werden ebenso schlagkräftig wie vage die umfassende Bürokratisierung und Institutionalisierung aller Lebensbereiche, die Individualisierung
und Anonymität als Erfahrungen des Individuums und die Mobilität und
Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung als soziale Merkmale gezäh)t.D
Vormodeme Strukturen und der Einfluss von Ehre scheinen hier Hand in
Hand zu gehen. Tatsächlich erweisen sich einige Charakteristika, die typisch ftlr diese Art der Vergesellschaftung sind, als notwendige Bedingungen ftlr das Vorhandensein von Ehre. Sie stecken quasi das Terrain ab, auf
dem Ehre als soziale Norm gedeihen kann.
Eine der Bedingungen ist die buchstäblich überschaubare Größe der sozialen Einheiten. Ihre Mitglieder finden ihre signifikanten Anderen ausschließlich hier und kennen sich untereinander in einem Maße, das es jedem
erlaubt, jeden beliebigen anderen persönlich zu kennen und über zumindest
einen Teil seiner Biographie informiert zu sein.' 4 Die Klassifikation als
Face-ta-face-Gesellschaft veranschaulicht diesen Sachverhalt. Die Folge
davon ist eine umfassende soziale Kontrolle, die über die Einhaltung der
13 Berger, Begriff. analysiert den Niedergang der Ehre in der modernen Wc:lt. an deren Genese er folgende Faktoren beteiligt sieht: >~Technologie und Industrialisierung. Bürokratie, Verstädterung und Bevölkerungswachstwn. die enonne Zunahme an Kommunikation zwischen allen nur
denkbaren Menschengruppen. soziale MobilitAt. die Pluralisierung der sozialen Wehen«, 82. Zum
Problem des Begriffs >~Modeme« vgl. M.R. Lepsius, Soziologische Theoreme Ober die Sozialstruktur der >Modeme< und die >Modemisierung<, in: ders., Interessen. Ideen und Institutionen.
Opladen 1990. 211-231. Er beuac:htet die Dimensionen der Differenzierung, der Mobilisierung,
der Partizipation und der lnstitutionalisierung von Konflikten als Gradmesser ftlr die ModemisierungskapazitAt einer Gesellschaft. 230.
14 Vgl. J. Peristiany,lntroduction, in: ders., Honour. 9-17, II; Bourdieu, Entwurf, 28.
Der Begriff der Ehre
17
sozialen Normen wacht, und eine nicht zu überschätzende Bedeutung des
öffentlichen Raumes. 15
Die Öffentlichkeit als sozialer Raum aber ermöglicht erst die Existenz
von Ehre. Denn es erfordert immer andere, um ehrenhaft zu sein. 16 Zwar
kann der Einzelne seine Ehre als naturgemäß gegeben empfinden, doch
dieses individuelle Ehrgefilhl besteht im Wesentlichen in dem Anspruch an
die Mitmenschen, ihm seine Ehrenhaftigkeit zu bestätigen. 17 Nur im öffentlichen Raum und im Abschätzen der eigenen Ehre im Vergleich zu anderen,
die denselben Anspruch erheben, kann die Ehre des Einzelnen in Kraft
treten. Dass jemand überhaupt Ehre innehat, ist also weitgehend, wenn
nicht gänzlich abhängig von der Zuschreibung durch andere. Die hohe
Bedeutung der Öffentlichkeit gründet in der Bereitstellung eines Raumes, in
dem die öffentliche Meinung gebildet und artikuliert werden kann.
Grundsätzlich ist der öffentliche Raum den Männern vorbehalten. Als
weiterer vormoderner, die Ehre begünstigender Umstand ist deshalb die
streng patriarchale Gesellschaft zu nennen. Die Lebenswelt der Frauen ist
auf den häuslichen Bereich begrenzt und überschneidet sich kaum mit den
Wirkungskreisen der Männer, die sich im öffentlichen Raum behaupten
müssen. Beide Geschlechter agieren entsprechend ihrer geschlechtsspezifisch gefassten Ehre. Ihre Rollen und sozialen Räume ergänzen sich komplementär."
Schon diese beiden Bedingungen ehrenhafter Gesellschaften verdeutlichen, dass Ehre nicht nur bestimmte gesellschaftliche Strukturen erfordert,
sondern dass diese Strukturen auch ihr Fortdauern gewährleisten können.
Das Wechselverhältnis zwischen bestimmten gesellschaftlichen Grundgegebenheiten wie einer Face-to-face-Gesellschaft und patriarchalen Strukturen auf der einen Seite und der Ehre als dem sozial wichtigsten Wert auf der
anderen Seite wirkt auch in umgekehrter Richtung: Ehre trägt zur Erhaltung
JS Der Tenninus »ÖfTentlichkeitcc wird hier in seiner allllglichsten Bedeutung verwandt. Er
bezieht sich auf jene Orte. zu denen kein kontrollierter Zugang besteht. wo also potentiell jeder
sich aufhalten und angetroffen werden kann. Zu denken ist hier vor allem an Straßen und Plltze,
die als Versammlungsorte der Mlnner in mediterranen Gesellschaften eine große Rolle spielen.
Bezogen auf die athenische Gesellschaft steht der Begriff der »Öffentlichkeitcc als mlnnlicher
DomiRe auch im Gegensatz zum >IÜikoscc, dem sozialen Raum der Frauen.
16 Vgl. Bourdieu, Entwurf, 26: »Das Gefllhl der Ehre wird vor den anderen gelebt.« Ähnlich
Campbell. Honour, 304-306; Davis, People, 94; M. Dinges, Die Ehre als Thema der historischen
Anthropologie, in: K. Schreiner und G. Schwerboff (Hg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der frOhen Neuzeit. KGin 1995, 29-62, SO; C. Giordano: Mediterrane
Ehrvorstellungen: archaisch, anachronistisch und doch immer aktuell, in: Soziologisches Jahrbuch
7,2 ( 1991 ). 113-138, 123fT.; Herzfeld, Poetics. 56-67; Schneider und Schneider, Culture. 88ff.; l.
Vogt. Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften, in: dies. und A. Zingerle. F.hre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfun a.M. 1994, 291-314, 296.
17 Boulay, Portrait. I 08.
18 Vgl. Bourdieu. Entwurf, JS-43; Campbell, Honour, 274-280; Peristiany, Village, 182.
18
Einleitung
bestimmter gesellschaftlicher Umstände bei. Dem nimmt auch die Tatsache
nichts, dass der Begriff der Ehre, versuchte man ihn inhaltlich zu filllen,
sich nicht als Garant einer bestimmten Ordnung der mit ihm verbundenen
Werte erweist.
Im Gegenteil ist der Inbegriff dessen, was unter Ehre verstanden wird
bzw. was Ehre ausmacht. sehr variabel und von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Ehre kann nicht einheitlich mit bestimmten Werten oder
Idealen verknüpft werden, deren Befolgung automatisch zu Ehre filhren
würde. 19 Weder charakterliche Tugenden, noch die Geschlechtsidentität, die
Herkunft oder der soziale Status einer Person gewährleisten sui generis das
Innehaben von Ehre. Diese Faktoren können die Ehre einer Person llirdem
oder beeinträchtigen, aber nicht wirklich inszenieren. 20 Ehre konstituiert
sich auf der BOhne des öffentlichen Raumes über den sozialen Konsens.
Deshalb werden persönliche Eigenschaften erst durch ehrenhafte Handlungen, an denen sie ursächlich oder resultativ beteiligt sein mögen, wirksam.
Der Erfolg der Ehre als einem sozialen Ordnungsfaktor resultiert im Wesentlichen aus dem Umstand, dass Ehre als persönliches Attribut erst in der
Zuschreibung durch andere real wird. Funktional verbindet Ehre die Werte
einer Gesellschaft mit ihrer sozialen Struktur und bewirkt dadurch idealiter
bei ihren Mitgliedern die Akzeptanz der sozialen Ungleichheiten. 2 ' Das
Wechselverhältnis zwischen dem Anspruch einer Person auf Ehre und der
19 So beziehen sich Definitionen von Ehre eher auf ihre formalen als ihre inhaltlichen Aspekte.
Nach Campbell. Honour. drückt der Begriff die Idee des Wertes aus: »social worth evaluated in a
complex of competing groups and individuals«, 268; H. Reiner. Ehre. in: Historisches Wönerbuch
der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt/Basel 1972, 319-326: »Die Grundbedeutung ... des Begriffs
war... : im Zusammenleben gegenOber einem anderen durch Won und Tat bekundetes Ansehen
oder Achtung.<<. 319; Sehneider und Schneider. Culture, 86: •>Generally speaking. honor refers to a
person's worth as judged by others. One's vinue. dignity, morality, and status constitute one's
honor.«; Vogt und Zingerle. Aktualitit, 9 sprechen von einer >.Chiffie filr Universalien des gesellschaftlichen Lebenscc; J. Pin-Rivers, Honor, in: International Encyclopedia ofthe Social Seiences,
Bd. 5, New York 1968, 503-510 verzichtet gAnzlieh auf eine Definition.
20 Über den Einfluss des materiellen Status auf die Ehrenhaftigkeit einer Person etwa bestehen in verschiedenen Gesellschaften divergente Auffassungen. Sie hingen ab von der Quelle des
Reichturns einer Person und von der ihr zugesprochenen Möglichkeit. trotzmaterieller ZwAnge ein
ehrenhaftes Verhalten an den Tag zu legen. Die Kabylen etwa sind der Auffassung. dass »Armut
ganz und gar nicht im Widerspruch zur Achtbarkeil steht oder diese ausschließt. sondern im
Gegenteil das Verdienst dessen. der besonders stark der Gefahr der Beleidigung ausgesetzt ist und
sich trotz allem Respekt zu verschaffen weiß. nur noch vergrößert«, so Bourdieu. Entwurf. 34. Die
Sarakatsani betrachten das Verhlltnis zwischen Reichtum und Ehre ebenso logisch vom entgegen
gesetzten Standpunkt aus: »A poor man is dependent on others for employment. or favours, if bis
family is to survive. He is not in a position to insist upon an equality in honour which. in any case.
the community will not allow him«, Campbell. Honour, 273, vgl. ebd .• 298-300. Die Ehre eines
reichen Mannes allerdings. dies sei angemerkt. wird nicht auf dieser grundsitzliehen Ebene diskutien. Er hat indes andere Möglichkeiten, sich durch sein Verhalten zu diskreditieren.
21 Pin-Rivers, Status. 36-38; ders .• Honor, 503; Zingerle, VorOberlegwJgen. 32; vgl. Freven.
Mann. 169-176.
Der Begriff der Ehre
19
Bestätigung der Berechtigung dieses Anspruchs durch andere Personen
spielt dabei eine zentrale Rolle. 22 Zwischen ihnen vennittelt das ehrenhafte
Verhalten, das von beiden Seiten als solches interpretiert werden muss. Jene
Verhaltensweisen, die mit dem Prädikat der Ehrenhaftigkeit versehen sind,
werden zu bevorzugten Handlungsaltemativen, weil sie mit der Sicherung
oder Erhöhung des sozialen Status belohnt werden. Auf diese Weise legitimiert sich soziale Ungleichheit durch Ehre: Einerseits ist das Innehaben von
Ehre Indikator fiir gesellschaftlich gutgeheißenes Verhalten, andererseits
bewirkt Ehre als soziales Konstrukt die Anerkennung einer nicht mehr in
Zweifel zu ziehenden Überlegenheit bestimmter Personen.n
Um einen legitimen Anspruch auf Ehre stellen zu können, müssen sich
die Mitglieder solcher Gesellschaften ein ehrenhaftes Verhalten an den Tag
zu legen. Entscheidend ist das Wie, d. h. in welcher Fonn sieb jemand
verhält, weniger, was er aus welchem Grund tut. Die Vorstellung von Ehre
geht einher mit einem sozialen Wissen darum, wie ehrenhafte Interaktion
sich abspielt. Die Kriterien dafilr sind fonnaler Natur und auf verschiedene
Situationen übertragbar. Es gibt einige charakteristische habituelle Fonnen,
welche die ehrenhafte Kommunikation und Interaktion sbukturieren und als
solche kenntlich und interpretierbar machen.
22 Pitt-Rivers. Status. 22. bringt das Wechselverhlltnis auf die Formel: >>Honour feit becomes
honour claimed and honour claimed becomes honour paid.«, vgl. Campbell, Honour, 291 und
Bourdieu. Entwurf, 27f., der den Zusammenhang eher auf philosophisch-psychologischer Ebene
beschreibt: >>Das EhrgefllJll ist das Fundament einer Moral, in der der Einzelne sich immer unter
dem Blick der anderen begreift. wo der Einzelne die anderen braucht. um zu existieren, weil das
Bild. das er sich von sich selbst macht, ununterscheidbar ist von dem Bild von sich, das ihm von
den anderen zurliekgeworfen wird.cc
23 Bourdieu, Sinn, 236f.: Pitt-Rivers. Honor, 507f.: Vogt und Zingerle, AktualiiAt. 18. Tatsichlieh beruht die Akzeptanz der sozialen Überlegenheit ehrenhafter Personen nicht unwesentlich
auf der FaktiziiAt der Macht. Hier kommen jene sekundlr statusbildenden Faktoren ins Spiel, die
Ehre beR)rdem können. Sie mögen realiter filr eine soziale Vorrangstellung verantwonlich sein,
legitimien wird diese jedoch durch die Ehre. Denn wenn ehrenhaftes Verhalten das Kriterium filr
einen hohen sozialen Status ist, so gilt umgekehrt. dass sich Personen, die einen hohen sozialen
Status haben, ehrenhaft verhalten. vgl. Pitt-Rivers, Status, 23: »lf honour establishes status, the
converse is also true, and where status is ascribed by birth, honour derives not only from individual reputation but from antecedence.cc Unter dieser Prlmisse wird Personen, die - aus welchen
Gründen auch immer - offensichtlich privilegien sind, ein ehrenhaftes Verhalten unterstellt,
womit wiederum das einzige Kriterium erfilllt ist. nach dem jemand Ehre innehat. Solange die mit
der Idee von Ehre verbundene Vorstellung der nalilrlichen Überlegenheit ehrenhafter Personen
besteht. wird ihr Führungsanspruch als selbstverstlndlich, weil durch ihre besonderen Flhigkeiten
legitimiert. akzeptien. Aus diesem Grunde erweist sich eine durch Ehre strukturiene Gesellschaft
als sehr stabil. ln diesem Konstruktcharakter von Ehre gründet andererseits auch die Möglichkeit
der Verinderuns der gesellschaftlichen Verhlltnisse: Da die Vorstellung und Zuschreibuns von
Ehre auf dem Konsens aller Mitglieder einer Gesellschaft beruht. ist genau dies der einzige Weg
sie umzudefinieren.
20
Einleitung
3. Die Vorstellung der Ehre und die Ordnung der Polis
Diese habituellen Fonneo lassen sich regelmäßig in nahezu allen durch
Ehre strukturierten Gesellschaften ausmachen. Es sind jene Besonderheiten,
die Anthropologen bevorzugt beschreiben, wenn sie die typische Dynamik
des sozialen Miteinanders aufzeigen wollen. Einerseits, weil sie sich phänomenologisch gut beobachten und wiedergeben lassen, andererseits, weil
sie die auffälligsten Andersartigkeiten zu modernen Gesellschaften bilden.
Sie ergeben sich logisch aus der Vorstellung von Ehre und aus der Funktionsweise ihres Konzeptes. Deshalb können sie als Kriterien filr ehrenhaftes
Verhalten identifiziert und als in jeder ehrenhaften Gesellschaft präsent
angenommen werden.
So auch in der ehrenhaften Gesellschaft der Athener im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. Um die Bedeutung der Ehre filr die Athener festzustellen.
sind die habituellen Formen ehrenhaften Verhaltens aufzudecken. Das oben
entwickelte Konzept der Ehre als sozialer Norm, die bestimmte Handlungen
favorisiert hat den Zweck, jene Verhaltensmuster identifizieren zu können.
die durch Ehre geprägt sind. Es setzt einige klar umrissene gesellschaftliche
Bedingungen voraus, die relativ problemlos auf die Antike übertragen werden können. So handelt es sich bei der athenischen Polis zweifellos um eine
relativ autonome soziale Einheit, die als Face-ta-face-Gesellschaft klassifiziert werden kann/~ in der die Öffentlichkeit damit eine große Rolle spielt
und die streng patriarchal organisiert ist. Diese gesellschaftlichen Grundbedingungen stellen die athenische Gesellschaft in eine Reihe mit anderen
ehrenhaften Gemeinwesen. Die Prämisse, dass die Athener sich ehrenhaft
verhielten, rechtfertigt sich zunächst hieraus. Das ehrenhafte Verhalten und
die spezifische Ausprägung von Ehre bei den Athenern gilt es im Folgenden
zu belegen.
Im Gegensatz zu anderen ehrenhaften Gesellschaften steht in der athenischen die politische Ordnung in hohem Ansehen und prägt das alltägliche,
soziale Leben der Athener. Die demokratische Polis wird von einer großen
Mehrheit der Bürger mitgestaltet und ihre Gesetze und normativen Anfor24 Gegen den Einwand, dass die Einwohner Athens ßlr eine Face-ta-face-Gesellschaft zu
zahlreich waren. lassen sich zwei Argumente anfllhren: Erstens erfolgte die Sozialisation der
einzelnen Athener in den Demen, so dass die Erfahrung, in einer Oberschaubaren sozialen Einheit
zu leben. fest verankert gewesen sein muss. Und zweitens sind es auf Polisebene die immergleichen Bllrger. die in den Quellen genannt werden und notorisch von sich reden machen. so dass sie
jedermann bekannt sein mllßten. Ähnlich argumentiert D. Cohen. lntroduc:tion, in: ders. (Hg ..
unter Mitarbeit von E. MOIIer-Luckner). Demokratie. Recht und soziale Kontrolle im klassischen
Athen. München 2002. V-IX.
Herunterladen