Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 117 studie Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik in der Musik Rudolf Peãman The author discusses the terms ‘Baroque’ and ‘Classical’ as used in historiography, art history and fine-art history. He follows the changes of meaning of the terms ‘Baroque’ and ‘Classical’ from the 17th- 20th century, and tries to discern the style features of the Baroque and Classical periods. His article is based on his own earlier works dealing with this subject, and on conclusions of the scientific discussion which took place in Bohemian, European and American historical and musicological works in the first six decades of the 20th century. Die in der Geschichtswissenschaft, Kunsthistorie und anderen Kulturwissenschaften überlieferten Begriffe des Barock und der Klassik1 unterliegen bereits seit Jahren einer Kritik. Immer deutlicher zeigt es sich auch, daß man in der Musikgeschichtsschreibung mit bloßer Übernahme dieser Begriffe nicht auskommen kann. Das Barock: Allgemeine Betrachtungen Die Versuche, eine Typologie und Soziologie des Barock als Kulturepoche zu bieten, sind vor allem im 20. Jh. zum Gegenstand des Interesses geworden. Schon die Verwendung des Begriffs „Barock“ stößt auf Schwierigkeiten, denn die Barockkultur war sehr verwickelt und die Barockepoche in sich widerspruchsvoll. In Europa entwickelte sich das Barock etwa von der Mitte des 16. Jhs. bis in die Mitte des 18. Jhs., doch handelte es sich um keine einheitliche Epoche, wie dies mehr oder weniger in der Renaissance der Fall gewesen war. Bei der Inhaltsbestimmung dieser Epoche finden wir keine befriedigende Lösung in der religiösen Auffassung der Problematik, denn die Zeit des Barocks ist in der Kunst- und Literaturgeschichte vor allem als Stilperiode anzusehen, die von einer höchst sensiblen Weltanschauung ausgeht. Die Barockkultur wuchs nicht nur aus der Gegenreformation, sondern wurzelte vor allem in komplizierten gesellschaftlichen Verhältnissen. „Das Barock darf man nicht mit der katholischen Gegenreformation identifizieren, auf den Katholizismus beschränken, wie dies bei uns noch unlängst geschehen ist. […] Begrifflich hängt das Barock mit dem Katholizismus nicht enger zusammen, als mit dem Luthertum. […] Das Barock sehe ich als eigengebürtiges Stilgebilde, das unter bestimmten historischen Bedingungen aus dem modernen Weltgefühl wächst, um die Mitte des XVI. Jahrhunderts geboren wird, ganz Europa durchdringt, und sich […] um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts verbraucht. Sicher gibt es ein nördliches und südliches, katholisches und protestantisches, absolutistisches 1 Vgl. PEČMAN, Rudolf: Sloh a doba [Stil und Zeit], Konzertabteilung PKO, Brno 1984. © Academia, Praha 2005 Hudební věda 2005, ročník XLII, číslo 2 118 Rudolf Peãman und revolutionär puritanisches Barock (Milton). Unter diesen bestehen auch Unterschiede der Stufe und Schattierung, aber alle diese Nuancen verbindet etwas Gemeinsames: das große Auseinandertreten des Naturalismus und der Geistigkeit, des Absoluten der Askese und des Relativen der vitalen Sinnenhaftigkeit in der Seele des modernen Menschen.“2 Es sind jedoch nicht nur religiöse, geistige und emotionelle Impulse, welche die neue Epoche des Barocks vorzeichnen. Die Ideale der Renaissance zerfielen, das freudige Vertrauen auf den Menschen und seinen befreiten Intellekt, der im Brunnen der Antike Reinigung gefunden hatte, begann allmählich zu erlöschen. Unter dem europäischen Menschen erbebte die Erde, er verlierte seine Sicherheit. Die überseeischen Entdeckungen belehrten ihn über die Vielfältigkeit und Andersartigkeit der Lebensformen, er begann an der Einheit der Welt zu zweifeln. Vergebens suchte er jetzt Antwort auf grundsätzliche Fragen des Lebens, die Wissenschaft konnte ihm keinen Schlüssel bieten. Der von Unsicherheit gequälte Mensch war nicht imstande, in einem Interregnum zu leben, wo die alten Wahrheiten blichen und die neuen noch nicht erreicht wurden. Seine Auflehnung gegen das Vorläufige entsprach seinem sich sehnenden Willen, der nach Sicherheit strebte. Zum letzten Mal suchte der europäische Mensch Inspiration in der Belebung des christlichen Glaubens, sei es, daß er mystische und asketische Elemente wieder belebte (Katholizismus), oder die Rückkehr zur Schrift verkündete (Protestantismus). Er wollte Gott durch diese irdische Welt näherkommen. Und so war das Barock die letzte Entwicklungsetappe, in der es zu einer vom christlichen Universalismus inspirierten Kultursynthese kam.3 Im Gegensatz zum ausgeglichenen Stil des Lebens und der Kunst, der sich in der italienischen oder niederländischen Renaissance entfaltet hatte, fühlte der Barockmensch eine innere Unruhe, die später zum mächtigen Pathos werden sollte. Der künstlerische und rein geistige Subjektivismus erreichte allmählich seinen Gipfel. „Der Barockmensch will den Himmel auf Erden umfassen. Er häuft Gold auf seinen Altären, in seinen Domen, in seiner Kunst, um darin ein Stück des unfaßbaren Leuchtens der übernatürlichen Ordnung festzuhalten, durchbricht seine Kirchenkuppeln in luftige Sphären, die den Zuseher in lichte Weiten entführen, baut falsche Perspektiven in seinen Architekturen, um seinen Raumhunger zu stillen und eine Art Spiegel der Unendlichkeit zu errichten, bemüht sich, den Menschen im Platzregen unerhörter Farben und Lichter dieser Welt zu entreißen, um ihn in eine andere Welt zu versetzen, bemüht sich, im sinnlichsten Lächeln eine durchaus unkörperliche Wonne darzustellen, die mystische Vereinigung mit Gott – er will ein- 2 ŠALDA, František Xaver: O literárním baroku cizím a domácím [Über das ausländische und heimische literarische Barock], in: Šaldův zápisník VIII, 1935/36, S. 71–72 (Deutsch von R. P.). 3 Für den „ideellen“ Anfang des Barocks halten wir die Gründung des Jesuitenordens (1540). Die Wurzeln des Barocks liegen in Spanien und Italien: nach dem Tridentiner Konzil (1545–1563) läßt sich die Linie des Barocks in diesen Ländern bereits vom Anfang der 1560er Jahre verfolgen. Ähnlich in Frankreich. In Europa verbreitet sich der Barockstil von Westen gegen Osten. Während diese Epoche in Spanien und Italien mit den Jahren ca. 1560–1700 begrenzt wird, entfaltet sie sich in Frankreich in der Zeit von 1570–1660, in Norddeutschland 1600–1700, in Süddeutschland und in den böhmischen Ländern dagegen ca. 1600–1740. In Rußland kommt es zu einer Verspätung, man kann dort vermutlich die Zeit von 1615–1700 in Betracht nehmen. Der Kern dieser Stilepoche liegt also in Europa in der Zeit zwischen 1600 und 1660. – Dieses Periodisierungsschema basiert vor allem auf den literaturgeschichtlichen Sachverhalten; in der Musik muß dagegen mit bestimmten zeitlichen Differenzen gerechnet werden. Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 119 fach in tausend und abertausend Formen seines Illusionismus mit dem Maximum der Materie das Geistige, das Absolute, Gott erfassen. Das ist ein furchtbarer innerlicher Kampf, in dem auf der einen Seite in dramatischer Spannung eine Tendenz steht, die in diese Welt, in ihre Tiefe strebt, eine Art unersättlicher Sehnsucht nach der Materie hegend, während auf der anderen Seite eine ebenso starke Sehnsucht nach dem Geistigen steht. Und aus der ungeheuerlichen Spannweite dieses Kampfes […] wächst auch jenes barocke Pathos, […] das nicht nur […] Schwung, sondern auch in seinem ursprünglichen griechischen Sinne Leiden bedeutet – Leiden eines unendlich entkräftenden und vergeblichen Kampfes.“4 Diese Charakteristik Zdeněk Kalistas knüpfte an die Auffassung F. X. Šaldas an5 und beleuchtete das Barock als monumentale Erscheinung, die fest in ihrer Zeit und Gesellschaft wurzelte. In den 1950er Jahren kam es dann zwar zu einem Sinken des Interesses für das Barock in der marxistischen Geschichts- und Kunstwissenschaft, die dieses einseitig auffaßte und mit der militanten Gegenreformation identifizierte,6 aber die einzelnen kulturwissenschaftlichen Disziplinen bereicherten die Erforschung des Barocks wenigstens hinsichtlich des Quellenmaterials. Während der Terminus „Barock“ damals in den Geistes- und Kulturwissenschaften des ehemaligen Ostblocks als ideologisch unannehmbar („idealistisch“) abgelehnt wurde7, kam es in breiteren europäischen Forschungskontexten auch vom sachlichen Standpunkt zur Kritik dieses Begriffs. Schon in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg machte Willy Flemming8 in seiner Definierung des „Barockstils“ geisteswissenschaftliche und kulturgeschichtliche Blickpunkte geltend. Den Stil faßte er als dasjenige Phänomen auf, durch dessen Prisma er die ganze Epoche beurteilte. Aber nicht nur das: der Stil einer Zeit bestimme alle ihre Äußerungen, durch seine Vermittlung ließe sich die ganze Epoche begreifen. Flemming knüpfte hier an seine frühere Auffassung des „barocken Menschen“ an,9 den er in der Opposition zum „klassischen“ Menschen charakterisierte. Für die typischen Merkmale des so genannten Barockmenschen hielt er dessen Bemühung um Aufschwung, seine Tendenz zum überspannten Ausdruck, seine Liebe zu allem Kostbaren und Prunkvollen. Der handelnde Barockmensch sei sich dabei seiner Existenz durchaus bewußt und messe alles nach seiner eigenen Persönlichkeit.10 4 KALISTA, Zdeněk: České baroko [Tschechisches Barock], Praha 1941, S. 11 (Deutsch von R. P.). ŠALDA, F. X., zit. Studie (wie Anm. 2). Die Auffassung des Barocks als „Zeit der Finsternis“, die namentlich vom gleichnamigen historischen Roman Alois Jiráseks geprägt wurde (Temno, 1915), hat in den 1950er Jahren eine offizielle ideologische Bedeutung angenommen. Vgl. dazu VYSLOUŽIL, Jiří: Úvaha nad Nejedlého pojetím české hudby 18. století [Betrachtungen über Zdeněk Nejedlýs Auffassung der tschechischen Musik des 18. Jhs.], in: Opus musicum V, 1973, Nr. 7, S. 193–196. Die Problematik der sog. „Zeit der Finsternis“ in Böhmen behandelt u.a. NOVÁK, Arne: Jiráskovo „Temno“ [Alois Jiráseks „Finsternis“], in: Zvony domova. Kniha studií a podobizen, Borový, Praha 1916, S. 120–146. 7 Siehe Přehled československých dějin I [Tschechoslowakische Geschichte im Überblick Bd. I], Praha 1958. 8 FLEMMING, Willy: Deutsche Kultur im Zeitalter des Barocks, Potsdam 1937. 9 Derselbe: Die Auffassung des Menschen im 17. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 6, 1928. 10 PEKAŘ, Josef: O periodisaci českých dějin [Zur Periodisierung der tschechischen Geschichte], in: Český časopis historický (ČČH) Jg. 38, 1932, Nr. 1, S. 1–11. 5 6 120 Rudolf Peãman Barock und Klassik Es ist schwer, zu einer einheitlichen Ansicht über die Epoche des Barocks zu gelangen. Man kann sich demnach nicht wundern, daß die Versuche über eine theoretische Erfassung dieser Epoche vielfältig sind. Betrachten wir nun eine Auswahl dieser Ansichten näher. Fritz Valjavec11 hält das Barock für eine Übergangskultur, die ein einheitliches Anschauungssystem entbehrt. Mit diesem Standpunkt und dem Gedanken, daß sich das Barock gerade durch dieses uneinheitliche Anschauungssystem beispielsweise vom Humanismus oder der Aufklärung unterscheidet, kann man allerdings nur teilweise übereinstimmen. Im Barock wurde zwar kein einheitliches Anschauungssystem erreicht, in jedem Land entwickelte sich dieser Stil mit bestimmten Abweichungen, aber die grundlegenden Prinzipien wurden hier wie dort eingehalten. Vom kunstgeschichtlichen und kunstwissenschaftlichen Standpunkt kann man das Barock – cum grano salis – für eine Epoche halten, in der gewisse Voraussetzungen der Entstehung der Klassik gegeben waren. Die Frage bietet sich an, ob man eventuell Barock und Klassik als kontinuierliche geschichtliche Epoche ansehen könnte. Diese Idee mag auf den ersten Blick einleuchtend sein.12 Ist doch das Barock durch zahlreiche Wechselbeziehungen sowohl mit der Renaissance als auch mit der Aufklärung verbunden. Heinrich Schaller sagt dazu:13 „Der europäische Barock hat tausend Gesichter und Variationen: Überschwang und Pessimismus, leidenschaftliche Erregung und tiefste Resignation. Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, Genußsucht und Askese, Aufklärung und religiösen Fanatismus; er kann völlig hart und plastisch, aber auch völlig transzendent weich, wolkig, transparent und atmosphärisch sein (Michelangelo – Rembrandt), er kann denkbar klassizistisch und denkbar unklassizistisch, von traumhafter Freiheit aller Mittel sein, er umfaßt sowohl das antik-romanische wie das nordisch-germanische Wesen, das katholische, wie das protestantische und puritanische Element, er ist das Zeitalter des Absolutismus und der Orthodoxie, der Sekten und des Mystizismus, aber auch der Aufklärung und der klassischen Physik, er reicht von Michelangelo bis Watteau, St. Peter bis Sanssouci, von Böhme bis Voltaire. […] Der Begriff des Barocks ist unendlich weit und umfassend, aber er erhält erst Fleisch und Blut durch seine nationalen und persönlichen Verwirklichungen.“ Eine allzu breite, sozusagen uferlose Auffassung des Barocks ist jedoch auf die Dauer nicht haltbar. Einen Ausweg fand nicht einmal Josef Pekař, der das Barock für eine Synthese des Mittelalters und der Renaissance hielt.14 Als immer noch offene Frage muß man allerdings die genauere Abgrenzung des so genannten Barockstils und die Periodisierung des Barocks ansehen. Zugleich ist es klar, daß man für die Epoche des Barock mit der bloßen Bestimmung der Stilmerkmale nicht auskommt, weil die geschichtliche Typologie zu etwas allgemeinerem tendiert, nämlich zur Erfassung des barocken Gedankensystems. 11 Historia Mundi VII, Bern 1957. Z.B. Vladimír Helfert hielt die Zeit von 1600 bis 1900 für eine „Epoche des melodisch-harmonischen Stils“ in der Geschichte der Musik. Siehe Periodisace dějin hudby [Periodisierung der Musikgeschichte], in: Musikologie I, Praha–Brno 1938, S. 7 f. 13 Die Welt des Barocks, München 1936. 14 PEKAŘ, Josef: zit. Studie, S. 4 (wie Anm. 10). 12 Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 121 Die offene Problematik bringt auch Zweifel an der Benennung „Barock-Epoche“ mit sich. Die terminologische Unklarheit führt hier zu einem zersplitterten Blick. Josef Válka nimmt an,15 daß man eine neue Auffassung bloß durch Prüfung neuer Aspekte erreichen kann. Das Barock erscheint ihm als Epoche, die die Tore zur Neuzeit und modernen Kultur öffnet. Im 16.–18. Jh. wird die moderne Volkswirtschaft geboren, die auf einem neuen Typ des Handels, auf der Manufaktur und wissenschaftlichen Technologie beruht. Die Kontakte unter Ländern und Staaten verschiedenen gesellschaftlichen Niveaus vertiefen sich, was auch die Entstehung von Unterschieden ihrer Struktur verursacht. „Dieser Prozeß der Differenzierung und Einheit zugleich entfaltete sich gerade in der Zeit, die das Barock in der Kultur ausdrückt. Einerseits entstehen sehr allgemeine gesellschaftliche Empfindungen, andererseits setzt sich in der kulturellen und gedanklichen Sphäre das Moment des unterschiedlichen Milieus durch. Sehr allgemein ist die Stilhaftigkeit und lokale Differenziertheit. Das sind Tatsachen, mit denen die Typologie der Barockkultur und vielleicht auch der Barockzeit zu rechnen hat.“16 Die neuere Auffassung der Barockproblematik betonte – auf allgemeiner Ebene – auch soziologischeAspekte. Bei soziologisch orientierten Forschern hing diese Problematik eng mit der Frage der betreffenden gesellschaftlichen Struktur zusammen. Das Verhältnis dieser Struktur zum „Problem des Barocks“ war Gegenstand eines lebhaften Interesses auch in derjenigen Fachliteratur,17 die es ablehnte, das Barock ausschließlich mit dem Katholizismus in Bezug zu setzen; das Barock erschien ihr eher als Bestandteil und Produkt des aristokratisch-gutsherrlichen Milieus. Victor Lucien Tapié schreibt: „Die Länder, die in Europa des 17. Jahrhunderts der barocken Architektur mit ihrer Pracht oder zumindest Vorliebe für den Reichtum der Dekoration und Malerei offenbar den Vorzug gaben, waren jene, in denen das ländliche und aristokratische Element überwog und das Bürgertum in den Hintergrund gedrängt wurde.“18 Und an einer anderen Stelle: „Die bürgerlichen Gesellschaften besitzen eine Neigung zu Maß und Ordnung; vorwiegend aristokratische und gutsherrliche Gesellschaften bevorzugen die barocke Bildhaftigkeit und Freiheit.“19 15 VÁLKA, Josef: Problém baroka jako kulturní a historické epochy [Das Problem des Barocks als kulturelle und historische Epoche], in: O barokní kultuře, ed. Milan Kopecký, Schriften der philosophischen Fakultät UJEP, Bd. 141, Brno 1968, S. 16. Derselbe: Manierismus als Kulturepoche, in: Colloquium Musica Bohemica et Europæa, Brno 1970, ed. Rudolf Pečman, Brno 1972, S. 113–119. Derselbe: Manýrismus a baroko v české kultuře 17. a 1. pol. 18. století [Manierismus und Barock in der tschechischen Kultur des 17. und früheren 18. Jhs.), in: Studia Comeniana et historica, Nr. 19, Jg. VIII, 1978, ed. Zdeněk Vrba, Museum J. A. Komenského, Uherský Brod 1978, S. 155–213. 16 VÁLKA, Josef: Problém baroka (wie Anm. 15, Deutsch von R. P.). 17 Vergl. z.B. LÜTZERER, Heinrich: Zur Religionssoziologie deutscher Barockarchitektur (im Zusammenhang des methodischen Problems), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 66, 1931. 18 TAPIÉ, Victor Lucien: Le baroque, Paris 1963. Tschechische Übersetzung des Zitats bei VÁLKA: Problém baroka…, S. 17 (Deutsch von R. P.). Eine andere Arbeit Tapiés: Baroque, „Que sais-je?“, Presses Universitaires de France, Paris 1968, erschien in slowakischer Sprache in der Übersetzung Ivan Gavoras unter dem Titel Barok, Pallas, Bratislava 1971. 19 TAPIÉ, Victor Lucien: Le baroque, S. 45, VÁLKA, ebda. 122 Rudolf Peãman Aus dem Angedeuteten geht hervor, daß Tapié die barocken Merkmale der Kultur und des Gesellschaftslebens für ein Produkt der Adels- und Gutsherrn-Gesellschaft hält, während die „klassizistischen“ Züge Leben und Kultur jener Gesellschaftsschichten auszeichnen, die zur bürgerlichen Lebensweise tendieren. In Tapiés Auffassung gewinnen allerdings die Begriffe „Barock“ und „Klassik“ eine allgemeine, man könnte sagen Hilfsbedeutung, weil sie metaphorisch verwendet werden: als „barock“ gilt alles, was die eingebürgerte Form bricht und nach Freiheit strebt, als „klassisch“ dagegen alles, was nach Ruhe und Ausgewogenheit aufweist. Tapiés Kategorien erfassen somit allgemeine Züge der Zeit, reichen jedoch bei der Analyse künstlerischer Sachverhalte nicht aus. Gewiß ist jedoch, daß die französische Geschichtsschreibung dem Streit um das Barock neue Aspekte verliehen hat, weil sie von den gesellschaftlichen Verhältnissen ausging und diejenigen inneren Gegensätze richtig erfaßte, welche die Gesellschaft des 17. Jhs. wesentlich bestimmten, wobei sie manchmal in tiefe Krisen mündeten. Die Epoche des Barocks wird also – nach Ansicht französischer Historiker20 – als Krisenzeit der europäischen Gesellschaft, Kultur und staatlichen Verfassung aufgefaßt.21 Man kann sagen, daß diese Auffassung alle vorhergehenden Versuche über die Charakteristik der Barockepoche von Grund aus korrigiert. Sie bestätigt zugleich, daß die Verbindung des Barocks mit dem vorklassischen und klassischen Zeitalter in sich begründet ist. Die Klassik: Allgemeine Betrachtungen Ähnlich verwickelt ist die Frage der so genannten Klassik, die im 18. Jh. aktuelle Bedeutung gewinnt. Als Diderots und D’Alemberts Encyclopédie erschien,22 waren verschiedene Fragen der damaligen Weltanschauung, Wissenschaft und Kunst mehr oder weniger kodifiziert. Die 35 Bände dieser Enzyklopädie umfaßten die Gesamtheit des Wissens und wurden zur Bibel des Rationalismus. Ihre neue Auffassung des Lebens, der Natur und vernünftigen Ordnung der Dinge stand im Dienste der politischen Freiheit und religiösen Toleranz. Die Enzyklopädie war das Sprachrohr der wissenschaftlichen Exaktheit, Methodik und Systematik. Sie legte dem Menschen des 18. Jhs. die Summe des Wissens aus der Philosophie, Religion, Ethik, den staatsrechtlichen Wissenschaften, der Volkswirtschaft, den Naturwissenschaften und der Technik ebenso vor, wie aus dem Gebiet der Künste und des Handwerks. Immanuel Kant schrieb im Jahre 1784, sie stelle den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ dar.23 Ihre großen Vorgänger waren die Philosophen des 17. Jhs. – Descartes, Spinoza, Leibniz und Locke – die im Schoße des Barocks die Geburt einer neuen Weltanschauung vorbereitet haben.24 Die Enzyklopädie kann demnach als Beweis für die allmähliche, ununterbro20 Siehe Histoire générale des civilisations, Teil V, Paris 1956. HROCH, Miroslav – PETRÁŇ, Josef: K charakteristice krize feudalismu v XVI. až XVII. století [Zur Charakteristik der Krise des Feudalismus im XVI. bis XVII. Jahrhundert], in: Československý časopis historický (ČSČH), Jg. 62, 1964, Nr. 3, S. 347–364. 22 DIDEROT, Denis – D’ALEMBERT, Jean Le Rond: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Paris 1751. 23 KANT, Immanuel: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft 1784, S. 481ff. 24 David HUME (1711–1776) vertiefte dann die Erkenntnisse Lockes (auch Berkeleys) und entfaltete sie in Richtung zum kritischen Empirismus und Positivismus (A Treatise of Human Nature, London 1739–1740). 21 Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 123 chene Gedankenentwicklung vom Anfang des Barocks bis zur Aufklärung verstanden werden. Es ist somit unrichtig, in der Klassik, deren Pendant die Enzyklopädie darstellte, ausschließlich einen neuen Lebens- und Kunststil zu sehen, der die vorhergehende Entwicklung negierte. Ganz im Gegenteil: die Enzyklopädie und die Klassik sind als Gipfel einer kontinuierlichen vorhergehenden Entwicklung anzusehen. Ähnlich verhielt es sich mit dem Erbe der Antike. Auch in der Barockzeit hat man sich mit der Antike auseinandergesetzt und knüpfte dabei offenbar an die Renaissance an. Die langjährige Entwicklung mündete schließlich in Johann Joachim Winkelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764), in der zum ersten Mal grundlegende, allgemein gültige Gedanken über die Antike und ihre Kunst ausgesprochen wurden. Winckelmann gelangte zur Ansicht, daß es keineswegs die Kunst der Römer, sondern diejenige der Griechen sei, die den Gipfel des Altertums vorstelle. Schon in seinen Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der Malerei (1762) schuf Winckelmann ein grundlegendes theoretisches Werk der Ästhetik, das zwar einen Umsturz der bisherigen Ansichten, aber eigentlich nur eine Kodifikation der gedanklichen Entwicklung von der Renaissance über das Barock zur Klassik bedeutete. Auch hier zeigte es sich, wie einheitlich diese Entwicklung war, wie organisch sie an die Gedankenwelt des Barocks anknüpfte. Das Barock als Stilepoche in der Musikgeschichtsschreibung In der Musikgeschichtsschreibung wird das Barock meistens einfach als Stilepoche bezeichnet, ohne daß man ihre Gliederung und Mannigfaltigkeit berücksichtigt. Die genannte Epoche erstreckt sich dann über die Zeit vom Ende des 16. bis in die Mitte des 18. Jhs. Friedrich Blume betont,25 daß die einzelnen Perioden des Barocks in die ihnen folgenden fließend übergehen, so daß es unmöglich sei, diese zeitlich genau zu begrenzen. Mit der Bestimmung und Abgrenzung des Barock in der Musik gibt es noch weitere Schwierigkeiten. In der Regel werden mit diesem Begriff individuelle Eigenschaften eines Künstlers oder seines Werkes generell charakterisiert, was letzten Endes zu Willkür in der Verwendung des Begriffs und zu Änderungen seines Gehalts führen kann. Nach Eugène d’Ors26 finden wir das Barock in allen Kulturen (z.B. in der hellenischen, römischen, nordischen, der Inkakultur usw.). Diese breite Auffassung führt zum Schluß, daß der Begriff „barock“ hier dem Begriff „klassisch“, d.i. „vollendet“ entgegengestellt wird. Ebenso ungenau ist die Meinung Henri Focillons,27 das Barock könne die letzte Entwicklungsphase des jeglichen Stils darstellen. Focillon neigt sich damit der ganzheitlichen Auffassung Heinrich Wölfflins zu,28 der wie bekannt eine ununterbrochene Entwicklungslinie von der Renaissance zum Barock sieht. 25 BLUME, Friedrich: Die Musik des Barock, in: Syntagma Musicologicum. Gesammelte Reden und Schriften I, Kassel 1963, S. 67–123, zuerst erschienen in MGG, I, Kassel 1949–1951, Spalte 1275–1338. 26 D’ORS, Eugène (recte Eugenio d’Ors y Rovira): Du Baroque, Paris 1935. 27 FOCILLON, Henri: Vie des Formes, Paris (2. Aufl.) 1939. 28 WÖLFFLIN, Heinrich: Renaissance und Barock, München (3. Aufl.) 1908. 124 Rudolf Peãman In der Musikgeschichtsschreibung hat sich der Begriff „barock“ als Bezeichnung einer Stilperiode erst am Anfang des 20. Jhs. eingebürgert.29 Hugo Riemann war dagegen und empfahl die Benennung „Generalbaß-Zeitalter“.30 Auch Guido Adler wich der Bezeichnung „barock“ aus31 und faßte stattdessen das Barock als „dritte Stilepoche“ der Musikgeschichte auf. Dagegen finden wir schon bei Hans Joachim Moser32 die Gliederung in Frühbarock und Hochbarock. Ernst Bücken, der Herausgeber des Handbuchs der Musikwissenschaft, stimmte dann mit der Auffassung von Robert Haas überein, der seinen Band in dieser Editionsreihe unter dem Titel Musik des Barocks veröffentlichte.33 Wie man sieht, geriet der Begriff des Barocks in die Musikwissenschaft auf Umwegen über die bildende Kunst und Literatur, und zwar in den 1920er Jahren. Schon 1919 verwendete ihn Curt Sachs,34 der von Wölfflins Gliederung ausging und vor allem stilistische Aspekte betonte. Aus den Schriften deutscher Musikwissenschaftler ging dann die Bezeichnung „barock“ in die amerikanische Musikwissenschaft über. Manfred Bukofzer35 übernahm sie restlos, offenbar unter dem Einfluß seiner deutschen Schulung. Dagegen zweifelte der Franzose Norbert Dufourcq an der Berechtigung dieses Begriffs und eliminierte ihn aus seinen musikgeschichtlichen Darstellungen.36 Der englischen Musikwissenschaft ist dieser Begriff auch nicht gerade ans Herz gewachsen, was u.a. dadurch bewiesen wird, daß sie diesen nicht einmal bei so einem Komponisten wie Henry Purcell (1659–1695) verwendete.37 Zu diesem Begriff kehrte dann die belgische Musikwissenschaftlerin Susanne Clercx zurück,38 die von den romanischen, vor allem literaturwissenschaftlichen Traditionen ausgegangen war, und faßte ihn mehr oder weniger bildlich auf. Ihre Periodisierung des Musikbarocks in ein „Baroque primitif“ – „Plein Baroque“ – „Baroque tardif“ ist jedoch treffend und kann übernommen werden. Für das musikalische Schaffen der einzelnen Völker wurden jeweils spezielle Periodisierungen verwendet. Obwohl wir uns hier nicht mit allen befassen können, erwähnen wir zumindest einige Beispiele: Andrea della Corte,39 der sich vor allem der Schrift Benedetto Croces Storia dell’età barocca in Italia (1929) anschloß, lehnte die Verwendung des Begriffs „barock“ in der italienischen Musik strikt ab. Seiner Meinung nach existierte dort das Barock einfach nicht als selbständige Stilepoche. Er kehrte vor allem auf dem Gebiet der bildenden Künste zu älteren Ansichten zurück und hielt die italienische Musik des 17. Jhs. für eine Fortsetzung der Renaissancemusik: das frühere 17. Jh. war für ihn eigentlich der „klassische“ Gipfel der Renaissance, während in der zweiten Hälfte dieses Jhs. „barocke“ Elemente zu Wort kamen, die einen Niedergang signalisierten. Diese Ansicht ging insofern von der älteren Auffassung aus, als sie 29 Näheres dazu in PEČMAN, R.: Sloh a doba (wie Anm. 1). RIEMANN, Hugo: Handbuch der Musikgeschichte II/2, Leipzig (2. Aufl.) 1922. 31 ADLER, Guido: Handbuch der Musikgeschichte, Frankfurt am Main 1924. 32 MOSER, Hans Joachim: Geschichte der deutschen Musik II, Stuttgart – Berlin 1922. 33 HAAS, Robert: Musik des Barocks, Wildpark – Potsdam 1928. 34 SACHS, Curt: Barockmusik, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters XXVI, 1919, Leipzig 1920, S. 7–15. 35 BUKOFZER, Manfred F.: Music in the Baroque Era, New York 1947. 36 DUFOURCQ, Norbert: La Musique des origines à nos jours, Paris 1946. Derselbe: J. S. Bach, Le Maître de l’Orgue, Paris 1948. 37 Vgl. WESTRUP, Jack Allan: Purcell, London 1937. 38 CLERCX, Susanne: Le Baroque et la Musique. Essai d’esthétique musicale, Bruxelles 1948, insb. S. 19 f. 39 DELLA CORTE, Andrea: Il Barocco e la Musica, Milano 1933. 30 Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 125 das Barock als so etwas auffaßte, was sich vom klassischen Kanon entfernte und ihn zersetzte. Die auf den Barock zielenden Stilwandlungen bereiteten sich schon im späteren 16. Jh. vor. Während die Musik der Renaissance noch weitgehend von der Linearität gekennzeichnet war, begann sich nun auch die Harmonik zu Wort zu melden. Die älteren Kirchentonleitern hörten auf, den Fluß des musikalischen Denkens zu binden, es begannen sich die Gesetzmäßigkeiten der funktionell geprägten Dur-Moll-Tonalität zu kodifizieren. Die Alteration kam auf, die ihre Wurzeln im reichen chromatischen Denken der vorherigen Epoche fand. Hand in Hand mit diesen Neuerungen machte sich auch das Streben nach einem neuem melodischem Ausdruck geltend. Die aus den engen Wort-Ton-Beziehungen wachsende Melodik bot ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten an.40 Der Stilumbruch und die Kodifikation des neuen Stils waren nur auf der Grundlage der erwähnten harmonischen Neuerungen möglich, die ihrerseits von der Geburt und Entwicklung des neuen musikalischen Denkens bedingt waren. Auf den Fundamenten des neuen (Barock-)Stils vertieften sich die alten Formen, aber in weit größerem Maße sind die neuen entstanden. Im späteren 17. Jh. stabilisierten sich die zweiteilige Form (A-B) sowie die dreiteilige Form (A-B-C), die in Italien die Kompositionspraxis beherrschte. Schon im früheren 18. Jh. entwikkelte sich aus dieser dreiteiligen Form die Sonatenform, der sich die Rondo- und Variationsform zugesellten. Die alte polyphone Technik wurde von der Barockepoche übernommen. Allerdings gewann die polymelodische Struktur neue Bedeutung, weil ihre Architektonik vom Prinzip der Harmonik und Modulation bestimmt wurde. Generell gesagt kann man die Anfänge des so genannten Musikbarocks ins spätere 16. Jh. verlegen,41 dessen Verklingen dann etwa in die Mitte des 18. Jhs. Es ist klar, daß das Musikbarock in dieser Hinsicht mit dem Barock in den bildenden Künsten parallel verläuft.42 Am Höhepunkt des Barocks in den bildenden Künsten und in der Musik treten die ersten Voraussetzungen und Elemente des klassischen Stils in Erscheinung. Der Begriff „Klassik“ in der Musikgeschichtsschreibung Der Begriff „klassischer Stil“, „Klassik“ u.ä. wird in der Musikgeschichtsschreibung ziemlich frei und vieldeutig verwendet. Norbert Dufourcq bezeichnete beispiels40 Angekündigt haben sie bereits die Theoretiker Heinrich Glareanus (1488–1563) und vor allem Gioseffo Zarlino (1517–1590). 41 In Übereinstimmung mit Vladimír HELFERT. Vgl. seine Periodisace dějin hudby (wie Anm. 12) und seine umfangreiche Studie Hudba barokní [Die Barockmusik], in: Josef Šusta (ed.), Dějiny lidstva od pravěku k dnešku [Die Geschichte der Menschheit von der Urzeit bis heute] Bd. VI, Praha 1939, S. 599–616. 42 HELFERT charakterisierte die gemeinsamen Züge des Barocks in den bildenden Künsten und in der Musik folgendermaßen: „Auf der einen Seite mystische Verzückung, gesteigerter Affekt und Sehnsucht nach dem Absoluten, die sich im Streben äußert, einen möglichst großen Raum, der sich scheinbar ins Unendliche fortsetzt, in mächtigen, monumentalen Linien zu beherrschen; auf der anderen Seite schroffer Naturalismus im Ausdruck der Affekte – dies alles findet auch in der Musik adäquaten Ausdruck“. Vgl. Hudba barokní (wie Anm. 41), S. 602 (Deutsch von R. P.). 126 Rudolf Peãman weise als klassisch „jede Art der Musik, die in Frankreich zwischen dem Jahre 1571 und der Revolution entstanden ist.“43 Bei Verallgemeinerung dieses Gedankens kommen wir zum Schluß, daß hier etwas als „klassisch“ bezeichnet wird, das weder die Einheit des Stils, noch eine historische Epoche erfaßt. Dufourcq spricht hier als Erbe einer älteren – für uns schwer akzeptablen – Auffassung des in Frage stehenden Begriffs, die sich vor allem im romanischen Bereich geltend machte.44 Als eine allzu breite Definition muß auch die Aufassung Wilhelm Fischers45 gelten, der ein Gleichheitszeichen zwischen dem „altklassischen“ und dem „barocken“ Stil in der Musik setzte. Die Wurzeln dieser Sprachverwirrung sind eigentlich bei Heinrich Wölfflin zu suchen. Diejenigen, die den Begriff „Klassik“ für allgemeingültig halten, stützen sich auf Wölfflins kulturgeschichtliche Auffassung und übernehmen seine Terminologie, ohne sich um die Spezifikation der musikgeschichtlichen Problematik zu bemühen. Ludwig Finscher spricht in diesem Zusammenhang von dem Einfluß der Kulturkritik Gustav Wynekens und Oswald Spenglers, die eine Verwechslung der Begriffe „Klassik“ und „Klassizismus“ erlaubt.46 Wenn es um die Auffassung der Klassik als Begriff eines genau definierten Musikstils geht, gelangt die Musikwissenschaft bereits auf festeren Boden. Aber auch hier sind allzu allgemeine Redensarten, beispielsweise über das klassische Ausmünden der Vokalpolyphonie im Werk Palestrinas, Schubert als Klassiker des deutschen Lieds, Smetana als Klassiker der tschechischen Oper oder über die klassische Harmonielehre zu überwinden, einen Begriff, den die europäische Musiktheorie für das harmonische System von Rameau bis Riemann verwendet.47 Die eben angedeutete Auffassung hat nichts mit der Klassik als Begriffsbezeichnung einer Epoche zu tun, ja sie sagt eigentlich nicht einmal etwas über die Stilproblematik dieser Epoche aus. Die eingebürgerte, wenn auch manchmal irrige Tradition verführt dazu, beispielsweise die Wiener Klassik als identisch mit dem Begriff Klassik anzusehen und demgemäß die persönlichen Stile Joseph Haydns, Wolfgang Amadeus Mozarts und Ludwig van Beethovens mit der Vorstellung der Klassik als solcher zu verbinden. Das ist natürlich unrichtig, weil man mit dieser Auffassung durch die Gleichsetzung des persönlichen Stils und des Stils einer Epoche um den Gesamtblick gebracht wird. Dabei entgeht die Tatsache, daß der klassische Stil ein vereinheitlichender Stil war und sein Wirken ganz Europa umfaßte. Denn wodurch unterscheiden sich voneinander z.B. Domenico Cimarosa und W. A. Mozart? Einzig und allein durch ihren persönlichen Stil, der allerdings 43 DUFOURCQ, Norbert: Die klassische französische Musik, Deutschland und die deutsche Musikwissenschaft, in: Archiv für Musikwissenschaft (AfMw) XXII, 1965, S. 194. KLEMPERER, Viktor: Zur französischen Klassik, in: Vom Geiste neuer Literaturforschung. Festschrift für Oskar Walzel, Wildpark – Potsdam 1924, insb. S. 128–129. 45 FISCHER, Wilhelm: Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils, in: Studien zur Musikwissenschaft (StMw) III, 1915, S. 24–84. 46 FINSCHER, Ludwig: Zum Begriff der Klassik in der Musik, in: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft für 1966. Hrsg. Rudolf Eller, Lepzig 1947, Jg. 11, S. 10. Den Begriff „Klassizismus“ hat z.B. Ernst KURTH verwendet (in seinem Buch Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan, Bern u. Leipzig 1925, S. 15–19), wobei hier die pejorative Färbung des Suffixes „-ismus“ durchaus gewollt war. Im Tschechischen dagegen ist die Verwendung des Begriffs „klasicismus“ üblich, während das Wort „klasika“, das dem deutschen Begriff „Klassik“ entspricht, im terminologischen Apparat der tschechischen Kunstwissenschaft, Ästhetik und Musikwissenschaft nicht funktioniert. 47 Vgl. JEPPESEN, Knud: Zur Kritik der klassischen Harmonielehre, in: Kongreßbericht Basel 1949, S. 23–24. 44 Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 127 bei Mozart ausgeprägter war. Die Schaffensgrundlage beider Meister war jedoch identisch, da sie die Söhne einer und derselben Epoche waren. Der Begriff „klassisch“ in der Musik des 17.–18. Jahrhunderts Der Weg aus diesem terminologischen Labyrinth führt gewiß nur in eine bestimmte Richtung, nämlich zur Auffassung des Begriffs „Klassik“ als Stilperiode, als Epoche in der Geschichte der Musik. Im musikgeschichtlichen Schrifttum des 18. und 19. Jhs. finden wir schon Voraussetzungen und Wurzeln einer solchen Auffassung. Die Bezeichnung „klassisch“ wurde allerdings schon früher verwendet, ohne daß ihr Inhalt genau definiert war. Marco Scacchi (1602–1685), Autor von Madrigalen, Messen, Opern und Oratorien, bezeichnete schon im Jahre 1643 die Werke Palestrinas, Morales’, Sweelincks, Portos, Surians und Anerios als Kompositionen „tum antiquorem, tum modernorum primae classis authorum“ und stellte sie den Kompositionen Paul Sieferts (1586–1666) als Muster gegenüber, gegen den er in der Schrift Cribrum musicum polemisch aufgetreten war.48 Heinrich Schütz drückte in seiner Vorrede zur Sammlung Geistliche Chormusik (1648) einen ähnlichen Gedanken aus, wenn er bemerkte, er wolle keineswegs seine eigenen Werke als „Modell vorstellen und recommandieren“, verweise jedoch in diesem Zusammenhang auf „alte und neue Klassiker“.49 Diese Beispiele aus dem 17. Jh. haben wir als Beleg einer frühen Verwendung des Begriffs „klassisch“ angeführt, noch ehe sich in der Musik der klassische Stil etablierte. Zum häufigeren Gebrauch dieses Begriffs kam es dann erst in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. John Hawkins verwendete ihn zwar noch im älteren Sinne, wenn er im Jahre 1776 Glareans Dodekachordon als Werk voll klassischer Stileinheit lobte,50 in Deutschland nahm jedoch – wie Finscher belegt – der Begriff „klassisch“ allmählich die Bedeutung einer Stilbezeichnung und -einreihung an, und dies bereits am Anfang der 1760er Jahre.51 Damals wurde Carl Philipp Emanuel Bach als „klassischer“ Autor bezeichnet, während die Fuge als „klassische“ Form und Muster des überlieferten Kompositionsstils galt. Der Begriff „klassisch“ im 19. Jahrhundert Allerdings wurde um jene Zeit noch keine Einheit in der Auffassung des klassischen Stils erreicht. Christian Friedrich Daniel Schubart52 sah ihn von vorwiegend 48 SCACCHI, Marco: Cribrum musicum ad triticum Syfertinum, Warschau 1643. Scacchi schrieb dieses polemische Traktat während seines Wirkens als Kapellmeister und Komponist am polnischen Königshof, wo Siefert Organist war. Siefert antwortete mit der polemischen Schrift Anticribatio musica ad avenam Scachianam (1645), dem Scacchis Reaktion im Traktat Judicium cribri musici folgte, wo er negative Beurteilungen von Sieferts Kompositionen aus der Feder von Heinrich Schütz (1585–1672), Johann Stobäus’ (1580–1646) u.a. abdruckte. 49 Vgl. DAHLHAUS, Carl: Cribrum musicum. Der Streit zwischen Scacchi und Siefert, in: Norddeutsche und nordeuropäische Musik. Referate der Kieler Tagung 1963, Kassel 1965, S. 108–112. Zitiert auch bei FINSCHER, l.c. S. 16–17 (wie Anm. 46). 50 HAWKINS, John: A General History of the Science and Practise of Music, Vol. I., London 1776, S. 325. 51 FINSCHER, l.c. S. 17 f (wie Anm. 46). 52 SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, 1784, hrsg. von Ludwig Schubart, Wien 1806. 128 Rudolf Peãman musiktheoretischen Gesichtspunkten. In der deutschen Ästhetik um 1800 setzte sich dagegen ein verallgemeinernder Standpunkt durch, so daß schon Johann Gottlieb Karl Spazier53 seine Forderungen an den Typ des klassischen Künstlers so umfassend als möglich formulierte. Ein solcher Künstler sollte Genie und Fleiß, feste schöpferische Disziplin gepaart mit natürlichem Talent besitzen, das den Künstler zum Künstler macht. Er sollte Werke voll Reinheit, freudiger Gelassenheit schaffen – Werke als wahrhaften Ausdruck der Natur. Er sollte ein scharfer Beobachter der Dinge um sich sein, die sich in seltener Einheit in seinem Schaffen widerspiegeln müßten. In diesem Standpunkt überwog noch die normativ-direktive Haltung, die sich auf die Postulate der Affektentheorie und Nachahmungs-Ästhetik stützte. Spazier stimmte nichtsdestoweniger etwa mit Friedrich Schlegel überein, wenn er die Tatsache unterstrich, daß die so genannten klassischen Werke siegreich aus dem Zusammenstoß mit der Feder des Analytikers hervorgehen. Sie sind fest und logisch gebaut, ihr Ganzes stellt die Summe aller Teile dar. „Spaziers Klassikbegriff ist also höchst komplex: er umfaßt Korrektheit, Überschaubarkeit der Dimensionen, „epochenmachende“ Originalität, Einheit in der Mannigfaltigkeit als wahren Ausdruck der Natur, wahres und reines Vergnügen in der Apperzeption durch Schönheit und „echten“ Ausdruck, unbegrenzte Analysierbarkeit aus unerschöpflicher Fülle und Vielsichtigkeit […].“54 Man könnte mehrere ähnliche Belege der Kodifizierung des Begriffs „klassisch“ finden.55 Allerdings vermissen sie eines: sie fassen den erwähnten Begriff nicht als geschichtliche Kategorie, als Bezeichnung einer Stilepoche auf. Etwas später beweist aber das Vorkommen und die Bedeutung des Begriffs beispielsweise bei Thibaut56 deutlich, daß es zu einer differenzierteren Verwendung des Wortes „klassisch“ kam, das bereits in die Umgangssprache überging. Thibaut arbeitete bereits mit historischen Kategorien. Wenn er das Schaffen seiner Zeit wertete, sprach er den Gedanken aus, man müsse vom historischen Studium und Vergleich mit der Vokalpolyphonie des 16. Jhs. ausgehen. Schade, daß wir hier nicht näher verfolgen können, wie der Begriff „klassische Musik“ am Anfang des 19. Jhs. entstanden ist. Zu betonen wäre aber, daß er bereits damals der Kritik unterzogen wurde. Hans Georg Nägeli,57 der den Gedanken verneinte, daß man in der Entwicklung der Musik von einem klassischen Altertum sprechen könne („gibt es in der Tonkunst gar kein classisches Alterthum“), stand zur Ansicht, daß jedes Werk klassisch werde, das seine Zeit überlebe und keinen ephemeren Ansichten und modischen Interessen unterliege.58 Nägeli ließ also den vergleichenden Blickpunkt außer acht und wertete die 53 Johann Gottlieb Karl SPAZIER in den kritisch-historischen Bemerkungen zur deutschen Ausgabe von Grétrys Mémoires, in deutscher Übersetzung unter dem Titel Versuche über die Musik, Leipzig 1800, S. 29–30. 54 FINSCHER, l.c. S. 19 (wie Anm. 46). 55 Ebda. 56 THIBAUT, Anton Friedrich Justus: Über die Reinheit der Tonkunst, hrsg. von R. Heuler, Paderborn 1907. In dieser Ausgabe werden die Fassungen aus den Jahren 1824 und 1826 angeführt. 57 NÄGELI, Hans Georg: Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten, Stuttgart – Tübingen 1826, S. 199. 58 Vgl. Hugo RIEMANNS Musik-Lexikon, 10. Auflage, Berlin 1922, S. 641; SEEGER, Horst: Musiklexikon I, Leipzig 1966, S. 481. Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 129 Qualität eines Werkes danach, ob es vom Zahn der Zeit angenagt wurde oder nicht. Der Leipziger Kritiker Friedrich Rochlitz,59 Chefredakteur der Zeitschrift Allgemeine musikalische Zeitung, verwendete den Terminus „klassisch“ bedenkenlos auch bei der Wertung zeitgenössischer Kompositionen oder von Werken der jüngeren Vergangenheit. Zu einer philosophischen Definition kam es dagegen bei Amadeus Johann Gottlieb Wendt,60 der sich Thibauts Ansichten zuneigte. Für den Gipfel des musikalischen Schaffens hielt er die Werke Haydns, Mozarts und Beethovens. Bei Haydn beherrsche die Form den Stoff, seine Gedanken ordneten sich zwanglos der Form unter. Mozart stehe inmitten der klassischen Periode; bei ihm komme es zur „völligen Durchdringung der Form und des Stoffes“; bei Beethoven verschlinge der Stoff die Form, wobei Beethoven eigentlich bereits die „romantische“ Entwicklungsstufe der Kunst darstelle. Wie man sieht, äußerte sich hier eine Abhängigkeit von der Philosophie und Ästhetik Hegels, der sich mit den Fragen der so genannten klassischen Kunst grundsätzlich befaßte.61 Vom Standpunkt der damaligen normativen Ästhetik brachte Wendt einen neuen Blick auf die Problematik insofern, als er auf dem Gebiet der Musikkritik vielleicht als erster die Gebundenheit der klassischen Musik an die Problematik der musikalischen Epoche erkannte. Er bestimmte also die musikalische Klassik als historischen Begriff. Zutreffend hat dies Ludwig Finscher ausgedrückt: „Wendts Anschauung ist bedeutsam […] als Begründung des musikalischen Epochenbegriffs Klassik, der hier nicht nur aufgestellt, sondern zumindest indirekt, durch die Charakterisierung der drei Komponisten [d.i. Haydn, Mozart und Beethoven], auch definiert wird. Wendt überträgt die allgemeinen Definitionsmerkmale, wie Einheit in der Mannigfaltigkeit, Durchdringung von Form und Stoff, […] und versucht damit eine Synthese, die den zu seiner Zeit schon alten Streit über den ästhetischen Vorzug der einen oder anderen [Musikgattung, d.i. der Vokalund Instrumentalmusik] endgültig schlichten soll: der größte Klassiker ist der, bei dem Vokales und Instrumentales ebenso ausgewogen vereinigt sind wie in jeder einzelnen Komposition ihre Elemente.“62 Aus dem Angedeuteten geht hervor, daß der Begriff „klassische Musik“ in stilmäßigem und historischem Sinn am Beginn des 19. Jhs. entstanden ist. Seine spätere Verbreitung in den europäischen Kulturen, philosophisch-ästhetischen Systemen und der musikkritischen Praxis ist bemerkenswert. An dieser Stelle wollen wir jedoch diese Problematik nicht mehr systematisch verfolgen. Stattdessen werden wir uns in aller Kürze der Bestimmung der Grundzüge der musikalischen Klassik widmen. 59 Vgl. FINSCHER, zit. Studie, S. 21 (wie Anm. 46). WENDT, Amadeus Johann Gottlieb: Über die Hauptperiode der schönen Künste, oder die Kunst im Laufe der Weltgeschichte dargestellt, Leipzig 1831, S. 78 und 268. 61 HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik I, tschechische Übersetzung, Praha 1966, S. 103f. 62 FINSCHER, zit. Studie, S. 22 (wie Anm. 46). Wendt faßt nämlich die Stufe (das Maß) des Klassischen je nachdem auf, inwieweit im Werk einer großen Komponistenpersönlichkeit der vokale und instrumentale Stil organisch verbunden ist. 60 130 Rudolf Peãman Grundzüge des klassischen Stils in der Musik Die Klassik entwickelte sich als Stil in der Musik zwischen dem Barock und der Romantik, d.i. von dem späteren 18. Jh. bis etwa in die 1810er Jahre. Die musikalische Klassik konnte an die griechische Antike nicht anknüpfen, wie etwa die bildende Kunst (vor allem die Architektur), weil sie keine Vorbilder in antiken Musikdenkmälern gefunden hätte, die nur in verschwindend geringer Menge erhalten blieben; dafür hatte sie mit der Antike das Ziel der formalen Vollendung gemeinsam. Als typischer Merkmal des klassischen Stils pflegt die ruhige und ausgeglichene Melodik zu gelten. Deshalb erwecken die Werke der musikalischen Klassik den Eindruck der Sicherheit, Geschlossenheit und Endgültigkeit. Sie tendieren zu klar gegliederten melodischen Konturen und zur symmetrischen Periodizität. Die musikalischen Themen sind im Wesentlichen diatonisch; auch die Chromatik erscheint, aber in viel geringerem Maße als beispielsweise im Madrigal der Spätrenaissance, im Barock oder in der Spätromantik. Die Harmonik stabilisiert sich, Hauptträger des harmonischen Satzes sind Tonika, Dominante, Subdominante und ihre Umkehrungen. Die Modulationen zielen meistens in diatonisch verwandte Nebenstufen. In den Formen kommt das Streben nach endgültiger architektonischer Gestalt zur Geltung. Die Stabilisierung der klassischen Sonatenform geht Hand in Hand mit dem Aufbau der zyklischen Gliederung, die nun die Symphonie, das Konzert und die Kammermusik beherrschen wird. In der Instrumentierung äußert sich das Streben nach individueller Betätigung der einzelnen Instrumente. Fernerhin läßt sich beim klassischen Musikstil ein Streben nach „diskursiver Musiksprache“ beobachten.63 An die Stelle der einheitlichen und einheitlich wirkenden „Barock“-Struktur tritt die Tendenz zu Beweglichkeit und Wechsel der musikalischen Gedanken in den Vordergrund. Die thematische Polarität geht Hand in Hand mit dem kontrastreichen Ausdruck und Themendualismus im Sonatensatz. Im Vergleich mit dem Barock mag zwar die Vereinfachung der Harmonik als Rückzug erscheinen. Aber gerade die Vereinfachung, und bis zu einem gewissen Grade auch Verselbständigung der melodischen und harmonischen Komponenten steht schließlich und endlich an der Wiege der zur Romantik führenden Weiterentwicklung. Die übersichtliche Melodik beeinflußt auch formbildende Elemente der Musik dermaßen, daß man oft von Allgemeinverständlichkeit dieser Musik und ihrer Ausdrucksmittel sprechen kann. Der rhytmische Verlauf des klassischen Kompositionssatzes war mannigfacher und vielfältiger, gewann an Plastizität der Gestaltung. Auch die dynamische Schattierung und die reiche Verwendung der allmählich „rollenden“ Dynamik, die sich schon zur Zeit der Mannheimer Schule durchgesetzt hatte, zielte auf die formbildende Auswertung dynamischer Effekte. Natürlich war dies ohne die Entwicklung des Instrumentariums, ohne den Fortschritt auf dem Gebiet des Instrumentenbaus nicht zu erreichen: das Violoncello verdrängte die Viola da gamba, die Querflöte die alte Blockflöte, das Hammerklavier besiegte die älteren Typen der Tasteninstrumente und konnte es nun mit dem Orchestertutti aufnehmen Die Violine übernimmt neben weiteren Streichinstrumenten die führende Rolle im Orchester, 63 „Discursive Tonsprache“: ein Terminus Hugo RIEMANNS, Handbuch der Musikgeschichte II/3, Leipzig 1913. Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 131 aus dem nun das lautschwache Cembalo als Generalbaßinstrument verschwindet. Dafür betritt die Familie der Orchesterinstrumente die Klarinette, die über eine neue, ungewohnte Farbe verfügt und mit der Oboe, dem beliebten Instrument des Barocks, um das Primat kämpft. Ein neues Klang- und Farbenideal entsteht, das auf dem Wechsel von Instrumentengruppen beruht und aus dem erweiterten klassischen Instrumentarium wächst. Dieses wird nun um den Klang der Waldhörner, Trompeten und zuletzt auch der Posaunen bereichert. Der transparente Orchesterklang der Klassik bildete einen festen Ausgangspunkt für klanglichen Eroberungen der Romantik. Unsere Bemerkungen über die Grundzüge des klassischen Stils werden hoffentlich genügen, um die innere Verbindung des klassischen und romantischen Stils hinreichend anzudeuten. An diese Verbindung glaubte Vladimír Helfert,64 expressis verbis hat sie Friedrich Blume65 von neuem geäußert, der im Vokalmusik die engen Zusammenhänge der Klassik mit dem gipfelnden Barock betonte.66 Es ist klar, daß in der klassischen Musik sowohl das Instrumental- als auch das Vokalschaffen gleichmäßig vertreten war, so daß es ungenau wäre, die Klassik ausschließlich als Zeit der Instrumentalmusik anzusehen. Gattungen und Formen In der Epoche der Klassik kamen eigentlich keine neuen Formen zur Welt. Es gibt in dieser Hinsicht keine Analogie zum Barock, in dem Monodie und Oper, Concerto grosso und Solokonzert u.a. entstanden. Manche ältere Formen starben mit dem Antreten des klassischen Stils ab, z.B. die französische Orchesterouvertüre (à la Lully), der ältere Suitentyp oder die „sonata da camera“ für verschiedenartige Besetzungen. Die Suite und Sonate des barocken Typs verschwanden schon um das Jahr 1740. Auch die Beliebtheit der älteren Gesellschaftstänze wie Allemande, Courante, Sarabande, Gigue, Rigaudon und Loure sank langsam; diese Tänze wurden von der Gavotte, Polonaise und dem Menuett abgelöst, die übrigens schon im Barock in aristokratischen Kreisen heimisch wurden. Die Klaviervariation gehörte in der klassischen Zeit zu den beliebtesten Formen, ihre Wurzeln muß man aber wiederum in der Barockepoche suchen. Die Klassik unterdrückte zwar die überlieferte Art der Variation über ein Baß-Modell, behielt jedoch ihren Improvisationscharakter. Zuletzt bereicherte sie das Repertoire der Variationstechniken um den Typ der charakteristischen Variation, und zwar im Werk L. v. Beethovens. In diesem blieb der Weg zu freier Auffassung dieser Form offen, der wir bei den Romantikern begegnen. Variationen gingen auch in große Formen ein, beispielsweise in Symphonien, vor allem bei Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven. Zu erwähnen sind die Schicksale der Triosonate in der Klassik, die in der früheren Entwicklungsphase dieser Stilepoche ihr eigenes Leben führte. Italienische Komponisten pflegten sie, in der norddeutschen Schule kam sie bis zur Zeit 64 65 66 HELFERT, Vladimír: Periodisace (wie Anm. 12). BLUME, Friedrich: Syntagma musicologicum (wie Anm. 25), S. 890. Ebda., S. 169. 132 Rudolf Peãman der Brüder Graun und Carl Philipp Emanuel Bachs zur Geltung, auch bei Franzosen (Leclair, aber noch Auber und Gossec) traf man sie häufig. Im allgemeinen kam es nun dazu, daß die älteren Formmodelle neue melodische Gewänder annahmen und daß sich das Satzgefüge langsam veränderte, den klassischen Kompositionsregeln weichend. In den 1770er Jahren wurde dann die Triosonate von der Klaviersonate mit einem Melodieinstrument „ad libitum“ (meistens Violine oder Flöte) endgültig verdrängt. Eine Entwicklungskontinuität läßt sich auch beim Concerto grosso beobachten. In der Frühklassik wurde es ohne wesentliche Eingriffe in die Formstruktur als wichtiger Vorgänger der konzertanten Symphonie gepflegt. Erst Haydn befreite sich von dieser Form und bildete einen reinen Typ der konzertanten Symphonie aus.67 Beim Solokonzert kann man dagegen eine ununterbrochene, aufsteigende Entwicklungslinie vom Barock zur Klassik feststellen. Man kann direkte Beziehungen der konzertanten Soloform Vivaldis, Veracinis, Locatellis, Tartinis u.a. zum Typ des Mannheimer Violinkonzerts, zur Konzertform der norddeutschen und süddeutschen Meister, auch Haydns und Mozarts aufspüren. Der Einfluß des Concerto grosso zeigt sich vor allem im Wechsel der Solo- und Orchesterkomponente und in der Geltendmachung der Ritornelltechnik. Die Sonatenform ist wohl die typischste Form der Klassik. An dieser Stelle sei nur allgemein erwähnt, daß diese Form keine „Erfindung“ der Mannheimer Schule war, sondern daß man ihre Wurzeln bei Alessandro Scarlatti, Giovanni-Battista Sammartini, Baldasare Galuppi, Domenico Scarlatti, der Wiener vorklassischen Schule und den norddeutschen Komponisten zu suchen hat. Die Entwicklung der Sonate war demnach allmählich und ihr Typ erschien gleichzeitig bei verschiedenen Meistern in verschiedenen Ländern. Der klassische Stil übernahm aus der Vergangenheit Formen der Kirchenmusik. Die Melodik der Messen, Offertorien, verschiedener Formen der Orgelmusik u.a. wurde zwar von den neuen Kompositionsprinzipien beeinflußt, in der Struktur dieser Werke kam aber der Fortschritt nur unmerklich zum Tragen. Beliebt waren z.B. an bestimmten Stellen der Messen so genannte Soloeinlagen, dann wieder kontrapunktische Orgelformen, vor allem Fugen. In diesem Zusammenhang sei betont, daß die Klassik bereits die richtige Beziehung zum Kontrapunkt verloren hatte, so daß selbst W. A. Mozart erst nach dem Kennenlernen der Kunst J. S. Bachs und G. F. Händels in dessen Geheimnisse einzudringen vermochte.68 Als er seine kontrapunktische Aufgabe zur Erlangung des Titels „accademico filarmonico“ in Bologna schrieb, wimmelte sie von Fehlern, die der Vorsitzende der Prüfungskommission, der gutmütige Padre Giambattista Martini, eigenhändig verbesserte.69 67 Vgl. seine Symphonien Le midi und Le soir (1761). EINSTEIN, Alfred: Mozarts Kontrapunkt, tschechisch in: Hudební rozhledy XXIII, 1970, Nr. 4, S. 176–181. Vgl. GASPARI, Gaetano – TORCHI, Luigi: Catalogo della Biblioteca del Liceo Musicale di Bologna […], Volume III. Pratica, Bologna 1893. Im Abschnitt Autori diversi. Esperimenti di vari compositori per essere aggregati dell’Accademia de’Filarmonici di Bologna. – Mss. per la maggior perte autografi – führen Gaspari und Torchi das Verzeichnis der Akademiker der Bologneser Akademie an („Elenco degli autori“). Mozart wird hier unter Nummer 23 geführt: „Mozart Wolfgango Amadeo, cavaliere, il 12 ottobre 1770…“ Diese Problematik beglaubigte ich während meines Studienaufenthaltes in Italien 1973–1974. 69 Das Urteil der Kommission klang nicht allzu schmeichelhaft: „Nel temine di meno d’una d’ora ha esso Mozart portato il suo esperimento, il quale rigardo alle circostanze chi esso lui è stato guidicato sufficiente.“ („Nach kaum einer Stunde lieferte Signor Mozart seinen Versuch ab, der unter Berücksichtigung der besonderen Umstände als hinreichend befunden wurde.“) 68 Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 133 Aus dem Barock wuchs in die klassische Periode auch die opera seria, die lange Jahre das höfische Leben begleitete und zu den Trägern des Prunks der Residenzen und ihrer Theater gehört hatte. Noch der späte Mozart fand in der opera seria das Vorbild, als er seinen Titus komponierte (1791); Metastasios Operntyp ist hier dem reifen klassischen Stil aufgepfropft.70 Allerdings war es weit früher zum Durchbruch der opera seria gekommen, so daß man von einer Invasion der italienischen Opernstaggionen in die europäischen Kulturresidenzen sprechen kann. Bereits um das Jahr 1700, als Apostolo Zeno seine ersten Operntexte schrieb, läßt sich vom Eindringen des frühklassischen Geistes in die Musik des gipfelnden Barocks sprechen. Die opera seria, die in der Geschichte der Musik den Typ der lyrischen Oper darstellte, brachte mit ihrem Wesen – der Lyrisierung des Stoffes und musikalischen Ausdrucks – mächtige Impulse, welche die Entwicklung zur Frühklassik beeinflußten.71 Schon die Abneigung der opera seria gegen allzustarke Reflexivität und ihre Zuneigung zu verklärten Apotheosen der Redlichkeit und des vom stoischen Gedanken erfüllten Heroismus weist darauf hin, daß es sich um eine Vorwegnahme antiker, also letzten Endes klassischer Gedanken und Haltungen handelte. Diese neue Auffassung der Oper kristallisierte im Werk Händels, Bononcinis, Vincis, Leos, Pergolesis, Hasses, Grauns u.a. Der Strom der venezianisch-neapolitanischen Oper72 mit ihrer brillanten sängerischen Virtuosität ergriff ganz Europa. Es schwemmte zwar eine Gruppe von Reformatoren innerhalb des Stils an den Tag (Jommelli, Traetta, Majo, auch Händel), zur unmittelbaren Vorstufe der klassischen Oper im engeren Sinne gelangte aber erst Chr. W. Gluck,73 von dem der Weg zu den Spitzenleistungen Mozarts und Beethovens führt. Bei Gluck stieß das Bühnenpathos der opera seria bereits auf taube Ohren. Er stellte nun wahrhaftige menschliche Charaktere auf die Bühne, die aus seiner reichen künstlerischen und musikdramatischen Erfahrung hervorgingen. Dieser Entwicklungsweg wurde erst von L. v. Beethovens und in Frankreich von Luigi Cherubinis Schaffen gekrönt.74 Auch die Wurzeln der komischen Oper fußen in Barock. Die neapolitanische opera buffa bot den ersten Anstoß. Dem Ernst der opera seria stellte sie zuerst den Typ des komischen Intermezzos entgegen, der wegen seiner „Volkstümlichkeit und ausgesprochenen Rationalität von Anfang an weit eher das Kind des klassischen als des barocken Zeitalters ist.“75 Noch am Ende des 18. Jhs. feierte die opera buffa in den Werken Cimarosas, Sartis, Paisiellos u.a. ungewöhnliche Erfolge. Neben Italien regten die Entfaltung der klassischen komischen Oper auch Frankreich (zuerst in volkstümlichen Vaudevilles, später im Typ der opéra comique, der 70 Vgl. ABERT, Hermann: W. A. Mozart I, Leipzig 1955, S. 178 f. Vgl. PEČMAN, Rudolf: Josef Mysliveček und sein Opernepilog, Brno 1970; Josef Mysliveček, Editio Supraphon, Praha 1981; Georg Friedrich Händel, Editio Supraphon, Praha 1985. 72 KAMPER, Otakar: Hudební Praha v XVIII. věku [Das musikalische Prag im 18. Jahrhundert], Praha 1936; NĚMEC, Zdeněk: Neapolská opera [Die neapolitanische Oper], Praha 1940; PEČMAN, Rudolf: Výrazové prostředky neapolské vážné opery [Die Ausdrucksmittel der ernsten neapolitanischen Oper], Brno 1970 (später abgedruckt in: Universitas, revue University J. E. Purkyně v Brně, Jg. 3, 1970, Nr. 3, S. 47–68). 73 Friedrich BLUME (l.c., wie Anm. 25) führt im Zusammenhang mit Gluck auch Piccini, Sacchini u.a. an. Nach Romain ROLLAND (Voyage au pays du passé, Paris 1919, tschechische Übersetzung Praha 2. Aufl. 1962) reichte Gluck auch Metastasio in seiner Weise die Hand. 74 Die Bedeutung Cherubinis für die Entwicklung der Oper wurde bisher nicht voll gewürdigt. Vgl. SCHEMANN, Ludwig: Cherubini, Stuttgart – Berlin – Leipzig 1925. 75 BLUME, l.c., S. 171 (wie Anm. 25). 71 134 Rudolf Peãman die Bühnen Europas eroberte), sowie England (mit der „ballad opera“) an, welche einen beträchtlichen Einfluß auf die Entstehung von Bendas, Hillers, Umlaufs u.a. Singspielen nahmen. Wie man sieht, bot die klassische Oper einen vielseitigen und vieldeutigen Blick an. Das Erbe des Barocks lebte in ihr lange, doch die klassischen Tendenzen bildeten sie relativ bald zu einem eigenen Bilde um. Das Nationalbewußtsein und die Entstehung nationaler Strömungen knüpften an den klassischen Kanon der Opernkomposition an. Die klassische Oper steht vor den Toren der romantischen Oper Webers und Spohrs.76 Ähnlich wie die Oper schöpfte auch das Oratorium aus dem Erbe der Vergangenheit. In Süddeutschland, Österreich und Italien entwickelte sich der Typ des von Johann Adam Hasse und Niccolò Porpora vertretenen Oratoriums à la Metastasio, während J. S. Bach diese Tradition in Norddeutschland überwindete. Aber Georg Friedrich Telemanns Tendenzen, die sich im Licht des Schaffens der Gebrüder Graun oder der Söhne J. S. Bachs erneuerten, zielten zum Typ des Oratoriums der Aufklärung, das rationalistische Gedanken vorwegnahm. Übrigens begegnete man schon im Schaffen G. F. Händels ähnlichen Tendenzen beispielsweise im Oratorium L’Allegro, il Penseroso, ed il Moderato (1740). So baute auch Händel in seiner Weise eine Brücke zur klassischen Kunst.77 Zur Säkularisierung kam es erst bei Joseph Haydn, der zu dem an Rousseau gemahnenden Stoff des Oratoriums Die Jahreszeiten (1801) griff, ohne sich dabei der musikalischen Einflüsse des Singspiels, der Oper, Kirchenmusik und des Liedes zu erwehren. Die Frucht einer langjährigen Entwicklung war auch das deutsche Lied, dessen Form sich in der Klassik gefestigte und in der Romantik ihren Gipfel erreichte. Telemann brachte im Lied schon in der Zeit des Stilübergangs idyllische Züge und vereinfachte seine Form, während die Komponisten der Berliner Schule wie Gebrüder Graun oder C. Ph. E. Bach ihre Anstrengungen gegen italienische Einflüsse aufwandten. Haydns und Mozarts Lieder standen am Rande des Schaffens beider Meister. Dasselbe wurde – gewiß zu Unrecht – auch von Beethoven überliefert. Schlußfolgerungen Die Beispiele, die wir hier in Kürze anführten, zeigen anschaulich, daß die klassische Epoche der Musik vom Standpunkt der Formen und Gattungen eng mit der vorhergehenden Epoche des Barock zusammenhing und auch eine Reihe von Anregungen für angehende Romantik geboten hat. Diese Fragen haben die Musikwissenschaftler bisher wenig beachtet – und wenn schon, dann meistens nur von allgemeinen Gesichtspunkten her. Friedrich Blume78 beharrte auf der Aufzählung 76 Interessante Übergangstypen sind „drama giocoso“ und „opera eroico-comica“, „monodrama“ und „duodrama“. Im ersten Begriffspaar wird der Wechsel von Stimmungen angedeutet, im zweiten geht es um den Typ der monologisch oder dialogisch aufgefaßten Oper (bzw. des Melodramas). Jiří Antonín Benda neigt sich in seinen Melodramen dem zweitgenannten Begriffspaar zu, während beispielsweise Mozart in Don Giovanni die Bezeichnung „drama giocoso“ wählt. Er ist auch der Schöpfer der Märchenoper, an welche die romantische Ära anknüpfte (Weber u.a.). Näheres siehe BLUME, l.c., S. 172 (wie Anm. 25). 77 Vgl. SIEGMUND-SCHULTZE, Walther: Georg Friedrich Händel. Thema mit 20 Variationen, Halle a.d. Saale, 1965. 78 BLUME, l.c. (wie Anm. 25). Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Barocks und der Klassik 135 einiger Fälle, Walter Wiora79 blieb in metaphysischen Kategorien stecken. Es ist notwendig, sich z.B. die Fragen zu stellen, ob in der Klassik der Charakter der Vokalmusik unangetastet blieb, ob sich hier nicht beispielsweise der Typ des „singenden Allegro“ durchsetzte, ob es zu einer Durchdringung des Vokal- und des Instrumentalidioms kam usw. Bei der Lösung dieser Probleme können auch die zeitgenössischen musiktheoretischen Schriften helfen. Harry Goldschmidt80 hat auf Grund einer semantischen Analyse nachgewiesen, daß die Hauptvertreter der Wiener Klassik zur Einheit des Vokal- und Instrumentalprinzips gelangten, daß sie – instrumental schreibend – überall den Vokalcharakter ihrer musikalischen Gedanken ausdrückten. Des weiteren haben wir gezeigt, daß der Begriff Klassik breit ist, auch unterschiedlich aufgefaßt und interpretiert werden kann. Die musikalische Klassik ist mit der Zeit der Wiener Klassik nicht identisch, sondern stellt eine längere Epoche dar, die aus dem Barock wächst. Die Grenze zwischen Barock und Klassik ist nicht scharf. Eine besondere Aufmerksamkeit sollte man übrigens auch derjenigen kurzen Übergangsepoche widmen, die als Zeitalter der Rokoko-Musik bezeichnet wird.81 Es zeigt sich, daß die so genannte Klassik keine geschichtlich streng begrenzte Epoche gewesen ist, jedoch an die von ihr selbst geschaffenen, der klassischen Vollendung entsprechenden Ideale der Kompositionsstruktur gebunden war, wie sie sich in der Entwicklung der Musik im 18. Jh. bemerkbar machten. Dieser Entwicklungsprozeß, an dessen Ende die Wiener Klassik steht, ist ein Prozeß des Wachsens und Reifens. Der Aspekt der Stilvollendung82 ist mit dem Aspekt der Stilsynthese zu vereinigen. Es wird klar, daß Elemente des „galanten“ und „sentimentalen“ Stils bei Gluck, Mozart, aber vor allem bei Beethoven ihre eigentliche Erfüllung fanden: es kommt zu ihrer Verschmelzung in eine höhere Stileinheit. Also Integration, keineswegs bloßer Synkretismus – das sind die Züge der klassischen Kunst. Der Blickpunkt der Stileinheit gestattet es nicht, daß wir nun Periodisierungsaspekte beachten. Wir haben das übrigens bei anderer Gelegenheit getan.83 Heute fassen wir die Frage des klassischen Stils der Musik freier auf als die ältere Musikwissenschaft. Das Zusammenspiel der einzelnen Elemente der Klassik berechtigt zur Hoffnung, daß man bis zu einem bestimmten, sei es auch hohen Maße an die Entwicklung aller Möglichkeiten eines Stils glauben kann; im Zusammenspiel der einzelnen Stilelemente entfaltet sich der Stil einer Epoche – dies geschieht allerdings, sofern noch keine Harmonie der Stilkomponenten erreicht ist. Die Ordo des Ganzen und Endlichkeit des Stils gestatten natürlich eine reiche innere Differenziertheit. Trotzdem erreicht die Klassik einen Typischen, unwieder79 WIORA, Walter: Absolute Musik, MGG I. Sp. 46–56. GOLDSCHMIDT, Harry: Über die Einheit der vokalen und instrumentalen Sphäre in der klassischen Musik, in: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft für 1966, ed. Rudolf Eller, Jg. XI, Leipzig 1967, S. 35–49. 81 Vgl. dazu PEČMAN, Rudolf: Josef Mysliveček… (wie Anm. 71); Derselbe: Corellis Concerti grossi als Vorboten des Klassizismus, in: Sborník filosofické fakulty brněnské university XVII, 1968, Musikwissenschaftliche Reihe (H), Nr. 3, S. 29–42; Derselbe: Zum Begriff des Rokokostils in der Musik, in: Muzikološki zbornik, ed. Dragotin Cvetko, Jg. IX, Ljubljana 1973, S. 5–34. 82 Vgl. URSPRUNG, Otto: Stilvollendung. Ein Beitrag zur Musikästhetik, in: Festschrift Theodor Kroyer zum 60. Geburtstag, Regensburg 1933, S. 149. 83 PEČMAN, Rudolf: Zu Stilanalyse der Musik des Aufklärungszeitalters, Habilitationsarbeit, LXXIII + 293 Seiten (1. Teil), Notenbeispiele (II. Teil), Brno 1970–1976. 80 136 Rudolf Peãman holbaren und dabei individuell spezifizierten Ausdruck. Dieser ist allgemein verständlich, was allerdings keine Einfalt und simplifizierende Tendenzen signalisiert. Die Klassik wendet sich an die Gesamtheit, nicht an das im Elfenbeintürmchen eines exklusiven Aristokratismus sitzende Individuum. Sie ist Ausdruck einer Zeit, die den Gedanken von der inneren Befreiung des Menschen ins Leben gerufen hat. Adresse: prof. PhDr. Rudolf Pečman, DrSc., Loosova 12, CZ – 638 00 Brno 38 Rozdílné názory na povahu baroka a klasicismu v hudbě Rudolf Pečman K otázkám baroka a klasicismu se neustále vracíme. Mnozí z nás chápeme obě období jako jednu nepřerušovanou epochu. Typologie a sociologie uvedených časových úseků jsou dnes předmětem zvýšeného zájmu. Baroko je značně komplikované a vnitřně rozporné. Klasicismus (německy die Klassik) tenduje k osvícenství, tedy k postupnému uvolňování, a předjímá již i dokonce dobu po francouzské revoluci. Barokní člověk nenalézal odpovědi na základní otázky života. Ten, kdo tíhne k osvobozenému lidství, kdo zvolna láme pouta tradice, stává se sám nositelem nových životních postojů. Výzkum obou stylových údobí přináší nejeden problém i muzikologům. Je nutno se osvobozovat z přílišné závislosti na názorech vědců bádajících v dějinách výtvarných umění, ale ani například hlediska literárních vědců nelze mnohdy svést na společného jmenovatele s názory hudebních vědců a estetiků. Nutno brát v úvahu hlavně specifičnost hudby a neopakovatelnost jejích výrazových prostředků. Ukazuje se, že hudbu nelze jednoznačně uvádět v soulad s jinými uměními doby baroka a klasicismu. Dochází v ní leckdy i k opožďování, nutno brát v úvahu, že v rozmanitých zemích a kontinentech se hudba vyvíjela leckdy jinak než jiná umění. Muzikologický výzkum baroka a klasicismu se oprošťuje od výlučně „hudebnických“ postojů. Hledá cestu k mezioborovým stanoviskům, odhaluje vztahy mezi věcmi. Zkoumá zjitřeněji i vztahy mezi hudbou a společností. Objevuje i vnímatele hudby a zkoumá jeho „lásky“ a „nelásky“ v okruhu hudebního umění. Akcentuje i činnost hudebního interpreta a zdůrazňuje stylové otázky a problematiku tzv. věrnosti hudebnímu zápisu. Nevystačíme s mechanickými východisky. Baroko a klasicismus směřují ke konečné jednotné syntéze. Z ní roste i následující doba, která kromě jiného obnovuje funkci polyfonního vyjádření, domýšlí postoje v harmonii, uvolňuje ji a z obou stylů čerpá podněty formové i výrazové.