Inhaltsverzeichnis

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Universität Trier
Trier, im Juli 2003
Fachbereich I – Psychologie
DIE ZEITLICHE STABILITÄT DER
HERZPERIODENVARIABILITÄT
WÄHREND EMOTIONALER FILME
Diplomarbeit
vorgelegt von Henning Holle
Betreuer:
Dr. Dirk Hagemann
Prof. Dr. Dieter Bartussek
2
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS .......................................................................................... 2
0.
EINFÜHRUNG..................................................................................................... 4
1.
THEORETISCHER HINTERGRUND ............................................................. 6
1.1
ARBEITSDEFINITION EMOTION ........................................................................ 6
1.2
DIE AUTONOME KONTROLLE DES HERZENS .................................................. 10
1.2.1
Sympathikus und Vagus............................................................................ 11
1.2.2
Autonome Innervation des Herzens.......................................................... 13
1.2.3
Erregungsverlauf am Herzen ................................................................... 14
1.2.4
Chronotrope Wirkung .............................................................................. 15
1.2.5
Dromotrope Wirkung ............................................................................... 15
1.2.6
Inotrope Wirkung ..................................................................................... 16
1.2.7
Vagale Beat-by-Beat-Kontrolle................................................................ 16
1.3
1.3.1
1.4
Ursachen der RSA .................................................................................... 18
MAßE DER HERZRATENVARIABILITÄT ........................................................... 19
1.4.1
Frequency Domain Maße......................................................................... 20
1.4.2
Time Domain Maße.................................................................................. 22
1.5
VAGALE REAKTIVITÄT UND EMOTION .......................................................... 23
1.5.1
Das Modell von Thayer ............................................................................ 24
1.5.2
Modifiziertes Modell nach Lang .............................................................. 26
1.5.3
Vagale Reaktivität als Traitkomponente des Affektiven Stils ................... 28
1.5.4
Zeitliche Stabilität der vagalen Reaktivität .............................................. 29
1.6
2.
RESPIRATORISCHE SINUSARRHYTHMIE ......................................................... 17
HYPOTHESEN................................................................................................. 30
METHODE ......................................................................................................... 32
2.1
VERSUCHSPERSONEN .................................................................................... 32
2.2
VERSUCHSABLAUF ........................................................................................ 32
2.3
STIMULUSMATERIAL ..................................................................................... 33
2.4
ERHOBENE RATINGDATEN ............................................................................ 34
2.5
ERFASSUNG DES EKG ................................................................................... 34
Henning Holle
2.6
3.
3
DATENVERARBEITUNG UND ANALYSE .......................................................... 35
ERGEBNISSE .................................................................................................... 37
3.1
RATINGS ........................................................................................................ 37
3.2
VERÄNDERUNGEN DER HERZPERIODE ........................................................... 40
3.3
VERÄNDERUNGEN DER VAGALEN AKTIVITÄT ............................................... 42
3.4
DIE VAGALE KOMPONENTE DER EMOTIONALEN REAKTION .......................... 46
3.5
LATENT-STATE-TRAIT-ANALYSE DER REAKTIONSMAßE. ............................. 50
3.5.1
Beschreibung der Modelle ....................................................................... 51
3.5.2
Latent-State-Trait Modell mit Methodenfaktor. ....................................... 52
3.5.3
Modell mit unkorrelierten States und Methodenfaktor ............................ 54
2.5.4
Modell mit unkorrelierten States.............................................................. 56
3.5.5
Ergebnisse der LST-Analyse .................................................................... 58
4.
DISKUSSION ..................................................................................................... 66
5.
LITERATURVERZEICHNIS .......................................................................... 71
ANHANG A: BESCHREIBUNG DER FILME ...................................................... 74
ANHANG B: FAKTORENANALYSE L-MSSD .................................................... 76
ANHANG C: FAKTORENANALYSE DER REAKTIONSMAßE L-MSSD ...... 77
4
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
0.
Einführung
Im Bereich der Emotionsforschung hat sich bis dato eine Vielzahl von
Arbeiten mit den autonomen Komponenten der Emotion beschäftigt. Eine mögliche
Funktion dieser autonomen Veränderungen, z. B. Beschleunigung der Herzrate,
erhöhte Kontraktionskraft des Herzmuskels usw., ist die Bereitstellung körperlicher
Ressourcen im Sinne einer Handlungsbereitschaft (Oatley & Jenkins, 1996). Häufig
wurde dabei die Veränderung der Herzrate als globaler Indikator für autonome
Aktivierung angesehen; teilweise sogar mit sympathisch vermitteltem Arousal
gleichgesetzt (Porges, 1995). Tatsächlich steht das Herz aber unter sympathischer
und parasympathischer (=vagaler) Kontrolle, so dass z. B. ein Anstieg der Herzrate
durch erhöhte sympathische Aktivität, verminderte vagale Aktivität oder durch eine
Kombination aus beidem erreicht werden kann. Es wäre also sinnvoll, die
autonomen Veränderungen, die mit dem Erleben einer Emotion einhergehen,
getrennt in ihren sympathischen und vagalen Anteilen abzubilden. Vor allem die
vagalen Anteile könnten dabei in Bezug auf Emotionen bedeutsam sein, da nur der
Parasympathikus die physiologischen Voraussetzungen für flexible und schnelle
Anpassungsprozesse erfüllt (Thayer & Lane, 2000). Auf der anderen Seite scheint es
eine Verbindung zwischen einem niedrigen vagalen Tonus, einer beeinträchtigten
Fähigkeit zur Emotionsregulation und der Panikstörung zu geben (Friedman &
Thayer, 1998). Wenn man dem Konstrukt der vagalen Reaktivität aber eine solch
wichtige Rolle als Indikator organismischer Responsitivät zuschreibt, sollten die
psychophysiologischen Maße der vagalen Reaktivität auch eine gewisse zeitliche
Stabilität und transsituative Konsistenz im Sinne eines Traits aufweisen.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der zeitlichen Stabilität der
kardiovaskulären vagalen Reaktion im Kontext einer emotionalen Stimulation.
Zweiundsechzig Probanden sahen acht emotionale Filme, die Ausschnitte aus
Henning Holle
5
kommerziellen Spielfilmen darstellten. Die Filme waren dabei so ausgewählt, dass
sie möglichst spezifisch und intensiv eine von vier basic emotions (Ärger, Ekel, Freude
und Trauer) induzieren, wobei je zwei Filme auf eine Emotion abzielten. Zusätzlich
wurde ein neutraler Film gezeigt. Während der Präsentation wurde ein
Elektrokardiogramm (EKG) aufgezeichnet. Aus dem EKG wurde ein Time-DomainMaß der Herzperiodenvariabilität errechnet (root mean square of successive differences rMSSD, d. h. die Wurzel aus dem Mittelwert der quadrierten sukzessiven
Differenzen). Die Herzperiodenvariabilität diente als Indikator für das Ausmaß der
vagalen Beeinflussung des Herzens. Um ein filmspezifisches Maß für vagale
Reaktivität zu erhalten, wurde die Herzperiodenvariabilität des neutralen Films von
der
Herzperiodenvariabilität
jedes
emotionalen
Films
abgezogen.
Die
Herzperiodenvariabilität der einzelnen Filme zeigte eine mittlere Stabilität über die
vier Messgelegenheiten (die meisten Korrelationen lagen im Bereich von r = .50 bis r
= .70). Die Reaktivitätsmaße der Herzperiodenvariabilität zeigten jedoch verminderte
Retest-Korrelationen, die sich um r = 0 bewegten. In einer differenzierten Analyse
nach der Latent-State-Trait-Theorie (Steyer, Schmitt, & Eid, 1999) wurde deutlich,
dass die vagale Reaktion auf emotionale Filme keine zeitliche stabile Disposition (i.S.
eines Traits) ist. Der messgelegenheitsspezifische Einfluss (State-Anteil) ist hingegen
vergleichsweise groß.
6
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
1.
Theoretischer Hintergrund
„Everyone knows what an emotion is, until asked to give a definition. Then, it
seems, no one knows.” (Fehr & Russell, 1984)
1.1
Arbeitsdefinition Emotion
Die Frage, wie man Emotionen definieren kann, ist so alt wie die
Emotionsforschung selbst. Fehr und Russell (1984) haben gezeigt, dass Menschen
sehr wohl in der Lage sind, Beispiele für Emotionen zu geben. Jeder Mensch scheint
z. B. eine Vorstellung davon zu haben, wie sich für ihn die prototypische Emotion
Freude anfühlt und in welchen Situationen er diese Emotion typischerweise erlebt.
Schwierig wird es erst, wenn man versucht, Emotionen zu definieren, indem
notwendige und hinreichende Bedingungen spezifiziert werden. Diese Arbeit folgt
dem Vorschlag von Frijda (1986), nach welchem die Veränderung hin zu einer
Handlungsbereitschaft (englisch: change in readiness for action) eine notwendige
Bedingung für eine Emotion darstellt. Sie stellt jedoch keine hinreichende Bedingung
dar, d. h. nach diesem Verständnis geht nicht jede Vorbereitung einer Handlung mit
einer Emotion einher.
Aus diesem zentralen Element der Handlungsbereitschaft lässt sich eine
Arbeitsdefinition für Emotionen ableiten (Oatley & Jenkins, 1996):
1. Eine Emotion entsteht, wenn eine Person bewusst oder unbewusst ein
Ereignis bewertet, das als relevant für ein Anliegen (ein Ziel) erachtet wird.
Die gefühlte Emotion ist positiv, wenn das Ereignis die Zielerreichung
begünstigt wird und negativ, wenn es die Zielerreichung behindert.
2. Im Zentrum einer Emotion stehen die Handlungsbereitschaft und das
Anstoßen von Plänen; eine Emotion setzt die Priorität für eine oder mehrere
Handlungsarten fest und verleiht ihnen eine gewisse Dringlichkeit. So
Henning Holle
7
entsteht durch die Emotion ein gewisser Wettbewerb der Pläne und
Handlungen, in dessen Verlauf es zu Handlungsunterbrechungen und –
veränderungen
kommen
kann.
Unterschiedliche
Arten
der
Handlungsbereitschaft führen damit zu unterschiedlichen Beziehungen der
Pläne untereinander.
3. Eine Emotion wird normalerweise als ein distinkter mentaler Zustand erlebt,
in
dessen
Folge
oder
Begleitung
es
manchmal
zu
körperlichen
Veränderungen, Veränderungen im Ausdruck oder zu Handlungen kommt.
Der Autor ist sich bewusst, dass die Emotionsforschung von einer
konsensfähigen Definition noch weit entfernt ist und die Entscheidung somit recht
willkürlich ist. Die gewählte Definition fällt nach der Klassifikation von Meyer,
Schützwohl und Reisenzein (1993) in den Bereich der Syndromdefinitionen, d. h.
eine Emotion wird als Gesamtereignis aus mentalem Erleben, Verhalten und
physiologischen Veränderungen verstanden.
Beispiele für Dimensionen des zentralen Konstruktes Handlungsbereitschaft
finden sich in Tabelle 1. Frijda, Kuipers und ter Schure (1989) extrahierten diese
Dimensionen aus imaginierten prototypischen emotionalen Episoden. An den
Beispielitems wird leicht ersichtlich, auf welche Weise Handlungsbereitschaften die
Pläne der Person beeinflussen.
8
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Tabelle 1
Auswahl von Dimensionen der Handlungsbereitschaft mit Beispielitems nach Frijda et al. (1989)
Dimension
Action readiness item
Antagonismus
„Ich wollte opponieren, angreifen, verletzen oder
beleidigen”
Annäherung
„Ich wollte mich annähern, Kontakt aufnehmen“
Vermeidung
„Ich wollte nichts mehr mit der Person / der Sache
zu tun haben“
Überschwang
„Ich wollte mich bewegen, singen, springen,
Dinge unternehmen“
Hoffnungslosigkeit
„Ich wollte etwas tun, aber ich wusste nicht was;
Ich war hilflos“
Kontrolle
„Ich stand über den Dingen; Ich hatte die Sache
im Griff; Ich hatte die Zügel in der Hand“
Inhibition
„Ich fühlte mich gehemmt, paralysiert“
Entspannung
„Ich fühlte mich entspannt; dachte, dass alles OK
ist; sah keinen Anlass, etwas zu unternehmen“
Ein Beispiel möge die zentrale Rolle der Handlungsbereitschaft für die
Emotion verdeutlichen:
Sie möchten kurz vor Ladenschluss noch etwas Einkaufen und gehen auf dem
Bürgersteig die Straße entlang. Ein Auto fährt mit überhöhtem Tempo dicht am Bordstein
vorbei, wobei sie durch das aufgewirbelte Wasser völlig durchnässt werden.
Wutentbrannt drehen sie sich nach dem Auto um und schütteln drohend ihre Faust.
Die Handlung „Einkaufen“ wird hier für einen gewissen Zeitraum
unterbrochen, weil die Handlung „Protest“ zunächst eine höhere Dringlichkeit
bekommen hat. Da Sie nun nass und schmutzig sind, wird das Erreichen einiger
Ziele unwahrscheinlicher, z. B. dass der Einkauf heute noch erledigt wird. Die
gefühlte Emotion wird also negativ sein. Die beiden Handlungen stehen miteinander
im Wettbewerb, wobei dem Protest aktuell eine höhere Dringlichkeit zugeordnet ist.
Henning Holle
9
Wenn die Intensität der erlebten Emotion „Ärger“ nachlässt, ist damit zu rechnen,
dass die Handlung „Einkaufen“ fortgesetzt wird. Versucht man diese emotionale
Episode in den Dimensionen der Handlungsbereitschaft (vgl. Tabelle 1) zu
beschreiben, scheinen hier Antagonismus und Annäherung besonders wichtig zu
sein.
Emotionen dienen somit als Verbindungspunkte zwischen den Handlungen;
sie teilen uns mit, dass eine bedeutsame Veränderung eingetreten ist und wir unsere
Handlungen entsprechend anpassen müssen. Aus diesem Verständnis von Emotion
ergibt sich eine interessante Sichtweise des Verhältnisses von Kognition und
Emotion. Oft werden die beiden als konkurrierende Prozesse (miss-)verstanden,
wobei den Emotionen die Rolle eines phylogenetischen Erbes zugedacht wird, dass
uns beim Treffen von rationalen Entscheidungen behindert.
In real life, purely logical search through all possibilities is not possible (because of
limitations of resources, multiple goals, and problems of coordination with others).
Nevertheless we must act and, (…), herein are the roots of human tragedy: despite our
limitations we must take responsibility for our actions, and suffer their effects. This is
why emotions or something like them are necessary to bridge across the unexpected and
the unknown, to guide reason, and to give priorities among multiple goals (Oatley &
Jenkins, 1996).
Die Pläne, die durch Emotionen angestoßen werden, sind hauptsächlich
sozialer Natur, d. h. sie beziehen andere Personen mit ein. Insofern sorgen sie für
eine gewisse Infrastruktur des sozialen Miteinanders, ein Aspekt, den rein kognitiv
orientierte Emotionstheorien, wie z. B. die goal-relevance-theory von Lazarus (Oatley &
Jenkins, 1996), häufig vernachlässigen.
Nach Frijda (1986) kann man Emotionen also als distinkte mentale Zustände
verstehen, die eine wichtige Rolle in der Handlungsregulation spielen. Neben diesen
motivationalen Voraussetzungen müssen allerdings auch gewisse körperliche
Handlungsbereitschaften geschaffen werden, damit der Organismus erfolgreich
10
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
handeln kann. Emotionen sollten nach dieser Vorstellung mit einer Aktivierung von
körperlichen Ressourcen einhergehen, die in Art und Verlauf auf die situativen
Anforderungen abgestimmt ist. Im folgenden soll skizziert werden, wie das
autonome Nervensystem einen wichtigen Teil dieser Anpassungsleistungen
vollbringt, wobei der Schwerpunkt auf der kardiovaskulären Handlungsbereitschaft
liegt. Ferner wird aufgezeigt, wie über die Analyse der Herzperiodenvariabilität ein
nicht-invasives und valides Maß für die vagale Beeinflussung des Herzens errechnet
werden kann.
1.2
Die autonome Kontrolle des Herzens
Das autonome Nervensystem stellt neben dem endokrinen System das zweite
große System für die Kommunikation zwischen den einzelnen Organen des Körpers
dar. Es innerviert die glatte Muskulatur aller Organe und Organsysteme, das Herz
und die Drüsen. Das autonome Nervensystem (ANS) regelt dabei lebenswichtige
Funktionen, z. B. der Atmung, des Kreislaufes, der Verdauung und des
Stoffwechsels. Im Gegensatz zum somatosensorischen Nervensystem unterliegt es
nur eingeschränkt der direkten, willkürlichen Kontrolle, weshalb es auch als
autonom bezeichnet wird (Birbaumer & Schmidt, 1999).
Das ANS sorgt für eine kontinuierliche Anpassung der intraorganismischen
Prozesse an die äußeren Umstände. So wird z. B. bei einigen Menschen der Anblick
einer
Schlange
von
einem
Anstieg
des
Herzzeitvolumens
und
der
Muskeldurchblutung begleitet, was die anschließende Flucht erleichtert. Hier wird
wieder das Konzept der Handlungsbereitschaft deutlich. „Die vegetativen
Veränderungen werden dabei aktiv vom Gehirn erzeugt, d. h. sie sind integrale
Bestandteile jeglichen Verhaltens und keine passiven Begleiterscheinungen oder
reflektorische Reaktion auf sensorische, motorische, emotionale oder kognitive
Prozesse.“
(Birbaumer & Schmidt, 1999). Umgekehrt erlaubt dieser enge
Henning Holle
Zusammenhang,
11
aus
der
Messung
vegetativer
Effekte
Rückschlüsse
auf
zentralnervöse Prozesse zu ziehen.
Das autonome Nervensystem setzt sich aus drei Teilsystemen zusammen, dem
Sympathikus, dem Parasympathikus bzw. Vagus und dem Darmnervensystem. Das
Darmnervensystem ist das einzige System, das wirklich autonom arbeitet. Es
beinhaltet eigenständige motorische Programme, z. B. für die Bewegungen des
Darmes zur Durchmischung und Weiterleitung des Darminhalts (Birbaumer &
Schmidt, 1999). Dieses System liegt jedoch nicht im Fokus dieser Arbeit.
1.2.1 Sympathikus und Vagus
Zunächst soll hier der anatomische Aufbau der beiden Systeme skizziert
werden, um anschließend die Besonderheiten jedes Teilsystems herauszuarbeiten.
1.2.1.1
Gemeinsamkeiten der beiden Systeme
Sowohl das sympathische als auch das vagale System sind als zweizellige
Neuronenketten organisiert. Der Zellkörper des ersten Neurons – präganglionär
genannt – liegt hierbei noch innerhalb des Zentralnervensystems, genauer im
Hirnstamm (Vagus) oder im Rückenmark (Sympathikus & Vagus). Acetylcholin ist
in beiden Fällen der präganglionäre Neurotransmitter, der dort an Rezeptoren des
nicotinergen Typs bindet.
Beide Systeme innervieren die gesamte glatte Muskulatur des Magen-DarmTraktes, der Ausscheidungsorgane, der Sexualorgane, der Lunge und der Vorhöfe
des Herzens. Auch diverse Drüsen (Tränen- und Speicheldrüsen, Drüsen des MagenDarm-Traktes) werden durch beide Systeme innerviert (Birbaumer & Schmidt, 1999).
Die beiden Systeme unterscheiden sich jedoch sowohl, was die Lage der meisten
Ganglien relativ zu den Effektororganen angeht, als auch bei den verwendeten
postganglionären Neurotransmittern (Jänig, 2000).
12
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
1.2.1.2
Besonderheiten des Sympathikus
Einige Organe werden ausschließlich sympathisch innerviert. Hierzu zählen
das
gesamte
Gefäßsystem
(mit
Ausnahme
der
Genitalorgane)
und
die
Schweißdrüsen.
Die Zellkörper der präganglionären Neuronen des Sympathikus liegen im
Brustmark und im oberen Lendenmark. Die meist myelinisierten Axone verlassen
das Rückenmark über die Vorderwurzeln und ziehen zu den sympathischen
Ganglien. Die meisten dieser Ganglien liegen paarweise links und rechts der
Wirbelsäule. Im Bauch- und Beckenraum gibt es jedoch auch unpaare Ganglien. Die
paarigen Ganglienketten werden auch als linker und rechter Grenzstrang bezeichnet
(Birbaumer & Schmidt, 1999). Von hier ziehen die Axone zu den Erfolgsorganen,
wobei die postganglionären Axone unmyelinisiert und sehr dünn sind. Sie leiten die
Erregung nur mit etwa 1 m/s weiter (Antoni, 2000b). Bei den meisten sympathischen
postganglionären Axonen kommt Noradrenalin als Neurotransmitter zum Einsatz,
lediglich bei den Nebennierenrinden wird Acetylcholin verwendet (Jänig, 2000).
Die sympathische Beeinflussung des Herzens vollzieht sich dabei nur über
langsame Second-Messenger-Systeme (Berne & Levy, 2001). Aufgrund der relativen
Länge der postganglionären Axone, der geringeren Leitgeschwindigkeit und dem
langsamen
postganglionären
Second-Messenger-System
wirkt
hier
eine
sympathische Aktivierung erst nach einer längeren Latenzzeit auf das Effektororgan
(Berne & Levy, 2001).
1.2.1.3
Besonderheiten des Parasympathikus
Die meisten präganglionären Neuronen des Parasympathikus liegen im
Hirnstamm und im Kreuzmark. Vom Hirnstamm aus ziehen die Fasern für den
gesamten Brust- und den oberen Bauchraum durch den X. Hirnnerv (Nervus vagus)
zu den nah an den Erfolgsorganen gelegenen Ganglien. Die Axone aus dem
Kreuzmark laufen im nervus splanchnicus pelvinus und ziehen zu den
Henning Holle
13
Beckenorganen. Die Kopforgane (innere Augenmuskeln, Drüsen) werden über
verschiedene, aus dem Hirnstamm entspringende Hirnnerven (III = Nervus
oculomotorius, VII = Nervus facialis, IX = Nervus glossopharyngeus) versorgt
(Birbaumer & Schmidt, 1999).
Der postganglionäre Neurotransmitter des Parasympathikus ist Acetylcholin,
hier bindet er jedoch an muscarinerge Rezeptoren. Die Rezeptoren des Herzens
regulieren dabei direkt Kalium-Ionen-Kanäle, welche für ein promptes Entstehen
postsynaptischer Aktionspotentiale sorgen. Beim Vagus ist die Latenzzeit daher im
Vergleich zum Sympathikus kurz (Berne & Levy, 2001).
1.2.2 Autonome Innervation des Herzens
Nachdem bis hierhin die allgemeinen Eigenschaften von Sympathikus und
Parasympathikus beschrieben wurden, soll nun aufgezeigt werden, wie die beiden
Systeme in der autonomen Kontrolle des Herzens interagieren.
Die sympathische und parasympathische Regulation des Herzens wird von
verschiedenen absteigenden Bahnen moduliert, welche ihren Ursprung im
Hypothalamus und in der Amygdala haben. Von dort projizieren sie zu den
bulbomedullären Nuclei und zu den präganglionären sympathischen Neuronen
(Wittling,
1995).
Genauer
„Hirnstammkontrollzentren“
die
werden
rostrale
als
wichtige
ventromediale
subkortikale
Medulla,
das
periaquäduktale Grau, der laterale und paraventrikuläre Hypothalamus und der
zentrale Nucleus der Amygdala angesehen (Wittling, 1997).
Die
präganglionären
Neurone
des
Sympathikus
befinden
sich
im
intermediolateralen Trakt im oberen Brustmark. Von dort ziehen die Axone durch
das Rückenmark zu den Ganglien im Grenzstrang. Die postganglionären Fasern
innervieren den Sinusknoten, den Herzmuskel im Bereich der Hauptkammern, den
Atrioventrikularknoten (AV-Knoten) und den Herzmuskel im Bereich der
Vorkammern (Wittling, 1997).
14
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Die vagalen präganglionären Zellkörper sind entweder im dorsalen
motorischen Nucleus oder im Nucleus ambiguus des verlängerten Rückenmarks
lokalisiert. Die präganglionären Axone laufen durch den Vagus zu den
parasympathischen
Ganglien,
die
sich
in
der
Herzwand
befinden.
Die
postganglionären Fasern innervieren den Sinusknoten, den AV-Knoten, den
Vorhofmyokard und in geringem Maße den Herzmuskel im Bereich der
Hauptkammern (Berne & Levy, 2001).
1.2.3 Erregungsverlauf am Herzen
Der Sinusknoten, der im rechten Vorhof nahe der Einmündung der Vena cava
superior liegt, funktioniert als primärer Schrittmacher. In Ruhelage sorgt er für eine
Frequenz von 60 – 90 Schlägen. Vom Sinusknoten breitet sich die Erregung innerhalb
von
100
ms
über
die
Muskulatur
beider
Vorhöfe
aus.
Während
der
Erregungssausbreitung kontrahieren die Vorhöfe. Im AV-Knoten wird die
Weiterleitung zunächst für 90 ms verzögert. Dies verhindert die gleichzeitige
Kontraktion von Vorkammern und Ventrikeln. Dann erfolgt die Weiterleitung über
das His-Bündel, welches sich im Verlauf zunächst in den linken und rechten TawaraSchenkel, dann in Purkinje-Fasern aufteilt. Dieses Fasersystem ist schnell leitend (2
m/s) und sorgt dafür, dass verschiedene Regionen der Herzkammer gleichzeitig
erregt werden. Von den subendokardialen Endigungen der Purkinje-Fasern breitet
sich die Erregung schließlich über die Kammermuskulatur aus. Diese letzte Phase
der Erregungsausbreitung dauert 100 ms.
Die Erregungsausbreitung des Herzens ist also gekennzeichnet durch eine
Erregungsausbreitung über beide Vorhöfe, eine Verzögerung im AV-Knoten und
anschließend eine schnelle Ausbreitung der Erregung auf die Kammermuskulatur.
Im Gegensatz zu Skelettmuskel- oder Nervenfasern ist das Aktionspotential der
Herzmuskelzellen durch eine lange Plateauphase gekennzeichnet. Dadurch erhöht
sich die Dauer des gesamten Aktionspotentials der Herzmuskulatur auf 200-400 ms,
Henning Holle
15
d. h. etwa 100mal länger als bei einer Skelettmuskel- oder einer Nervenfaser (Antoni,
2000a).
Das autonome Nervensystem beeinflusst die Pumpleistung des Herzens,
indem
es
den
beschriebenen
Ablauf
der
Erregungsausbreitung
an
drei
Ansatzpunkten moduliert, (1) dem Sinusknoten, (2) dem AV-Knoten und (3) der
Muskulatur im Bereich der Hauptkammern.
1.2.4 Chronotrope Wirkung
Unter
chronotroper
Kontrolle
versteht
man
die
Beeinflussung
des
Sinusknotens als primärem Schrittmacher. So führen die Reizung des rechten
Herzvagus sowie die Applikation von Acetylcholin auf den Sinusknoten zu einer
Verlangsamung der Herzrate. Dies wird als negativ chronotrope Wirkung
bezeichnet. Eine positiv chronotrope Wirkung lässt sich bei Sympathikusreizung
oder der Gabe von Noradrenalin beobachten (Antoni, 2000a).
Vagus und Sympathikus nehmen durch ihre Ruheaktivität – Tonus genannt –
einen unterschiedlich starken Einfluss auf die chronotrope Kontrolle. Wird das Herz
denerviert, schlägt es deutlich schneller (Birbaumer & Schmidt, 1999). Ebenso steigt
die Herzrate im Ruhezustand nach Gabe des Vagus-Antagonisten Atropin deutlich
an, während der sympathische Antagonist Propranolol nur zu einer leichten
Verlangsamung führt (Berne & Levy, 2001). Im Ruhezustand scheint also der vagale
Tonus zu überwiegen.
1.2.5 Dromotrope Wirkung
Unter dromotroper Wirkung versteht man die vegetative Beeinflussung des
AV-Knotens und damit der Erregungsleitung des Herzens. Der Sympathikus
verkürzt die atrioventrikuläre Überleitung und damit die Pause zwischen Vorhofund Kammerkontraktion (positiv dromotrope Wirkung). Der Vagus hingegen
16
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
verlangsamt die atrioventrikuläre Leitung, im Extremfall bis zum totalen AV-Block
(Antoni, 2000a).
1.2.6 Inotrope Wirkung
Vagusaktivität führt zu einer Verringerung der Kontraktionskraft der Vorhöfe
(negativ inotrope Wirkung). Im Bereich der Kammern lässt sich unter vagalem
Einfluss kaum eine Verringerung feststellen, da dieser kaum innerviert wird. Unter
sympathischem Einfluss erhöht sich sowohl die Kontraktionskraft der Vorhof- als
auch der Kammermuskulatur (positiv inotrope Wirkung) (Antoni, 2000a).
1.2.7 Vagale Beat-by-Beat-Kontrolle
Über die chronotrope und dromotrope Wirkung ist es dem Parasympathikus
möglich, kurzfristige Veränderungen der Herzrate zu bewerkstelligen, was als
vagale Beat-by-Beat-Kontrolle bezeichnet wird. Bei den vagalen postgänglionären
Neuronen bindet Acetylcholin an muscarinerge Rezeptoren, welche die KaliumIonen-Kanäle direkt regulieren. Dies führt zu einer Inhibition des SA-Knotens und
des AV-Knotens und damit zu einer prompten Verlangsamung des Herzschlags.
Gleichzeitig ist viel Acetylcholinesterase im synaptischen Spalt vorhanden, was eine
schnelle Spaltung von Acetylcholin ermöglicht. Eine Abnahme der vagalen
Stimulation führt hingegen zu einer Disinhibition. Aufgrund des überwiegenden
vagalen Tonus im Ruhezustand resultiert dies in einem kurzfristigen Anstieg der
Herzrate. Die Wirkung des Vagus auf das Herz ist also gekennzeichnet durch eine
kurze Latenzzeit von 50–100 ms (Berne & Levy, 2001) und ein rasches Nachlassen der
Wirkung nach Ende der Stimulation.
Die Auswirkungen des Sympathikus auf die Herzrate sind eher graduell, was
sich zum einen mit den langen und langsam leitenden postganglionären Fasern
(Antoni, 2000a), zum anderen mit den langsameren kardioeffektorischen SecondMessenger-Rezeptoren (Berne & Levy, 2001) erklären lässt. Die sympathische
Latenzzeit bis zum Einsetzen eines Aktionspotentials im Effektororgan liegt im
Henning Holle
17
Bereich von 1300-2000 ms (Berntson, Cacioppo, & Quigley, 1993). Während der
sympathischen Stimulation wird ein Großteil des Noradrenalins wieder in den
präsynaptischen Spalt aufgenommen, während der Rest vom Blutstrom weggespült
wird.
Im
Vergleich
zur
parasympathischen
Deaktiverung
mittels
Acetylcholinesterase ist dies ein langsamer Prozess, der sich in der langen
Abklingzeit (englisch: decay time) von mehr als 15 s nach Ende der Stimulation
niederschlägt (Berne & Levy, 2001). Zusammenfassend lässt sich sagen:
Thus the vagus nerves are able to exert beat-by-beat control of heart rate, whereas the
sympathetic nerves are not able to alter cardiac behaviour very much within one cardiac
cycle (Berne & Levy, 2001).
Die sympathischen kardioeffektorischen Synapsen werden in diesem
Zusammenhang auch als Low-Pass-Filter bezeichnet, da sie aufgrund ihrer Trägheit
nur auf niederfrequente Oszillationen reagieren können (Berntson et al., 1993).
Die absolute Pumpleistung des Herzens (gemessen z. B. durch das
Herzzeitvolumen) kann also auf chronotrope, dromotrope und intrope Weise
beeinflusst werden. Kurzfristige Veränderungen der Leistung sind dabei nur durch
eine Veränderung der vagalen Aktivität möglich.
1.3
Respiratorische Sinusarrhythmie
Der Parasympathikus vollbringt im Ruhezustand eine kontinuierliche
Anpassung der Herzrate, die sogenannte respiratorische Sinusarrhythmie (RSA).
Während der Inspiration beschleunigt sich der Herzschlag, wogegen er sich bei der
Exspiration verlangsamt (Berne & Levy, 2001). Die Herzrate variiert also in
Abhängigkeit
der
Atemfrequenz,
wobei
diese
chronotrope und dromotrope Wirkung erreicht wird.
kurzfristige
Variation
über
18
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
1.3.1 Ursachen der RSA
Zwei Reflexe zur Kreislaufregulation scheinen eine besonders wichtige Rolle
bei der Entstehung der RSA zu spielen.
1.3.1.1
Barorezeptorreflex
Der Barorezeptorreflex wird auch als Karotissinusreflex oder Barosensorreflex
bezeichnet. Drucksensoren im Aortenbogen und in der Karotisarterie melden
fortlaufend über den Karotissinusnerven den mittleren Blutdruck an die
Kreislaufzentren im Hirnstamm. Ein Abfallen des Blutdrucks führt zu einer vagalen
Hemmung
(negative
chronotrope
und
dromotrope
Wirkung)
und
einer
sympathischen Erregung (positiv chronotrope, dromotrope und intrope Wirkung).
Entsprechend umgekehrte Folgen hat ein Ansteigen des arteriellen mittleren
Blutdrucks (Birbaumer & Schmidt, 1999). Der Barorezeptorreflex ist in erster Linie
für die Verlangsamung des Herzschlags während der Exspiration verantwortlich.
Während der Exspiration verringert sich das Volumen des Brustkorbs, d. h. der
intrathorakale Druck erhöht sich. Dadurch erhöht sich auch der Blutdruck, was die
Barorezeptoren im Aortenbogen und in den Karotisarterien zum Feuern veranlasst.
Über die Kreislaufzentren im Hirnstamm wird eine vermehrte vagale Aktivität
initiiert und durch die beschriebenen Mechanismen wird eine negativ chronotrope
und dromotrope Wirkung erreicht, was zu einer Verlangsamung der Herzrate führt
(Berne & Levy, 2001).
1.3.1.2
Bainbridge-Reflex
In den Vorhöfen befinden sich zwei Arten von Dehnungsrezeptoren. Die ARezeptoren feuern während der Kontraktion der Vorhöfe, die B-Rezeptoren bei
passiver Dehnung der Vorhöfe, z. B. durch vermehrt einströmendes venöses Blut.
Die
Impulse
der
Vorhofrezeptoren
laufen
über
Vagusafferenzen
zu
den
kreislaufsteuernden Neuronen des Nucleus tractus solitarii. Die Erregung von B-
Henning Holle
19
Rezeptoren führt zu einer Erregung der sympathischen und einer Hemmung der
vagalen Strukturen (Antoni, 2000a).
Bainbridge hat demonstriert, dass der Reflex nach beidseitiger Durchtrennung
der Vagi verschwindet, was für eine vagale Vermittlung spricht (Berne & Levy,
2001). Hauptsächlich der Bainbridge-Reflex bewirkt die Beschleunigung der Herzrate
während der Inspiration. Bei der Inspiration dehnt sich der Brustkorb, wodurch der
intrathorakale Druck abfällt. Dies führt zu einem beschleunigten Rückfluss des
venösen Blutes, was eine Dehnung der rechten Vorkammer zur Folge hat. Das
Feuern der B-Rezeptoren bewirkt eine Disinhibition des Vagus, sodass das Herz
dann schneller schlägt.
Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Reflexe entsteht die rhythmische
Variation der Herzrate. Für eine vagale Vermittlung dieser Reflexe spricht dabei,
dass die RSA nach der Gabe eines Parasympathikus-Antagonisten verschwindet,
während Sympathikus-Antagonisten kaum Auswirkungen zeigen (Berne & Levy,
2001). Die RSA kann also als Indikator für das Ausmaß der vagalen Beeinflussung
der Herzrate gesehen werden (Wittling, 1997). Im folgenden wird aufgezeigt, wie aus
einem EKG einige Indikatoren für die RSA und damit für die vagale Aktivität
errechnet werden können.
1.4
Maße der Herzratenvariabilität
Unglücklicherweise stellt die RSA nicht die einzige Varianzquelle der
Herzratenvariabilität dar. Auch das Ausmaß der körperlichen Aktivität, circadiane
Rhythmen,
Veränderungen
im
Renin-Angiotensin-System
stellen
zusätzliche
Varianzquellen dar (Stein, Bosner, Kleiger, & Conger, 1994). Verschiedene Ansätze
wurden mit dem Ziel entwickelt, die Quellen zu trennen, um einen möglichst reinen
Indikator für RSA zu errechnen. Ausgangspunkt für die Berechnung aller Maße stellt
zunächst ein EKG dar, in dem fortlaufend die R-Zacken identifiziert werden. Die RZacke signalisiert die schnelle Depolarisation entlang der His’schen Bündel Richtung
20
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Endmyokard und ist das am leichtesten identifizierbare Signal im EKG (Antoni,
2000a). Nun kann eine Datenreihe generiert werden, die entweder die fortlaufenden
Herzraten oder die Herzperioden beinhaltet. Letztere enthält die Abstände zwischen
den einzelnen R-Zacken in ms und wird als Inter-Beat-Interval-Zeitreihe (IBIZeitreihe) bezeichnet. Berntson et al. (1997) empfehlen in ihrem Committee Report von
Herzperiodenvariabilität
statt
Herzratenvariabilität
zu
sprechen,
wenn
als
Ausgangsbasis eine IBI-Zeitreihe verwendet wurde. Diese Konvention wird für den
Rest dieser Arbeit eingehalten.
1.4.1 Frequency Domain Maße
Bei einer Frequency-Domain-Analyse wird die Gesamtvarianz der IBIZeitreihe zerlegt. Dabei wird deutlich, wie viel der Gesamtvarianz auf periodische
Oszillationen verschiedener Frequenzen zurückzuführen ist. Stein et. al (1994)
erläutern das Prinzip an folgendem hypothetischen Beispiel, in dem die
Herzperiodenvariabilität nur das Resultat dreier zusammenwirkender Frequenzen
darstellt, nämlich einer „hohen“ Frequenz von 0.25 Hz (15 Zyklen pro Minute), einer
„niedrigen“ Frequenz von 0.1 Hz (6 Zyklen pro Minute) und einer sehr niedrigen
Frequenz von 0.016 Hz (1 Zyklus pro Minute, siehe Abbildung 1 oben links). Aus der
Kombination dieser Signale ergibt sich die beobachtete Herzperiodenvariabilität. Die
Fourier-Analyse des Signals (Abbildung 1, unten links) zeigt grafisch, welchen Anteil
an der Gesamtvarianz die einzelnen Frequenzen erklären. Dieser Anteil wird auch
als Power (Skala: ms2) bezeichnet. Einige Forscher berichten auch die spektrale
Amplitude (Skala: ms), was der Quadratwurzel der Power entspricht.
Henning Holle
21
Abbildung 1: Hypothetisches Beispiel der Fourier-Analyse einer IBI-Zeitreihe
Quelle: (Stein et al., 1994)
Auch in realen IBI-Zeitreihen finden sich immer wieder ähnliche periodische
Einflüsse auf die Herzperiodenvariabilität in bestimmten Frequenzbändern. In Bezug
auf die Namensgebung der einzelnen Bänder herrscht allerdings noch kein Konsens.
Diese
Arbeit
folgt
den
Richtlinien
aus
dem
Committee
Report
zur
Herzratenvariabilität (Berntson et al., 1997).
Das high-frequency Band (HF-Band) reicht von ungefähr 0.15 bis 0.4 Hz und
spiegelt
im
Wesentlichen
die
respiratorischen
Einflüsse
auf
die
Herzperiodenvariabilität wider, weswegen es auch als respiratorisches Band
22
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
bezeichnet wird. Die HF-Power kommt nach vagaler Blockade praktisch zum
Erliegen, während eine sympathische Blockade kaum Auswirkung auf die HF-Power
zeigt (Akselrod et al., 1981). Dies ist auch physiologisch plausibel, da nur die vagale
Kontrolle die zeitlichen Eigenschaften besitzt, die für hochfrequente Oszillationen
der Herzrate nötig sind. Deshalb wird Power im HF-Band als sehr valider Indikator
für das Ausmaß vagalen Informationsflusses zum Sinusknoten des Herzens gesehen
(Wittling, 1997).
Etwas langsamere periodische Einflüsse akkumulieren im low-frequency Band
(LF-Band), das von 0.05 bis 0.15 Hz reicht. Nach Ansicht einiger Autoren reflektiert
das LF-Band hauptsächlich sympathische Einflüsse; die Mehrheit sieht in diesem
Band jedoch sowohl sympathische als auch vagale Aktivität abgebildet (Berntson et
al., 1997).
Weitere Fluktuationen der Herzperioden
findet man im Frequenzbereich
unterhalb von 0.05 Hz. Häufiger beschriebene Bänder sind hier die very low
frequencies (VLF; ungefähr 0.003 – 0.05 Hz) und die ultra low frequencies (ULF), welche
circadiane Rhythmen umfassen. Es gibt recht wenig Forschungsarbeiten zu diesen
Bändern, und die dahinterliegenden physiologischen Mechanismen sind noch nicht
gut verstanden (Berntson et al., 1997).
1.4.2 Time Domain Maße
Die Time-Domain-Maße stellen eine etwas unaufwändigere Art zur
Beschreibung von bestimmten Varianzanteilen der Herzperiodenvariabilität dar.
Eine erste Klasse von Time-Domain-Maßen betrachtet die Varianz der IBIZeitreihe. Ein Beispiel ist SDNN (englisch: standard deviation of all normal N-N
intervals, d. h. die Standardabweichung aller normalen R-R-Intervalle in einem 24-hEKG). Diese IBI-basierten Maße erfassen ein recht breites Spektrum an Einflüssen,
sowohl kurzfristige (z. B. respiratorische) als auch langfristige (z. B. circadiane)
Einflüsse.
Henning Holle
Die
zweite
23
Klasse
von
Time-Domain-Maßen
vergleicht
die
Längen
benachbarter R-R-Intervalle, d. h. es wird die Variabilität der Abstände zwischen den
Abständen betrachtet. PNN50 (englisch: proportion of adjacent R-R intervals that are >
50 ms apart, measured in percent, d. h. der prozentuale Anteil benachbarter R-RIntervalle, die sich um mehr als 50 ms unterscheiden) und r-MSSD (englisch: root
mean square of successive differences, d. h. die Wurzel des Mittelwertes der quadrierten
sukzessiven Längendifferenzen benachbarter R-R-Intervalle) sind hier zwei häufig
verwendete Vertreter. Sie sind so gut wie unabhängig von langfristigen Einflüssen
und reflektieren hauptsächlich den vagalen Tonus (Sgoifo et al., 1999; Stein et al.,
1994).
Ein Nachteil der Time-Domain-Maße ist, dass sie eher qualitative als
quantitative Informationen liefern. Dennoch gibt es für jedes Frequency-DomainMaß ein hoch korrelierendes Time-Domain-Maß (Stein et al., 1994). Besonders rMSSD korreliert innerhalb von Bedingungen so hoch mit der HF-Power der
Herzperiodenvariabilität, dass sie als austauschbar bezeichnet werden (Sgoifo et al.,
1999).
Festzuhalten ist, dass über die Herzperiodenvariabilität ein valider Indikator
für das Ausmaß der vagalen Beeinflussung des Herzens errechnet werden kann. Den
Königsweg stellt dabei die recht aufwändige Berechnung der HF-Power dar. RMSSD ist jedoch aufgrund der hohen Korrelation ein akzeptabler Ersatz.
1.5
Vagale Reaktivität und Emotion
Zunächst sollen hier einige Anmerkungen zum Konstrukt der vagalen
Reaktivität erfolgen. Wie Berntson et al. (1997) anmerken, wird die HF-Komponente
der Herzperiodenvariabilität oft als Indikator der vagalen Kontrolle verwendet. Sie
weisen jedoch daraufhin, dass mehrere Dimensionen der vagalen Kontrolle für den
Zusammenhang relevant sind:
24
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
a) Ausmaß der zentralnervösen vagalen Inhibition des Herzens
b) Durchschnittliches Niveau der vagalen Inhibition des Herzens (auch als
cardiac vagal tone bezeichnet)
c) Phasische Variation der vagalen Inhibition des Herzens, die in Verbindung
mit der Atmung steht
d) Dynamische vagale Reaktionen, die das R-R-Intervall beeinflussen.
Diese
Dimensionen
hängen
oft
eng
miteinander
zusammen, jedoch
beschreiben die Autoren auch Konstellationen, in denen sie voneinander dissoziiert
werden können, z. B. bei extremer vagaler oder parasympathischer Stimulation
durch die Gabe von Medikamenten. Im Rahmen einer emotionalen Episode geht es
um die kurzfristige Variation der vagalen Beeinflussung des Herzen relativ zu einer
Baseline. Im folgenden werden einige theoretische Ansätze vorgestellt, die erklären,
wie solche phasischen Variationen eine adaptive Handlungsbereitschaft des
kardiovaskulären Systems ermöglichen.
1.5.1 Das Modell von Thayer
Thayer (2002; 2000) betont die Rolle des Parasympathikus in der Regulation
von Aufmerksamkeit und Emotion. Er betrachtet den menschlichen Organismus als
ein dynamisches System mit vielen Freiheitsgraden. Innerhalb des Systems gibt es
lose miteinander verbundene Bio-Oszillatoren. Wenn das System eine zielgerichtete
Verhaltensweise in einem bestimmten situativen Kontext ausführt, wirken die
einzelnen Bio-Oszillatoren in einer koordinierten Weise zusammen. Die vielen
einzelnen Elemente des Systems können zu diesem Zeitpunkt sparsamer durch eine
geringere Anzahl von Kontrollparametern beschrieben werden. Emotionen werden
in dieser systemischen Betrachtungsweise als Attraktoren angesehen, d. h. sie stellen
bevorzugte
Konfigurationen
im
Verhaltensrepertoire
des
Organismus
dar.
Abbildung 2 verdeutlicht diese Approximation relativ stabiler Zustände im
Henning Holle
25
konstanten Fluss der Organismus-Umwelt-Interaktionen. Die exakte Ausprägung
der Kontrollparameter ist irrelevant; der Attraktor (sprich die Emotion) wird
approximiert, wenn die Konfiguration in das basin of attraction fällt.
Anmerkung: Die Koordinaten (0.1,0.1) und (0.9,0.9) stellen die Attraktoren dar. Die
Diagonale zwischen den Koordinaten (0,1) und (1,0) trennt die beiden Basins of
Attraction
Abbildung 2: Basins of Attraction in einem Attraktorennetz
Dieser systemische Ansatz kann erklären, wie trotz enormer situativer
Variabilität dieselbe Emotion erlebt werden kann. Thayer versteht distinkte
Emotionen als einen Zustand im Verhaltensrepertoire des Organismus, der durch ein
kleines Set an Kontrollparametern definiert wird. Er verweist auf die breite
Befundlage, die auf Valenz und Arousal als wichtigste Dimensionen der Emotion
hindeutet, weshalb sie in seinem dynamischen Modell auch die wichtigsten
Kontrollparameter darstellen.
Die vagale Reaktivität ist in diesem System ein wichtiger Indikator für die
Flexibilität des Systems. Der Parasympathikus sorgt nach Thayer für die schnellen
Anpassungen im System. Irrelevante Informationen und Reaktionen werden
inhibiert, so dass sich die Aufmerksamkeit eher auf relevante Bereiche konzentriert.
Im Falle einer geringen vagalen Reaktivität gelingt diese Anpassungsleistung
26
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
weniger gut. Aufgrund der geringeren Inhibition kann es dazu kommen, dass
positive Feedback-Schleifen immer wieder durchlaufen werden. Dies äußert sich z. B.
in dem hohen Arousal, das bei Angstpatienten häufig beobachtet wird. Der
Organismus reagiert häufiger nicht situationsadäquat und die erlebten Emotionen
sind nicht funktional: „...the individual is ‚stuck’ in an attractor or behavioral pattern
that is not responsive to the demands placed upon it by the environment” (Thayer &
Lane, 2000).
Eine geringe vagale Reaktivität wirkt sich darüber hinaus negativ auf die
selektive Aufmerksamkeit des Individuums aus. Irrelevante Aspekte der Situation
werden weniger gut inhibiert, deshalb muss ein Teil der Aufmerksamkeit auf sie
verwendet werden. Die Reaktion des Organismus auf die situativen Gegebenheiten
fällt damit suboptimal aus, da weniger bedeutsame Informationen aufgenommen
und verarbeitet werden können.
1.5.2 Modifiziertes Modell nach Lang
Wie kann nun die vagale Flexibilität in das Gesamtereignis Emotion integriert
werden? Eine Erklärung bietet Lang (1988), der von drei Reaktionssystemen ausgeht,
die nur lose miteinander verbunden sind; nämlich das kognitiv-verbale, das
körperlich-physiologische
und
das
behavioral-expressive
System.
Die
Veränderungen, die während einer Emotion in diesen drei Systemen stattfinden,
werden auch als Reaktionstrias bezeichnet. Diese Annahme geschieht vor dem
Hintergrund zahlreicher Befunde, die auf bemerkenswert niedrige Zusammenhänge
zwischen dem Erleben, dem Ausdruck und körperlichen Veränderungen während
einer Emotion hinweisen.
Oatley und Jennings (1996) erweitern Langs Argumentation, indem sie den
Systemen unterschiedliche Funktionen zuschreiben. Die meisten Emotionstheorien
beschäftigen sich mit dem kognitiv-verbalen System. Einige Aspekte dieses Systems
können von uns erlebt werden, und nach diesen Erfahrungen dauert eine emotionale
Henning Holle
27
Episode einige Minuten bis Stunden. Diesen Aspekt von Emotion bemerken wir und
können uns im Anschluss darauf beziehen: „Ich war wütend, weil sie mich bei der
Auswahl übergangen haben!“ Daraus können wir einiges über unsere Anliegen und
Ziele erfahren. Die Funktion des kognitiv-verbalen Systems liegt also darin, für einen
Zustand der Handlungsbereitschaft zu sorgen, die nach Frijda im Zentrum der
Emotion steht (vgl. Seite 6). Einige Ziele und Pläne erhalten eine höhere Dringlichkeit
und werden mit höherem Einsatz („Das nächste Mal möchte ich dazugehören!“)
verfolgt als andere.
Die Reaktionen des körperlich-physiologischen (z. B. Anstieg der Herzrate)
und des behavioral-expressiven Systems (z. B. Kontraktion des musc. Corrugator)
spielen sich im Sekundenbereich ab. Die meisten dieser Reaktion entgehen unserer
Aufmerksamkeit und Berichte über körperliche Veränderungen scheinen nicht sehr
genau zu sein (Rime, Philippot, & Cisamolo, 1990). Die Funktion des körperlichphysiologischen Systems liegt zum einen in der Regulation des komplexen Systems
im Sinne der Homöostase, zum anderen in der antizipatorischen Bereitstellung
körperlicher Ressourcen, z. B. für eine Flucht. Das Ausmaß der vagalen Reaktivität
könnte hier vor allem für die kurzfristigen Anpassungsleistungen bedeutsam sein. So
könnte ein schneller Anstieg der Herzrate über eine Vagus-Disinhibition erreicht
werden.
Wenn man diese Überlegungen berücksichtigt, ist es nicht verwunderlich,
dass die Reaktionen in den Systemen häufig eine geringe Kohärenz aufweisen. Lang
argumentiert, dass deshalb eine Beschränkung auf nur eine Reaktionsebene nicht
zulässig ist, da dies mit einem zu großen Informationsverlust verbunden sei.
Informativer sind Untersuchungen, in denen möglichst alle Reaktionsebenen der
Emotion erfasst werden. Dies ermöglicht eine differenzierte Analyse, unter welchen
situativen Gegebenheiten die drei Systeme kohärent reagieren und wann es zu
welchen Dissoziationen kommt.
28
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Der Ansatz von Lang kann einen heuristischen Rahmen liefern, indem er die
unterschiedlichen Komponenten einer Emotion den drei Systemen zuordnet und
ihnen Funktionen zuschreibt. Thayers Modell hingegen liefert eine Vorstellung
davon, wie die Prozesse im körperlich-physiologischen System einerseits für eine
fortwährende Regulation des komplexen Systems sorgen, anderseits aber auch
körperliche Ressourcen im richtigen Moment zu Verfügung zu stellen, um für eine
systemübergreifende Handlungsbereitschaft zu sorgen. Dies ermöglicht schließlich
in Koordination mit den anderen Systemen eine erfolgreiche Interaktion mit der
Umwelt.
1.5.3 Vagale Reaktivität als Traitkomponente des Affektiven Stils
Die verschiedenen Emotionen werden nicht von allen Menschen gleich häufig
und gleich intensiv erlebt, sondern es gibt beträchtliche interindividuelle
Unterschiede. Ein einflussreiches Modell, das darauf abzielt, diese interindividuelle
Varianz im emotionalen Erleben durch Unterschiede im kortikalen Aktivitätsmuster
zu erklären, ist das Modell der anterioren Asymmetrie und Emotion von Davidson
und seinen Mitarbeitern (Davidson, 1992, 1993). Davidson zeigt auf, dass mit der
tonischen frontalen Asymmetrie (gemessen durch ein Ruhe-Elektroencephalogramm
(Ruhe-EEG)) die affektive Reaktion auf emotionale Stimuli vorhergesagt werden
kann. Die tonische frontale Asymmetrie ist dabei transsituativ konsistent und zeitlich
stabil im Sinne eines Traits und beeinflusst somit langfristig das emotionale Erleben
des Individuums, weshalb Davidson es als Affektiver Stil bezeichnet (Wheeler,
Davidson, & Tomarken, 1993). Dabei sind die tonischen frontalen Asymmetrien
weder als notwendige noch als hinreichende Faktoren für eine Affektivität zu
verstehen, sondern als Vulnerabilität im Sinne eines Diathese-Stress-Modells.
Im Rahmen dieser Arbeit ist das Konzept des Affektiven Stils ein bedeutsamer
Beitrag der Theorie von Davidson. Jedoch beschränkt sich sein Modell auf das
Erleben
und
den
Ausdruck
und
vernachlässigt
damit
die
autonomen
Henning Holle
29
Veränderungen, welche den dritten Bestandteil in der Reaktionstrias auf emotionale
Stimuli bilden. Es wäre sinnvoll, wenn der Affektive Stil um autonome Traits
erweitert würde, z. B. im Sinne von Thayers vagaler Flexibilität. So könnte eine
Person mit positiver Affektivität neben der tonischen linksfrontalen Aktiviertheit
durch eine hohe vagale Reaktivität gekennzeichnet sein. Dies ermöglicht eine
situationsadäquate Handlungsbereitschaft, indem während der Verarbeitung der
Situation irrelevante Informationen inhibiert werden und eine schnelle autonome
Aktivierung via Vagus-Disinhibition erfolgt.
Für die tonische frontale Asymmetrie und die affektive Reaktivität konnte
Hagemann (1999) zeigen, dass es sich um transsituativ konsistente und zeitlich
stabile Verhaltensdispositionen handelt. Für die vagale Reaktivität wurde diese
Annahme bisher gemacht (z. B. Thayer & Lane, 2000), empirische Belege stehen
jedoch noch aus.
1.5.4 Zeitliche Stabilität der vagalen Reaktivität
Nach Wissen des Autors liegen derzeit noch keine Studien über die zeitliche
Stabilität der vagalen Reaktivität vor. Für die verschiedenen Indizes der
Herzperiodenvariablität wurde in 24 h EKGs eine hohe zeitliche Stabilität berichtet,
zumindest im Zeitintervall von 3 bis 65 Tagen (Kleiger et al., 1991). Über die
Stabilität von Reaktionsmaßen lassen sich daraus aber noch keine Schlüsse ziehen.
Für die Herzratenreaktivität auf Stimuli wie mentale Arithmetik wurde für
einen Zeitraum von 8 bis 14 Tagen eine mittlere Stabilität (Retest-Korrelation r = .55)
berichtet (Prkachin, Mills, Zwaal, & Husted, 2001). In einer Metaanalyse kommen
Swain und Suls (1996) zu dem Schluss, dass die Herzratenreaktion im Vergleich zu
systolischem und diastolischem Blutdruck noch die größte zeitliche Stabilität zeigt
(Durchschnittliche Retest-Korrelation: .55). Dabei zeigten sich auf kognitive und
behaviorale Stressoren stabilere Reaktionen als auf physische Stressoren (z. B.
Kältereiz). Ferner scheinen Herzratenreaktionen auf sprachfreie Stimuli zeitlich
30
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
stabiler zu sein als auf sprachgebundene. Da die Herzratenreaktion aber ein
Komposit aus sympathischen und parasympathischen Anteilen darstellt, kann nicht
automatisch auf eine zeitliche Stabilität der vagalen Reaktion geschlossen werden.
1.6
Hypothesen
Zusammenfassend lassen sich die bisherigen Ausführungen zu folgenden
Hypothesen verdichten:
Hypothese I:
Das
Konzept
der
Handlungsbereitschaft
(Frijda,
1986)
betont
die
Funktionalität von Emotionen in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt.
Eine Voraussetzung für ein erfolgreiches Handeln stellt die schnelle und adaptive
Aktivierung des körperlich-physiologischen Systems (Lang, 1988) dar, die nur durch
verminderte vagale Aktivität erreicht werden kann (Berne & Levy, 2001). Eine
Veränderung der vagalen Beeinflussung des Herzens kann dabei nicht-invasiv und
valide durch das Time-Domain-Maß r-MSSD abgebildet werden (Kleiger et al., 1991).
Eine emotionale Induktion sollte also mit einer verkürzten durchschnittlichen
Herzperiode (MIBI, Hypothese Ia) und einer verminderten Herzperiodenvariablität
(r-MSSD, Hypothese Ib) einhergehen.
Hypothese II:
Die Reaktion des körperlich-physiologischen Systems sollte dabei nicht
gleichartig für alle Personen ausfallen, sondern es sollten sich interindividuelle
Unterschiede zeigen. Gerade das Ausmaß der vagalen Reaktivität scheint dabei von
Bedeutung
zu
sein
und
könnte
ein
Indikator
für
die
Fähigkeit
zur
Emotionsregulation sein (Thayer & Lane, 2000). Diese Rolle kann man dem
Konstrukt allerdings nur zuschreiben, wenn sich eine gewisse zeitliche Stabilität und
transsituative Konsistenz der vagalen Reaktivität zeigt.
Henning Holle
31
Eine emotionale Induktion sollte also mit einer verkürzten Herzperiode
(Hypothese
Ia)
und
verminderter
Herzperiodenvariablität
(Hypothese
Ib)
einhergehen. Bei einer wiederholten emotionalen Induktion sollte sich dabei eine
gewisse zeitliche Stabilität der
Auswirkung auf die Herzperiodenvariablität
beobachten lassen (Hypothese II), z. B. in Form einer hohen Retest-Korrelation.
32
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
2.
Methode
2.1
Versuchspersonen
Dreiundsechzig Versuchspersonen wurden durch Aushänge und das
Versenden einer e-Mail an der Universität Trier rekrutiert. Als Intention wurde „die
Verarbeitung visueller Reize im Gehirn“ angegeben und es wurde eine
Aufwandsentschädigung von 200 DM für die vollständige Teilnahme in Aussicht
gestellt. Eine Versuchsperson musste aufgrund ihres ungewöhnlich submissiven
Verhaltens gegenüber dem Versuchsleiter aus der Stichprobe ausgeschlossen
werden.
Unter den verbleibenden 62 Versuchspersonen befanden sich 31 Männer
(durchschnittliches Alter: 25 Jahre; SD = 3.2; Spannweite: 21 – 36 Jahre) und 31
Frauen (durchschnittliches Alter: 23 Jahre; SD = 3.4; Spannweite: 19 – 34 Jahre). Die
Stichprobe bestand ausschließlich aus Rechtshändern, wobei die Händigkeit mit
Hilfe des Edinburgh Inventory (Oldfield, 1971) kontrolliert wurde.
2.2
Die
Versuchsablauf
für
umfangreicheren
diese
Arbeit
relevanten
Untersuchung
erhoben.
Daten
Hier
wurden im Rahmen einer
werden
nur
die
Abläufe
wiedergegeben, die im Rahmen der formulierten Fragestellung bedeutsam sind. Eine
ausführlichere Darstellung findet sich bei Hagemann (1999). Zu Beginn der ersten
Messgelegenheit wurde den Probanden eine schriftliche Einverständniserklärung
vorgelegt. Gleichzeitig wurde jede Versuchsperson über ihr Recht informiert, die
Untersuchung jederzeit ohne Angabe von Gründen abbrechen zu dürfen. Die
Datenerhebung erfolgte an vier Messgelegenheiten mit je einem Monat Abstand. Zu
Beginn jeder Messgelegenheit wurden die Personen in eine schalldichte und
elektrisch isolierte Kabine geführt, wo sie auf einem bequemen Stuhl Platz nahmen.
Dann wurden die Elektroden für die physiologischen Messungen angebracht. In der
Henning Holle
33
ersten Phase wurde ein Ruhe-EEG aufgezeichnet und eine Erfassung der
emotionalen Grundstimmung durchgeführt. In der zweiten Phase wurde schließlich
die affektive Reaktivität auf Filme und Bilder erfasst. Am Ende jedes Films gaben die
Versuchspersonen emotionale Ratings ab. Das letzte Rating startete dann
automatisch den anschließenden Film. Im folgenden werden nur die relevanten
Operationalisierungen dargestellt.
2.3
Stimulusmaterial
Insgesamt wurden 8 kurze Ausschnitte aus kommerziellen Spielfilmen zur
Induktion verschiedener Emotionen ausgewählt. Die Filme sind identisch mit dem
Stimulusmaterial von Tomarken, Davidson und Henriques (1990), wobei der
interessierte Leser eine Beschreibung der Filme im Anhang dieser Arbeit oder bei
Hagemann, Naumann, Maier et al. (1999) findet. Zwei der Filme wurden so
ausgewählt, dass Personen im Anschluss an den Film über intensive positive
Emotionen berichten. Die anderen sechs Filme wurden so gewählt, dass sie möglichst
spezifisch und intensiv eine der Emotionen Ärger, Ekel bzw. Trauer induzieren,
wobei jeweils zwei Filme auf eine Emotion abzielten. Alle Filme wurden in Farbe
und ohne Ton präsentiert, und haben sich bei der Induktion von Emotionen bewährt.
Hagemann et al. (1999) berichten, dass nahezu alle Filme die jeweils intendierte
diskrete Zielemotion auslösen konnten und dass die durch negative Filme
ausgelösten Emotionen besser unterscheidbar waren als die durch positive Filme
ausgelösten Emotionen (die durch positive Filme induzierte Zielemotion wird im
folgenden als Freude, engl. happiness, bezeichnet). Zusätzlich wurde ein Film gezeigt,
der eine Zugfahrt aus Sicht des Zugführers zeigt. Dieser emotional neutrale Film
wurde bei jeder Messgelegenheit als erster Film präsentiert, während die Reihenfolge
der anschließenden Filme eingeschränkt randomisiert wurde. Dabei wurde
ausgeschlossen, dass zwei Filme der gleichen Zielemotion direkt aufeinander folgen.
Der neutrale Film zu Beginn sollte den Versuchspersonen Gelegenheit geben, sich
mit der experimentellen Situation vertraut zu machen. Gleichzeitig konnte der
34
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
neutrale Film so als Referenz bei der Bewertung der sich anschließenden
emotionalen Filme verwendet werden. Die Darbietung der Filme erfolgte mit einem
VHS Videorecorder (JVC HR-J248) über einen PC (CPU: Pentium - 100MHz; RAM: 16
MB; Festplatte: 1 GB; Graphikkarte: S3; TV-Karte: Grand TV-Capture; Betriebsystem:
Windows 3.11) auf einem Computerbildschirm (Eizo Flex Scan T662-T, TCO II, 20
Zoll).
2.4
Erhobene Ratingdaten
Im Anschluss an jeden Film gaben die Versuchsperson mittels einer
Computertastatur emotionale Ratings ab. Dabei wurden analog zum Vorgehen von
Wheeler, Davidson und Tomarken (1993) und Tomarken et al. (1990) die aktuelle
Ausprägung von vier positiven (Interesse, Glück, Freude und Vergnügen) und vier
negativen (Trauer, Angst, Ärger und Ekel) Emotionen auf einer 10-stufigen Skala
erfasst. Die Skalen reichten von 0 (überhaupt nicht) bis 9 (sehr stark). Darüber hinaus
bewerteten die Versuchspersonen Valenz und Arousal, wobei dies ebenfalls auf einer
10-stufigen Skala erfolgte. Im Falle der Valenz reichte diese von „insgesamt war das
Gefühl unangenehm/0“ bis „insgesamt war das Gefühl angenehm/9“, im Falle des
Arousals von „insgesamt war die Intensität des Gefühls gering/0“ bis „insgesamt war
die Intensität des Gefühls heftig/9“.
Hagemann (1999) berichtet eine zufriedenstellende interne Konsistenz der mit
diesen
Skalen
erfassten
affektiven
Reaktivität
auf
Filme.
Die
einzelnen
Emotionsskalen erwiesen sich als ausreichend konsistent, um ihrerseits zu
hochreliablen Skalen für positive bzw. negative affektive Reaktivität aggregiert zu
werden.
2.5
Erfassung des EKG
Vor dem Aufkleben der Elektrode wurde das Hautareal mit Alkohol gereinigt
und vorsichtig angerauht. Für die Aufzeichnung des Elektrokardiogramms (EKG)
wurden im Anschluss Ag/AgCl–Elektroden (8 mm Durchmesser) am linken und
Henning Holle
35
rechten Unterarm angebracht. Dies entspricht einer Extremitäten Ableitung Typ I
nach Einthoven. Das EKG wurde mit einer Frequenz von 500 Hz und einem lowpass-Filter von 100 Hz aufgezeichnet. Die physiologischen Signale wurden verstärkt
und gefiltert auf zwei 32-Kanal-Verstärkern (Synamps, Model 5083, Neuroscan, Inc.)
bei einer Eingangsimpedanz von 10 MΩ. Die Datenaufzeichnung erfolgte auf einem
PC (CPU: Pentium 166 MHz; RAM: 32 MB; Festplatte: 4 GB; Betriebsystem: DOS
6.22) mit Hilfe des Programms Scan 3.0 (Modul: Aquire; Neuroscan, Inc.). Für spätere
Analysen wurden alle Daten auf magnetooptischer Diskette und CD-ROM doppelt
gesichert. Vor Beginn der Datenerhebung wurden die Verstärker mit einem SinusSignal kalibriert (1 mV, 10 Hz).
2.6
Datenverarbeitung und Analyse
Für die Verarbeitung der EKG-Daten wurde das Programm Brain Vision
Analyser V. 1.03 der Firma Brain Products GmbH verwendet. Zunächst wurde die
Polarität der EKG-Daten umgekehrt, so dass positive Werte nun oberhalb der
Abszisse lagen. Dadurch stellten die R-Zacken die Maxima in der Datenreihe dar.
Die Daten wurden nun in neun filmspezifische Segmente zerlegt. Auf diese
Segmente wurde ein Makro zur Detektion der R-Zacken angewendet. Die R-Zacken
werden
dabei
durch
einen
Vergleich
der
aktuellen
Steigung
mit
der
durchschnittlichen Steigung der Messstrecke identifiziert. Im Anschluss wurden die
gesetzten Marker visuell überprüft und gegebenenfalls von Hand korrigiert. Falls
sich hierbei eine R-Zacke nicht mehr eindeutig identifizieren ließ, wurde sie für bis
zu zwei fehlende R-Zacken linear interpoliert. Anschließend wurden die Positionen
der R-Zacken in Form einer Text-Datei exportiert.
Aus den Positionen der R-Zacken wurde deren Abstand in Millisekunden
errechnet, so dass sich eine IBI-Zeitreihe ergab. Aus dieser Zeitreihe wurden
schließlich die Maße MIBI (Mean of IBI, d. h. das durchschnittliche Inter-BeatIntervall) und r-MSSD für jeden Film errechnet.
36
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Die filmspezifischen r-MSSD-Variablen zeigten bei einer ersten visuellen
Inspektion der Daten stark linksschiefe Verteilungen, wodurch viele statistische
Verfahren nicht anwendbar gewesen wären. Aus diesem Grund wurde eine leicht
modifizierte Form der Berechnung gewählt, nämlich der Logarithmus naturalis des
Mittelwertes der quadrierten sukzessiven Differenzen (l-MSSD). Die so errechneten
Variablen zeigten sich grafisch annähernd normalverteilt.
Für
die
kardiovaskulären
Variablen
(MIBI
und
l-MSSD)
wurden
Reaktionsmaße gebildet. Ein populäres Verfahren ist dabei die Errechnung eines raw
change scores, indem der Baseline-Wert von dem Wert der experimentellen
Bedingung subtrahiert wird. Da solche raw change scores nach wie vor den Standard
zur Messung von Veränderung darstellen (z. B. Myrtek, Foerster, & Wittmann, 1977),
wurden sie auch im Rahmen dieser Arbeit verwendet, obwohl sie in der
psychophysiologischen Forschung nicht unumstritten sind (Sherwood et al., 1990).
So wurden vagale Reaktionsmaße errechnet, indem r-MSSD des neutralen Films von
r-MSSD jedes emotionalen Filmes subtrahiert wurde. So ergaben sich filmspezifsche
vagale
Reaktionsmaße.
Analog
wurden
filmspezifische
Maße
für
die
Herzratenreaktivität errechnet.
Für eine Abschätzung der zeitlichen Stabilität der Reaktionen wurden die
Differenzmaße innerhalb der Messgelegenheiten über die acht filmspezifischen
Reaktionen aggregiert. Für diese Aggregate wurde anschließend die RetestKorrelation bestimmt. Die statistischen Analysen wurden dabei mit dem Programm
SPSS für Windows (Version 11.0; SPSS Inc.) vorgenommen.
Henning Holle
3.
37
Ergebnisse
Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, ob die emotionalen Filme sich
in erwarteter Weise auf das Erleben der Probanden ausgewirkt haben. Danach
werden die Effekte der Filme auf die durchschnittliche Herzperiode (Hypothese Ia)
und die Herzperiodenvariabilität (Hypothese Ib) berichtet. Schließlich wird die
zeitliche Stabilität der Reaktionsmaße der Herzperiodenvariabilität analysiert
(Hypothese II).
3.1
Ratings
Es zeigte sich ein signifikanter Haupteffekt Filmart in den 4 (Messgelegenheit)
X 3 (Valenz der Filme) ANOVAs für Arousal (F(2,120) = 54.340, p = .000, ω2= .37) und
Valenz (F(2,180) = 172.79, p = .000, ω2= .65) (vgl. Abbildung 3). Wie aus der Grafik
hervorgeht, wurden die durch die negativen Filme erzeugten Gefühle deutlich
unangenehmer (Valenz) und intensiver (Arousal) bewertet als die Gefühle während
des neutralen Films. Auch in Bezug auf die positiven Filme zeigten sich die
erwarteten Ergebnisse: Die während der positiven Filme erlebten Gefühle wurden
angenehmer und intensiver bewertet als die während des neutralen Films. Die
Gefühle während der negativen Filme waren dabei intensiver (d. h. sie gingen mit
höherem Arousal einher) als die Gefühle während der positiven Filme.
38
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
7
6,0
5,5
6
Mittelwert Valenz-Ratings +- 2 SE
Mittelwert Arousal-Rating +- 2 SE
5,0
4,5
4,0
3,5
3,0
2,5
neutral
positiv
negativ
Anmerkung:
Mittelwerte
+2
Standardfehler der Arousal-Ratings
für den neutralen Film, die zwei
positiven Filme und die sechs
negativen Filme, jeweils aggregiert
über vier Messgelegenheiten. Skala
reicht von 0 „geringe Intensität“ bis 9
„heftige Intensität des Gefühls“. N =
61
5
4
3
2
neutral
positiv
negativ
Anmerkung:
Mittelwerte
+2
Standardfehler der Valenz-Ratings
für den neutralen Film, die zwei
positiven Filme und die sechs
negativen Filme, jeweils aggregiert
über vier Messgelegenheiten. Skala
reicht von 0 „unangenehm“ bis 9
„angenehmes Gefühl“. N = 61
Abbildung 3: Valenzspezifische Mittelwerte der Arousal- und Valenz-Ratings
Der Haupteffekt Messgelegenheit wurde sowohl für Arousal (F(3,180) = 5.07, p
= .002, ω2= .05) als auch Valenz (F(3,180) = 3.17, p = .026, ω2= .03) signifikant (siehe
Abbildung 4). Im Falle des Arousals zeigte sich eine Habituation über die
Messgelegenheiten, d. h. die durch die Filme erzeugten Gefühle nahmen in ihrer
Intensität bei wiederholter Präsentation ab. Für die Valenz hingegen zeigte sich eine
Sensitivierung, d. h. die Gefühle während der Filme wurden zunehmend als
unangenehmer bewertet.
Henning Holle
39
5,8
4,4
5,6
4,2
Mittelwert Valenz-Ratings +- 2 SE
Mittelwert Arousal-Rating +- 2 SE
5,4
5,2
5,0
4,8
4,6
4,4
1
2
3
4
Messgelegenheit
Anmerkung:
Mittelwerte
+- 2
Standardfehler der Arousal-Ratings
für die vier Messgelegenheiten,
jeweils aggregiert über alle neun
Filme. N = 61
4,0
3,8
3,6
3,4
1
2
3
4
Messgelegenheit
Anmerkung:
Mittelwerte
+- 2
Standardfehler der Valenz-Ratings
für die vier Messgelegenheiten,
jeweils aggregiert über alle neun
Filme. N = 61
Abbildung 4: Messgelegenheitsspezifische Mittelwerte der Arousal- und Valenz-Ratings
Die Wechselwirkung Messgelegenheit X Filmart wurde für die Variable
Arousal nicht signifikant (F(6,360) = 0.36, p = .902, ω2= .00). Im Falle der Valenz gab es
eine signifikante Wechselwirkung (F(6,360) = 3.03, p = 0.007, ω2 = .02). Es handelte
sich jedoch um einen kleinen Effekt, der im wesentlichen auf den konstanten Verlauf
der Mittelwerte der negativen Filme zurückzuführen war, während der erwähnte
Haupteffekt Messgelegenheit in erster Linie durch die nachlassende Valenz der
neutralen und positiven Filme verursacht wurde (siehe Abbildung 5).
40
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
WW Filmart X MZP
WW Filmart X MZP
6,0
7
5,5
6
5,0
Filmart
4,0
Neutral
3,5
Positiv
Negativ
3,0
1
2
3
4
Messgelegenheit
Anmerkung:
Mittelwerte
der
Arousal-Ratings
für
die
vier
Messgelegenheiten jeweils für den
neutralen Film, für das Aggregat der
2 positiven und das Aggregat der 6
negativen Filme.
Mittelwert Valenz-Rating
Mittelwert Arousal-Rating
5
4,5
4
Filmart
Neutral
3
Positiv
2
Negativ
1
2
3
4
Messgelegenheit
Anmerkung: Mittelwerte der ValenzRatings
für
die
vier
Messgelegenheiten, jeweils für den
neutralen Film für das Aggregat der 2
positiven und das Aggregat der 6
negativen Filme.
Abbildung 5: WW Filmart X MZP für Valenz- und Arousal-Ratings
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die subjektiven Auswirkungen der
Filme den Erwartungen entsprochen haben. Es zeigten sich große und über die
Messgelegenheiten replizierbare Effekte der emotionalen Induktion. Die Habituation
(Arousal) bzw. Sensitivierung (Valenz) beeinträchtigten kaum die Effektgröße im
zeitlichen Verlauf.
3.2
Veränderungen der Herzperiode
Die Auswirkungen der Filme auf die durchschnittliche Herzperiode zeigten
sich nicht in der erwarteten Weise (siehe Abbildung 6). Der signifikante Haupteffekt
Film (F(8,424) = 6.33, p = .000, ω2 = .08) scheint ausschließlich auf den Film „The
Killing Fields“ zu beruhen (Filmbeschreibung im Anhang). Wenn die Varianzanalyse
ohne diesen Film gerechnet wurde, gab es auch keinen signifikanten Haupteffekt
Film mehr (F(7,371) = 1.162, p = .324, ω2= .00). Im Vergleich zum neutralen Film
zeigten die anderen emotionalen Filme jedoch keine signifikante Abnahme der
Henning Holle
41
Herzperiode, was den Hypothesen widerspricht. Als ein spezifischerer Test wurde
ein Helmert-Kontrast (neutraler Film vs. 8 emotionale Filme) für MIBI gerechnet.
Auch dieser Kontrast verfehlte jedoch das Signifikanzniveau (F(1,53) = 0.886, p = .351,
ω2= .00).
870
860
850
Mittelwert MIBI +- 2 SE
840
830
820
810
800
A1
A2
D1
D2
H1
H2
S1
S2
N
Filme
Anmerkung:
Mittelwerte
+2
Standardfehler MIBI für die Filme zur
Induktion von Ärger (A1=Witness,
A2=Gandhi),
Ekel
(D1=Godfather,
D2=Maria),
Freude
(H1=Officer,
H2=Pond) und Trauer (S1=Officer,
S2=Field) und den neutralen Film
(Train), jeweils aggregiert über vier
Messgelegenheiten.
Filmbeschreibungen im Anhang.
Abbildung 6: Filmspezifische Mittelwerte MIBI
Im zeitlichen Verlauf zeigte MIBI eine abnehmende Tendenz, was einem
Anstieg der Herzrate bei wiederholter Präsentation der Filme entspricht. Der
Haupteffekt Messgelegenheit war jedoch nicht signifikant (F(3,159) = 1.625, p = .186,
ω2= .01). Ebenso zeigte sich keine signifikante Wechselwirkung Messgelegenheit X
Film (F(24,1272) = 1.237, p = .198, ω2= .00).
Die Hypothese, dass Emotionen mit einem Anstieg der Herzrate einhergehen,
muss somit verworfen werden (Hypothese Ia).
42
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
3.3
Veränderungen der vagalen Aktivität
Um zu klären, ob die Filme unterschiedliche Effekte auf die vagale Aktivität
ausüben, wurde eine 9 (Film) X 4 (Messgelegenheit) Varianzanalyse mit
Messwiederholung auf beiden Faktoren gerechnet. Der Haupteffekt Film wurde
jedoch unerwarteterweise nicht signifikant (F(8,424) = 0.972; p = .458; ω2= .00). Für
einen angenommenen mittleren Populationseffekt (Φ2 = .15) und einem α–FehlerNiveau von .05 hat dieser Test eine Teststärke von .99 (berechnet mit Hilfe von
GPOWER, Erdfelder, Faul, & Buchner, 1996), d. h. man kann davon ausgehen, dass
es mit 99%iger Wahrscheinlichkeit in der Population keinen Effekt größer als Φ2 = .15
gibt.
Der
geringere
Standardfehlern
(siehe
Unterschied
Abbildung
der
7)
Mittelwerte
bei
legt
dass
nahe,
gleichzeitig
hier
auch
großen
keine
valenzspezifischen Effekte zu erwarten sind. So zeigte sich in einer 3 (Valenz) X 4
(Messgelegenheit) Varianzanalyse mit Messwiederholung auf beiden Faktoren kein
signifikanter Haupteffekt Valenz (F(2,114) = 1.685, p = .19, ω2= .01). Neben diesen
Omnibus-Tests wurde zusätzlich noch ein Helmert-Kontrast des neutralen Films
gegen alle emotionalen Filme gerechnet, um zu klären, ob sich in diesem spezifischen
Vergleich ein Einfluss der emotionalen Induktion auf die vagale Aktivität zeigt.
Auch dieser Kontrast verfehlte das Signifikanzniveau (F(1,53) = 2.287, p = .136). Die
emotionale Induktion führte also nicht zu einer Veränderung der vagalen Aktivität.
Henning Holle
43
7,8
7,6
Mittelwert l-MSSD +- 2 SE
7,4
7,2
7,0
6,8
A1
A2
D1
D2
H1
H2
S1
S2
N
Film
Anmerkung:
Mittelwerte
+2
Standardfehler l-MSSD für die Filme
zur Induktion von Ärger (A1=Witness,
A2=Gandhi),
Ekel
(D1=Godfather,
D2=Maria),
Freude
(H1=Officer,
H2=Pond) und Trauer (S1=Officer,
S2=Field) und den neutralen Film
(Train), jeweils aggregiert über 4
Messgelegenheiten.
Filmbeschreibungen im Anhang.
Abbildung 7: Filmspezifische Mittelwerte l-MSSD
In der Tendenz ließ sich eine Abnahme der vagalen Aktivität über die
Messgelegenheiten beobachten, der entsprechende Haupteffekt wurde jedoch nicht
signifikant (F(3,159) = .713, p = .546, ω2= .00). Auch hier kann man aufgrund der
hohen
Teststärke
(1.00)
davon
ausgehen,
dass
es
mit
fast
100%iger
Wahrscheinlichkeit keinen Effekt größer als Φ2 = .15 in der Population gibt. Die
Wechselwirkung Messgelegenheit X Film hingegen wurde signifikant (F(24,1272) =
1.721, p = .017, ω2= 0,01), es handelte sich jedoch um einen recht kleinen Effekt, der
inhaltlich schwer zu fassen ist (siehe Abbildung 8). Auffallend ist, dass die Tendenz
zur Abnahme für den neutralen Film am ausgeprägtesten ist. Dies wird auch
deutlich, wenn man die einfachen Haupteffekte Messgelegenheit für jeden Film
betrachtet. Die Abnahme der vagalen Aktivität über die Messgelegenheiten ist noch
am ausgeprägtesten für den neutralen Film, ohne dass man jedoch von bedeutsamen
44
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Effekten sprechen könnte. Die Gleichheit der Mittelwerte der vagalen Aktivität
wurde über die Messgelegenheiten repliziert.
WW Film x MZP
FILM
7,5
a1
a2
7,4
d1
7,3
d2
Mittelwert l-MSSD
7,2
h1
h2
7,1
s1
7,0
s2
6,9
n
1
2
3
4
Messgelegenheit
Anmerkung: Mittelwerte l-MSSD für
die Filme zur Induktion von Ärger
(A1=Witness,
A2=Gandhi),
Ekel
(D1=Godfather, D2=Maria), Freude
(H1=Officer, H2=Pond) und Trauer
(S1=Officer,
S2=Field)
und
den
neutralen
Film
(Train)
pro
Messgelegenheit. Filmbeschreibungen
im Anhang.
Abbildung 8: WW Film X Messgelegenheit für l-MSSD
Die
Hypothese,
dass
emotionale
Filme
zu
einem
Abnahme
der
Herzperiodenvariabilität führen, muss somit verworfen werden (Hypothese Ib).
Wenn die emotionalen Filme sich also hinsichtlich der vagalen Aktivität nicht von
den neutralen Filmen unterscheiden, ist die Frage nach der Höhe des
Zusammenhangs interessant. Eine Antwort kann hier eine Faktorenanalyse der
Daten liefern.
Zunächst wurde je eine Hauptkomponentenanalyse für jede Messgelegenheit
durchgeführt, wobei jeweils die neun filmspezifischen l-MSSD-Maße als Variablen
dienten. Die extrahierten Faktoren wurden einer VariMax-Rotation unterzogen, um
Henning Holle
45
die Interpretation der gefundenen Lösungen zu erleichtern. Berücksichtigt wurden
Faktoren mit einem Eigenwert > 1.
Für jede Messgelegenheit fand sich so eine 1-Faktor-Lösung. Der Scree-Plot
zeigte in allen Fällen einen varianzstarken ersten Faktor an, für alle weiteren
Faktoren fiel der Eigenwert auf unter 1 (siehe Tabelle 11 im Anhang B:
Faktorenanalyse l-MSSD). Cronbachs α als Indikator der Reliabilität lag dabei für
jede Messgelegenheit > .97. Innerhalb einer Messgelegenheit war die Interkorrelation
also derart hoch, das eine Aggregation über alle Filme – z. B. zur Berechnung von
Retest-Korrelationen – gerechtfertigt schien.
Anschließend wurde über alle Filme einer Messgelegenheit aggregiert. Diese
Aggregate wiesen Retest-Korrelationen von r = .63 bis r = .73 auf (vgl. Tabelle 2).
Tabelle 2: Retest-Korrelationen der l-MSSD-Aggregate
MZP1
MZP2
MZP3
MZP1
MZP2 .643**
MZP#3 .728**
MZP#4 .712**
.655**
.646**
.721**
Anmerkung: Innerhalb jeder
*=p<.05,**=p<.01. N = 61 / 62
Messgelegenheit
MZP4
wurde
über
9
Filme
aggregiert:
Das Maß für vagale Aktivität differenziert also nicht zwischen den
emotionalen Filmen und dem neutralen Film und alle neun Filme sind für jede
Messgelegenheit sehr hoch miteinander korreliert. Angesichts dieser Datenlage
scheint es daher fraglich, ob es noch sinnvoll ist, in diesem Falle ein Differenzmaß
zur Abbildung der vagalen Komponente der emotionalen Reaktion zu bilden.
Wenn zwei Maße in Höhe ihrer Reliabilität miteinander korrelieren, ist es
nach der klassischen Testtheorie wahrscheinlich, dass sie den gleichen wahren Wert
(englisch: True-Score) abbilden. Nach der Subtraktion des neutralen Films von einem
emotionalen Film besteht somit die Möglichkeit, dass das so gebildete Reaktionsmaß
46
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
in erster Linie Fehlervarianz bindet. Es lassen sich jedoch auch hypothetische
Szenarien konstruieren (z. B. unterschiedliche Skalierung von Minuend und
Subtrahend),
die
trotz
hoher
Interkorrelation ein sinnvolles Differenzmaß
ermöglichen. Aus diesem Grund wurde wie beabsichtigt ein vagales Reaktionsmaß
errechnet und seine zeitliche Stabilität analysiert.
3.4
Die vagale Komponente der emotionalen Reaktion
Für die Differenzmaße zeigte sich in einer 4 (Messgelegenheit) X 8
(filmspezifische Reaktion) Varianzanalyse mit Messwiederholung auf beiden
Faktoren kein signifikanter Haupteffekt Film (F(7,371) = 0.637, p = .458, ω2= .00). Auch
für diesen Test war die Teststärke so hoch (.99), dass ein Effekt mittlerer Größe (Φ2 ≥
.15) mit 99%iger Wahrscheinlichkeit für die Population ausgeschlossen werden kann.
Es zeigte sich jedoch ein signifikanter Haupteffekt der Messgelegenheit
(F(3,159) = 3.302, p = .022, ω2= .03), wobei die Mittelwerte einem umgekehrten UVerlauf folgten, dessen Maximum bei Messgelegenheit drei lag (siehe Abbildung 9).
Die emotionale Reaktion bestand also zunächst in einer Abnahme der vagalen
Aktivität. Diese Abnahme reduzierte sich über die Messgelegenheiten1.
1
Der Nullpunkt ist in diesem Fall nicht als Scheidepunkt von „Abnahme vs. Zunahme der
vagalen Aktivität“ zu sehen, da die Variablen vor der Subtraktion logarithmiert wurden.
Henning Holle
47
,5
Mittelwert Reaktionsmaß l-MSSD +- 2 SE
,4
,3
,2
,1
-,0
-,1
-,2
-,3
1
2
3
4
Messgelegenheit
Anmerkung:
Mittelwerte
+2
Standardfehler
der
l-MSSD
Reaktionsmaße
für
jede
Messgelegenheit, jeweils aggregiert
über 8 filmspezifische Reaktionen. N =
58
Abbildung 9: Messgelegenheitsspezifische Mittelwerte der l-MSSD Reaktionsmaße
Es findet sich keine signifikante Wechselwirkung Film X Messgelegenheit
(F(21,1113) = 1.472, p = .078, ω2= .01).
Die 8 filmspezifischen Reaktionsmaße wurden für jede Messgelegenheit einer
Hauptkomponentenanalyse unterzogen. Für die ersten beiden Messgelegenheiten
ergaben sich dabei 2-Faktorenlösungen, die 73% bzw. 67% der Varianz aufklärten
(vgl. Tabelle 12 im Anhang C: Faktorenanalyse der Reaktionsmaße l-MSSD). Auch
nach einer VariMax-Rotation ließen sich diese Faktoren jedoch nicht inhaltlich
interpretieren. Für die letzten beiden Messgelegenheiten hingegen resultierten 1Faktorlösungen, was für eine hohe Interkorrelation der Reaktionsmaße spricht. Nach
der klassischen Testtheorie sind die Fehler zweier Tests unkorreliert, womit die oben
formulierte Hypothese, die Reaktionsmaße würden in erste Linie Fehlervarianz
abbilden, widerlegt ist.
48
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Für die vier Messgelegenheiten lag Cronbachs α zwischen .87 und .94. In
Verbindung mit den faktorenanalytischen Befunden legt dies nahe, dass die
filmspezifischen Reaktionsmaße innerhalb einer Messgelegenheit recht hoch
interkorreliert sind, am ausgeprägtesten für Messgelegenheit drei und vier. Für eine
erste Abschätzung der zeitlichen Stabilität der vagalen Reaktion schien eine
Korrelationsanalyse der über die Filme aggregierten Reaktionsmaße gerechtfertigt zu
sein. Für diese Aggregate ergaben sich Retest-Korrelationen im Bereich von r = - .1
bis r = .31 (vgl. Tabelle 3).
Tabelle 3: Retest-Korrelationen der vagalen Reaktion
MZP1
MZP2
MZP3
MZP4
MZP1
MZP2
MZP3
-.107
.161
.156
.303*
.014
.167
MZP4
Anmerkung: Pro Messgelegenheit wurde über 8 filmspezifische Reaktionen aggregiert.
*=p < .05
Diese
niedrigen
Retest-Korrelationen
könnten
in
Bezug
auf
den
interessierenden Trait Vagale Reaktivität folgendes bedeuten:
1. Es gibt keinen bedeutsamen Trait-Anteil in der Varianz der
Reaktionsmaße, sondern größtenteils Fehlervarianz.
2. Es gibt keinen bedeutsamen Trait-Anteil, sondern größtenteils
messgelegenheitsspezifische Varianz.
Ad) 1: Für dieses Szenario sprechen die nicht signifikanten Unterschiede
zwischen den emotionalen Filmen und dem neutralen Film (vgl. Abbildung 7), also
den Minuenden und dem Subtrahend. Gleichzeitig sind die Minuenden und der
Subtrahend innerhalb jeder Messgelegenheit hoch interkorreliert (Anhang B:
Faktorenanalyse l-MSSD). Nach der bereits beschriebenen Logik könnte es sein, dass
den emotionalen Filmen und dem neutralen Film derselbe True-Score zugrunde
Henning Holle
49
liegt, so dass ein Differenzmaß zwischen beiden hauptsächlich Fehlervarianz
abbildet.
Cohen
&
Cohen
(1983)
haben
diese
Reliabilitätsproblematik
von
Differenzmaßen in folgender Formel ausgedrückt:
Gleichung 1: Reliabilität von Differenzmaßen nach Cohen (1983)
r( A− B )( A− B ) =
[(rAA + rBB ) / 2] − rAB
rAA
rBB
rAB
1 − rAB
Reliabilität Maß A
Reliabilität Maß B
Korrelation AB
Je mehr sich die Korrelation (zwischen emotionalem Film und neutralem Film)
der Reliabilität der Einzelmaße annähert, desto stärker nähert sich die Reliabilität der
Differenzvariable 0 an. Wie in der Faktorenanalyse der Ausgangsmaße deutlich
wurde, sind l-MSSD der emotionalen Filme und des neutralen Filmes hoch
interkorreliert, so dass diese Konstellation eine mögliche Erklärung für die niedrigen
Retest-Korrelationen sein könnte.
Ad) 2: Die Lösungen der Faktorenanalyse der Reaktionsmaße lieferten zwei
(Messgelegenheit 1 + 2) bzw. einen Faktor (Messgelegenheit 3 + 4) als Lösung (vgl.
Anhang
C:
Faktorenanalyse
der
Reaktionsmaße
l-MSSD),
was
auf
einen
beträchtlichen Anteil systematischer Varianz hindeutet. Bei einem hauptsächlich aus
Messfehler bestehendem Maß wären Lösungen mit vielen Faktoren zu erwarten, die
jeweils recht wenig Varianz aufklären. In Verbindung mit den niedrigen RetestKorrelationen (vgl. Tabelle 3) liegt der Schluss nahe, dass die Reaktionsmaße
hauptsächlich messgelegenheitsspezifische Varianz abbilden.
Mit den bisher verwendeten Methoden kann nicht entschieden werden,
welches dieser beiden Szenarien auf die Daten zutrifft. Erst die Latent-State-Trait
50
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Theorie (Steyer et al., 1999) ermöglicht es, Fehler - , messgelegenheitsspezifische und
Trait-Varianz zu quantifizieren.
3.5
Latent-State-Trait-Analyse der Reaktionsmaße.
Die Latent-State-Trait Theorie stellt eine Weiterentwicklung der klassischen
Testtheorie dar (Steyer et al., 1999). Wenn eine Variable an mindestens zwei
Messgelegenheiten mit mindestens zwei Indikatoren erfasst wurde, kann die Varianz
dieser manifesten (beobachteten) Variable zunächst in einen Messfehler und eine
latente Variable zerlegt werden, die man gemäß der klassischen Testtheorie als
wahren Wert der Person bezeichnet. Dieser wahre Wert kann weiter zerlegt werden
in eine über alle Messgelegenheiten stabile latente Einflussvariable (den Trait) und
messgelegenheitsspezifische latente Einflussvariablen (die State-Residuen), welche
situative Einflüsse und Wechselwirkungen zwischen Person und Situation
beinhalten. Darüber hinaus kann eine latente Variable errechnet werden, welche auf
der Verschiedenheit der zwei oder mehr Indikatoren für die zu messende Variable
beruht. Diese Variable wird als Methodenfaktor bezeichnet. Jedem der genannten
Einflüsse wird zusätzlich noch ein Pfadkoeffizient zugewiesen, welcher die Stärke
des Einflusses beschreibt.
Für die Anwendung muss zunächst eine Kovarianzmatrix der als Indikatoren
verwendeten manifesten Variablen erstellt werden. Nun wird aus theoretischen
Überlegungen ein möglichst sparsames Modell spezifiziert, dass die Varianz der
manifesten Variablen in ihre latenten Einflussvariablen zerlegt. Die latenten
Variablen werden dabei mit iterativen Schätzalgorithmen bestimmt, z. B. mit der
Methode der generalisierten kleinsten Quadrate (englisch: Generalized Least Squares
GLS). Aus den geschätzten Parametern wird eine Kovarianzmatrix reproduziert, die
der Ausgangsmatrix mehr oder weniger ähnelt. Der Algorithmus verändert die
Parameter dabei solange, bis eine minimale Diskrepanz zwischen empirischer und
geschätzter Kovarianzmatrix erreicht ist. Der GLS-Algorithmus macht dabei zwar
Henning Holle
51
eine Reihe von Annahmen (multivariate Normalverteiltheit der manifesten
Variablen, keine fehlenden Werte), hat aber den Vorteil, geringere Anforderungen an
die Stichprobengröße zu stellen.
3.5.1 Beschreibung der Modelle
Als Indikatoren wurden in allen gerechneten Modellen die beiden
filmspezifischen Reaktionsmaße (r-MSSDEmotionaler
Film
– rMSSDNeutraler
) jeder
Film
Zielemotion verwendet, die zu jeder Messgelegenheit erhoben wurden. So ergaben
sich für jede Emotion lineare Strukturgleichungsmodelle mit 8 manifesten Variablen.
Es wurden insgesamt drei Klassen von Modellen auf die Daten angewandt: LatentState-Trait Modelle mit Methodenfaktor, Modelle mit unkorrelierten States mit
Methodenfaktor und Modelle mit unkorrelierten States ohne Methodenfaktor. Alle
Modelle gehen im Sinne der klassischen Testtheorie davon aus, dass sich eine
manifeste Variable additiv aus einem wahren Wert (latente Variable) und einem
Messfehler zusammensetzt. Sie unterscheiden sich darin, wie dieser wahre Wert
weiter zerlegt wird.
Nachdem der Schätzalgorithmus eine Lösung produziert hat, muss die Güte
des Modells beurteilt werden. Ein verbreitetes Verfahren hierfür ist ein χ2-Test der
Diskrepanz
zwischen
empirischer
und
geschätzter
Kovarianzmatrix.
Eine
signifikante Diskrepanz führt zu einer Ablehnung des Modells. Problematisch ist
jedoch die Stichprobenabhängigkeit und die Bevorzugung komplexer Modelle,
weshalb zusätzlich Indikatoren zur Beurteilung der Passungsgüte (englisch:
Goodness-of-Fit-Indices) herangezogen wurden.
Aus dem Nonzentralitätsparameter der χ2-Verteilung kann der ComparativeFit-Index (CFI) abgeleitet werden. Er kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen und
hat den Vorteil einer geringen Stichprobenabhängigkeit, eines relativ kleinen
Standardfehlers und einer präzisen Abbildung von Modellfehlspezifikationen. Eine
CFI > .90 gilt dabei als gute Modellpassung, bei einem Wert > .80 spricht man von
52
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
akzeptabler Modellpassung. Ein Nachteil des CFI ist die Bevorzugung von
komplexen
Modellen,
weshalb
zusätzlich
der
Root-Mean-Square-Error-Of-
Approximation (RMSEA) zur Beurteilung herangezogen wurde. Durch eine
Relativierung an den Freiheitsgraden berücksichtigt dieses Maß die Komplexität des
Modells
(RMSEA
< .05: gute Modellpassung; RMSEA < .08: akzeptable
Modellpassung, RMSEA > .10: keine Modellpassung ).
Für die geschätzten Varianzen wird deren Critical Ratio betrachtet. Werte
größer 1.96 indizieren hierbei, dass die geschätzte Varianz signifikant von 0
abweicht. Modelle, bei denen eine oder mehrere Varianzen C.R. < 1.96 aufweisen,
sind überfaktorisiert und sollten durch sparsamere Modelle ersetzt werden.
Bei der Überprüfung wurde jeweils mit einem maximal restriktiven Modell
angefangen. Konnte das Modell in seiner restriktiven Form angenommen werden,
war die Überprüfung abgeschlossen. Konnte hingegen keine Passung erzielt werden,
wurden die Restriktionen systematisch aufgegeben. Für die Analysen wurde dabei
das Programm AMOS 4.01 der Firma SmallWater Corp. verwendet.
Im folgenden werden die drei gerechneten Modellklassen kurz beschrieben.
3.5.2 Latent-State-Trait Modell mit Methodenfaktor.
In einem Latent-State-Trait Modell wird davon ausgegangen, dass sich die
manifeste Variable additiv aus einem wahren Wert und einem Messfehler
zusammensetzt. Dabei wird die Varianz des wahren Wertes zerlegt in einen
messgelegenheitsspezifischen Anteil (State-Residuum), einen Trait-Anteil und einen
methodenspezifischen Anteil (siehe Abbildung 10). Dabei genügt es, wenn die
Anzahl der Methodenfaktoren der Anzahl der Indikatoren – 1 entspricht (Eid, 2000).
Da in diesem Fall die jeweilige Zielemotion durch zwei filmspezifische
Reaktionsmaße indiziert wurde, genügte also ein Methodenfaktor. Die jeweilige
Stärke des Einflusses eines Konstrukts auf seine Indikatorvariablen wird dabei über
Pfadkoeffizienten spezifiziert, die in liberalen Modellen auch errechnet werden
Henning Holle
53
können. Man spricht in dem Fall von einem Modell τ-kongenerischer Variablen
(Jöreskog & Soerbom, 1979), die aber inhaltlich schwer zu interpretieren sind.
Deshalb wurden im Rahmen dieser Auswertung nur Modelle essentiell τäquivalenter Variablen berücksichtigt und alle Pfadkoeffizienten auf 1 fixiert.
Die Varianzerlegung erlaubt die Berechnung verschiedener Parameter. Die
Reliabilität gibt hierbei den Anteil an der Varianz der manifesten Variable an, der auf
die Varianz des wahren Wertes zurückzuführen ist. Die State-Spezifität spiegelt den
Anteil an der Varianz der manifesten Variable wider, der auf die Varianz des
jeweiligen State-Residuums zurückgeht. Die Methodenspezifität gibt den Anteil an
der Varianz des wahren Wertes an, der auf die Varianz des Methodenfaktors
zurückgeht und die Traitspezifität spiegelt den Anteil an der Varianz des wahren
Wertes wider, der durch den Methodenfaktor aufgeklärt wird.
Zu Beginn der Überprüfung werden folgende Restriktionen gesetzt:
1. Gleiche Fehlervarianzen über die Messgelegenheiten hinweg
2. Gleiche Fehlervarianzen innerhalb jeder Messgelegenheit
3. Gleiche Varianzen der State-Residuen
4. Alle Pfadkoeffizienten fixiert auf 1
Wenn eine Passung in der restriktiven Form nicht gelingt, werden sukzessive
die Restriktionen gelöst, beginnend bei Punkt 1. Wenn auch nach Freigabe der
Varianzen der State-Residuen (Punkt 3) keine Passung erreicht werden kann, ist die
Überprüfung beendet.
54
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Residuum 1
e11
Y11
State 1
e12
Y12
e21
Y21
State 2
e22
Residuum 2
Y22
Trait
Methode
e31
Y31
State 3
e32
Y32
e41
Y41
Residuum 3
State 4
e42
Y42
Residuum 4
Anmerkung: Die manifesten Variablen sind mit Y bezeichnet, wobei die erste Zahl für die
Messgelegenheit und die zweite Zahl für den Indikator steht. Die manifesten Variablen
können zerlegt werden in einen Messfehler e und einen wahren Wert (State), der
wiederum weiter zerlegt werden kann in einen messgelegenheitsspezifischen Einfluss
(Residuum) und einen latenten Trait. Darüber hinaus kann der Methodeneinfluss
bestimmt werden. Methoden- und Traitfaktor sind unkorreliert.
Abbildung 10: Latent-State-Trait Modell mit Methodenfaktor.
3.5.3 Modell mit unkorrelierten States und Methodenfaktor
Auch bei diesem Modell wird die manifeste Variable in einen wahren Wert
und einen Messfehler zerlegt. Der wahre Wert wird danach jedoch nicht weiter
zerlegt, sondern es wird von unkorrelierten messgelegenheitsspezifischen wahren
Werten ausgegangen (unkorrelierte States). Darüber hinaus beeinflusst ein
Methodenfaktor den varianzstärkeren Indikator, wobei der Methodenfaktor nicht
Henning Holle
55
mit den States korreliert. Nach der Varianzzerlegung lassen sich die Reliabilitäten
der manifesten Variablen und die Methodenspezifität errechnen.
Zu Beginn der Überprüfung werden folgende Restriktionen gesetzt:
1. Gleiche Fehlervarianzen über die Messgelegenheiten hinweg
2. Gleiche Fehlervarianzen innerhalb jeder Messgelegenheit
3. Alle Pfadkoeffizienten fixiert auf 1
Gelingt mit diesem maximal restriktivem Modell keine Passung, werden
sukzessive die Restriktionen gelöst, beginnend bei Punkt 1. Gelingt auch nach der
Freigabe der Fehlervarianzen innerhalb jeder Messgelegenheit keine Passung (Punkt
2), ist die Überprüfung beendet.
56
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
e11
Y11
State 1
e12
Y12
e21
Y21
State 2
e22
Y22
e31
Y31
Methode
State 3
e32
Y32
e41
Y41
State 4
e42
Y42
Anmerkung: Die manifesten Variablen sind mit Y bezeichnet, wobei die erste
Zahl für die Messgelegenheit und die zweite Zahl für den Indikator steht. Die
manifesten Variablen können zerlegt werden in einen Messfehler e und einen
wahren Wert (State). Darüber hinaus kann der Methodeneinfluss bestimmt
werden. Methodenfaktor und States sind unkorreliert, ebenso die States
untereinander.
Abbildung 11: Modell mit unkorrelierten States und Methodenfaktor.
2.5.4 Modell mit unkorrelierten States
Bei diesem einfachen Modell wird die Varianz der manifesten Variable in
einen Messfehler und einen wahren Wert (State) zerlegt. Die States sind dabei
untereinander nicht korreliert. Anschließend kann die Reliabilität der manifesten
Variablen geschätzt werden.
Henning Holle
57
Bei diesem Modell werden zu Beginn der Überprüfung folgende Restriktionen
gesetzt:
1. Gleiche Fehlervarianzen über die Messgelegenheiten hinweg
2. Gleiche Fehlervarianzen innerhalb jeder Messgelegenheit
3. Alle Pfadkoeffizienten fixiert auf 1
Kann dieses maximal restriktive Modell nicht angenommen werden, werden
sukzessive die Restriktionen gelöst. Kann das Modell nicht angenommen werden,
nachdem die Fehlervarianzen innerhalb jeder Messgelegenheit freigegeben sind
(Punkt 2), ist die Überprüfung beendet.
58
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
e11
Y11
State 1
e12
Y12
e21
Y21
State 2
e22
Y22
e31
Y31
State 3
e32
Y32
e41
Y41
State 4
e42
Y42
Anmerkung: Die manifesten Variablen sind mit Y bezeichnet, wobei die erste Zahl für die
Messgelegenheit und die zweite Zahl für den Indikator steht. Die manifesten Variablen
können zerlegt werden in einen Messfehler e und einen wahren Wert (State). Die States
korrelieren nicht untereinander.
Abbildung 12: Modell mit unkorrelierten States.
3.5.5 Ergebnisse der LST-Analyse
Für jede emotionsspezifische vagale Reaktion wurden die beschriebenen drei
Modelle überprüft. Zunächst sollen hier die Ergebnisse der Latent-State-Trait
Modelle mit Methodenfaktor berichtet werden.
Henning Holle
3.5.5.1
59
Latent-State-Trait Modell mit Methodenfaktor
Für alle vier Emotionen konnte das maximal restriktive Latent-State-Trait
Modell mit Methodenfaktor nicht akzeptiert werden (Ärger: χ2(df = 32) = 55.55, p =
.006; Ekel: χ2(df = 32) = 74.32 p = .000; Freude χ2(df = 32) = 73.04, p = .000; Trauer χ2(df
= 32) = 52.69, p = .012). Für Ekel und Freude ergaben sich ungültige Lösungen mit
negativen Varianzschätzungen. Für diese beiden Emotionen konnten auch bei
maximaler Liberalisierung keine akzeptablen Lösungen gefunden werden.
Für Ärger fand sich nach Freigabe der Fehlervarianzen und der Varianzen der
State-Residuen eine akzeptable Lösung (χ2(df = 22) = 33.00, p = .063), wobei das
Modell allerdings nur eine marginal akzeptable Passung aufwies (CFI = .81, RMSEA
= .097). Für die vagale Komponente der Trauerreaktion fand sich nach Freigabe der
Messfehler zwischen den Messgelegenheiten eine akzeptable Lösung (χ2(df = 29) =
28.21, p = .51) mit einer guten Passungsgüte (CFI = 1.0, RMSEA = .00).
Tabelle 4: Akzeptable liberale Latent-State-Trait Modell mit Methodenfaktor
χ2-Statistik
goodness-of-fit
2
χ
Df
P
CFI
RMSEA
Ärger
33.00
22
.063
.81
.097
Trauer
28.21
29
.51
1.0
.000
Anmerkung: Für Ärger wurden folgende Restriktionen aufgehoben: Gleichheit der
Fehlervarianzen innerhalb und zwischen den Messgelegenheiten, Gleichheit der
Varianzen der State-Residuen. Für Trauer wurde die Gleichheit der Fehlervarianzen
zwischen den Messgelegenheiten aufgehoben.
Emotion
Betrachtete man die kritischen Quotienten (CR, englisch Critical Ratios) der
geschätzten Parameter (siehe auch Tabelle 5), so lagen die meisten Critical Ratios des
Trauer-Modells > 3.47, im Falle der Methoden- und der Traitvarianz erreichten sie
jedoch nicht das Signifikanzniveau. Die geschätzten Varianzen waren so klein, dass
sie nicht bedeutsam von 0 abwichen, was einen beträchtlichen Makel des Modells
darstellte. Beim akzeptierten Ärger-Modell waren noch mehr Parameter trotz des
liberaleren
Modells
nicht
signifikant.
Neben
der
geschätzten
Trait-
und
60
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Methodenvarianz wichen zusätzlich einige Fehler- und State-Residuen-Varianzen
nicht bedeutsam von 0 ab.
Tabelle 5: Parameterschätzungen der akzeptierten liberalen Latent-State-Trait-Modelle für
Ärger und Trauer
Parameter
Manifeste Varianz
State-Residuen-Varianz
Methodenvarianz
Parameter
Var (Y11)
Ärger
0.319
Trauer
0.327
Var (Y12)
0.326
0.349
Var (Y21)
0.428
0.644
Var (Y22)
0.309
0.666
Var (Y31)
0.363
0.503
Var (Y32)
0.531
0.525
Var (Y41)
0.577
0.455
Var (Y42)
0.595
0.477
Var (SR1)
CR
Var (SR2)
CR
Var (SR3)
CR
Var (SR4)
CR
Var (M)
CR
0.196
3.18
0.081
1.369
0.26
3.237
0.365
3.67
0.043
1.919
0.182
4.486
0.182
4.486
0.182
4.486
0.182
4.486
0.022
0.852
Fehlervarianz
Var (E11)
CR
Var (E12)
CR
Var (E21)
CR
Var (E22)
CR
Var (E31)
CR
Var (E32)
CR
Var (E41)
CR
Var (E42)
CR
Ärger
0.064
1.885
0.028
0.883
0.288
3.451
0.126
1.957
0.044
0.87
0.169
2.559
0.154
2.217
0.128
1.821
Traitvarianz
Var (T)
CR
0.059
1.8
Trauer
0.088
3.47
0.088
3.47
0.405
5.204
0.288
5.204
0.264
4.779
0.264
4.779
0.216
4.309
0.216
4.309
0.057
1.723
Anmerkung: Die hier aufgeführten Parameter beziehen auf die akzeptierten liberalen
Modelle für Ärger und Trauer (vgl. Tabelle 5). Aufgeführt sind die aus den latenten
Variablen geschätzte manifeste Varianz (Var (Yik)) der i-ten Messgelegenheit und des kten Indikators; Varianz der Messfehler (Var (Eik)) der i-ten Messgelegenheit und k-ten
Indikators; Varianz der State-Residuen (Var (SRi)) der i-ten Messgelegenheit; Varianz des
Methodenfaktors (Var (M)); Varianz des Traits (Var (T)) und deren Critical Ratio (CR,
kritischer Quotient).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Latent-State-Trait-Modell mit
Methodenfaktor nur für die vagalen Komponenten von Ärger und Trauer eine
Passung erbrachte. Dabei war das Ärger-Modell nur marginal akzeptabel, während
man für Trauer von einer guten Passung sprechen konnte.
Henning Holle
3.5.5.2
61
Modell mit unkorrelierten States und Methodenfaktor
Das Modell mit unkorrelierten States und einem Methodenfaktor konnte in
seiner restriktiven Form für keine der vier emotionalen Reaktionen angenommen
werden (Ärger: χ2(df = 30) = 54.10, p = .004; Ekel: χ2(df = 30) = 49.85 p = .013; Freude
χ2(df = 30) = 59.055, p = .001; Trauer χ2(df = 30) = 50.580, p = .011). Bei der Bestimmung
der Modelle für Ekel und Freude wurden für einige latente Variablen negative
Varianzen geschätzt, so dass eine Lösung in jedem Fall nicht anwendbar gewesen
wäre.
Selbst bei maximaler Liberalisierung (d. h. Freigabe der Fehlervarianzen)
konnte für Ärger, Ekel und Freude keine Passung erreicht werden. Wurde beim
Trauer-Modell die erste Restriktion (Gleichheit der Fehlervarianzen für alle
Messgelegenheiten) aufgegeben, konnte das Modell mit einer akzeptablen Güte
angenommen werden (χ2(df = 27) = 30.939, p = .274, CFI = .86, RMSEA = .05). Obwohl
das Modell liberaler ist als das Latent-State-Modell mit Methodenfaktor (was sich in
der
geringeren
Anzahl
Freiheitsgrade
ausdrückt),
wich
die
geschätzte
Kovarianzmatrix stärker von der empirischen Kovarianzmatrix ab (der χ2-Wert ist
größer). Deshalb wurde auf einen inferenzstatistischen Vergleich der beiden Modelle
verzichtet und für Trauer das bereits berichtete Latent-State-Trait-Modell mit
Methodenfaktor angenommen.
Insgesamt
konnte
mit
dem
Modell
der
unkorrelierten
States
mit
Methodenfaktor keine Passung (für Ärger, Ekel und Freude) erreicht werden, bzw.
die Passung gelang weniger gut als mit konkurrierenden Modellen (Trauer).
3.5.5.3
In
diesem
Modell mit unkorrelierten States
sparsamen
Modell
wurden
zur
Reproduktion
der
Kovarianzstruktur lediglich vier unkorrelierte States angenommen (vgl. Abbildung
12). In der maximal restriktiven Version konnte es für keine der vier Emotionen
62
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
angenommen werden (Ärger: χ2(df = 31) = 57.40, p = .003; Ekel: χ2(df = 31) = 54.14 p =
.006; Freude χ2(df = 31) = 59.18, p = .002; Trauer χ2(df = 31) = 51.39, p = .012).
Im Falle des Ärger-Modells konnte auch nach maximaler Liberalisierung keine
Passung erreicht werden. Somit konnte für diese Emotion nur das Latent-State-TraitModell akzeptiert werden.
Für Trauer konnte das Modell nach Freigabe der ersten Restriktion (Gleichheit
der Fehlervarianzen für jede Messgelegenheit) angenommen werden (χ2(df = 28) =
31.585, p = .292), wobei die Modellgüte befriedigend ist (CFI = .876, RMSEA = .05). Im
Vergleich zum bisher besten Modell für diese Emotion – dem Latent-State-TraitModell – zeigte sich eine größere Diskrepanz trotz eines liberaleren Modells. Deshalb
konnte auch hier auf einen inferenzstatistischen Vergleich der Modelle verzichtet
und das Latent-State-Trait-Modell als bestes Modell für Trauer angenommen
werden.
Mit dem Modell der unkorrelierten States gelang nach Freigabe der ersten
Restriktion zum ersten Mal eine Passung für Ekel (χ2(df = 28) = 30.10, p = .358) und
Freude (χ2(df = 28) = 29.25, p = .40) mit einer erfreulichen Modellgüte (Ekel: CFI = .93,
RMSEA = .04; Freude: CFI = .97, RMSEA = .03).
Tabelle 6: Akzeptable liberale Modelle mit unkorrelierten States
χ2-Statistik
goodness-of-fit
χ2
Df
P
CFI
RMSEA
Ekel
30.10
28
.36
.93
.04
Freude
29.25
28
.40
.97
.03
Für beide Modelle wurde nur die Restriktion der Gleichheit der Fehlervarianzen über alle
Messgelegenheiten aufgehoben. Das akzeptable Modell für Trauer ist hier nicht
aufgeführt, da es im Vergleich zum LST-Modell mit Methodenfaktor weder sparsamer
noch von einer besseren Modellgüte war (siehe Text)
Emotion
Die akzeptierten liberalen Modelle für Ekel und Freude wiesen dabei recht
erfreuliche Varianzschätzungen auf. Alle Critical Ratios sind ≥ 2.43, was bedeutet,
Henning Holle
dass
alle
63
Parameter
zuverlässig
geschätzt
werden
konnten.
Von
einer
Überfaktorisierung der Daten konnte in diesem Fall nicht gesprochen werden.
Tabelle 7: Parameterschätzungen der akzeptierten liberalen Modelle mit unkorrelierten
States für Ekel und Freude
Parameter
Parameter
Manifeste Varianz
State-Residuen-Varianz
Var (Y11)
Ekel
0.162
Freude
0.275
Var (Y12)
0.162
0.275
Var (Y21)
0.376
0.498
Var (Y22)
0.376
0.498
Var (Y31)
0.752
0.479
Var (Y32)
0.752
0.479
Var (Y41)
0.615
0.926
Var (Y42)
0.615
0.926
Var (S1)
CR
Var (S2)
CR
Var (S3)
CR
Var (S4)
CR
0.084
2.432
0.203
3.151
0.341
2.434
0.317
3.058
0.123
2.616
0.124
1.63
0.419
4.014
0.539
3.302
Fehlervarianz
Var (E11)
CR
Var (E12)
CR
Var (E21)
CR
Var (E22)
CR
Var (E31)
CR
Var (E32)
CR
Var (E41)
CR
Var (E42)
CR
Ekel
0.078
3.784
0.078
3.784
0.173
4.462
0.173
4.462
0.411
4.714
0.411
4.714
0.298
4.385
0.298
4.385
Freude
0.153
4.058
0.153
4.058
0.374
4.71
0.374
4.71
0.06
3.393
0.06
3.393
0.387
4.601
0.387
4.601
Bemerkung: Die hier aufgeführten Parameter beziehen sich auf die akzeptierten liberalen
Modelle für Ekel und Freude (vgl. Tabelle 6). Aufgeführt sind die aus den latenten
Variablen geschätzte manifeste Varianz (Var (Yik)) der i-ten Messgelegenheit und des kten Indikators; Varianz der Messfehler (Var (Eik)) der i-ten Messgelegenheit und k-ten
Indikators; Varianz der States (Var (Si)) der i-ten Messgelegenheit und deren Critical
Ratio (CR, kritischer Quotient).
3.5.5.4
Zusammenfassung
der
Ergebnisse
der
linearen
Strukturgleichungsmodelle
Wenn man die Ergebnisse der gerechneten Modelle im Überblick betrachtet,
lässt sich zunächst einmal das Modell der unkorrelierten States mit Methodenfaktor
ausschließen. Für keine Emotion konnte hiermit die beste Passung erreicht werden.
64
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Nur mit dem Latent-State-Trait-Modell gelang es, für Ärger eine Passung zu
erzielen. Ein CFI von .81 und ein RMSEA von .097 sprechen jedoch nur für eine
geringe Modellgüte. Gleichzeitig weichen einige der geschätzten Varianzen nicht
signifikant von 0 ab (C.R. < 1.96), was für eine Überfaktorisierung der Daten spricht.
Für Trauer wurde mit diesem Modell die beste Passung erreicht, wobei allerdings
auch hier einige geschätzte Varianzen nicht signifikant von 0 abweichen.
Das Modell der unkorrelierten States ist schließlich das Modell der Wahl für
Ekel und Freude. In diesen Fällen kann man von akzeptabler bis guter Modellgüte
sprechen (vgl. Tabelle 5 und Tabelle 7). Die akzeptierten liberalen Modelle für Ekel
und Freude weisen recht erfreuliche Varianzschätzungen auf. Alle Critical Ratios
sind > 2.43, was bedeutet, dass alle Parameter zuverlässig geschätzt werden konnten.
Von einer Überfaktorisierung der Daten kann in diesem Fall nicht gesprochen
werden.
In der klassischen Testtheorie ist die Reliabilität als der Anteil der Varianz der
wahren Werte an der beobachteten Varianz definiert. Für die besten akzeptierten
Modelle wurden aus den geschätzten Werten die Reliabilitäten der Reaktionsmaße
errechnet. Die akzeptierten Latent-State-Trait-Modelle für Ärger und Trauer
erlauben darüber hinaus noch die Berechnung zusätzlicher Parameter, nämlich der
State-Spezifität, der Trait-Spezifität und der Methoden-Spezifität. Hierzu werden die
entsprechenden Parameter (Var (M), Var (T) und Var (SRi)) an der entsprechenden
geschätzten manifesten Varianz (Var (Yik)) relativiert. Die Reliabilität ergibt sich aus
der Differenz der manifesten Varianz und der Fehlervarianz (Var (Eik)) relativiert an
der manifesten Varianz.
Gemittelt über Messgelegenheiten ergaben sich so Reliabilitäten, die für alle
Emotionen über .50 lagen (Rel (Ärger) = .71, Rel (Trauer) = .53, Rel (Ekel) = .51, Rel
(Freude) = .54; vgl. Tabelle 8 und Tabelle 9). Damit wird klar, dass die Reaktionsmaße
für die vier Emotionen nicht ausschließlich Fehlervarianz, sondern auch mindestens
Henning Holle
65
50% True-Score-Varianz binden. Darüber hinaus zeigte sich im Mittel eine hohe
State-Spezifität (Ärger: .51; Trauer: .39) und eine niedrige Trait – (Ärger: .15; Trauer:
.12) und Methodenspezifität (Ärger: .11; Trauer: .05). Für die anderen beiden
Emotionen Ekel und Freude war die Annahme eines latenten Traits sogar nicht mit
den Daten vereinbar, sondern es kann von unkorrelierten States ausgegangen
werden. Die Varianz der wahren Werte lässt sich in erster Linie auf
messgelegenheitsspezifische Einflüsse zurückführen.
Tabelle 8: Reliabilität, Situationsspezifität,
Traitspezifität
und
Methodenspezifität
der
akzeptierten liberalen LST-Modelle für Ärger und
Trauer
a1#1
a2#1
a1#2
a2#2
a1#3
a2#3
a1#4
a2#4
s1#1
s2#1
s1#2
s2#2
s1#3
s2#3
s1#4
s2#4
Tabelle 9: Reliabilität der
akzeptierten liberalen Modelle mit
unkorrelierten States für Ekel und
Freude
SituationsReliabilität Spezifität
TraitSpezifiät
MethodenSpezifität
Reliabilität
Var ( Eik ) Var ( SRk )
Var (Yik ) Var (Yik )
Var (T )
Var (Yik )
Var ( M )
Var (Yik )
Var ( Eik )
Var (Yik )
.18
.18
.14
.19
.16
.11
.10
.10
.17
.16
.09
.09
.11
.11
.13
.12
.13
.13
.10
.14
.12
.08
.07
.07
.07
.06
.03
.03
.04
.04
.05
.05
.80
.91
.33
.59
.88
.68
.73
.78
.73
.75
.37
.39
.48
.50
.53
.55
.61
.60
.19
.26
.72
.49
.63
.61
.56
.52
.28
.27
.36
.35
.40
.38
Anmerkung: Verwendet wurden die
geschätzten Varianzen der in Tabelle 4
beschriebenen Modelle. Die ersten beiden
Ziffern stehen für Zielemotion und
Indikator, die letzte Zahl bezeichnet die
Messgelegenheit.
d1#1
d2#1
d1#2
d2#2
d1#3
d2#3
d1#4
d2#4
h1#1
h2#1
h1#2
h2#2
h1#3
h2#3
h1#4
h2#4
.52
.52
.54
.54
.45
.45
.52
.52
.44
.44
.25
.25
.87
.87
.58
.58
Anmerkung: Verwendet wurden
die geschätzten Varianzen der in
Tabelle 6 beschriebenen Modelle.
Die ersten beiden Ziffern stehen für
Zielemotion und Indikator, die
letzte
Zahl
bezeichnet
die
Messgelegenheit.
66
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
4.
Diskussion
Die vorgelegte Arbeit verfolgte das Ziel, die zeitliche Stabilität der vagalen
Reaktivität zu analysieren. 62 Probanden wurden acht emotionale Filme und ein
neutraler Film an vier Messgelegenheiten präsentiert. Aus dem während der
Präsentation
aufgezeichneten
EKG
wurden
Time-Domain-Maße
der
Herzperiodenvariabilität errechnet, die als recht spezifischer Indikator für die vagale
Beeinflussung des Herzens gelten.
In der Varianzanalyse zeigte sich kein Haupteffekt der emotionalen Induktion
auf die vagale Aktivität. Gleichzeitig wiesen die Differenzmaße sehr niedrige RetestKorrelationen
auf.
Bei
der
gleichzeitigen
hohen
Interkorrelation
der
Herzperiodenvariabilität der emotionalen Filme und des neutralen Films wurde
vermutet, dass ein Differenzmaß zu unreliabel ist, um einen eventuell vorhandenen
Trait der vagalen Reaktivität zu erfassen. Entgegen dieser Annahme lieferten
Faktorenanalysen der Reaktionsmaße ein erstes Indiz dafür, dass sehr wohl ein
beträchtlicher Anteil systematischer Varianz enthalten ist. Die LST-Analysen
bestätigten diese Annahme, da die Reliabilität der akzeptierten Modelle durchgängig
über .50 lag. Dabei ließen sich Modelle mit unkorrelierten States bzw. einer hohen
State-Spezifität mit den Daten vereinbaren.
Die vorliegenden Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass die zeitliche
Stabilität der Auswirkung emotionaler Filme auf die Herzperiodenvariabilität gering
ist. Für zwei der vier Emotionen (Ekel, Freude) lässt sich die Annahme eines Traits
der vagalen Reaktivität nicht mit den Daten vereinbaren. Stattdessen gelingt eine
gute Reproduktion der Kovarianzstruktur, wenn von unkorrelierten States
ausgegangen wird.
Henning Holle
67
Für die beiden anderen Emotionen (Ärger, Trauer) ist die Annahme eines
Traits notwendig. Aus einer Reihe von Gründen wird dies aber nicht als Indiz für
emotionsspezifische Unterschiede der vagalen Reaktion gesehen. Die geschätzten
Varianzen für den Trait-Faktor weichen weder für Ärger noch für Trauer signifikant
von 0 ab, was für eine Überfaktorisierung spricht. Im Vergleich zur hohen StateSpezifität bindet der Trait nur sehr wenig Varianz. Schließlich ergab eine post-hocAnalyse, dass die Daten zweier Probanden aus der LST-Analyse ausgeschlossen
werden
müssten,
da
sie
durch
extreme
Ausreißerwerte
die
Normalverteilungsannahme der manifesten Variablen verletzen (Exzess > 11).
Rechnet man die Modelle ohne diese beiden Probanden, liefern liberale StateModelle die beste Passung für Ärger und Trauer.
In erster Linie scheinen also messgelegenheitsspezifische Einflüsse (z. B.
Stimmung, vergangene Zeit seit der letzten Mahlzeit, Müdigkeit) die vagale Reaktion
zu bestimmen. Der Einfluss zeitlich stabiler und transsituativ konsistenter
Dispositionen scheint hingegen gering zu sein. Somit erscheint es fraglich, ob ein
Konstrukt wie „vagale Flexibilität“ die zentrale Rolle spielen kann, die ihm z. B. von
Thayer (2000) zugeschrieben wird.
Davidson hingegen vernachlässigt in seinem theoretischen Ansatz die
autonome und speziell die vagale Komponente nach den vorliegenden Daten zurecht
(Davidson, 1992, 1993). Interindividuelle Unterschiede der vagalen Flexibilität sind
messgelegenheitsspezifisch
und
spielen
im
Rahmen
einer
emotionalen
Verhaltensdisposition sensu Affektiver Stil keine Rolle.
Die geringen Auswirkungen der emotionalen Induktion auf die vagale
Aktivität stellen sicherlich ein Problem dar. Obwohl – wie im Laufe des Ergebnisteils
aufgezeigt – die Differenz kein reines Fehlermaß ist, ist die Operationalisierung der
Emotionen suboptimal. Eine experimentelle Induktion von Emotionen kann im
Labor nicht so intensiv gelingen wie in realen Situationen, da die Versuchspersonen
68
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
nicht persönlich involviert sind. Mit Ausnahme von Ekel werden alle Emotionen als
„Stellvertreter-Emotionen“ realisiert, dass heißt die Emotion wird erlebt, indem der
Proband mit dem Protagonisten mitfühlt. Einschränkend muss jedoch gesagt
werden, dass die Filme auf subjektiver Ebene sehr wohl zu einem intensiven
emotionalen Erleben führen (siehe auch Hagemann, 1999).
Warum sind die Auswirkungen der emotionalen Filme gerade auf die
autonome Aktivität so gering? Dafür lassen sich zwei mögliche Erklärungen
anführen. Zum einen könnte es an der geringen situativen Handlungsanforderung
liegen. Die Probanden waren fest verkabelt in einem Stuhl platziert und so in ihrer
Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt. Es bestand also für den Organismus kein
Anlass, mit einer ausgeprägten autonomen Handlungsbereitschaft auf die
Stimulation zu reagieren. Dem widersprechen jedoch die Ergebnisse der
Metaanalyse von Swain & Suls (1996). Die Autoren fanden besonders große und
zeitlich stabile Effekte auf die Herzrate, wenn sprachfreie und psychologische
Stressoren, wie in der vorliegenden Untersuchung, verwendet werden. Eine weitere
mögliche Erklärung – gerade in Verbindung mit den subjektiven Daten – ist die oft
berichtete geringe Kohärenz der Reaktionssysteme (Lang, 1988). Es ist nicht davon
auszugehen, dass das kognitiv-verbale und das körperlich-physiologische System
gleichsinnig auf die emotionale Induktion reagieren, sondern ein intensives
subjektives Erleben kann mit unveränderter autonomer Aktivität einhergehen.
Aufschlüsse können hier nur weitere Untersuchungen geben, in denen es gelingt,
Emotionen intensiv und alltagsnah zu induzieren.
Eine
interessante
Auffälligkeit
ergab
sich
bei
der
Analyse
der
durchschnittlichen Herzperiode (MIBI). Nur einer der Filme (Killing Fields,
Beschreibung im Anhang) führte zu einer Reduzierung der durchschnittlichen
Herzperiode, d. h. einem Anstieg der Herzrate. Eine Besonderheit dieses Filmes ist,
dass er eine Großaufnahme eines emotionalen Gesichtsausdrucks zeigt und diese
Henning Holle
69
Einstellung lange hält. Eventuell gibt es eine besonders enge Verbindung zwischen
der Dekodierung emotionaler Mimik und autonomer Aktivierung.
Es könnte sein, dass der neutrale Film im Laufe der Messgelegenheiten
emotionale Qualitäten bekommen hat. Dieser Film wurde immer zu Beginn gezeigt,
während die Reihenfolge der anschließenden Filme eingeschränkt randomisiert
wurde. Dies geschah mit der Intention, den Probanden einen neutralen RatingReferenzpunkt für die anschließenden emotionalen Filme zu liefern. Ab der zweiten
Messgelegenheit könnte dieser Film jedoch auch als konditionierter Stimulus für die
anschließenden
und
teilweise
sehr
unangenehmen
Filme
dienen.
In
der
varianzanalytischen Auswertung fand sich kein Haupteffekt Messgelegenheit (vgl.
3.2) für MIBI, jedoch ein Trend zur Sensitivierung. Betrachtet man die einfachen
Haupteffekte Messgelegenheit für MIBI, wird zunächst deutlich, dass sich für alle
neun Filme eine Tendenz zur Verkürzung der durchschnittlichen Herzperiode zeigt.
Die entsprechenden Effektgrößen sind aber sehr klein (ω2 <.01). Lediglich die beiden
Filme zur Induktion von Ekel und der neutrale Film werden von einer stärkeren
Sensitivierung begleitet (ω2 = .03).
Eine potentielle Fehlerquelle stellt die Verwendung von Time-Domain-Maßen
zur Bestimmung der vagalen Aktivität in differentiellen Fragestellungen dar. Der
enge korrelative Zusammenhang zwischen r-MSSD und der HF-Power der
Herzratenvariabilität wurde bisher nur für identische Messstrecken berichtet (Kleiger
et al., 1991). Es könnte sein, dass eine Profilkorrelation über verschiedene
Messstrecken (z. B. r-MSSD der ersten Messgelegenheit mit HF-Power der zweiten
Messgelegenheit) beträchtlich niedrigere Zusammenhänge ergeben würde, so dass rMSSD kein zulässiges Substitut darstellt.
Die Verwendung von Differenzen zur Berechnung von Reaktionsmaßen ist
zwar gängiger Standard in der psychophysiologischen Forschung, jedoch nicht
unumstritten. Wilders Gesetz des Ausgangswertes (englisch: Law of Initial Value )
70
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
besagt: „The higher the initial value, the smaller the response to function raising, the
larger the response to function depressing stimuli“ (Wilder, 1967). Es besteht
mittlerweile
eine
recht
breite
Übereinstimmung,
dass
eine
Ausgangswertabhängigkeit vorliegt, wenn eine signifikante negative Korrelation
zwischen dem Differenzwert und dem Baselinewert vorliegt (Jin, 1992). Im
vorliegenden Datensatz ist dies der Fall (r = -.40), so dass die Verwendung eines um
die Ausgangswertabhängigkeit korrigierten Reaktionsmaßes eventuell geboten
scheint. Als einen möglichen Lösungsversuch bieten Cronbach und Furby (1970) an,
den Wert der Stimulationsbedingung um den Wert der Baseline-Bedingung zu
residualisieren (englisch: residualized change score). Es sei jedoch darauf verwiesen,
dass sowohl die beschriebene korrelative Diagnose über das Vorliegen einer
Ausgangswertabhängigkeit (Jin, 1992) als auch die Verwendung von base free
measures umstritten ist (Myrtek et al., 1977).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zeitliche Stabilität der vagalen
Reaktion auf emotionale Filme gering ist. Messgelegenheitsspezifische Einflüsse
stellen hingegen die dominierende Einflussquelle dieser Reaktion dar. Emotionale
Filme haben dabei insgesamt eher geringe Auswirkungen auf die autonome und
speziell die vagale Aktivität.
Zukünftige Forschungsarbeiten sollten diese geringen Effekte berücksichtigen
und versuchen, Emotionen noch intensiver und alltagsnäher zu induzieren. Wenn
Emotionen nicht als „Stellvertreter-Emotionen“ realisiert werden, sondern in einer
glaubwürdigen realen Situation, zeigen sich wahrscheinlich größere Auswirkungen
auf die vagale Aktivität. Solange der Zusammenhang zwischen r-MSSD und der HFPower nur für identische Messstrecken bekannt ist (Stein et al., 1994), sollte dabei die
HF-Power zur Quantifizierung der RSA verwendet werden. Wenn die Analyse der
Stabilität im Zentrum des Interesses steht, sollten Längsschnittuntersuchungen mit
mindestens zwei Indikatoren angewendet werden. Nur sie ermöglichen detailliertere
Informationen über die Reliabilität, die Methoden- ,die State- und die Traitspezifität.
Henning Holle
5.
71
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74
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Anhang A: Beschreibung der Filme
Tabelle 10: Beschreibung der Filmausschnitte
Kurzbezeichnung
Dauer
(sec)
Beschreibung (Name des Films, Verleihfirma, Jahr)
30
Eine Zugreise durch einen Wald aus der Perspektive des
Lokomotivführers (aus Führerstandsmitfahrten, Frankfurt/M. –
Hannover (ICE), Sender Freies Berlin/SFB Werbung, 1995)
87
Ein jüngerer und ein älterer Mann fahren zusammen in einer
Kutsche. Die Passagiere des vorausfahrenden Wagens werden von
einer Gruppe ortsansässiger Teenager belästigt. Der jüngere Mann
verlässt die Kutsche und tritt den Teenagern gegenüber, worauf
diese anfangen ihn zu drangsalieren (aus Witness, Paramount
Pictures, 1985)
129
Ein Mann verbrennt einen Pass vor einer Menschenmenge. Die
Polizei verhaftet ihn. Ein anderer Mann nimmt eine Schachtel mit
Pässen, geht damit zu einem Feuer und beginnt die Pässe zu
verbrennen. Ein Polizist schlägt den Mann mit einem Knüppel, ohne
ihn jedoch davon abhalten zu können, weitere Pässe zu verbrennen.
Schließlich bricht der Mann im Staub zusammen (aus Gandhi,
Columbia Pictures, 1982).
59
Ein Mann schläft in einem Bett, wacht auf und schlägt die Decke
zurück. Er entdeckt den blutigen Kopf eines Pferdes und fängt an zu
schreien (aus The Godfather, Paramount Pictures, 1972).
58
Ein Mann schläft in einem Bett. Eine Ratte läuft durch den Raum,
klettert hoch auf das Bett und läuft die Laken entlang. Dabei
hinterlassen ihre Pfoten eine blutige Spur. Die Ratte krabbelt in den
Mund des Mannes, der daraufhin den Rand des Bettes umfasst. Er
wirft die Ratte auf den Boden und schlägt nach ihr (aus Maria’s
Lovers, MGM, 1984).
111
Ein Mann in einer weißen Offiziersuniform spaziert durch eine
Fabrik, trifft eine Frau und gibt ihr einen Kuss. Sie umarmen sich, er
nimmt sie in seine Arme und trägt sie aus der Fabrik hinaus (aus An
(Ziel Emotion)
Train
(neutral)
Witness
(anger1)
Gandhi
(anger2)
Godfather
(disgust1)
Maria
(disgust2)
Officer
Henning Holle
75
(happiness1)
Pond
Officer and a Gentleman, Paramount Pictures, 1982).
32
Eine ältere Frau läuft singend und tanzend durch den Wald. Eine
jüngere Frau schleicht sich heran und beobachtet sie durch das
Buschwerk. Schließlich stimmt sie in den Gesang der älteren Frau
ein; und beide treffen und umarmen sich (aus On Golden Pond,
Universal Pictures, 1981).
102
Ein Mann und eine Frau klopfen an die Tür eines Apartments und
treten ein. Sie schauen sich im Zimmer um, dann betritt der Mann
das Badezimmer. Dort findet er einen toten Mann, der sich in der
Dusche erhängt hat. Er nimmt die Leiche herunter, wiegt ihren Kopf
in seinem Schoss und weint (aus An Officer and a Gentleman,
Paramount Pictures, 1982).
81
Ein Mann schüttelt die Hände mit anderen Personen in einem Raum,
bevor nach draußen geht. Einer der zurückgelassenen Männer fängt
an zu weinen, während er ihn im Regen verschwinden sieht (aus The
Killing Fields, Goldcrest, 1984).
(happiness2)
Officer
(sadness1)
Fields
(sadness2)
Beschreibung nach (Hagemann et al., 1999)
76
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Anhang B: Faktorenanalyse l-MSSD
Tabelle 11: Scree-Plots der messgelegenheitsspezifischen Lösungen
Scree Plot MZP 1
Scree Plot MZP 2
10
8
8
6
6
4
Eigenvalue
Eigenvalue
4
2
0
1
2
3
4
5
6
7
8
2
0
9
1
Component Number
6
6
4
4
2
2
0
3
4
Component Number
4
5
6
7
8
9
6
7
8
9
Scree Plot MZP 4
8
Eigenvalue
Eigenvalue
Scree Plot MZP 3
2
3
Component Number
8
1
2
5
6
7
8
9
0
1
2
3
4
5
Component Number
Anmerkung: Hauptkomponentenanalyse l-MSSD, Abbruchkriterium Eigenwerte < 1,
VariMax-rotierte Lösung, listenweiser Ausschluss fehlender Werte.
Henning Holle
77
Anhang C: Faktorenanalyse der Reaktionsmaße lMSSD
Tabelle 12: Scree-Plots, Ladungsmatrizen,
messgelegenheitsspezifischen Lösungen
Scree Plot MZP 1
5
4
3
Eigenvalue
2
1
0
1
2
3
4
5
6
7
8
Aufgeklärte
Varianz
und
Plots
der
Rotierte Ladungsmatrix MZP1
Faktor
1
2
A1
,887
,155
A2
,844
,234
D1
,415
,731
D2
,116
,822
H1
,858
,234
H2
,146
,753
S1
,778
,423
S2
,868
,129
Extraktionsmethode: Hauptkomponentenanalyse.
Rotationsmethode: Varimax mit Kaiser
Normalisierung.
a Rotation konvergiert nach 3 Iterationen.
Component Number
Aufgeklärte Varianz MZP 1
Summe
der
quadrierten
Ladungen
Faktor
Summe % VarianzKummulierte
%
1
3,799
47,492
47,492
2
2,108
26,351
73,842
Extraktionsmethode: Hauptkomponentenanalyse.
Component Plot in Rotated Space
1,0
d2
h2
d1
s1
,5
a2
h1
a1
s2
Component 2
0,0
-,5
-1,0
-1,0
-,5
Component 1
0,0
,5
1,0
78
Stabilität der Herzperiodenvariabilität
Scree Plot MZP 2
5
4
3
Eigenvalue
2
1
0
1
2
3
4
5
6
7
8
Rotierte Ladungsmatrix MZP2
Faktor
1
2
A1
,225
,786
A2
,720
,473
D1
,572
,431
D2
,693
,437
H1
,120
,857
H2
,830 -3,630E03
S1
,760
,262
S2
,370
,740
Extraktionsmethode: Hauptkomponentenanalyse.
Rotationsmethode: Varimax mit Kaiser
Normalisierung.
a Rotation konvergiert nach 3 Iterationen.
Component Number
Aufgeklärte Varianz
Summe
der
quadrierten
Ladungen
Faktor
Summe % VarianzKummulierte
%
1
2,796
34,945
34,945
2
2,567
32,093
67,038
Extraktionsmethode: Hauptkomponentenanalyse.
Component Plot in Rotated Space
1,0
h1
a1
s2
a2
d1 d2
,5
s1
h2
Component 2
0,0
-,5
-1,0
-1,0
-,5
0,0
,5
1,0
Component 1
Scree Plot MZP 3
Scree Plot MZP 4
7
6
6
5
5
4
4
3
3
2
Eigenvalue
Eigenvalue
2
1
0
1
2
3
4
Component Number
5
6
7
8
1
0
1
2
3
4
5
6
7
Component Number
Anmerkung: Hauptkomponentenanalyse Reaktionsmaße l-MSSD, Abbruchkriterium
Eigenwerte < 1, VariMax-rotierte Lösung, listenweiser Ausschluss fehlender Werte.
8
Henning Holle
79
Hiermit versichere ich, dass ich diese Arbeit selbständig verfasst und keine
anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.
Trier, im Juli 2003
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