Gisela Grupe Michaela Harbeck George C. McGlynn Prähistorische Anthropologie Prähistorische Anthropologie Gisela Grupe Michaela Harbeck George C. McGlynn Prähistorische Anthropologie Gisela Grupe Department Biologie I Biodiversitätsforschung/Anthropologie LMU München Planegg-Martinsried, Deutschland Michaela Harbeck Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München München, Deutschland George C. McGlynn Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München München, Deutschland ISBN 978-3-642-55274-8 DOI 10.1007/978-3-642-55275-5 ISBN 978-3-642-55275-5 (eBook) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-spektrum.de Vorwort Unser Dank gilt zunächst ganz besonders Frau Stefanie Wolf und ihrem Team vom Springer-Verlag, die uns die Möglichkeit eröffnet haben, dieses Buch zu verfassen. Es ist unser Anliegen, nicht nur ein studienbegleitendes Lehrbuch vorzulegen, sondern eine Darstellung der Prähistorischen Anthropologie mit ihren wissenschaftlichen Fragestellungen und Lösungsmethoden vorzunehmen, welche gleichermaßen für Natur- und Kulturwissenschaftler/innen verständlich ist und das Potenzial körperlicher Überreste von Menschen vergangener Zeiträume für die Erforschung der Alltags- und Kulturgeschichte aufzeigt. Es war ausdrücklich nicht unsere Intention, ein methodenorientiertes Lehrbuch zu schreiben, sondern kontextuell vorzugehen. Dass dabei auch bestimmte Aspekte eines biologischen Basiswissens zu menschlichen Geweben vermittelt werden müssen, ist unabweisbar. Wir Autoren haben die Anregung des Springer-Verlages für das vorliegende Buch gerne aufgegriffen und blicken auf eine kollegiale und fruchtbare Teamarbeit zurück. Es war von unübersehbarem Vorteil, dass die langjährigen Erfahrungen sowohl einer universitären, als auch einer außeruniversitären anthropologischen Institution, nämlich der Arbeitsgruppe „Prähistorische Anthropologie und Umweltgeschichte“ im Biozentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München, in unser Vorhaben einfließen konnten. Gemäß der Konvention von Valletta gelten „alle Spuren des Menschen“ als Bodendenkmal und es sind gerade die Mitarbeiter/innen der Staatssammlung, welche sehr eng mit den Denkmalpflegeinstitutionen zusammenarbeiten. So war es uns möglich, die Expertise der Feldarbeit mit jener der Restauration und Bewahrung der Funde bis zur elaborierten laborseitigen Erschließung des Informationsgehaltes menschlicher Überreste zu verbinden. Ebenso wie jeder lebende Mensch ein einzigartiges Individuum ist, repräsentiert jeder einzelne Skelettfund eine individuelle, unwiederbringliche und nicht reproduzierbare Informationsquelle. Beim Schreiben des vorliegenden Buches war es uns ferner möglich, auf die Ergebnisse vieler universitärer Abschlussarbeiten zurückzugreifen. Beispiele basieren daher häufig auf eigenen Untersuchungen der Autoren und betreuten studentischen Arbeiten. So haben auch viele Studierende letztlich zum Gelingen des Buches beiV VI Vorwort getragen, und selbstverständlich sind diese Abschlussarbeiten auch in das Literaturverzeichnis eingeflossen. Trotzdem sind wir einer Reihe von Mitarbeiter/innen ganz besonders zu Dank verpflichtet, ohne deren Mithilfe wir dieses Buch nicht fristgerecht hätten fertig stellen können. Nachstehenden Kolleginnen und Kollegen danken wir sehr herzlich für die Überlassung von Abbildungen: Firma ADV Archäologie-Dokumentation-Vermessung GmbH, Neuburg; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege; Dr. O. Braasch, Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege; Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum; Dr. A. Grigat, Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München; Dr. B. Grosskopf, Universität Göttingen; A. Grothe M.A., Landesamt Sachsen-Anhalt, Halle; M. Hochmuth, Deutsches Archäologisches Institut; Prof. Dr. R. Jankauskas, Vilnius University; Dr. B. Jungklaus, Berlin; I. Knoche, Talpa GnbR, Büro für archäologische Dienstleistungen; Dr. C. Later, Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege; Musée de l’Homme de Néandertal La Chapelle aux Saints; A. Pütz, M.A. Geschichtlichheimatkundliche Sammlung Aschheim; Dr. B. Haas-Gebhardt, Archäologische Staatssammlung München; C. Schappach, Neumünster; J. Scherbaum M.A., Archäologische Dokumentation Bamberg: Professor em. Dr. W. Schiefenhovel, Andechs; M. Schulz, Institut für Paläoanatomie, Domestikationsforschung und Geschichte der Tiermedizin, München; E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung (Nägele u. Obermiller); Dr. A. Staskiewicz, Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München; Dr. D. H. Ubelaker, Smithsonian Institute Washington DC; E. Voss, Historischer Verein für Oberfranken; Dr. A. Zanesco, Stadtarchäologie Hall in Tirol; sowie den derzeitigen und ehemaligen Studierenden der Arbeitsgruppe „Anthropologie und Umweltgeschichte“ an der Fakultät für Biologie der Ludwig-Maximilians-Universität München: L. Baindl, S. Beyer, T. Burger, K. Dittmann, N. Hoke, R. Immler, M. Keller, K. Krippner, M. Kronberger, C. Lihl, E. Lochner, J. Niggemeyer, A. Rott, R. Schleuder und K. von Heyking. Für inhaltliche Anmerkungen möchten wir zudem Frau Dr. B. Grosskopf, Frau Dr. B. Jungklaus, Frau Dr. I. Wiechmann, Frau Dr. C. Cooper, Frau N. Hoke, Herrn A. Rott und ganz besonders Herrn Dr. P. Schröter danken. Frau S. Beyer sowie Frau Dr. A. Staskiewicz und Dr. H. Schwarzberg danken wir ganz besonders herzlich für die zeitaufwändige Redaktion der Manuskripte einschließlich der Bildbearbeitung. Die Autoren, München im Dezember 2014 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 3 2 Forschungs- und Fachgeschichte, gegenwärtige Position der Prähistorischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 14 3 4 Juristische und ethische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der verantwortungsbewusste Umgang mit menschlichen Überresten aus archäologischem Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Rechtliche Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Würde, Pietät und Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Zur Forschung an menschlichen Überresten aus archäologischen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Sammeln oder Wiederbestatten? . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Menschliche Überreste aus Unrechtskontexten . . . . . . . . 3.2 Prähistorische Anthropologie und Wissenschaftsvermittlung . . . . 3.2.1 Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Museale Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Darstellung von Forschungsergebnissen in den Medien . . . 3.3 Die Stellung von menschlichen Überresten in der Denkmalpflege . 3.4 Bedeutende anthropologische Skelettsammlungen . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhaltungsformen menschlicher Überreste . . . . . . . . . . . 4.1 Hierarchischer Aufbau und stoffliche Zusammensetzung von Knochen und Zähnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Makroskopischer Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Stoffliche Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 15 16 17 19 24 30 32 32 35 36 38 42 49 ..... 55 ..... ..... ..... 55 55 63 VII VIII Inhaltsverzeichnis 4.1.3 Auf- und Umbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Die mikrostrukturelle Organisation von Knochen und Zähnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Unterschiede in der Histologie zu anderen Wirbeltierknochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Körpergräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Chronologie der Bestattungsformen . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Besondere Körpergräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Särge und andere „Leichenbehältnisse“ . . . . . . . . . . 4.3 Ossuarien und Massengräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Ossuarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Massengräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Sonderbestattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Leichenbrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Thermisch induzierte Veränderungen des Skelettes . . . 4.5.2 Bergung und Bearbeitung von Leichenbrand . . . . . . . 4.6 Konservierte Weichgewebe: Mumien und Moorleichen . . . . . 4.6.1 Mumien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2 Moorleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Koprolithen und Kloakeninhalte: Paläoparasitologie . . 4.7 Taphonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.1 Nekrologie und Skelettierung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.2 Biostratinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.3 Diagenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 97 101 102 105 106 106 110 116 121 125 129 137 139 143 147 149 150 154 161 171 5 Feldarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Freilegung von Skeletten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Dokumentation und In-situ-Befundung . . . . . . . . . 5.2.1 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 In-situ-Befundung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Bergung und Reinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Bergung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Reinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Behandlung und Probenentnahme für Folgeanalysen . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 193 204 204 204 209 209 214 215 216 6 Aufbewahrung, Lagerung, Dokumentation und Erschließung der Funde für die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Aufbewahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Lagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Dokumentation und Beprobung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Erschließung für die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 218 219 225 228 229 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 65 .. 71 Inhaltsverzeichnis IX 7 Unterscheidung von Menschen- und Tierknochen . . . . . . . . . . 7.1 Morphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Histomorphometrische und andere Unterscheidungsmerkmale . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 236 244 247 8 Der Individualbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die Notwendigkeit der standardisierten Datenaufnahme . . . 8.2 Der Skeletterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Geschlechtsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Geschlechtsbestimmung nichterwachsener Individuen 8.3.2 Geschlechtsbestimmung erwachsener Individuen . . . 8.4 Bestimmung des Sterbealters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Altersbestimmung nichterwachsener Individuen . . . . 8.4.2 Altersbestimmung erwachsener Individuen . . . . . . . 8.5 Osteometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Schätzung der Körperhöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Schätzung von Körpergewicht und Body-Mass-Index . 8.5.3 Biomechanische Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.4 Kraniometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Gebiss und Zahnhalteapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.1 Zahnverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Morphologie und Zahn(fehl)stellung . . . . . . . . . . . 8.6.3 Zahnabnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.4 Zahnstein und Karies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Gelenkstatus und Aktivitätsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.1 Degenerative Gelenkveränderungen . . . . . . . . . . . . 8.7.2 Erkrankungen der Gelenke . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8 Anatomische Skelettvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9 Unspezifische Stressindikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9.1 Cribra orbitalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9.2 Porotische Hyperostose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9.3 Harris-Linien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9.4 Haltelinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9.5 Lineare Zahnschmelzhypoplasien . . . . . . . . . . . . . 8.10 Paläopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.10.1 Traumata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.10.2 Infektionskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.10.3 Metabolische und endokrine Erkrankungen . . . . . . . 8.10.4 Kongenitale Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.10.5 Neoplastische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . 8.10.6 Sonstige häufige Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 249 251 254 255 257 265 267 273 279 283 291 293 297 300 302 304 306 309 316 319 323 333 340 345 347 348 350 351 353 355 366 376 380 384 386 389 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X Inhaltsverzeichnis 9 Rekonstruktion der Population . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Paläodemografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Berechnung einer verkürzten Sterbetafel . . . . . . . . . . . . 9.3 Repräsentanzkriterien und Abgleich mit Modellsterbetafeln 9.4 Weitere Kenndaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 405 409 417 422 425 10 Stabile Isotope: Aussagemöglichkeiten und Grenzen . . . . . . . . . . 10.1 Begriffsbestimmung und spezifische Aspekte der Bioarchäologie . 10.2 Stabile Isotope leichter Elemente (H, C, N, O, S) . . . . . . . . . . . 10.2.1 Stabile Isotope im Knochenkollagen . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Stabile Isotope im Knochenmineral . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Stabile Isotope schwerer Elemente im Knochenmineral . . . . . . . 10.3.1 87 Sr/86 Sr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 206 Pb/204 Pb, 207 Pb/204 Pb, 208 Pb/204 Pb . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Weitere Stoffgruppen des Skelettes und weitere Isotopensysteme von potenzieller Bedeutung für die Prähistorische Anthropologie . 10.5 Isotopen-Mischungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 429 433 433 445 453 455 460 Konservierte DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Biologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.1 Desoxyribonukleinsäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Gene und Polymorphismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3 Das humane Genom: SNPs, Haplogruppen und STRs . . . . 11.1.4 Methoden der DNA-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Kennzeichen alter DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Postmortale Degradation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 DNA-Erhalt: Wo, wie und wie lange? . . . . . . . . . . . . . 11.2.3 Kontaminationen: Quellen, Vermeidung und Entfernung . . 11.2.4 Beurteilung der Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.5 Kontaminationsvermeidende Bergung und Probenentnahme 11.3 Anwendungsgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.1 Biologische Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Biomolekulare Paläopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.3 Verwandtschaftsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.4 Evolution und Bevölkerungsgeschichte . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 480 480 481 483 486 489 489 493 496 500 502 504 505 509 514 523 528 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 463 470 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Abkürzungsverzeichnis A aDNA Art. Abs. ASV bp °C C CI cm DenkmSchG DJD DNA dNTPs erw. ff. FTIR G GG HVR i. w. S. Jh. Kn. LAG m Mand. Max. MFD NAGPRA NCP NGS Adenin alte DNA Artikel Absatz Anatomische Skelettvarianten Basenpaare Grad Celsius Cytosin Kristallinitätsindex Zentimeter Denkmalschutzgesetz degenerative Gelenkerkrankung (degenerative joint disease) Desoxyribonukleinsäure Desoxyribonucleosidtriphosphate erwachsen und folgende Seiten Fourier-Transform-Infrarotspektrometrie Guanin Grundgesetz Hypervariable Region der DNA der Mitochondrien im weiteren Sinne Jahrhundert Knochen lines of arrested growth Meter Mandibula Maxilla Bohrkanäle, microscopic focal destructions Native American Graves Protection and Repatriation Act non collagenous proteins = nichtkollagene Proteine Next Generation Sequencing XI XII mt ncDNA nm nt np OHI Ost. PCR qPCR s. SNP SF STR StGB T Tab. TBC TCA TMD u. a. v. Chr. z. B. Abkürzungsverzeichnis mitochondrial nukleäre DNA Nanometer Nukleotide Nukleotidposition Oxford Histologischer Index Osteon Polymerasekettenreaktion Real-Time-quantitative PCR siehe Single Nucleotide Polymorphisms Splitting Faktor Short Tandem Repeat Strafgesetzbuch Thymin Tabelle Tuberkulose Zahnzementannulation (tooth cementum annulation) temporomandibular disorder und andere vor Christus zum Beispiel 1 Einleitung Die physische Anthropologie ist im deutschsprachigen Raum eine Biowissenschaft und zählt zu den sogenannten „kleinen akademischen Fächern“. Diesen ist gemeinsam, dass sie in der Regel fachlich breit aufgestellt sind, einen hohen Anteil an Grundlagenforschung betreiben, jedoch mehrheitlich nur über eine dünne Personaldecke verfügen (www.kleinefaecher.de). Die Prähistorische Anthropologie ist ein Teilbereich der biologischen Anthropologie. Er ist derzeit in der BRD sowohl institutionell als auch in Bezug auf die Anzahl der aktiven Wissenschaftler einschließlich des wissenschaftlichen Nachwuchses im Fach am stärksten vertreten. Als kleines akademisches Fach ist allerdings die Anthropologie als solche gefährdet. Grundsätzlich versteht sie sich als Brückenfach, welches zwischen Natur- und Kulturwissenschaften vermittelt. Dies muss auch so sein, denn „Kultur“ im weitesten Sinne ist integraler Bestandteil von Menschen und menschlicher Bevölkerungen. Anthropologische Aspekte finden sich somit auch in anderen menschorientierten Wissenschaften, wie z. B. der klinischen Medizin, wo sie in Teilen sogar zunehmende Bedeutung erfahren (z. B. im Bereich der evolutionären Medizin). Allerdings läuft das Fach Gefahr, als Partnerdisziplin großer akademischer Fächer wenig sichtbar zu sein. Dies kann bis zur institutionellen Übernahme anthropologischer Inhalte führen. Es ist nicht verwunderlich, dass ausgerechnet die Prähistorische Anthropologie derzeit noch recht gut aufgestellt ist und sich sogar steigender Nachfrage erfreut, welche allerdings aufgrund der genannten dünnen Personaldecke kaum zu befriedigen ist. Das Fach verfolgt zwar primär seine eigenen biologischen Fragestellungen, ist aber in Bezug auf das Forschungssubstrat auf ein kulturwissenschaftliches Fach angewiesen, und zwar die Archäologie. Das Untersuchungsgut besteht nämlich mehrheitlich aus den körperlichen Überresten von Menschen vergangener Zeiträume im weiteren Sinne (einschließlich z. B. primär körperfremder Stoffe, wie bakterieller DNA oder auch Zeugen frühen Verhaltens wie z. B. die Akkumulation von Abfällen oder andere Umweltzeugnisse). Diese werden im Zuge denkmalpflegerischer Maßnahmen aufgefunden und geborgen, somit in der Regel nicht durch Anthropologen selbst rekrutiert. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 G. Grupe et al., Prähistorische Anthropologie, DOI 10.1007/978-3-642-55275-5_1 1 2 1 Einleitung Die Form der Überlieferung, ob als Erdbestattung, Feuerbestattung oder mumifizierte Gewebe, spielt dabei inhaltlich zunächst keine Rolle. Diese körperlichen Relikte werden durch die Prähistorische Anthropologie im Sinne einer empirischen Geschichtsquelle erforscht, denn sie geben anderweitig nicht zu erlangende Auskunft über das Alltagserleben und die Alltagsbewältigung von Menschen vergangener Epochen. Somit werden die wesentlichen Determinanten menschlicher Bevölkerungsentwicklung in Zeit und Raum erschlossen, wobei sich der zeitliche Rahmen auf das Holozän und den anatomisch modernen Homo sapiens beschränkt. Weiter zurückliegende Zeiträume werden durch die Paläoanthropologie abgedeckt, die nicht Gegenstand dieses Buches ist. Knochen und andere konservierte Gewebe enthalten neben der Information über die basisbiologischen Daten des verstorbenen Individuums (Sterbealter, Geschlecht, besondere körperliche Merkmale, eventuelle Krankheiten oder sogar die Todesursache) sehr viel weiter reichende Informationen, z. B. über die Ernährung, klimatische Gegebenheiten zu Lebzeiten, Migrationsereignisse, genealogische Zusammenhänge und bestimmte Verhaltensaspekte. Diese Informationen liegen im Skelett zumeist in Form von Biomolekülen oder Biokristallen vor, welche gleichsam dechiffriert werden müssen. Als Biowissenschaft arbeitet die Prähistorische Anthropologie dabei explizit auf der Populationsebene. Das einzelne Individuum (z. B. eine hochgestellte Persönlichkeit aus einer königlichen oder kaiserlichen Grablege oder ein spektakulärer Mumienfund) ist daher fachlich zunächst von untergeordneter Bedeutung, unabhängig von der öffentlichen Aufmerksamkeit (dies ist einer der Aspekte, in dem sich die Prähistorische Anthropologie von der Forensischen Anthropologie unterscheidet; Grupe et al. (2012, S. 442 ff.)). Ein einzelnes Individuum mag zwar durch die Möglichkeit politischer oder religiöser Einflussnahme zum wesentlichen Gestalter von Alltagsgeschichte werden, das Alltagserleben mit allen seinen Facetten, welche bewältigt werden müssen (Geburt und Sterben, soziales Leben, Krankheit, Wirtschaftsweise etc.), wird jedoch durch die Bevölkerung bzw. ihrer Teile sowohl gelebt als auch erlebt. Die Erschließung dieser Daseinsbewältigung ist wesentlich für die Rekonstruktion menschlicher Alltagsgeschichte im Wandel der Zeit. Nach der Bergung der Funde durch die Archäologie bzw. Denkmalpflegeinstitutionen werden diese in die fachliche Zuständigkeit, in der Regel anthropologische Institute oder Sammlungen, überführt. Da, wie bereits angeführt, Ausgrabungen primär Maßnahmen der Bodendenkmalpflege sind, werden Anthropologen nicht von vorne herein in den Entscheidungsprozess einbezogen, welche Funde geborgen und magaziniert werden. Zusätzlich zu den genuin anthropologischen wissenschaftlichen Fragestellungen kommen nun unausweichlich auch Fragen, welche vonseiten der Kulturwissenschaften gestellt werden – etwa nach den Ursachen eines von der Norm abweichenden Befundes oder von anderen primär zeit- und kulturspezifischen Kontexten, welche ihrerseits wieder populationsbiologisch relevant sind (z. B. Migration mit Bevölkerungsmischung und/oder Kulturtransfer). An diesem Punkt wird die Prähistorische Anthropologie zum Partner der Archäologie, was die genannte Rolle als Brückenfach unterstreicht. Moderne naturwissenschaftliche Literatur 3 Methoden wie z. B. viele bildgebende Verfahren oder die Analyse stabiler Isotope und konservierter DNA aus bioarchäologischen Funden erlauben Antworten auf solche primär kulturwissenschaftliche Fragen, die derzeit anderweitig nicht zu erlangen sind. Solche archäometrischen Untersuchungen sind heutzutage geradezu ein „Muss“ bei der wissenschaftlichen Analyse von Skelettfunden. Es ist die spezifische Aufgabe der Prähistorischen Anthropologie, im Rahmen solcher interdisziplinären Projekte nicht nur kollegial als Kooperationspartner zu wirken, sondern auch entsprechend über das Potenzial und die Grenzen der einzusetzenden Methoden aufzuklären. Dieses Buch möchte beiden Aspekten gerecht werden: Es will den ethisch korrekten Umgang mit körperlichen Überresten von Menschen vergangener Zeiten thematisieren sowie die Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchungsgänge vom makroskopischen Befund bis auf die Ebene des Kristalls und des Moleküls und dessen Bestandteile darstellen. Die Ergebnisse, die auf diese Weise erlangt werden können, werden in den Kontext sowohl genuin naturwissenschaftlicher, als auch primär kulturwissenschaftlicher Fragestellungen gestellt. Es wird dabei auf den Abdruck von Laborprotokollen ausdrücklich verzichtet und in diesem Punkt auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen, denn der technische und methodische Fortschritt führt zu einer raschen Weiterentwicklung und Adaptation von laborseitigen Arbeiten. Ausgenommen hiervon sind bewährte Praxistipps, z. B. für die Feldarbeit, weil bereits bei der Ausgrabung und Bergung der Funde bestimmte Vorgaben für spätere laborseitige Untersuchungen zu beachten sind. Bioarchäologische Funde sind eine unverzichtbare und auf individueller Basis zweifellos einmalige Geschichtsquelle, die zu entschlüsseln sich die Prähistorische Anthropologie zur Aufgabe gemacht hat. Literatur Grupe G, Christiansen K, Schröder I, Wittwer-Backofen U (2012) Anthropologie. Einführendes Lehrbuch, 2. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg 2 Forschungs- und Fachgeschichte, gegenwärtige Position der Prähistorischen Anthropologie Als „Vater der Anthropologie“ im deutschen Sprachraum gilt Johann Friedrich Blumenbach (17521840), welcher aufgrund seiner Dissertation mit dem Titel „De generis humani varietate nativa“ aus dem Jahr 1775 nicht nur die zur damaligen Zeit herausragende Arbeit zur Menschheitsgeschichte vorlegte, sondern aufgrund seiner Studien – vornehmlich an menschlichen Schädelfunden – später zum Professor für Naturgeschichte an der Universität Göttingen avancierte. Zeitgleich hatte der Philosoph Immanuel Kant (17241804), damals Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg, eine Vorlesung zum Thema „Von den verschiedenen Racen der Menschen (zur Ankündigung der Vorlesung der physischen Geografie im Sommerhalbjahre 1775)“ abgehalten und mit „dieser ersten nachweisbaren Vorlesung über das, was wir heute gemeinhin Anthropologie nennen, . . . die Anthropologie als Hochschulfach etabliert“ (Hoßfeld 2005, S. 64). In der damaligen, noch vordarwinischen Naturforschung war also das Interesse an der Variabilität des Menschen bereits groß. Blumenbachs umfängliche Arbeiten an Skelettfunden bezeugen dabei, dass die Forschung am Menschen eigentlich seit jeher jene an dessen dauerhaften körperlichen Relikten mit einbezogen hat. Die Fachgeschichte der „Prähistorischen Anthropologie“ ist somit letztlich identisch mit jener des gesamten Faches. Eine lesenswerte Darstellung und Analyse der Geschichte der Anthropologie findet sich bei Hoßfeld (2005), welcher für die wissenschaftshistorische Darstellung der biologischen Anthropologie im deutschen Sprachraum „zwei Großphasen mit fünf Unteretappen“ herausgearbeitet hat: zum einen die biologische Anthropologie vor und mit Darwin mit den Unteretappen vor dem Erscheinen von Darwins bahnbrechendem Werk „On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life“ (Darwin 1859) und zum anderen die biologische Anthropologie nach Darwin. Diese wird wiederum unterteilt in die Zeit um 1900, die 1930er- und 1940er-Jahre, und die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis in die Mitte der 1970er-Jahre (Hoßfeld 2005, S. 28). Weniger in wissenschaftshistorischer und inhaltlicher als vielmehr in institutioneller Sicht war die Entwicklung des Faches seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts alles andere als statisch. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 G. Grupe et al., Prähistorische Anthropologie, DOI 10.1007/978-3-642-55275-5_2 5 6 2 Forschungs- und Fachgeschichte Der Stellenwert archäologischer menschlicher Skelettfunde in der Forschung zur Herkunft und Variabilität des Menschen zeigt sich bereits in dem Bericht zum „Göttinger Anthropologentreffen“ im Jahre 1861 (von Baer und Wagner 1861), welches im Wesentlichen die Methodik zur standardisierten Erfassung des menschlichen Körpers zum Gegenstand hatte. Jede philosophische Betrachtung über den Menschen wurde konsequent ausgeschlossen („Solche Untersuchungen sind nur durch consequentes Denken Einzelner, nicht durch Discussionen zu fördern“, von Baer und Wagner 1861, S. 27). Letztlich führte dieses Treffen zur Institutionalisierung der biologischen Anthropologie in Deutschland. Zugleich zeigt sich in dem Bericht, dass die damaligen Arbeiten über Skelettfunde nur schwer erschließbar waren, da sie in sehr uneinheitlicher Weise publiziert wurden: „In der That erscheinen Arbeiten, welche für das Fach der vergleichenden Anthropologie Beiträge liefern, jetzt ungemein zerstreut, besonders in Deutschland, da ihnen ein Vereinigungspunkt fehlt . . . Das gilt besonders von den Gräberfunden, die belehrender geworden sind, seitdem man durch mancherlei gründliche Untersuchungen mehr Anhaltspunkte gewonnen hat und seitdem überhaupt die vorhistorischen Zustände des Menschengeschlechts ein so lebhaftes Interesse erregt haben . . . Diese stummen und namenlosen Zeugen der Vergangenheit müssen in der gebildeten Welt gewiss eine viel grössere Theilnahme erregen, als alle Register von Königsnamen . . . Aber es wird noch lange währen, bis die stummen Zeugen der Vergangenheit werden in Ordnung gestellt werden können. Ihre Knochenreste werden mit dazu dienen müssen. Schon jetzt sind die Nachrichten über die Funde sehr zerstreut in archäologischen, geologischen, historischen Zeitschriften . . . Alle Wissenschaften scheinen den Menschen der Vorzeit in ihr Bereich zu ziehen.“ (von Baer und Wagner 1861, S. 6364). Man darf wohl mit Fug und Recht behaupten, dass im 21. Jahrhundert wieder ein analoger Zustand herrscht, diesmal bedingt durch eine wohl unvermeidliche Aufsplitterung durch methodische Spezialisierung – der wissenschaftliche Stellenwert des Untersuchungsgutes ist nach wie vor anerkannt, die einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten finden sich aber ebenso in genuin anthropologischen Journalen, als auch in molekularbiologischen, kristallografischen, geologischen, medizinischen etc. Fachzeitschriften. Tatsache ist, dass mit Ausnahme des international anerkannten American Journal of Physical Anthropology (für die Prähistorische Anthropologie wäre noch das Journal of Archaeological Science zu nennen) die Mehrzahl der wissenschaftlich hochrangigen Arbeiten nicht in genuin anthropologischen Fachzeitschriften veröffentlicht wird. Rudolph Wagner, einer der Herausgeber des oben genannten Berichtes, prägte ebenfalls bereits im Jahre 1861 den Begriff der „historischen Anthropologie“ und es war dem Anatom Alexander Ecker (18161887) zu verdanken, dass archäologische Skelettfunde nunmehr systematisch untersucht wurden (Hoßfeld 2005). Gemeinsam mit dem Prähistoriker und Gründer des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Ludwig Lindenschmit gab er ab 1866 die erste deutschsprachige Zeitschrift für Anthropologie heraus, das „Archiv für Anthropologie“, das bis 1943 existieren sollte (Lösch 1997, S. 28). Den wahrscheinlich größten Einfluss auf die biologische Anthropologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der Anatom Rudolf Ludwig Carl Virchow (1821–1902), seit 1849 Inhaber des ersten Lehrstuhls 2 Forschungs- und Fachgeschichte 7 für pathologische Anatomie an der Universität Würzburg, seit 1856 Inhaber des neugegründeten Lehrstuhls für Pathologie in Berlin (Goschler 2002). Ganz im Sinne des damaligen Zeitgeistes hatte Virchow seit jeher ein hohes Interesse an der Vorgeschichte. Er gehörte zu den Mitbegründern der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ im Jahre 1869. Diese Gesellschaft existiert noch heute – ein Zeichen dafür, dass die biologische Anthropologie sich von Anbeginn als ein Brückenfach zwischen Natur- und Geisteswissenschaften begreift, aus der leicht nachvollziehbaren Einsicht heraus, dass Menschen in ihrem Wesen und Handeln nicht allein durch ihre Biologie zu verstehen sind. Bereits im Folgejahr wurde Virchow Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ (Andree 1976). Die deutsche Anthropologie war somit von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an stark durch Anatomen geprägt. Johannes Ranke (18361916), ein Schüler Rudolf Virchows, wurde im Jahre 1886 auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Physische Anthropologie in München berufen (Ziegelmayer 2003). Seine Privatsammlung prähistorischer Objekte, die er zu Lehrzwecken einsetzte, bildete den Grundstock der heutigen Archäologischen Staatssammlung und der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie in München. Ranke war der Verfasser eines zweibändigen Lehrbuches über den Menschen, wobei der zweite Band modernen und prähistorischen „Menschenrassen“ (ein zu Rankes Zeiten akzeptierter Terminus) gewidmet war (Ranke 1887). Eine noch bedeutend weitere Verbreitung in zahlreichen Auflagen sollte jedoch das Lehrbuch von Rudolf Martin (1864–1925) bekommen, eines Schülers von Johannes Ranke (Martin 1914). Dieses Lehrbuch wurde später durch Martin und Saller (1957) weitergeführt, wobei auch Karl Saller (1902–1969) seit 1948 ordentlicher Professor für Anthropologie und Humangenetik an der Universität München war. In Martins Lehrbuch von 1914 widmen sich weite Abschnitte der Kraniometrie1 und der Osteologie2 des postcranialen Skelettes. Zahlreiche dieser als „Martinmaße“ bekannt gewordenen Messungen am Skelett sind noch heute gebräuchlich (wie z. B. Maße zur Rekonstruktion der Körperhöhe oder der Robustizität eines Skelettes), auch das Instrumentarium hat sich bei der manuellen Vermessung der Knochen in den vergangenen hundert Jahren aufgrund des Fehlens von Notwendigkeit nicht wesentlich verändert. Noch ganz im Sinne einer vergleichenden Wissenschaft mit dem Ziel, Ordnung in die Vielfalt zu bringen, widmet auch das Lehrbuch von Martin und Saller aus dem Jahre 1957 fast fünfhundert Seiten dem „Knochengerüst“ und seiner Vermessung. Die am Ursprung stehenden Versuche, rezente Menschen und jene vergangener Epochen, welche in Form ihrer Skelettreste repräsentiert sind, in Kategorien wie „Rassen“ oder „Varietäten“ zu gruppieren, erwies sich recht bald als Fehlschlag. Dessen war sich die deutsche Anthropologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bewusst. In Rankes Lehrbuch von 1887 findet sich die eindeutige Passage: „Bei dem im vorausgehenden dargelegten Stande der heutigen Forschung können gegenwärtig alle Versuche, die Menschheit nach ihren körperlichen Verschiedenhei1 2 Kraniometrie = Vermessung des Schädels. Osteologie = Lehre von den Knochen (vom Skelett). 8 2 Forschungs- und Fachgeschichte ten in scharf voneinander getrennte Gruppen (Rassen oder Varietäten) zu trennen, nur provisorischen Wert haben . . . Wir können uns hier darauf beschränken, einige versuchte Klassifikationen dieser Art anzuführen, ohne daß wir es unternehmen wollen, durch einen eigenen neuen solchen Versuch die Zahl der wissenschaftlich nicht exakt zu begründenden schematischen Einteilungen zu vermehren“. Es ist sehr wichtig zu betonen, dass die spätere Rassenideologie des Dritten Reiches sich somit nicht auf Erkenntnisse der damaligen Anthropologie stützen konnte, sondern diese gewissermaßen neu erfinden musste. Nach Lösch (1997, S. 34) „starb diese Richtung in der deutschen Anthropologie buchstäblich mit dem Ende des 1. Weltkrieges aus – Felix von Luschan (gestorben 1923) und Rudolf Martin (gestorben 1925) bildeten die Schlusslichter dieser Entwicklung“. Für die Prähistorische Anthropologie bedeutete dies, dass sie eines breiten Forschungsfeldes, welches sie mit dem Fach insgesamt teilte, zunächst beraubt wurde. Die einflussreichste Person in der deutschen Anthropologie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war zweifellos der Anatom und Anthropologe Eugen Fischer (18741967). Tief beeindruckt von dem aufkommenden Forschungsfeld der Humangenetik versuchte er, die Gesetze der Mendelschen Regeln auf Menschen zu übertragen. Seine diesbezüglichen Schlussfolgerungen (Fischer 1913) sind aus heutiger Sicht keinesfalls haltbar, jedoch war seine Reputation als Wissenschaftler seinerzeit ausgezeichnet. Es war daher nicht überraschend, dass Fischer zum Direktor des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“3 ernannt wurde, welches im September 1927 in Berlin eröffnet wurde. Lediglich sechs Jahre später, nach der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933, wurden die Forschungsinhalte des Instituts neu formuliert, sodass sie mit dem antisemitischen Rassismus des Dritten Reichs kompatibel waren (Teschler-Nicola und Grupe 2012). Die wissenschaftliche Untersuchung archäologischer Skelettfunde war noch immer zentraler Gegenstand der physischen Anthropologie und stand jetzt ganz im Dienste der Genealogie der „höheren Rassen“ – womit eine neue, ideologisch geprägte Rassenkunde Einzug in die Prähistorische Anthropologie hielt. Wenngleich Eugen Fischer sich nach der Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts in der Weimarer Republik in der ihm unterstehenden Abteilung für Anthropologie vorwiegend mit dem Thema des Einflusses von Erb- und Umweltfaktoren auf die Bildung von Varietäten bei Mensch und Tier beschäftigte, gewann er mit Hans Weinert einen Anthropologen, der von 1927 bis 1935 Kustos der Schädelsammlung des Instituts war. Für die Prähistorische Anthropologie relevant war Fischers anfängliches Bemühen, einen Katalog sämtlicher in Deutschland magazinierter prähistorischer Schädel aufzubauen. Nach 1933 versuchte Weinert dann ganz gemäß der Ideologisierung der Wissenschaft, über die Skelettfunde „die Stammesgeschichte der nordischen und fälischen Rasse zu ergründen“ (Lösch 1997, S. 192 ff.). Auf Darwins Evolutionstheorie, zu dieser Zeit längst in der Biologie etabliert, wurde dann im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie insofern missbräuchlich zurückgegriffen, als „höhere“ und „niedere“ Rassen voneinander unterschieden werden sollten. Die Forschungsarbeit des Instituts wurde jedoch während des Drit3 Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war Vorläufer der heutigen Max-Planck-Gesellschaft. 2 Forschungs- und Fachgeschichte 9 ten Reiches zugunsten von erbbiologischen Schulungen sowie für rassenanthropologische und erbbiologische Gutachtertätigkeit für unterschiedliche nationalsozialistische Institutionen deutlich reduziert (Lösch 1997, S. 316 ff.). Die stark typologisch geprägte Forschung der Prähistorischen Anthropologie hatte somit weitestgehend eine Kontinuität bis nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. In inhaltlicher Sicht erfolgte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann der Wandel von der langen Tradition vergleichender, induktiv geprägter Forschung, basierend auf den zahllosen (Schädel-)Funden der Naturhistorischen Museen und Forschungsstellen, hin zum dynamischen Populationskonzept. Dieser Paradigmenwechsel beruhte allerdings weitgehend auf den neuen theoretischen Konzepten der synthetischen Evolutionstheorie4 , vertreten z. B. von Theodosius Dobzhansky, Julian Huxley oder Ernst Mayr, und betraf somit nicht die biologische Anthropologie alleine. Die Prähistorische Anthropologie blieb dabei ein großes Teilgebiet innerhalb des Gesamtfaches. Im Jahre 1965 wurde in Freiburg aus den beiden 1948 gegründeten Fachgesellschaften der „Deutschen Gesellschaft für Anthropologie“ und „Gesellschaft für Konstitutionsforschung“ die „Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik“ gegründet (Hoßfeld 2005, S. 371), welche bis 1992 Bestand haben sollte. Aufgrund der Entwicklung der Humangenetik von einer zunächst überwiegend biologischen hin zu einer überwiegend medizinisch-klinisch ausgerichteten Wissenschaft erfolgte während der Jahrestagung in Gießen im Jahre 1987 die Gründung der „Gesellschaft für Humangenetik“, und die Humangenetiker traten mehrheitlich sukzessive aus der gemeinsamen Fachgesellschaft aus. Somit war die „Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik“ von Anthropologen dominiert und änderte Namen und Satzung im Jahre 1992 in „Gesellschaft für Anthropologie e. V.“ (www.gfanet.de), wobei sie nunmehr zur gemeinsamen Fachgesellschaft der ehemaligen „Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik“ der alten Bundesländer und der ehemaligen „Deutschen Anthropologischen Gesellschaft“ der neuen Bundesländer wurde. Institutionell ist die Prähistorische Anthropologie in Deutschland darüber hinaus in der im Jahre 1994 in Konstanz gegründeten „Gesellschaft für Archäozoologie und Prähistorische Anthropologie e. V.“ (www.gapa-kn.de) verankert, einer Vereinigung von Fachwissenschaftlern, welche sich ausschließlich den bioarchäologischen Funden von Tier und Mensch widmet. Beide Fachgesellschaften distanzieren sich explizit und differieren entsprechend in Bezug auf wissenschaftliche Theorie und Forschung von der „Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung e. V.“, welche sich auf ihrer Webseite wie folgt charakterisiert: „Anthropologie ist die Wissenschaft von der Menschheit. Sie untersucht alle Facetten der Gesellschaft und Kultur, darunter Werkzeuge, Techniken, Sprache, Glauben, Sippen, Werte, soziale Einrichtungen, ökonomische Mechanismen, das Verlangen nach Schönheit und Kunst, Streben nach Anerkennung. Sie beschreibt den Einfluss des Menschen auf andere Menschen.“ (www.gfbaev.org). 4 Erweiterung der Evolutionstheorie von Charles Darwin, überwiegend durch die Erkenntnisse der Genetik.