Gisela Grupe Michaela Harbeck George C

Werbung
Gisela Grupe
Michaela Harbeck
George C. McGlynn
Prähistorische
Anthropologie
Prähistorische Anthropologie
Gisela Grupe Michaela Harbeck George
C. McGlynn
Prähistorische
Anthropologie
Gisela Grupe
Department Biologie I Biodiversitätsforschung/Anthropologie
LMU München
Planegg-Martinsried, Deutschland
Michaela Harbeck
Staatssammlung für Anthropologie
und Paläoanatomie München
München, Deutschland
George C. McGlynn
Staatssammlung für Anthropologie
und Paläoanatomie München
München, Deutschland
ISBN 978-3-642-55274-8
DOI 10.1007/978-3-642-55275-5
ISBN 978-3-642-55275-5 (eBook)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Springer Spektrum
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht
ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der
Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann
benutzt werden dürften.
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer
Science+Business Media
www.springer-spektrum.de
Vorwort
Unser Dank gilt zunächst ganz besonders Frau Stefanie Wolf und ihrem Team vom
Springer-Verlag, die uns die Möglichkeit eröffnet haben, dieses Buch zu verfassen.
Es ist unser Anliegen, nicht nur ein studienbegleitendes Lehrbuch vorzulegen, sondern eine Darstellung der Prähistorischen Anthropologie mit ihren wissenschaftlichen Fragestellungen und Lösungsmethoden vorzunehmen, welche gleichermaßen
für Natur- und Kulturwissenschaftler/innen verständlich ist und das Potenzial körperlicher Überreste von Menschen vergangener Zeiträume für die Erforschung der
Alltags- und Kulturgeschichte aufzeigt. Es war ausdrücklich nicht unsere Intention,
ein methodenorientiertes Lehrbuch zu schreiben, sondern kontextuell vorzugehen.
Dass dabei auch bestimmte Aspekte eines biologischen Basiswissens zu menschlichen Geweben vermittelt werden müssen, ist unabweisbar.
Wir Autoren haben die Anregung des Springer-Verlages für das vorliegende
Buch gerne aufgegriffen und blicken auf eine kollegiale und fruchtbare Teamarbeit zurück. Es war von unübersehbarem Vorteil, dass die langjährigen Erfahrungen
sowohl einer universitären, als auch einer außeruniversitären anthropologischen Institution, nämlich der Arbeitsgruppe „Prähistorische Anthropologie und Umweltgeschichte“ im Biozentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München und der
Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München, in unser Vorhaben einfließen konnten. Gemäß der Konvention von Valletta gelten „alle Spuren des
Menschen“ als Bodendenkmal und es sind gerade die Mitarbeiter/innen der Staatssammlung, welche sehr eng mit den Denkmalpflegeinstitutionen zusammenarbeiten. So war es uns möglich, die Expertise der Feldarbeit mit jener der Restauration
und Bewahrung der Funde bis zur elaborierten laborseitigen Erschließung des Informationsgehaltes menschlicher Überreste zu verbinden. Ebenso wie jeder lebende
Mensch ein einzigartiges Individuum ist, repräsentiert jeder einzelne Skelettfund eine individuelle, unwiederbringliche und nicht reproduzierbare Informationsquelle.
Beim Schreiben des vorliegenden Buches war es uns ferner möglich, auf die Ergebnisse vieler universitärer Abschlussarbeiten zurückzugreifen. Beispiele basieren
daher häufig auf eigenen Untersuchungen der Autoren und betreuten studentischen
Arbeiten. So haben auch viele Studierende letztlich zum Gelingen des Buches beiV
VI
Vorwort
getragen, und selbstverständlich sind diese Abschlussarbeiten auch in das Literaturverzeichnis eingeflossen.
Trotzdem sind wir einer Reihe von Mitarbeiter/innen ganz besonders zu Dank
verpflichtet, ohne deren Mithilfe wir dieses Buch nicht fristgerecht hätten fertig
stellen können.
Nachstehenden Kolleginnen und Kollegen danken wir sehr herzlich für die Überlassung von Abbildungen: Firma ADV Archäologie-Dokumentation-Vermessung
GmbH, Neuburg; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege; Dr. O. Braasch,
Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege; Brandenburgisches Landesamt für
Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum; Dr. A. Grigat, Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München; Dr. B. Grosskopf, Universität
Göttingen; A. Grothe M.A., Landesamt Sachsen-Anhalt, Halle; M. Hochmuth,
Deutsches Archäologisches Institut; Prof. Dr. R. Jankauskas, Vilnius University;
Dr. B. Jungklaus, Berlin; I. Knoche, Talpa GnbR, Büro für archäologische Dienstleistungen; Dr. C. Later, Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege; Musée de
l’Homme de Néandertal La Chapelle aux Saints; A. Pütz, M.A. Geschichtlichheimatkundliche Sammlung Aschheim; Dr. B. Haas-Gebhardt, Archäologische
Staatssammlung München; C. Schappach, Neumünster; J. Scherbaum M.A.,
Archäologische Dokumentation Bamberg: Professor em. Dr. W. Schiefenhovel,
Andechs; M. Schulz, Institut für Paläoanatomie, Domestikationsforschung und Geschichte der Tiermedizin, München; E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung
(Nägele u. Obermiller); Dr. A. Staskiewicz, Staatssammlung für Anthropologie und
Paläoanatomie München; Dr. D. H. Ubelaker, Smithsonian Institute Washington
DC; E. Voss, Historischer Verein für Oberfranken; Dr. A. Zanesco, Stadtarchäologie
Hall in Tirol; sowie den derzeitigen und ehemaligen Studierenden der Arbeitsgruppe „Anthropologie und Umweltgeschichte“ an der Fakultät für Biologie der
Ludwig-Maximilians-Universität München: L. Baindl, S. Beyer, T. Burger, K. Dittmann, N. Hoke, R. Immler, M. Keller, K. Krippner, M. Kronberger, C. Lihl, E.
Lochner, J. Niggemeyer, A. Rott, R. Schleuder und K. von Heyking.
Für inhaltliche Anmerkungen möchten wir zudem Frau Dr. B. Grosskopf, Frau
Dr. B. Jungklaus, Frau Dr. I. Wiechmann, Frau Dr. C. Cooper, Frau N. Hoke, Herrn
A. Rott und ganz besonders Herrn Dr. P. Schröter danken. Frau S. Beyer sowie Frau
Dr. A. Staskiewicz und Dr. H. Schwarzberg danken wir ganz besonders herzlich für
die zeitaufwändige Redaktion der Manuskripte einschließlich der Bildbearbeitung.
Die Autoren, München im Dezember 2014
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
3
2
Forschungs- und Fachgeschichte, gegenwärtige Position
der Prähistorischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
14
3
4
Juristische und ethische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Der verantwortungsbewusste Umgang mit menschlichen
Überresten aus archäologischem Kontext . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1 Rechtliche Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.2 Würde, Pietät und Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . .
3.1.3 Zur Forschung an menschlichen Überresten aus
archäologischen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.4 Sammeln oder Wiederbestatten? . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.5 Menschliche Überreste aus Unrechtskontexten . . . . . . . .
3.2 Prähistorische Anthropologie und Wissenschaftsvermittlung . . . .
3.2.1 Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2 Museale Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3 Darstellung von Forschungsergebnissen in den Medien . . .
3.3 Die Stellung von menschlichen Überresten in der Denkmalpflege .
3.4 Bedeutende anthropologische Skelettsammlungen . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erhaltungsformen menschlicher Überreste . . . . . . . . . . .
4.1 Hierarchischer Aufbau und stoffliche Zusammensetzung
von Knochen und Zähnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.1 Makroskopischer Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.2 Stoffliche Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
15
16
17
19
24
30
32
32
35
36
38
42
49
.....
55
.....
.....
.....
55
55
63
VII
VIII
Inhaltsverzeichnis
4.1.3 Auf- und Umbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.4 Die mikrostrukturelle Organisation von Knochen
und Zähnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.5 Unterschiede in der Histologie zu anderen Wirbeltierknochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Körpergräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.1 Chronologie der Bestattungsformen . . . . . . . . . . . . .
4.2.2 Besondere Körpergräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.3 Särge und andere „Leichenbehältnisse“ . . . . . . . . . .
4.3 Ossuarien und Massengräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.1 Ossuarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.2 Massengräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4 Sonderbestattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5 Leichenbrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5.1 Thermisch induzierte Veränderungen des Skelettes . . .
4.5.2 Bergung und Bearbeitung von Leichenbrand . . . . . . .
4.6 Konservierte Weichgewebe: Mumien und Moorleichen . . . . .
4.6.1 Mumien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.6.2 Moorleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.6.3 Koprolithen und Kloakeninhalte: Paläoparasitologie . .
4.7 Taphonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.7.1 Nekrologie und Skelettierung . . . . . . . . . . . . . . . .
4.7.2 Biostratinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.7.3 Diagenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
93
97
101
102
105
106
106
110
116
121
125
129
137
139
143
147
149
150
154
161
171
5
Feldarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 Freilegung von Skeletten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Dokumentation und In-situ-Befundung . . . . . . . . .
5.2.1 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.2 In-situ-Befundung . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Bergung und Reinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.1 Bergung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.2 Reinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4 Behandlung und Probenentnahme für Folgeanalysen .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
191
193
204
204
204
209
209
214
215
216
6
Aufbewahrung, Lagerung, Dokumentation und Erschließung
der Funde für die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 Aufbewahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 Lagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3 Dokumentation und Beprobung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4 Erschließung für die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
217
218
219
225
228
229
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
..
65
..
71
Inhaltsverzeichnis
IX
7
Unterscheidung von Menschen- und Tierknochen . . . . . . . . . .
7.1 Morphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2 Histomorphometrische und andere Unterscheidungsmerkmale .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
231
236
244
247
8
Der Individualbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.1 Die Notwendigkeit der standardisierten Datenaufnahme . . .
8.2 Der Skeletterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.3 Geschlechtsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.3.1 Geschlechtsbestimmung nichterwachsener Individuen
8.3.2 Geschlechtsbestimmung erwachsener Individuen . . .
8.4 Bestimmung des Sterbealters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.4.1 Altersbestimmung nichterwachsener Individuen . . . .
8.4.2 Altersbestimmung erwachsener Individuen . . . . . . .
8.5 Osteometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.5.1 Schätzung der Körperhöhe . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.5.2 Schätzung von Körpergewicht und Body-Mass-Index .
8.5.3 Biomechanische Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.5.4 Kraniometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.6 Gebiss und Zahnhalteapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.6.1 Zahnverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.6.2 Morphologie und Zahn(fehl)stellung . . . . . . . . . . .
8.6.3 Zahnabnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.6.4 Zahnstein und Karies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.7 Gelenkstatus und Aktivitätsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.7.1 Degenerative Gelenkveränderungen . . . . . . . . . . . .
8.7.2 Erkrankungen der Gelenke . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.8 Anatomische Skelettvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.9 Unspezifische Stressindikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.9.1 Cribra orbitalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.9.2 Porotische Hyperostose . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.9.3 Harris-Linien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.9.4 Haltelinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.9.5 Lineare Zahnschmelzhypoplasien . . . . . . . . . . . . .
8.10 Paläopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.10.1 Traumata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.10.2 Infektionskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.10.3 Metabolische und endokrine Erkrankungen . . . . . . .
8.10.4 Kongenitale Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.10.5 Neoplastische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . .
8.10.6 Sonstige häufige Modifikationen . . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
249
249
251
254
255
257
265
267
273
279
283
291
293
297
300
302
304
306
309
316
319
323
333
340
345
347
348
350
351
353
355
366
376
380
384
386
389
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
X
Inhaltsverzeichnis
9
Rekonstruktion der Population . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.1 Paläodemografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2 Berechnung einer verkürzten Sterbetafel . . . . . . . . . . . .
9.3 Repräsentanzkriterien und Abgleich mit Modellsterbetafeln
9.4 Weitere Kenndaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
405
405
409
417
422
425
10
Stabile Isotope: Aussagemöglichkeiten und Grenzen . . . . . . . . . .
10.1 Begriffsbestimmung und spezifische Aspekte der Bioarchäologie .
10.2 Stabile Isotope leichter Elemente (H, C, N, O, S) . . . . . . . . . . .
10.2.1 Stabile Isotope im Knochenkollagen . . . . . . . . . . . . . .
10.2.2 Stabile Isotope im Knochenmineral . . . . . . . . . . . . . . .
10.3 Stabile Isotope schwerer Elemente im Knochenmineral . . . . . . .
10.3.1 87 Sr/86 Sr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.3.2 206 Pb/204 Pb, 207 Pb/204 Pb, 208 Pb/204 Pb . . . . . . . . . . . . . .
10.4 Weitere Stoffgruppen des Skelettes und weitere Isotopensysteme
von potenzieller Bedeutung für die Prähistorische Anthropologie .
10.5 Isotopen-Mischungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
429
429
433
433
445
453
455
460
Konservierte DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.1 Biologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.1.1 Desoxyribonukleinsäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.1.2 Gene und Polymorphismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.1.3 Das humane Genom: SNPs, Haplogruppen und STRs . . . .
11.1.4 Methoden der DNA-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.2 Kennzeichen alter DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.2.1 Postmortale Degradation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.2.2 DNA-Erhalt: Wo, wie und wie lange? . . . . . . . . . . . . .
11.2.3 Kontaminationen: Quellen, Vermeidung und Entfernung . .
11.2.4 Beurteilung der Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.2.5 Kontaminationsvermeidende Bergung und Probenentnahme
11.3 Anwendungsgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.3.1 Biologische Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.3.2 Biomolekulare Paläopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.3.3 Verwandtschaftsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.3.4 Evolution und Bevölkerungsgeschichte . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
479
480
480
481
483
486
489
489
493
496
500
502
504
505
509
514
523
528
11
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
461
463
470
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
Abkürzungsverzeichnis
A
aDNA
Art.
Abs.
ASV
bp
°C
C
CI
cm
DenkmSchG
DJD
DNA
dNTPs
erw.
ff.
FTIR
G
GG
HVR
i. w. S.
Jh.
Kn.
LAG
m
Mand.
Max.
MFD
NAGPRA
NCP
NGS
Adenin
alte DNA
Artikel
Absatz
Anatomische Skelettvarianten
Basenpaare
Grad Celsius
Cytosin
Kristallinitätsindex
Zentimeter
Denkmalschutzgesetz
degenerative Gelenkerkrankung (degenerative joint disease)
Desoxyribonukleinsäure
Desoxyribonucleosidtriphosphate
erwachsen
und folgende Seiten
Fourier-Transform-Infrarotspektrometrie
Guanin
Grundgesetz
Hypervariable Region der DNA der Mitochondrien
im weiteren Sinne
Jahrhundert
Knochen
lines of arrested growth
Meter
Mandibula
Maxilla
Bohrkanäle, microscopic focal destructions
Native American Graves Protection and Repatriation Act
non collagenous proteins = nichtkollagene Proteine
Next Generation Sequencing
XI
XII
mt
ncDNA
nm
nt
np
OHI
Ost.
PCR
qPCR
s.
SNP
SF
STR
StGB
T
Tab.
TBC
TCA
TMD
u. a.
v. Chr.
z. B.
Abkürzungsverzeichnis
mitochondrial
nukleäre DNA
Nanometer
Nukleotide
Nukleotidposition
Oxford Histologischer Index
Osteon
Polymerasekettenreaktion
Real-Time-quantitative PCR
siehe
Single Nucleotide Polymorphisms
Splitting Faktor
Short Tandem Repeat
Strafgesetzbuch
Thymin
Tabelle
Tuberkulose
Zahnzementannulation (tooth cementum annulation)
temporomandibular disorder
und andere
vor Christus
zum Beispiel
1
Einleitung
Die physische Anthropologie ist im deutschsprachigen Raum eine Biowissenschaft
und zählt zu den sogenannten „kleinen akademischen Fächern“. Diesen ist gemeinsam, dass sie in der Regel fachlich breit aufgestellt sind, einen hohen Anteil an
Grundlagenforschung betreiben, jedoch mehrheitlich nur über eine dünne Personaldecke verfügen (www.kleinefaecher.de). Die Prähistorische Anthropologie ist
ein Teilbereich der biologischen Anthropologie. Er ist derzeit in der BRD sowohl
institutionell als auch in Bezug auf die Anzahl der aktiven Wissenschaftler einschließlich des wissenschaftlichen Nachwuchses im Fach am stärksten vertreten.
Als kleines akademisches Fach ist allerdings die Anthropologie als solche gefährdet. Grundsätzlich versteht sie sich als Brückenfach, welches zwischen Natur- und
Kulturwissenschaften vermittelt. Dies muss auch so sein, denn „Kultur“ im weitesten Sinne ist integraler Bestandteil von Menschen und menschlicher Bevölkerungen. Anthropologische Aspekte finden sich somit auch in anderen menschorientierten Wissenschaften, wie z. B. der klinischen Medizin, wo sie in Teilen sogar
zunehmende Bedeutung erfahren (z. B. im Bereich der evolutionären Medizin). Allerdings läuft das Fach Gefahr, als Partnerdisziplin großer akademischer Fächer
wenig sichtbar zu sein. Dies kann bis zur institutionellen Übernahme anthropologischer Inhalte führen.
Es ist nicht verwunderlich, dass ausgerechnet die Prähistorische Anthropologie
derzeit noch recht gut aufgestellt ist und sich sogar steigender Nachfrage erfreut,
welche allerdings aufgrund der genannten dünnen Personaldecke kaum zu befriedigen ist. Das Fach verfolgt zwar primär seine eigenen biologischen Fragestellungen, ist aber in Bezug auf das Forschungssubstrat auf ein kulturwissenschaftliches Fach angewiesen, und zwar die Archäologie. Das Untersuchungsgut besteht
nämlich mehrheitlich aus den körperlichen Überresten von Menschen vergangener
Zeiträume im weiteren Sinne (einschließlich z. B. primär körperfremder Stoffe, wie
bakterieller DNA oder auch Zeugen frühen Verhaltens wie z. B. die Akkumulation
von Abfällen oder andere Umweltzeugnisse). Diese werden im Zuge denkmalpflegerischer Maßnahmen aufgefunden und geborgen, somit in der Regel nicht durch
Anthropologen selbst rekrutiert.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
G. Grupe et al., Prähistorische Anthropologie, DOI 10.1007/978-3-642-55275-5_1
1
2
1
Einleitung
Die Form der Überlieferung, ob als Erdbestattung, Feuerbestattung oder mumifizierte Gewebe, spielt dabei inhaltlich zunächst keine Rolle. Diese körperlichen
Relikte werden durch die Prähistorische Anthropologie im Sinne einer empirischen
Geschichtsquelle erforscht, denn sie geben anderweitig nicht zu erlangende Auskunft über das Alltagserleben und die Alltagsbewältigung von Menschen vergangener Epochen. Somit werden die wesentlichen Determinanten menschlicher Bevölkerungsentwicklung in Zeit und Raum erschlossen, wobei sich der zeitliche
Rahmen auf das Holozän und den anatomisch modernen Homo sapiens beschränkt.
Weiter zurückliegende Zeiträume werden durch die Paläoanthropologie abgedeckt,
die nicht Gegenstand dieses Buches ist.
Knochen und andere konservierte Gewebe enthalten neben der Information
über die basisbiologischen Daten des verstorbenen Individuums (Sterbealter, Geschlecht, besondere körperliche Merkmale, eventuelle Krankheiten oder sogar die
Todesursache) sehr viel weiter reichende Informationen, z. B. über die Ernährung,
klimatische Gegebenheiten zu Lebzeiten, Migrationsereignisse, genealogische Zusammenhänge und bestimmte Verhaltensaspekte. Diese Informationen liegen im
Skelett zumeist in Form von Biomolekülen oder Biokristallen vor, welche gleichsam dechiffriert werden müssen. Als Biowissenschaft arbeitet die Prähistorische
Anthropologie dabei explizit auf der Populationsebene. Das einzelne Individuum
(z. B. eine hochgestellte Persönlichkeit aus einer königlichen oder kaiserlichen
Grablege oder ein spektakulärer Mumienfund) ist daher fachlich zunächst von
untergeordneter Bedeutung, unabhängig von der öffentlichen Aufmerksamkeit
(dies ist einer der Aspekte, in dem sich die Prähistorische Anthropologie von der
Forensischen Anthropologie unterscheidet; Grupe et al. (2012, S. 442 ff.)). Ein
einzelnes Individuum mag zwar durch die Möglichkeit politischer oder religiöser
Einflussnahme zum wesentlichen Gestalter von Alltagsgeschichte werden, das Alltagserleben mit allen seinen Facetten, welche bewältigt werden müssen (Geburt
und Sterben, soziales Leben, Krankheit, Wirtschaftsweise etc.), wird jedoch durch
die Bevölkerung bzw. ihrer Teile sowohl gelebt als auch erlebt. Die Erschließung
dieser Daseinsbewältigung ist wesentlich für die Rekonstruktion menschlicher
Alltagsgeschichte im Wandel der Zeit.
Nach der Bergung der Funde durch die Archäologie bzw. Denkmalpflegeinstitutionen werden diese in die fachliche Zuständigkeit, in der Regel anthropologische
Institute oder Sammlungen, überführt. Da, wie bereits angeführt, Ausgrabungen primär Maßnahmen der Bodendenkmalpflege sind, werden Anthropologen nicht von
vorne herein in den Entscheidungsprozess einbezogen, welche Funde geborgen und
magaziniert werden. Zusätzlich zu den genuin anthropologischen wissenschaftlichen Fragestellungen kommen nun unausweichlich auch Fragen, welche vonseiten
der Kulturwissenschaften gestellt werden – etwa nach den Ursachen eines von
der Norm abweichenden Befundes oder von anderen primär zeit- und kulturspezifischen Kontexten, welche ihrerseits wieder populationsbiologisch relevant sind
(z. B. Migration mit Bevölkerungsmischung und/oder Kulturtransfer). An diesem
Punkt wird die Prähistorische Anthropologie zum Partner der Archäologie, was
die genannte Rolle als Brückenfach unterstreicht. Moderne naturwissenschaftliche
Literatur
3
Methoden wie z. B. viele bildgebende Verfahren oder die Analyse stabiler Isotope und konservierter DNA aus bioarchäologischen Funden erlauben Antworten auf
solche primär kulturwissenschaftliche Fragen, die derzeit anderweitig nicht zu erlangen sind. Solche archäometrischen Untersuchungen sind heutzutage geradezu
ein „Muss“ bei der wissenschaftlichen Analyse von Skelettfunden. Es ist die spezifische Aufgabe der Prähistorischen Anthropologie, im Rahmen solcher interdisziplinären Projekte nicht nur kollegial als Kooperationspartner zu wirken, sondern
auch entsprechend über das Potenzial und die Grenzen der einzusetzenden Methoden aufzuklären.
Dieses Buch möchte beiden Aspekten gerecht werden: Es will den ethisch korrekten Umgang mit körperlichen Überresten von Menschen vergangener Zeiten
thematisieren sowie die Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchungsgänge vom
makroskopischen Befund bis auf die Ebene des Kristalls und des Moleküls und
dessen Bestandteile darstellen. Die Ergebnisse, die auf diese Weise erlangt werden können, werden in den Kontext sowohl genuin naturwissenschaftlicher, als
auch primär kulturwissenschaftlicher Fragestellungen gestellt. Es wird dabei auf
den Abdruck von Laborprotokollen ausdrücklich verzichtet und in diesem Punkt
auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen, denn der technische und methodische
Fortschritt führt zu einer raschen Weiterentwicklung und Adaptation von laborseitigen Arbeiten. Ausgenommen hiervon sind bewährte Praxistipps, z. B. für die
Feldarbeit, weil bereits bei der Ausgrabung und Bergung der Funde bestimmte Vorgaben für spätere laborseitige Untersuchungen zu beachten sind. Bioarchäologische
Funde sind eine unverzichtbare und auf individueller Basis zweifellos einmalige
Geschichtsquelle, die zu entschlüsseln sich die Prähistorische Anthropologie zur
Aufgabe gemacht hat.
Literatur
Grupe G, Christiansen K, Schröder I, Wittwer-Backofen U (2012) Anthropologie. Einführendes
Lehrbuch, 2. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg
2
Forschungs- und Fachgeschichte,
gegenwärtige Position der Prähistorischen
Anthropologie
Als „Vater der Anthropologie“ im deutschen Sprachraum gilt Johann Friedrich Blumenbach (17521840), welcher aufgrund seiner Dissertation mit dem Titel „De
generis humani varietate nativa“ aus dem Jahr 1775 nicht nur die zur damaligen Zeit
herausragende Arbeit zur Menschheitsgeschichte vorlegte, sondern aufgrund seiner
Studien – vornehmlich an menschlichen Schädelfunden – später zum Professor für
Naturgeschichte an der Universität Göttingen avancierte. Zeitgleich hatte der Philosoph Immanuel Kant (17241804), damals Professor für Logik und Metaphysik an
der Universität Königsberg, eine Vorlesung zum Thema „Von den verschiedenen
Racen der Menschen (zur Ankündigung der Vorlesung der physischen Geografie im Sommerhalbjahre 1775)“ abgehalten und mit „dieser ersten nachweisbaren
Vorlesung über das, was wir heute gemeinhin Anthropologie nennen, . . . die Anthropologie als Hochschulfach etabliert“ (Hoßfeld 2005, S. 64). In der damaligen,
noch vordarwinischen Naturforschung war also das Interesse an der Variabilität
des Menschen bereits groß. Blumenbachs umfängliche Arbeiten an Skelettfunden
bezeugen dabei, dass die Forschung am Menschen eigentlich seit jeher jene an dessen dauerhaften körperlichen Relikten mit einbezogen hat. Die Fachgeschichte der
„Prähistorischen Anthropologie“ ist somit letztlich identisch mit jener des gesamten
Faches.
Eine lesenswerte Darstellung und Analyse der Geschichte der Anthropologie findet sich bei Hoßfeld (2005), welcher für die wissenschaftshistorische Darstellung
der biologischen Anthropologie im deutschen Sprachraum „zwei Großphasen mit
fünf Unteretappen“ herausgearbeitet hat: zum einen die biologische Anthropologie
vor und mit Darwin mit den Unteretappen vor dem Erscheinen von Darwins bahnbrechendem Werk „On the origin of species by means of natural selection, or the
preservation of favoured races in the struggle for life“ (Darwin 1859) und zum anderen die biologische Anthropologie nach Darwin. Diese wird wiederum unterteilt
in die Zeit um 1900, die 1930er- und 1940er-Jahre, und die Zeit nach dem zweiten
Weltkrieg bis in die Mitte der 1970er-Jahre (Hoßfeld 2005, S. 28). Weniger in wissenschaftshistorischer und inhaltlicher als vielmehr in institutioneller Sicht war die
Entwicklung des Faches seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts alles andere
als statisch.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
G. Grupe et al., Prähistorische Anthropologie, DOI 10.1007/978-3-642-55275-5_2
5
6
2
Forschungs- und Fachgeschichte
Der Stellenwert archäologischer menschlicher Skelettfunde in der Forschung zur
Herkunft und Variabilität des Menschen zeigt sich bereits in dem Bericht zum
„Göttinger Anthropologentreffen“ im Jahre 1861 (von Baer und Wagner 1861),
welches im Wesentlichen die Methodik zur standardisierten Erfassung des menschlichen Körpers zum Gegenstand hatte. Jede philosophische Betrachtung über den
Menschen wurde konsequent ausgeschlossen („Solche Untersuchungen sind nur
durch consequentes Denken Einzelner, nicht durch Discussionen zu fördern“, von
Baer und Wagner 1861, S. 27). Letztlich führte dieses Treffen zur Institutionalisierung der biologischen Anthropologie in Deutschland. Zugleich zeigt sich in dem
Bericht, dass die damaligen Arbeiten über Skelettfunde nur schwer erschließbar
waren, da sie in sehr uneinheitlicher Weise publiziert wurden: „In der That erscheinen Arbeiten, welche für das Fach der vergleichenden Anthropologie Beiträge
liefern, jetzt ungemein zerstreut, besonders in Deutschland, da ihnen ein Vereinigungspunkt fehlt . . . Das gilt besonders von den Gräberfunden, die belehrender
geworden sind, seitdem man durch mancherlei gründliche Untersuchungen mehr
Anhaltspunkte gewonnen hat und seitdem überhaupt die vorhistorischen Zustände
des Menschengeschlechts ein so lebhaftes Interesse erregt haben . . . Diese stummen
und namenlosen Zeugen der Vergangenheit müssen in der gebildeten Welt gewiss
eine viel grössere Theilnahme erregen, als alle Register von Königsnamen . . . Aber
es wird noch lange währen, bis die stummen Zeugen der Vergangenheit werden
in Ordnung gestellt werden können. Ihre Knochenreste werden mit dazu dienen
müssen. Schon jetzt sind die Nachrichten über die Funde sehr zerstreut in archäologischen, geologischen, historischen Zeitschriften . . . Alle Wissenschaften scheinen den Menschen der Vorzeit in ihr Bereich zu ziehen.“ (von Baer und Wagner
1861, S. 6364). Man darf wohl mit Fug und Recht behaupten, dass im 21. Jahrhundert wieder ein analoger Zustand herrscht, diesmal bedingt durch eine wohl
unvermeidliche Aufsplitterung durch methodische Spezialisierung – der wissenschaftliche Stellenwert des Untersuchungsgutes ist nach wie vor anerkannt, die
einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten finden sich aber ebenso in genuin anthropologischen Journalen, als auch in molekularbiologischen, kristallografischen,
geologischen, medizinischen etc. Fachzeitschriften. Tatsache ist, dass mit Ausnahme des international anerkannten American Journal of Physical Anthropology (für
die Prähistorische Anthropologie wäre noch das Journal of Archaeological Science
zu nennen) die Mehrzahl der wissenschaftlich hochrangigen Arbeiten nicht in genuin anthropologischen Fachzeitschriften veröffentlicht wird.
Rudolph Wagner, einer der Herausgeber des oben genannten Berichtes, prägte
ebenfalls bereits im Jahre 1861 den Begriff der „historischen Anthropologie“ und es
war dem Anatom Alexander Ecker (18161887) zu verdanken, dass archäologische
Skelettfunde nunmehr systematisch untersucht wurden (Hoßfeld 2005). Gemeinsam mit dem Prähistoriker und Gründer des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Ludwig Lindenschmit gab er ab 1866 die erste deutschsprachige Zeitschrift
für Anthropologie heraus, das „Archiv für Anthropologie“, das bis 1943 existieren
sollte (Lösch 1997, S. 28). Den wahrscheinlich größten Einfluss auf die biologische Anthropologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der Anatom
Rudolf Ludwig Carl Virchow (1821–1902), seit 1849 Inhaber des ersten Lehrstuhls
2 Forschungs- und Fachgeschichte
7
für pathologische Anatomie an der Universität Würzburg, seit 1856 Inhaber des
neugegründeten Lehrstuhls für Pathologie in Berlin (Goschler 2002). Ganz im Sinne des damaligen Zeitgeistes hatte Virchow seit jeher ein hohes Interesse an der
Vorgeschichte. Er gehörte zu den Mitbegründern der „Berliner Gesellschaft für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ im Jahre 1869. Diese Gesellschaft
existiert noch heute – ein Zeichen dafür, dass die biologische Anthropologie sich
von Anbeginn als ein Brückenfach zwischen Natur- und Geisteswissenschaften begreift, aus der leicht nachvollziehbaren Einsicht heraus, dass Menschen in ihrem
Wesen und Handeln nicht allein durch ihre Biologie zu verstehen sind. Bereits im
Folgejahr wurde Virchow Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte“ (Andree 1976). Die deutsche Anthropologie war somit von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an stark durch Anatomen geprägt.
Johannes Ranke (18361916), ein Schüler Rudolf Virchows, wurde im Jahre
1886 auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Physische Anthropologie in München
berufen (Ziegelmayer 2003). Seine Privatsammlung prähistorischer Objekte, die er
zu Lehrzwecken einsetzte, bildete den Grundstock der heutigen Archäologischen
Staatssammlung und der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie
in München. Ranke war der Verfasser eines zweibändigen Lehrbuches über den
Menschen, wobei der zweite Band modernen und prähistorischen „Menschenrassen“ (ein zu Rankes Zeiten akzeptierter Terminus) gewidmet war (Ranke 1887).
Eine noch bedeutend weitere Verbreitung in zahlreichen Auflagen sollte jedoch das
Lehrbuch von Rudolf Martin (1864–1925) bekommen, eines Schülers von Johannes Ranke (Martin 1914). Dieses Lehrbuch wurde später durch Martin und Saller
(1957) weitergeführt, wobei auch Karl Saller (1902–1969) seit 1948 ordentlicher
Professor für Anthropologie und Humangenetik an der Universität München war.
In Martins Lehrbuch von 1914 widmen sich weite Abschnitte der Kraniometrie1
und der Osteologie2 des postcranialen Skelettes. Zahlreiche dieser als „Martinmaße“ bekannt gewordenen Messungen am Skelett sind noch heute gebräuchlich (wie
z. B. Maße zur Rekonstruktion der Körperhöhe oder der Robustizität eines Skelettes), auch das Instrumentarium hat sich bei der manuellen Vermessung der Knochen
in den vergangenen hundert Jahren aufgrund des Fehlens von Notwendigkeit nicht
wesentlich verändert. Noch ganz im Sinne einer vergleichenden Wissenschaft mit
dem Ziel, Ordnung in die Vielfalt zu bringen, widmet auch das Lehrbuch von Martin und Saller aus dem Jahre 1957 fast fünfhundert Seiten dem „Knochengerüst“
und seiner Vermessung.
Die am Ursprung stehenden Versuche, rezente Menschen und jene vergangener
Epochen, welche in Form ihrer Skelettreste repräsentiert sind, in Kategorien wie
„Rassen“ oder „Varietäten“ zu gruppieren, erwies sich recht bald als Fehlschlag.
Dessen war sich die deutsche Anthropologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bewusst. In Rankes Lehrbuch von 1887 findet sich die eindeutige Passage:
„Bei dem im vorausgehenden dargelegten Stande der heutigen Forschung können
gegenwärtig alle Versuche, die Menschheit nach ihren körperlichen Verschiedenhei1
2
Kraniometrie = Vermessung des Schädels.
Osteologie = Lehre von den Knochen (vom Skelett).
8
2
Forschungs- und Fachgeschichte
ten in scharf voneinander getrennte Gruppen (Rassen oder Varietäten) zu trennen,
nur provisorischen Wert haben . . . Wir können uns hier darauf beschränken, einige versuchte Klassifikationen dieser Art anzuführen, ohne daß wir es unternehmen
wollen, durch einen eigenen neuen solchen Versuch die Zahl der wissenschaftlich
nicht exakt zu begründenden schematischen Einteilungen zu vermehren“. Es ist sehr
wichtig zu betonen, dass die spätere Rassenideologie des Dritten Reiches sich somit
nicht auf Erkenntnisse der damaligen Anthropologie stützen konnte, sondern diese
gewissermaßen neu erfinden musste. Nach Lösch (1997, S. 34) „starb diese Richtung in der deutschen Anthropologie buchstäblich mit dem Ende des 1. Weltkrieges
aus – Felix von Luschan (gestorben 1923) und Rudolf Martin (gestorben 1925) bildeten die Schlusslichter dieser Entwicklung“. Für die Prähistorische Anthropologie
bedeutete dies, dass sie eines breiten Forschungsfeldes, welches sie mit dem Fach
insgesamt teilte, zunächst beraubt wurde.
Die einflussreichste Person in der deutschen Anthropologie während der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts war zweifellos der Anatom und Anthropologe Eugen Fischer (18741967). Tief beeindruckt von dem aufkommenden Forschungsfeld der
Humangenetik versuchte er, die Gesetze der Mendelschen Regeln auf Menschen
zu übertragen. Seine diesbezüglichen Schlussfolgerungen (Fischer 1913) sind aus
heutiger Sicht keinesfalls haltbar, jedoch war seine Reputation als Wissenschaftler
seinerzeit ausgezeichnet. Es war daher nicht überraschend, dass Fischer zum Direktor des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und
Eugenik“3 ernannt wurde, welches im September 1927 in Berlin eröffnet wurde. Lediglich sechs Jahre später, nach der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933, wurden
die Forschungsinhalte des Instituts neu formuliert, sodass sie mit dem antisemitischen Rassismus des Dritten Reichs kompatibel waren (Teschler-Nicola und Grupe
2012). Die wissenschaftliche Untersuchung archäologischer Skelettfunde war noch
immer zentraler Gegenstand der physischen Anthropologie und stand jetzt ganz im
Dienste der Genealogie der „höheren Rassen“ – womit eine neue, ideologisch geprägte Rassenkunde Einzug in die Prähistorische Anthropologie hielt.
Wenngleich Eugen Fischer sich nach der Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts
in der Weimarer Republik in der ihm unterstehenden Abteilung für Anthropologie vorwiegend mit dem Thema des Einflusses von Erb- und Umweltfaktoren auf
die Bildung von Varietäten bei Mensch und Tier beschäftigte, gewann er mit Hans
Weinert einen Anthropologen, der von 1927 bis 1935 Kustos der Schädelsammlung des Instituts war. Für die Prähistorische Anthropologie relevant war Fischers
anfängliches Bemühen, einen Katalog sämtlicher in Deutschland magazinierter prähistorischer Schädel aufzubauen. Nach 1933 versuchte Weinert dann ganz gemäß
der Ideologisierung der Wissenschaft, über die Skelettfunde „die Stammesgeschichte der nordischen und fälischen Rasse zu ergründen“ (Lösch 1997, S. 192 ff.). Auf
Darwins Evolutionstheorie, zu dieser Zeit längst in der Biologie etabliert, wurde
dann im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie insofern missbräuchlich zurückgegriffen, als „höhere“ und „niedere“ Rassen voneinander unterschieden
werden sollten. Die Forschungsarbeit des Instituts wurde jedoch während des Drit3
Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war Vorläufer der heutigen Max-Planck-Gesellschaft.
2 Forschungs- und Fachgeschichte
9
ten Reiches zugunsten von erbbiologischen Schulungen sowie für rassenanthropologische und erbbiologische Gutachtertätigkeit für unterschiedliche nationalsozialistische Institutionen deutlich reduziert (Lösch 1997, S. 316 ff.).
Die stark typologisch geprägte Forschung der Prähistorischen Anthropologie
hatte somit weitestgehend eine Kontinuität bis nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. In inhaltlicher Sicht erfolgte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
dann der Wandel von der langen Tradition vergleichender, induktiv geprägter Forschung, basierend auf den zahllosen (Schädel-)Funden der Naturhistorischen Museen und Forschungsstellen, hin zum dynamischen Populationskonzept. Dieser Paradigmenwechsel beruhte allerdings weitgehend auf den neuen theoretischen Konzepten der synthetischen Evolutionstheorie4 , vertreten z. B. von Theodosius Dobzhansky, Julian Huxley oder Ernst Mayr, und betraf somit nicht die biologische
Anthropologie alleine. Die Prähistorische Anthropologie blieb dabei ein großes
Teilgebiet innerhalb des Gesamtfaches. Im Jahre 1965 wurde in Freiburg aus den
beiden 1948 gegründeten Fachgesellschaften der „Deutschen Gesellschaft für Anthropologie“ und „Gesellschaft für Konstitutionsforschung“ die „Gesellschaft für
Anthropologie und Humangenetik“ gegründet (Hoßfeld 2005, S. 371), welche bis
1992 Bestand haben sollte. Aufgrund der Entwicklung der Humangenetik von einer
zunächst überwiegend biologischen hin zu einer überwiegend medizinisch-klinisch
ausgerichteten Wissenschaft erfolgte während der Jahrestagung in Gießen im Jahre
1987 die Gründung der „Gesellschaft für Humangenetik“, und die Humangenetiker traten mehrheitlich sukzessive aus der gemeinsamen Fachgesellschaft aus.
Somit war die „Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik“ von Anthropologen dominiert und änderte Namen und Satzung im Jahre 1992 in „Gesellschaft
für Anthropologie e. V.“ (www.gfanet.de), wobei sie nunmehr zur gemeinsamen
Fachgesellschaft der ehemaligen „Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik“ der alten Bundesländer und der ehemaligen „Deutschen Anthropologischen
Gesellschaft“ der neuen Bundesländer wurde. Institutionell ist die Prähistorische
Anthropologie in Deutschland darüber hinaus in der im Jahre 1994 in Konstanz
gegründeten „Gesellschaft für Archäozoologie und Prähistorische Anthropologie
e. V.“ (www.gapa-kn.de) verankert, einer Vereinigung von Fachwissenschaftlern,
welche sich ausschließlich den bioarchäologischen Funden von Tier und Mensch
widmet.
Beide Fachgesellschaften distanzieren sich explizit und differieren entsprechend
in Bezug auf wissenschaftliche Theorie und Forschung von der „Gesellschaft für
biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung e. V.“, welche sich
auf ihrer Webseite wie folgt charakterisiert: „Anthropologie ist die Wissenschaft
von der Menschheit. Sie untersucht alle Facetten der Gesellschaft und Kultur, darunter Werkzeuge, Techniken, Sprache, Glauben, Sippen, Werte, soziale Einrichtungen, ökonomische Mechanismen, das Verlangen nach Schönheit und Kunst, Streben
nach Anerkennung. Sie beschreibt den Einfluss des Menschen auf andere Menschen.“ (www.gfbaev.org).
4
Erweiterung der Evolutionstheorie von Charles Darwin, überwiegend durch die Erkenntnisse der
Genetik.
Herunterladen