Markus Tröltzsch, Philipp Kauffmann, Norman Moser, Matthias Tröltzsch ALLGEMEINMEDIZIN Odontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und Differenzialdiagnosen Teil 1: Pathologie Indizes Odontogene Infektion, Entzündung, Infiltrat, Mediatoren, Bakterien Zusammenfassung Die meisten Infektionen im orofazialen Bereich sind dentogener Natur. Um diese erfolgreich therapieren zu können, ist ein Grundlagenwissen über die Pathologie nötig. Das Zusammenspiel aus pathologischem Reiz, entzündlicher und mediatorvermittelter Antwort sowie daraus resultierenden Konsequenzen bestimmt das klinische Bild. Der Beitrag soll es dem Zahnarzt erleichtern, entzündliche Zustände einzuschätzen. Abteilung Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Universitätsmedizin Göttingen Robert-Koch-Straße 40 37075 Göttingen E-Mail: [email protected] und Praxis Dr. Dr. V. Tröltzsch, Ansbach Philipp Kauffmann Dr. med. Dr. med. dent. Einleitung Abteilung Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Universitätsmedizin Göttingen Entzündliche Zustände in der Mund- und Kieferregion sind leider nicht nur bei Karies, sondern auch bei oralsowie mund-, kiefer- und gesichtschirurgischen Eingriffen eine reale Komplikation. Der größte Teil der odontogenen Infektionen wird von avitalen Zähnen, Perikoronitiden, als Folge von zahnärztlich-chirurgischen Operationen und infizierten periapikalen Granulomen oder Zysten verursacht3. Durch Frakturen und Spritzenabszesse ausgelöste Infektionen sind hingegen deutlich seltener3. Insgesamt haben bis zu 95 % aller Infektionen im orofazialen Gebiet eine odontogene Ursache3. Im Allgemeinen muss zwischen akuten und chronischen Entzündungen unterschieden werden. Die akute Entzündung, die klassischerweise rapide und mit den typischen Symptomen wie Schwellung, Schmerz, Überwärmung, Rötung und eingeschränkter Funktion einhergeht, ist z. B. bei der akuten Pulpitis und bei den akuten entzündlichen Mitreaktionen der Weichgewebe zu beobachten. Die chronische Entzündung kann mit ähnlichen Symptomen in deutlich geringerer Ausprägung ablaufen. Eine chronische Pulpitis, die über Monate hinweg immer wieder Beschwerden verursacht, oder eine chronische Osteomyelitis, die unter UmstänQuintessenz 2014;65(1):73–77 Markus Tröltzsch Dr. med. Dr. med. dent. Norman Moser Arzt, Zahnarzt, Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Abteilung Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Universitätsmedizin Göttingen Matthias Tröltzsch Dr. med. dent., Arzt Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München und Praxis Dr. Dr. V. Tröltzsch, Ansbach 73 ALLGEMEINMEDIZIN Odontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und Differenzialdiagnosen den zu einer fast unbemerkten Schädigung des Knochens führt, können hier als Beispiele genannt werden. Die bakterielle Infektion Die bakterielle Infektion beginnt grundsätzlich mit der Inokulation. Bei diesem Vorgang erfolgt ein symptomloses Eindringen der Pathogene in den Körper8. Eintrittspforten für Erreger im zahnärztlichen Bereich sind z. B. infizierte Wurzelkanäle, parodontale Taschen oder Wunden. Erst nach dem Eindringen kann die nachfolgende Infektion stattfinden. In dieser Phase kommt es zu einer Vermehrung der Erreger, welche als Antwort des Immunsystems die Entzündung auslöst. Letztere ist als die Reaktion des Gewebes auf einen pathologischen Reiz definiert1. Odontogene Infektionen gehören zu den häufigsten Infektionen überhaupt; es wird angenommen, dass weltweit ca. 75 % der Erwachsenen Läsionen als Folge einer Parodontitis aufweisen8. Entzündung Die Entzündungsreaktion ist eine direkte Folge einer durch Noxen ausgelösten Gewebsschädigung (Abb. 1). Nicht nur Infektionen, sondern auch physikalische, chemische und ischämische Reize lösen diese Reaktion aus1. Direkte Folge der Noxen ist eine Gewebsschädigung, die zur Ausschüttung von Entzündungsmediatoren führt. Diese Mediatoren lösen dann die Entzündungsreaktion mit den begleitenden Veränderungen am umliegenden Gewebe aus1. Den Ablauf der Entzündungsreaktion kann man grob in drei Phasen einteilen1,3 (Tab. 1): 1. Seröse Phase. Sie dauert ca. 36 Stunden und ist durch das lokale entzündliche Ödem, eine Hyperämie sowie daraus resultierend durch Gewebsrötung, Überwärmung und Schmerz gekennzeichnet. Das seröse Exsudat, welches Proteine und einige Leukozyten enthält, tritt hier auf (Abb. 2). 2. Zelluläre Phase. In dieser durch die Akkumulation von Leukozyten und ganz besonders neutrophilen Granulozyten gekennzeichneten Phase entwickelt sich die Entzündungsreaktion fort. Die neutrophilen Granulozyten sind entscheidend an der Eiterbildung beteiligt. 3. Reparative Phase. Die Wiederherstellung beginnt eigentlich parallel zu der gesamten Entwicklung von Anfang an, erreicht aber mit der Beseitigung der Überreste der akuten Reaktion und der Wiederherstellung des beschädigten Gewebes ihren Höhepunkt. Die Reparation erfolgt über Granulationsgewebe, das in Bindegewebe umgewandelt wird. Noxen Chemisch Ischämie Infektion Gewebsschaden/Nekrose Entzündungsmediatoren Akute Entzündung Chronische Entzündung Abb. 1 Ablauf der Entzündungsreaktion 74 Quintessenz 2014;65(1):73–77 ALLGEMEINMEDIZIN Odontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und Differenzialdiagnosen Tab. 1 Entzündliche Stadien Phase Kennzeichen Seröse Phase t%BVFSDB4UVOEFO tFOU[àOEMJDIFT½EFN tTFSÚTFT&YTVEBUNJUFJOJHFO Leukozyten Zelluläre Phase t"LLVNVMBUJPOWPO-FVLP[ZUFOVOE besonders neutrophilen Granulozyten t&JUFSCJMEVOH Reparative Phase t1BSBMMFMXÊISFOEEFSHFTBNUFO Reaktion aktiv t#FTFJUJHVOHEFSÃCFSSFTUFEFS Entzündung t)FJMVOHàCFS(SBOVMBUJPOTHFXFCF Abb. 2 Entzündliches Ödem der Wange Lokaler Ablauf der Entzündung bei Infektionen (Beispiel Bakterien) Blutfluss Ð Am Ort des Eindringens und der Vermehrung der Bakterien werden Mediatoren und Botenstoffe gebildet (Zytokine und Chemokine), welche Leukozyten zum Austritt aus der Blutbahn und zur Migration an den Ort der Infektion anregen1,8. Um dies zu ermöglichen, werden Adhäsionsmoleküle auf den Leukozyten und den Endothelzellen der Gefäße gebildet, die dann miteinander interagieren1. Insgesamt sind vier Stadien zu unterscheiden1,8,12 (Abb. 3): 1. Margination: Es kommt zu einer Verlagerung von Leukozyten an den Gefäßrand1. 2. Endothelial-leukozytäre Adhäsion: Die Leukozyten lagern sich an der Gefäßwand an1. 3. Emigration: Danach findet eine aktive Auswanderung durch die Gefäßwand statt1. 4. Chemotaxis: Es erfolgt eine Wanderung zur höchsten Konzentration an Botenstoffen (Chemotaxine, positive Chemotaxis), die sowohl körpereigener als auch bakterieller Natur sein können1. MARGINATION Die neutrophilen Granulozyten treffen aufgrund ihrer hohen Anzahl und Schnelligkeit meist zuerst am Ort der Infektion ein1. Dort töten, phagozytieren und degradieren sie die Bakterien. Anschließend sterben sie selbst ab und bilden so den Eiter1. POSITIVE CHEMOTAXIS Quintessenz 2014;65(1):73–77 ENDOTHELIALLEUKOZYTÄRE ADHÄSION Basalmembran Integrine initiale Adhäsion Endothelzelle P-Selektin Aktivierung PAF P-Selektin stabile Adhäsion E-Selektin PAF P-Selektin IZAM 1 EMIGRATION chemotaktischer Rezeptor Bakterium Chemotaxin Abb. 3 Lokale Entzündungsreaktion (PAF = plättchenaktivierender Faktor, IZAM 1 = interzelluläres Adhäsionsmolekül 1) 75 ALLGEMEINMEDIZIN Odontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und Differenzialdiagnosen Entzündungsmediatoren Serotonin, Histamin, Bradikinin, Substanz P, CGRP etc. Vasoaktiv Schwellung durch Zuflussverstärkung und Abflussverringerung Neurale Aktivierung Schmerz und weitere Mediatorausschüttung Chemotaktisch Anlocken und Aktivierung von Abwehrzellen Abb. 4 Entzündungsmediatoren und ihre Wirkung Abb. 5 Teilweise degranulierte Mastzellen. Quelle: http:// commons.wikimedia.org/wiki/File:SMCpolyhydroxysmall.jpg Entzündungsmediatoren Erregerspektrum Die Entzündungsreaktion ist ein durch Botenstoffe gesteuerter Vorgang. Diese Mediatoren (Abb. 4) sind Peptide mit verschiedenen Aufgaben, welche nicht nur bei Entzündungen, sondern z. B. auch bei der Nozizeption und bei anaphylaktischen Prozessen eine Rolle spielen. Dazu gehören u. a. Serotonin, Histamin, Bradikinin, Substanz P und CGRP („calcitonin gene-related peptide“)1,6. Die vielfältigen und auch untereinander gekoppelten Wirkungen dieser Entzündungsmediatoren lassen sich hier aus Platzgründen nicht komplett darstellen, so dass nur beispielhaft einige der Funktionen der genannten Botenstoffe beschrieben werden sollen. CGRP führt zu einer Dilatation der Arteriolen, erhöht dadurch den Zustrom von Blut in das betroffene Gewebe und fördert die Überwärmung und Rötung der Haut6. Substanz P hat u. a. eine Permeabilitätszunahme der Venolen und eine Degranulation von Mastzellen (Abb. 5) zur Folge, welche dann wiederum Histamin ausschütten6. Histamin führt einer erhöhten Permeabilität der kleinen Gefäße und ist damit an der Entstehung des Ödems der serösen Phase beteiligt1,6. In diese Reaktionen werden noch weitere, hier nicht genannte Mediatoren eingeschlossen. Bei odontogenen Infektionen handelt es sich meist um aerob-anaerobe Mischinfektionen5,10. Eckert et al.2 fanden bei 65 odontogenen Abszessen 46 aerob-anaerobe Mischinfektionen, 8 anaerobe Monoinfektionen und 11 anaerobe Mischinfektionen. Dem anaeroben Anteil muss also bei der antibiotischen Therapie Rechnung getragen werden. In der gleichen Studie wurde auch die Resistenzsituation untersucht. Gegen Erythromycin waren 13,1 %, gegen Ampicillin 8,8 %, gegen Penicillin 7,3 % und gegen Clindamycin 3,3 % der Erreger resistent, während gegen die Kombination aus Amoxicillin und Clavulansäure keine Resistenzen beobachtet werden konnten2 (Abb. 6). Die Parodontitis ist in Bezug auf das Erregerspektrum besonders gut erforscht. Von den ca. 500 verschiedenen Bakterienarten, die man im Parodontalspalt finden kann9, ist nur ein kleiner Teil als wirklich krankheitsauslösend anzusehen. Dazu gehören Actinobacillus actinomycetemcomitans, Porphyromonas gingivalis, Bacteroides forsythus und Dialister pneumosintes11. 76 Quintessenz 2014;65(1):73–77 ALLGEMEINMEDIZIN Odontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und Differenzialdiagnosen Einfluss allgemeinmedizinischer Erkrankungen auf die Entzündung Diabetes mellitus Bei mehr als 10 % aller Patienten, die wegen odontogener Entzündungen stationär behandelt werden müssen, finden sich erhöhte Blutzuckerwerte – im Vergleich dazu sind nur ca. 2 % der Gesamtbevölkerung Diabetiker10. Die Bedeutung des Diabetes liegt in seiner Auswirkung auf die lokale Blutversorgung und das Immunsystem7. Bei der sogenannten Mikroangiopathie werden die kleinen Gefäße geschädigt, so dass die lokale Blutversorgung und damit die Infektabwehr stark beeinträchtig sind. Ein wichtiger Parameter ist hier der sogenannte HbA1c-Wert, der die Menge an glykiertem Hämoglobin angibt und einen Eindruck von dem Blutzuckerspiegel der letzten 6 bis 8 Wochen vermittelt4. Ein Wert von 6 % ist als normal und einer von unter 7,5 % als tolerabel anzusehen4,7. Immunsuppression Eine Schwäche im Immunsystem führt zu einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Erregern. Hierbei ist besonders zu erwähnen, dass auch Bakterien, Viren oder Pilze, die sonst für den Körper unproblematisch sind, Infektionen zur Folge haben können4,12. Immundefizite teilt man in angeborene und erworbene ein, wobei Letztere wesentlich häufiger vorkommen8. Erkrankungen, die eine Immunsuppression verursachen können, sind z. B. die akute und die chronische lymphatische Leukämie, der Morbus Hodgkin, das multiple Myelom und die HIV-Infektion8. Iatrogen wird eine Immunsuppression bei Zustand nach Nieren-, Herz-, Leber-, Lungenund Stammzelltransplantation herbeigeführt8. Auch die Therapie mit Kortikosteroiden, etwa bei Asthma, Morbus Crohn und rheumatischen Erkrankungen, sowie Zytostatika, die u. a. bei vielen Chemotherapieregimen Quintessenz 2014;65(1):73–77 15 13,1 % Resistenz (%) Viele Erkrankungen können Einfluss auf den Verlauf odontogener Entzündungen haben. Im Folgenden seien nur zwei Beispiele exemplarisch dargestellt. 20 10 8,8 % 7,3 % 5 3,3 % 0 Erythromycin Ampicillin Penicillin Clindamycin 0% Kombination Amoxicillin/ Clavulansäure Abb. 6 Resistenzen bei odontogenen Abszessen nach Eckert et al.2 für maligne Erkrankungen angewendet werden, können zu einer Schwächung des Immunsystems führen4,7,8. Für den Zahnarzt bedeutet dies, dass Patienten mit einer bekannten Immunschwäche besonders strengen Hygienerichtlinien unterliegen und dass häufig eine antibiotische Abschirmung erfolgen sollte. Im Zweifel hilft die Konsultation des behandelnden Immunologen oder Allgemeinarztes. Literatur 1. Böcker W, Denk H, Heitz PU. Pathologie. 3. Aufl. 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