Rational abklären

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Leukozytose und Leukopenie
Rational abklären
Claudio Denzlinger
Bei den in der Praxis des Allgemeinarztes üblichen Laboruntersuchungen gehören Abweichungen der
Leukozytenzahlen im peripheren
Blut nach „oben“ oder nach „unten“
zu den häufigsten Auffälligkeiten.
Welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, soll nachfolgend erörtert
werden und ist zusammenfassend in
Abbildung 1 dargestellt.
An erster Stelle steht die Einordnung
der Leukozytose/Leukopenie in eine der
drei Kategorien:
Kategorie 1: wahrscheinlich harmlos,
Kategorie 2: überwachungspflichtig,
Kategorie 3: gefährlich.
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Der Allgemeinarzt 10/2014
Für diese erste Einordnung sind zwei
Kriterien entscheidend: das Ausmaß
der Abweichung und assoziierte Veränderungen bei weiteren Laborwerten oder
beim Allgemeinzustand des Patienten.
So wird man sich bei einer gering ausgeprägten Leukozytose oder Leukopenie
(bis ca. 20 % Abweichung von der Norm)
und fehlenden weiteren Abweichungen
in der Regel zu einer elektiven Kontrolluntersuchung entscheiden (Kategorie 1
oder 2). Bei einer deutlichen Abweichung
und/oder assoziierten deutlichen Ver-
Die wichtigsten Elemente der
initialen Abklärung sind die
sorgfältige Anamnese und
die klinische Untersuchung.
änderungen anderer Laborwerte und/
oder des Allgemeinzustandes muss man
sich hingegen für eine rasche Abklärung
und Einordnung der Leukozytose/Leukopenie entscheiden (Kategorie 3). Die
wichtigsten Elemente der initialen Abklärung sind die sorgfältige Anamnese
und die klinische Untersuchung.
Leukozytose: Entstehung
Eine Leukozytose kann durch drei Mechanismen entstehen: Der erste Weg
ist die Demargination von Leukozyten.
Über diesen Mechanismus sind sehr rasch
Reserven von Leukozyten mobilisierbar.
An Endothelien adhärente Leukozyten
werden in die Blutbahn freigegeben.
Dieser Mechanismus wird u. a. von Kortikosteroiden, aber auch von Zytokinen
und bakteriellen Toxinen aktiviert. Der
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Abb. 1: Algorithmus bei Leukozytose (A) und Leukopenie (B). Für den Normbereich der Leukozyten werden
3 500 – 10 000 Leukozyten/µl angenommen (kann von Labor zu Labor gering variieren)
1) Abkürzungen: AL – Akute Leukämie, CLL – Chronische Lymphatische Leukose, CML – Chronische Myeloische Leukämie, CMML – Chronische Myelomonozytäre Leukämie, CRP – C-reaktives Protein, HCL – Haarzell-Leukämie, MDS – Myelodysplastisches Syndrom
2) Eine Knochenmarkspunktion (KMP) ist bei Leukozytose meist nur erforderlich, wenn die Diagnose aus dem peripheren Blut nicht gesichert werden kann oder zur Statuserhebung vor Therapieeinleitung; bei Leukopenie ist sie oft zur
Diagnosesicherung erforderlich, weil im Blut nur eine Zytopenie ohne beweisbare Ursache erkennbar ist.
3) Die Fokussuche sollte bei Verdacht auf eine mikrobielle Ursache bis zur Klärung außer der körperlichen Untersuchung
Blutkultur, Urinstatus und -kultur, Röntgen-Thorax, Sonographie des Abdomens, Röntgen der Nasennebenhöhlen,
Zahnstatus und bei Diarrhoe Stuhluntersuchungen einschließen.
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zweite Mechanismus ist die Mehrproduktion von Leukozyten, der von einer
Infektion ausgelöst sein kann oder malignen Ursprung hat. Der dritte Weg ist
die Verlängerung der Lebenszeit von
Leukozyten über das übliche Maß hinaus und fast immer malignen Ursprungs.
Wichtigste Beispiele hierfür sind die malignen Lymphome, speziell die Chronische
Lymphatische Leukämie (CLL, Abb. 2).
Der maligne Lymphozyten-Zellklon kann
hier eine um das Vielfache verlängerte
Lebensspanne haben, d. h. von im Schnitt
wenigen Tagen auf Jahre, was sonst nur
bei Gedächtniszellen vorkommt.
Leukozytose: Gefahren
Warnhinweise bei Leukozytose sind:
•• Leukozyten-Konzentrationen von
100 000/µl und mehr: hier droht Leukostase (Ausnahme CLL – hier erst ab
200 000/µl) mit Gefäßverschlüssen in
lebenswichtigen Organen, ggf. Verbrauch, Blutung, Multiorganversagen.
Es muss daher u. U. rasch eine Leukapherese zur Reduktion der Leukozyten eingeleitet werden.
•• Begleitende Veränderungen anderer
Blutzellen (Anämie/Polyglobulie,
Thrombozytose/-penie).
•• Verschlechterung des Allgemeinzustandes.
Bei einer gering ausgeprägten Leukozytose (bis 20 %
Normabweichung) ist i. d. R.
nach 14 Tagen eine Kontrolluntersuchung indiziert.
Bei Abweichungen der Leukozyten
über 20 % des oberen Sollwertes sollte
zeitnah ein Differenzialblutbild erstellt
werden, aus dem ggf. weitere konkrete
Hinweise abgelesen werden können,
z. B. Hiatus mit Blastennachweis, pathologische Leukozyten. Bei begleitender
markanter Thrombopenie oder Thrombozytose liegt eine maligne Grunderkrankung nahe (Leukosen, Myelodysplasien, Myeloproliferative Syndrome).
Bei dominierender Anämie kann eine
Blutung ursächlich für eine mäßig ausgeprägte Leukozytose (selten über 50
000/µl) sein.
Leukozytose: Häufige Ursachen
Auf der anderen Seite dieser gefährlichen Formen der Leukozytose steht die
physiologische Leukozytose im Rahmen
einer Schwangerschaft. Am häufigsten
lösen Infekte eine Leukozytose aus mit
meist begleitenden klinischen (Fokus)
und/oder laborchemischen (C-reaktives
Protein, CRP) Hinweisen. Aber auch
nicht-infektiöse Ursachen entzündlicher
Reaktionen können mäßig ausgeprägte
Leukozytosen hervorrufen, wie z. B. Herzinfarkt, Apoplex, diabetische Entgleisung,
Kollagenosen. Bei den medikamentösen
Ursachen stehen die Glukokortikoide an
erster Stelle, gefolgt von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren (G-CSF u. a.).
Ein Z. n. Splenektomie ist in der Regel mit
einer vorübergehenden leichten Form der
Leukozytose verbunden.
Bei den reaktiven/entzündlichen Formen
der Leukozytose finden sich meist charakteristische Veränderungen im Differenzialblutbild: Es besteht eine Linksverschiebung mit einem Hervortreten von
unreifen Zellen der myeloischen Reihe,
mit einer Betonung auf den nahezu ausgereiften Zellen (Metamyelozyt, Myelozyt)
Eine Knochenmarkspunktion ist bei Leukozytose nur erforderlich,
wenn eine Diagnose aus
dem Blut nicht gelingt.
und nur geringem Anteil ganz unreifer
Zellen (Promyelozyt, Blast). Bei entzündlicher Ursache fallen zudem gelegentlich
sogenannte toxische Granulationen in
den Leukozyten auf. Bei Mononukleose
(Abb. 3) werden u. U. Virozyten erkennbar.
Leukozytose: Cave Leukämie!
Science Photo Library
Eine scheinbar harmonische Linksverschiebung findet sich allerdings auch bei
der Chronischen Myeloischen Leukämie
(CML). Deutliche Entzündungszeichen
(Fieber, CRP-Erhöhung) gehören nicht
zur CML. Die Linksverschiebung bei entzündlicher Reaktion und bei CML kann
außerdem durch eine Spezialfärbung auf
alkalische Leukozytenphosphatase unterschieden werden: Bei entzündlicher
Reaktion fällt diese Reaktion positiv aus,
bei CML ist sie negativ. Bewiesen wird
die CML allerdings durch Nachweis der
bcr-abl-Translokation.
Abb. 2: Blutzellen eines Patienten mit Chronisch Lymphatischer Leukämie (CLL) mit neoplastischen Leukozyten
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Der Allgemeinarzt 10/2014
Ein Hervortreten von Blasten ohne Zwischenstufen der Leukopoese („hiatus leucaemicus“) ist charakteristisch für die
akuten Leukämien. Eine Dominanz reifer
Lymphozyten ist typisch für die Chroniwww.allgemeinarzt-online.de
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cher), einer toxischen (Klassiker: Z. n.
Chemotherapie) oder strahleninduzierten Schädigung, einer allergischen (z.
B. Arzneimittelunverträglichkeit) oder
einer entzündlichen Störung, einer Kollagenose oder einer malignen Störung.
Bei den malignen Störungen kann es
sich um eine Verdrängung des gesunden Knochenmarks durch Tumorzellen
(Knochenmarkskarzinose) oder durch
Leukämiezellen handeln.
Leukopenie: Ursachen
Ein vermehrter Abbau der Leukozyten
findet sich bei Autoantikörpern im Rah-
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sche Lymphatische Leukämie (CLL). Die
Lymphozyten haben oft eine geringere
mechanische Stabilität und sind deshalb
im Ausstrich teilweise als „Kernschatten“ repräsentiert. Bei einer hohen Konzentration von Monozyten (> 1 000/µl)
kann eine Chronische Myelomonozytäre Leukämie (CMML) vorliegen, sofern
andere Ursachen ausgeschlossen sind
(besonders Infektionen). Eine Knochenmarkspunktion ist bei Leukozytose nur
erforderlich, wenn eine Diagnosesicherung aus dem Blut nicht gelingt oder vor
Einleitung einer Therapie, zur Einschätzung der Krankheitslast.
Abb. 3: Blutausstrich eines Patienten mit Mononukleose – charakteristische hyperbasophile
Lymphozyten
Leukopenie: Entstehung
Einer Leukopenie liegt eine verminderte Produktion und/oder ein vermehrter
Abbau von Leukozyten zugrunde. Eine
verminderte Produktion bedeutet Erkrankung des Knochenmarkes vor dem
Einer Leukopenie liegt eine
verminderte Produktion und/
oder ein vermehrter Abbau
von Leukozyten zugrunde.
Hintergrund eines Baustoffmangels (Vitamin-B12- oder Folsäure-Hypovitaminose), einer hypo-/aplastischen Störung
(Aplastische Anämie, Myelodysplasie),
einer Speicherkrankheit (z. B. M. Gau26
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men einer Kollagenose, wobei dann meist
auch die Knochenmarksfunktion eingeschränkt ist. Eine mäßige Leukopenie ist
bei Splenomegalie häufig. Die häufigste
Ursache für eine Leukopenie durch „Verbrauch“ ist aber die schwere entzündliche
Reaktion z. B. bei einer Sepsis.
Wie bei der Leukozytose geht es zunächst um eine rasche Einordnung der
Leukopenie in eine der Kategorien wahrscheinlich harmlos/kontrollbedürftig/
gefährlich.
Leukopenie: Gefahren
Warnhinweise für Gefahr sind:
•• Ausmaß der Leukopenie
•• klinische Verschlechterung und
•• begleitende Veränderungen anderer
Blutzellen (Anämie, Thrombopenie).
Leukopenien treten selten
isoliert auf. Meist sind sie
mit einer Thrombopenie und
einer Anämie verbunden.
Leukopenien treten selten isoliert auf.
Meist sind sie mit einer Thrombopenie
und einer Anämie verbunden. Bei Leukozyten unter 1 000/µl besteht eine akute
Gefährdung durch Infektion. Hier ist eine
lokale antimykotische Prophylaxe der
Mundschleimhaut und – zumindest bis
zur Aufklärung der Ursache – eine orale
Antibiose angezeigt. Bei Fieber ist eine
rasche Klinikeinweisung lebenswichtig.
Geringe Abweichungen der Leukozyten
(< 20 % unter der Norm) können hingegen zunächst beobachtet werden. Sie
sind am häufigsten (para-)infektiös bedingt und selbstlimitierend.
Die Erstellung eines Differenzialblutbildes ist wichtig zur Bestimmung des
Granulozytenanteils, der genauer als
die Gesamtleukozytenzahl über die Infektionsgefahr entscheidet (hohes Risiko bei < 500 Granulozyten/µl), und
zur Detektion unreifer Zellen (Blasten)
oder anderer auffälliger Zellen. Wegen
der oft geringen Zellausbeute im peripheren Blut wird man bei Leukopenie
häufiger noch als bei der Leukozytose
um eine Knochenmarkspunktion nicht
herumkommen. Diese Methode trägt
bei Leukopenie in den meisten Fällen
entscheidend zur Diagnose bei. ▪
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Interessenkonflikte: keine deklariert
Prof. Dr. med.
Claudio Denzlinger
Klinik für Hämatologie,
Onkologie und Palliativmedizin
Marienhospital Stuttgart
70199 Stuttgart
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