Der Sonntag, Nr. 1, 6. Januar 2013 AARGAU 53 | VON SABINE KUSTER ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● D er Wind fliegt über die Wüste Gobi. Nichts ist ihm im Weg. Den Schnee nimmt er mit, treibt ihn zum nächsten Busch. Irgendwo steht Huvsgul, der 15-jährige Hengst. Der Wind pfeift ihm um die Ohren. Schnee verfängt sich im Schweif, bleibt auf dem Pferderücken liegen, schmilzt nicht auf dem dicken Fell. Es ist nicht so, dass Huvsgul nichts anderes kennen würde. Er kennt milde Winter. Futterkrippen. Unterstände. Tierpfleger. Huvsgul wurde 1997 im Tierpark Bruderhaus in Winterthur geboren. Als Zweijähriger wurde er in die Hauptstadt Ulaanbaatar geflogen und von da mit einem kleineren Flugzeug in die Wüste. Er war eines von 19 Schweizer Przewalski-Pferden, die in den 90er-Jahren zur Wiederansiedlung «nach Hause» gebracht wurden. Das Zuhause der Wildpferde ist die Unendlichkeit Die Ranger, Leiter Ganbaatar (vorne) und Nazag, unser Fahrer (links). KUS Zwei Tagesreisen vom nächsten Flughafen entfernt leben in der Wüste Gobi die Przewalski-Pferde wieder so wild wie einst DARAN DENKEN WIR JETZT, als wir draussen in der Halb-Wüste stehen und angestrengt zu den dunklen Punkten am Horizont hinüber sehen. Von blossem Auge sind die Pferde kaum zu erkennen. Aber näher ran können wir nicht, ohne dass die Hengste ihre Stuten wegtreiben. Für diesen Moment sind wir ursprünglich die 1400 Kilometer von Ulaanbaatar bis hierher gereist. Wir sind nicht enttäuscht. Fasziniert vom 360°-Panorama vergessen wir, weshalb wir herkamen. Nicht so sehr die Pferde, vor allem das Reise-Abenteuer wird uns in Erinnerung bleiben: Eine doppelt so lange Rückfahrt nachts über den zugeschneiten Pass wartet auf uns. Die Männer werden die Jeeps mehr als ein Dutzend Mal ausgraben. Wir werden uns erinnern, dass es hier weder Natelempfang noch eine Rega gibt. Wir werden schliesslich müde und frierend morgens um halb fünf Uhr bei einer Familie in Bugat Unterschlupf in ihrer Jurte finden. «TAKHI BACK HOME» heisst das Projekt. Takhi (sprich Täch) nennen die Mongolen die Wildpferde, nach dem Gebiet Takhintal in der Gobi B, wo 1968 die letzten Exemplare gesichtet wurden. Die Gobi B liegt im Südwesten der Mongolei an der Grenze zu China. Das Naturschutzreservat ist gewaltige 9000 Quadratkilometer gross und dennoch bloss ein winziger Teil der Wüste Gobi. Seit den 90er-Jahren versucht man dort die Ausrottung rückgängig zu machen. Rund 90 Pferde aus Zoos in der ganzen Welt wurden schon ins Forschungszentrum Takhintal transportiert und ausgewildert. EINIGE DER EHEMALIGEN Zoopferde überlebten die ersten Jahre nicht, doch Huvsgul passte sich gut an seine neue alte Heimat an. Zwölf mongolische Winter ohne Futterkrippe hat er überstanden. Doch der Hengst weiss, dass seine guten Jahre vorbei sind. Die extrem kalten Winter um die Jahrtausendwende konnten ihm nichts anhaben und auch aus dem Katastrophen-Winter 2009/10, als in der ganzen Mongolei acht Millionen Nutztiere starben und zwei Drittel aller Takhis, hat Huvsgul seine Herde ohne Verluste herausgeführt. Es mag daran gelegen haben, dass seine Herde weiter westlich von den anderen Takhis, in einem ein wenig wärmeren Gebiet überwintert hatte. Wie auch immer. Huvsgul, Vater von 24 Fohlen, war ein ausserordentlicher Leithengst. Der Leiter der Forschungsstation hatte ihn nach seiner Heimat, der Provinz Khövsgöl (sprich Chuvsgul) benannt. Jetzt steht Huvsgul, nur in Gesellschaft von zwei weiteren Hengsten, ohne seine 19 Stuten im Schnee. Im Juli des vergangenen Sommers hat er seine Herde an einen Sohn abtreten müssen. Huvsgul ist entmachtet. DER WIND HAT SICH GELEGT, es ist still. Ein paar Kilometer weiter bei der Forschungsstation Takhintal dringt Licht durch das Firstfenster der Jurten, die neben dem Hauptgebäude stehen. Wir bleiben unter fünf Decken begraben liegen. Der Ofen ist schon lange kalt. Dabei hatte ihn ein alter Mongole am Vorabend so mit Kuhdung vollgestopft, dass es die Kochplatte lupfte. Grossväterlich hatte der Mann die beiden Schweizerinnen mit einer weiteren Decke zugedeckt. Die Tür geht auf, die Köchin kommt, feuert ein und kehrt mit heissem Wasser für Tee zurück. Wir stehen auf, als es gemütlich warm ist. Es hat leicht geschneit. Vom Toilettenhäuschen aus sieht man durch die offene Tür 100 Kilometer weit bis zum Altaigebirge. Die Weite ist unheimlich. Und unheimlich schön. Eine der fünf Takhi-Herden in der Steppe der Gobi B – bewacht vom Leithengst (links). ■ DIE AUSROTTUNG DER PRZEWALSKI-PFERDE ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Der polnisch-russische Forscher Nicolai Przewalski hatte 1878 die mongolischen Wildpferde entdeckt. Es war eine Sensation, da man angenommen hatte, nach der Ausrottung der europäischen Wildpferde, der Tarpane, im 17. oder 18. Jahrhundert, würden keine Vorfahren des heutigen Hauspferdes mehr existieren. Die Prezwalski-Pferde, welche zwei Chromosomen mehr als die Hauspferde haben, weideten vermutlich einst von Osteuropa bis Zentralasien. Sie wurden zuerst nur wegen ihres Fleisches gejagt, später immer mehr als Nahrungskonkurrenten, weil die Hengste immer wie- vinzhauptstadt Altai aufgebrochen. Nazag, unser Fahrer, hatte den kleinen, russischen Jeep (ohne Sicherheitsgurte, aber mit Bunsenbrenner zum Enteisen) mit kräftigen Armen über die Piste gelenkt. Es wurde Nacht und bald waren keine Lichter am Horizont mehr zu sehen. Nach sechs Stunden Fahrt hatten wir kurz vor Mitternacht Bugat erreicht, das letzte Dorf vor dem Pass. Wir übernachteten im Spital. Die Pflegerinnen servierten uns trotz der späten Stunde die traditionellen Teigtaschen mit Fleisch. Am nächsten Tag hatte die Morgensonne den 3789 Meter hohen Alik Khairkan Ul beschienen. Wir fuhren in seine der domestizierte Stuten raubten. Mit der Flinte wurde das Jagen leicht. Die letzten Exemplare wurden in der Mongolei in den 60erJahren des letzten Jahrhunderts ausgerottet. Über tausend lebten aber noch verstreut in Zoos auf der ganzen Welt. 1985 fand in Moskau ein Kongress zur Wiederansiedlung des Przewalski-Pferdes statt. Danach wurden 17 Gebiete in der Mongolei auf ihre Tauglichkeit hin analysiert. Nach langen Vorbereitungen fanden in den 90er-Jahren in den beiden Gebieten Hustain Nuruu, 100 km von Ulaanbaatar entfernt, und in der Richtung, hinauf auf 2500 Meter. Die Piste wurde nicht besser. Nach dem Pass, auf der Südseite des Berges, wo mehr Schnee lag, war sie kaum noch zu sehen. Wir waren den Schneeverwehungen ausgewichen und dennoch einmal stecken geblieben. NACH FÜNF STUNDEN FAHRT hatten wir Bij erreicht, ein Dorf mit bloss dreissig Jurten, wo alle irgendwie miteinander verwandt sind. Das Wasser holen die Bewohner am Fluss, einen Kilometer weit Gobi B, 1400 km weit weg, die ersten Auswilderungsversuche statt. Heute leben in Hustain Nuruu rund 260 Pferde, genau 76 sind es in der Gobi B, rund 30 weitere nördlich davon im Homin-Tal. Touristen, die ein wildes Takhi (mongolische Bezeichnung) sehen wollen, besuchen meist den einfach erreichbaren Hustain Nuruu-Nationalpark. Die Pferde dort lassen die Menschen manchmal näher herankommen, als man sich das von Wildpferden wünschen würde. In der Gobi B weit ab vom Tourismus weiden die Pferde, wie schon vor Tausenden von Jahren. (KUS) weg. Die Fernseher laufen dank Solarpanels. Es gibt eine Grundschule, einen kleinen Laden, ein Gebäude für Kranke und eine Krankenschwester. Für Operationen müssen Patienten vier Stunden ins nächste Spital gefahren werden. DIE WILDPFERDE, die in der Nähe ausgewildert werden, werden eingeflogen. 10 000 Dollar hatte der Transport jedes einzelnen Tiers gekostet. Ganze Flugzeuge hatten gemietet werden müssen, Sonderbewilligungen beantragt, Futter be- zahlt, Personal, Benzin … Die Wiederansiedlung der Takhis ist ein teures Projekt in einem Land, wo Lehrer knapp 300 Franken im Monat verdienen. Das Satellitentelefon, die Computer, die gesamte Forschungsstation ist mit internationalem Geld und der Internationalen Takhi Group (ITG), deren Präsident der Aargauer Thomas Pfisterer ist, finanziert worden. Doch die Wiederansiedlung der Takhis ist gut wegen allem anderen, was sie mit sich bringt (siehe Interview auf Seite 52). ■ SO GELANGT MAN ZUR FORSCHUNGSSTATION TAKHINTAL IN DER GOBI B ● ZWEI TAGE DAVOR waren wir in der Pro- ENKSAIKHAN NAMTAR ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Von UIaanbaatar gelangt man mit dem Flugzeug in zwei Stunden zur Provinzhauptstadt Altai. Von da geht es rund 10 Stunden mit dem Jeep durch die Steppe und über die Berge. Die Forschungsstation ist 10 km vom kleinen Dorf Bij entfernt. Direktor Enkhsaikan im Büro in Ulaanbaatar (Tel. 976 8811 2031, [email protected]) und der Leiter vor Ort, Ganbaatar (Tel. 976 1181 2299, [email protected]) organisieren gerne Transport und Aufenthalt. Das Flugbillett kostet rund 250 Franken, für Fahrer und Benzin müssen pro Tag 100 Franken einberechnet werden. Weitere Kosten kommen für Aufenthalt und Führungen hinzu. (KUS) Aussicht von der Forschungsstation über die schier endlose Steppe. CSCH ABER NOCH IST DIE REISE wie eine Safari aus dem Ferienkatalog. Ganbaatar, der Leiter des Forschungszentrums, lässt mich ans Fernrohr. Die Herde, welche die Ranger für uns gefunden haben, hat 23 Tiere, daneben stehen 5 Junghengste, welche sich im Winter den Herden oft anschliessen. Der Leithengst schaut wachsam in unsere Richtung. Plötzlich sagt Ganbaatar aufgeregt: «Da ist er!» Huvsgul? Nein, ihn sehen wir nicht. Aber Ganbaatar hat einen seit Juni vermissten Junghengst wieder entdeckt. Auf der Weiterfahrt plappert Ganbaatar fröhlich. Wir sehen drei Gazellen und einen Präriehund. Ganbaatar zeigt uns noch einen Heuschober, den er hat errichten lassen: Die Katastrophe im Winter 2010 soll nicht wieder passieren. Heu gab es in Bugat – aber kein Auto kam mehr über den Pass. Für das Essen der Menschen musste ein Transport fünf Tage lang einen weiten Umweg nach Bij fahren. Nun hat Ganbaatar verschiedene Heulager. Dies, obwohl sie die Pferde nur in solchen Notfällen füttern und das Heu in ein paar Jahren wohl weggeworfen oder verschenkt werden muss. Ganbaatar sagt: «Das Heu ist billig, die Pferde teuer.» Jetzt heisst es wieder, ein harter Winter komme. Ganbaatar hält nicht viel von der Prognose. «Irgendjemand sagt jedes Jahr, der Winter werde hart. Wie hart wird er heuer? Ich weiss es nicht. Aber ich bin vorbereitet», sagt er und lacht breit. DEM LEITER der Forschungsstation stehen sieben Ranger zur Seite. Sie versuchen zum Beispiel, die Hirten davon abzubringen, ihre Herden weiter im Naturschutzgebiet grasen zu lassen. Letztes Jahr vertrieben sie Goldsucher, die plötzlich auftauchten. Vor allem aber überwachen die Ranger die Takhi. Sie schauen, dass sich diese nicht mit den Hauspferden paaren, da – anders als bei Maultieren – auch die Hybride fruchtbar sind. Sie zählen in den fünf Herden und vier Hengstgruppen die Tiere, sie kennen jedes einzelne. Um 33 Fohlen auf 76 Tiere ist die Population in der Gobi B in diesem Sommer angewachsen. Wann ist die Population genug gross? «Mit 500 Tieren», hatte der Direktor der Takhi Group, Mr. Enkhsaikhan, gesagt. «Dann setze ich mich hin und geniesse nur noch ihren Anblick. Es sind wunderschöne Tiere, ich will sie zu Hunderten sehen.» DER JEEP HOLPERT offenbar heimwärts. Doch die beiden Schweizerinnen haben die Orientierung verloren. Der kleine Berg, den wir uns gemerkt hatten, ist weg. Aber dann erscheinen die Forschungsstation und die drei Jurten am Horizont. Wie eine Insel.