Hamideh Mohagheghi - Interreligiöser Dialog

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Interreligiöser Dialog – aus der Sicht der muslimischen Migranten in Deutschland♦
Hamideh Mohagheghi∗
Auszug
Muslime in Deutschland – Geschichte
Die kulturellen Hintergründe der in Deutschland lebenden Muslime
Die Wahrnehmung des Islam seit Ende der siebziger Jahre
Dialogarbeit in Deutschland
Religiöse Bildung und Praktizieren des Glaubens in Deutschland
Akzeptanz des Islam als gleichberechtigte Religion in der Gesellschaft
Partizipation der Muslime in der Gesellschaft
Organisierter Islam als Ansprechpartner für Politik und Gesellschaft in Deutschland
Muslime in Deutschland – Geschichte
Der Anwesenheit und Mitwirkung der Muslime in Europa hat eine lange und einflussreiche
Geschichte, die geprägt ist von negativen und positiven Erfahrungen und Erinnerungen.
Bereits im 8. Jahrhundert bestand eine ambivalente Beziehung zwischen Europa und Orient:
Karl d. Große, König der Franken, pflegte gute Kontakte zu dem damaligen Zentrum des
islamischen Kalifat in Baqdad und führte zugleich einen Krieg gegen die Muslime in Spanien.
Bevor die Muslime durch ihre Eroberungskriege die Herrschaft über Spanien übernahmen,
waren es vorwiegend die Handelsbeziehungen sowie der freundschaftliche Austausch von
Gesandten und Geschenken, die die guten Beziehungen zwischen Europa und der
muslimischen Welt ermöglichten.
Das Spanien des Mittelalters kann eine konstruktive Koexistenz der Religionen vorweisen,
die insbesondere im Bereich Natur- und Geisteswissenschaften die soliden Fundamente für
die Entwicklung Europas zur Aufklärung und die wissenschaftlichen Errungenschaften
ermöglichte. Das europäische Mittelalter kannte und schätzte die muslimischen
Wissenschaften in hohem Maße und profitiert davon bis heute. Die Anerkennung der Teilhabe
der Muslime in der Entwicklung Europas spielt jedoch im Geschichtsbewusstsein Europas
kaum eine Rolle.
Der erste offizielle Gebetsraum für die Muslime, der unter dem Schutz des Königs stand, ist
auf Befehl des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm im Jahre 1713-1740 entstanden. Ihm wurden
zwanzig türkische Soldaten für den Dienst in seiner Armee zur Verfügung gestellt. Er legte
viel Wert darauf, dass "seine Mohammadaner" (wie er sie nannte) ihren religiösen Pflichten
nachgehen konnten.
Die Äußerungen von Friedrich II aus dem Jahre 1740 könnte ein Meilenstein für Toleranz und
Akzeptanz der vielfältigen Religiosität verstanden werden: "Alle Religionen sind gleich und
gut, wenn nur die Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute sind; und wenn Türken
und Heiden kämen und wollten hier im Lande leben, dann würden wir ihnen Moscheen und
Kirchen bauen."1
♦
Dieser Artikel ist veröffentlicht in englisher Sprache in: REHMU – Rivista Interdisciplinar da Mobilidade
Humana, v. 15, n.28, 2007, p. 149-163.
∗ Geboren 1954 in Teheran, Iran. Jurastudium in Teheran, islamische Theologieausbildung in Hamburg,
freiberufliche Referentin für interreligiösen Dialog, 2. Vorsitzende des Huda-Netzwerks für muslimische Frauen,
Vorstandvorsitzende der muslimischen Akademie in Deutschland, Lehrbeauftragte an der Universität Paderborn
für das Fach „islamische Religion“ für evangelische und katholische Lehramtstudierende.
1
M.Salim Abdullah, „Und gab ihnen sein Königswort“, Altenberge 1987, S.19.
1
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Diese Bereitschaft, den Anhängern anderer Religionen offen zu begegnen und für sie Raum
zu schaffen, um sich wohl zu fühlen und ihre Religiosität nachzugehen, ist zu wünschen,
wenn es heute um Moscheebau oder öffentlich sichtbare Praktizierung des Glaubens in
Europa geht.
Im Jahr 1807 gab es preußisch-deutsche Muslime, die als Soldaten in den Feldzügen des
Friedrich des Großen dienten. Preußisch-deutsche Kaufleute, Diplomaten, Forscher,
Schriftsteller und Wissenschaftler dieser Zeit, die mit Muslimen Kontakt hatten, verstanden
sich als "Brücke zwischen Okzident und Orient".
Im Jahr 1898 erklärte Kaiser Wilhelm II in Damaskus dem Sultan, dass in allen Zeiten der
deutsche Kaiser der Freund des Sultans und der „Muhammadaner“ sein würde. Er löste sein
Versprechen im Jahr 1914 ein, indem er eine Moschee für die muslimischen Gefangenen in
Wunsdorf bei Zossen(Brandenburg) mit einem 23 Meter hohen Minarett bauen ließ und ca.
eine Stunde entfernt davon einen muslimischen Soldatenfriedhof. Diese Moschee diente nach
dem ersten Weltkrieg den Berliner Muslimen als erste Gebetsstätte (1924 wurde sie wegen
Einsturzgefahr geschlossen und 1925/26 abgerissen.)
Im Jahr 1922 wurde von Maulana-Sadruddin, einem indischen Imam, die erste organisierte
islamische Gemeinde in Berlin gegründet. Zwei Jahre später konnte die Gemeinde in BerlinWilmersdorf eine Moschee eröffnen, die die erste von Muslimen erbaute war. Sie war bis
1945 Mittelpunkt des muslimischen Lebens in Deutschland.2 Diese muslimischen
Einrichtungen erweckten kein Aufsehen und wurden nicht als bedrohlich empfunden wie es
heute manchmal der Fall ist, wenn eine Moschee gebaut werden oder ein Friedhof für die
Muslime eingerichtet werden soll.
Ab Ende der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhundert hat sich die Zahl der in Europa
lebenden Muslime vervielfacht. Europa erlebte nach dem zweiten Weltkrieg einen Umbruch.
Der Wiederaufbau des durch die Kriege zerstörten Europas erforderte eine große Zahl an
Arbeitskräfte. Das formale Ende der neuzeitlichen Kolonisation der europäischen Mächte,
allen voran Frankreich und Großbritannien, war eine weitere Ursache, dass diese
Arbeitskräfte hauptsächlich aus den ehemaligen Kolonien, mehrheitlich den muslimisch
geprägten Ländern, nach Europa kamen.
Nach Frankreich kamen Muslime aus französischen Kolonien - hauptsächlich Marokko und
Algerien - nach Großbritannien aus Indien und Pakistan. Nach Holland und Portugal
wanderten Muslime aus den afrikanischen Kolonien aus. Die Muslime in diesen Ländern
waren mit der Sprache und Lebensform ihrer Kolonialherren vertraut. Sie konnten sich in der
europäischen Gesellschaft schneller eingliedern und verstanden sich innerhalb kurzer Zeit als
„Engländer“, „ Franzosen“ usw und bekamen auch den entsprechenden rechtlichen Status. In
Deutschland ist eine andere Entwicklung zu beobachten:
Da Deutschland keine Kolonialmacht war, fand diese Form der Migration nicht statt. In
Deutschland lebten am Anfang des 20. Jahrhundert (1924) 3000 Muslime, die hauptsächlich
Intellektuelle, Philosophen, Wissenschaftler und Kaufleute waren, die über beachtliche
Organisationen verfügten. 10% von ihnen (ca. 300) waren deutschstämmige Muslime. Auf
der Ebene der Wissenschaft und Philosophie gab es Begegnungen zwischen Muslimen und
Andersgläubigen. Für die breite Masse, soweit sie von ihr wahrgenommen wurden, waren sie
Exoten, die man aus 1001 Nacht- Geschichten kannte. Ihre Moscheen und Organisationen
waren etwas besonderes, sie standen vor allem unter dem persönlichen Schutz und der
Förderung des Kaisers.
2
Vgl. Veröffentlichung der Islam-Archiv in Deutschland zum Thema „Muslime in Deutschland“, Zentralinstitut
Islam-Archiv-Deutschland Stiftung e.V., Soest.
2
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In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts warb Deutschland „Gastarbeiter“ an, die den
Aufbau des zerstörten Nachkriegsdeutschlands und seine Industrialisierung vorantreiben
sollten. Neben Italien und Spanien wurden auch „Gastarbeiter“ in der Türkei mit islamischem
Glauben angeworben. Der Begriff „ Gastarbeiter“, der heute noch benutzt wird, obwohl diese
Menschen mittlerweile über 40 Jahre hier leben und teilweise deutsche Staatsbürger sind,
kann den Status dieser Personen definieren: der Gastgeber war glücklich, Menschen als
Arbeitskraft für den Aufbau des zerstörten Deutschland gewonnen zu haben, nahm sie aber
nicht als Menschen wahr, die dauerhaft zu diese Gesellschaft gehörten sollten. Der „Gast“
fühlte sich hier als eine Kraft, die gut funktionieren sollte und gut verdienen konnte, um später
in seiner Heimat ein besseres Leben zu haben. Diese Gedanken führten dazu, dass
Deutschland sich nicht verpflichtet fühlte, für die Integration dieser Menschen Angebote zu
machen, und die „Gastarbeiter“ hatten keine Motivation, von sich aus sich der Gesellschaft
anzunähern, in der sie lebten. Es entwickelte sich ein Leben „nebeneinander“, ohne viel
Interesse für die Lebensweise der anderen zu zeigen.
Die Deutschen nahmen bestenfalls zur Kenntnis, dass diese Menschen kein Schweinefleisch
aßen und keinen Alkohol tranken. Die erweiterte Information war, dass sie fünfmal am Tag
beteten und einen Monat im Jahr fasteten. Die muslimischen „Gastarbeiter“ waren beschäftigt
damit, etwas zu essen zu finden, was nicht mit Alkohol und Schweinefleisch in Berührung
kam. Nach der Arbeit zogen sie sich möglichst nur mit ihren Landsleuten in die
gemeinsamen Unterkünfte zurück, damit sie nicht in die Versuchung kamen, die traditionellen
Gewohnheiten zu verlieren. Die „Gastarbeiter“ waren überwiegend Männer, zuerst ohne ihre
Familien, die erst später nachkommen sollten. Ihr Interesse für das Gastgeberland, seine
Menschen und seine Sprache war sehr gering. Sie konnten in ihren mitgebrachten Traditionen
und Lebensweisen hier weiterleben ohne aufzufallen. Die Arbeitgeber sahen keine
Notwendigkeit, diesen Arbeitskräften bessere Integrationsmöglichkeiten zu verschaffen, denn
die Arbeitskräfte funktionierten, so dass die Finanzierung der weiteren Integrationsangebote
nicht notwendig erschien. So blieb z.B. das Notwendigste, nämlich das Erlernen der
deutschen Sprache, auf der Strecke.
Mit dem Nachzug der Familien wurde der Bedarf an Einrichtungen spürbar, die Raum für die
gemeinschaftlichen spirituellen und religiösen Erfahrungen bieten sollten. Die „Gastarbeiter“
versuchten, durch die bescheidenen Gebetsräume in den Hinterhöfen ein Stück Heimat in dem
ihnen fremden Land aufzubauen. Diese Gebetsräume wurden nach und nach durch
Lebensmittelgeschäfte, in denen man die gewohnten Lebensmittel aus der Heimat kaufen
könnte, ergänzt; diese Einrichtungen blieben lange Zeit für Außenstehende unsichtbar. Die
gegenseitige Wahrnehmung beschränkte sich bei der Mehrheit auf den Bereich der
Begegnungen bei der Arbeit.
Heute leben ca. 3,2 Millionen Muslime in Deutschland. 2/3 von ihnen stammen aus der
Türkei und sind geprägt von der türkischen Kultur, die auch in sich nicht einheitlich ist. Die
hier lebenden Muslime sind wie alle anderen Menschen Individuen, die aufgrund ihrer
Erziehung, Bildung und ihren Herkunftsländern unterschiedliche Anschauungen haben. Man
kann nicht von „dem Islam“ und „den Muslimen“ sprechen und ein homogenes
Erscheinungsbild erwarten. Allein aus der Türkei begegnen uns mittlerweile Muslime, die
einen kurdischen Hintergrund haben, säkulare Muslime, streng traditionelle religiöse und
moderne religiöse oder Kulturmuslime. Ausgeprägt ist die junge Generation der türkischen
Muslime, die bewusst ihre Religion ausübt, sich organisiert und die Chance nutzt, außerhalb
der Grenzen der traditionellen Tendenzen eigene religiöse Lebensformen zu finden. Die hier
lebenden Muslime kommen außerdem, einer Studie der Bundeszentrale der politischen
Bildung zufolge, aus osteuropäischen und arabischen Ländern, sowie Afrika, Bosnien, Iran
und Afghanistan, die Zahl der deutschstämmigen Muslime wird mit ca. 15.000 angegeben.
Die „muslimische Gemeinde“ setzt sich also aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen
3
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zusammen. Sie alle verbinden zwar die Grundlagen des Glaubens, in der Ausübungsform und
dem Verständnis des Glaubens liegen aber Welten zwischen ihnen.
Die Muslime in
Deutschland sind eine Minderheit, die in sich nicht homogen ist. Sie ist in Gruppierungen
unterteilt, die geprägt sind von herkunftsnationalem Zugehörigkeitsgefühl sowie
verschiedenen islamischen Richtungen. Diese heterogene Minderheit zu organisieren, um die
Interesse aller Muslime in Deutschland zu vertreten, erweist sich seit Jahren als ein
schwieriges Unternehmen. Darüber hinaus ist in den letzten drei Jahrzehnten das
wahrnehmbare Bild vom Islam überschattet von weltpolitischen Ereignissen.
Die Wahrnehmung des Islam seit Ende der siebziger Jahre
Die Revolution im Iran Ende der 70er Jahre und die Bilder in den Medien, die meistens einen
Furcht erregenden und fanatischen Islam darstellten, vermittelten ein neues, politisches Bild
des Islam und der Muslime. Die Berichterstattungen und die Verallgemeinerungen, dass alle
Muslime so denken und handeln und die Verbreitung der Idee, dass die Muslime vorhaben,
auf der Welt einen "Gottesstaat" aufzubauen, schürten Bedenken und Angst. Diese Bilder und
die Veröffentlichungen, die auf einmal den Markt füllten, vor allem die Bücher von bekannten
„Islam- und Orientkennern“ untermauerten die Ängste und beeinflussen bis heute unsere
Begegnungen und Gespräche.
Die Skepsis gegenüber Muslimen und muslimischen Organisationen nahm zu und hatte
zufolge, dass sie teilweise unter Beobachtung standen, ohne dass man mit ihnen direkte
Gespräche geführt hat. Eine latente Angst vor den Muslimen war zu spüren, eine Angst davor,
dass durch die Muslime der „fanatische Islam“ in Deutschland die demokratischen und
rechtstaatlichen Normen bedrohen könnte. Eine Angst, die zu verstehen ist, wenn der Islam
nur als eine politische Bewegung gesehen wird, die eine Weltherrschaft anstrebt. Die
entsetzlichen Ereignisse am 11. Sept. 2001 und deren Folgen bekräftigen den Gedanken, dass
der Islam eine Religion der Gewalt und die praktizierenden Muslime feindliche Kräfte gegen
Freiheit, Demokratie und die moderne Welt sind.
Der Anstieg der Zahl der muslimischen Organisationen und Gebetsräume in Deutschland, der
eine natürliche Folge der Dauerhaftigkeit und Distanzierung vom „ Gastarbeiter“- Status ist,
wird aus o. g. Aspekten nicht selten als eine Bedrohung wahrgenommen.
Die Politisierung des Islam in der Neuzeit ist zunächst eine Folge der kolonialen Herrschaft.
125 bis 175 Jahre Kolonialismus und danach die verschiedenen Formen der „bevormundeten“
Regierungen haben große Veränderungen in den muslimischen Ländern hervorgebracht. Die
radikale Verwestlichung dieser Gesellschaften, ihre wirtschaftliche und soziale erbärmliche
Lage waren u.a. Gründe dafür, dass die Menschen in diesen Gesellschaften eine eigene starke
Identität suchten. Die Besinnung auf die religiösen Werte vereinte viele Menschen. Da diese
Besinnung aber als Ziel nur die Abschaffung der Fremdbeherrschung, also ein politisches Ziel
hatte, nahm sie eine religiös politische Gestalt an. Wenn auch diese Entwicklung nicht auf
europäischem Boden stattfand, ist sie doch mit dem Westen verbunden und beeinflusst die
Lebensform der Muslime, die als Immigranten nach Westen kamen.
Die im Westen lebenden Muslime kann man nach empirischen Beobachtungen in folgende
Gruppen einteilen; bei jeder Gruppe sind bestimmte Merkmale festzustellen, die ihr Leben
prägen und mit sich eventuelle Probleme bringen, wenn man in einem nicht
muslimischgeprägten Land lebt3:
3
Diese Unterteilung beruht auf jahrelange Erfahrungen der Verfasserin mit den Muslimen in Deutschland, sie ist
keine wissenschaftliche Untersuchung, sondern eine Beobachtung.
4
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1. Traditionstreue und nachahmende Muslime, die ihr Leben durch seit Jahrhunderten
bestehenden Traditionen gestalten, die sie durch ihre Eltern und Gemeinschaften
übermittelt bekommen haben. Sie sind überzeugt davon, dass die vermittelte
Lebensform exakt der „echten islamischen“ Lebensweise entspricht. Jede Abweichung
und jedes Hinterfragen wird als Blasphemie interpretiert. Sie lehnen jede Form von
eigener Orientierung und Wegfindung ab. Die Gelehrten und Imame sind für sie die
einzig berechtigten Personen, die sich inhaltlich mit dem Islam beschäftigen und sich
darüber äußern dürfen. Somit können nur sie den anderen vorgeben, wie sie
„islamisch“ zu leben haben. Für sie spielt Zeit und Gesellschaft keine Rolle. Sie
transportieren ihre Lebensweise uneingeschränkt in das Land, in dem sie wohnen. Sie
fühlen sich stark mit ihren Herkunftsländern verbunden, und die dortigen Ereignisse
beeinflussen und bestimmen auch ihr hiesiges Leben.
Um den Einflüssen des Umfelds zu entgehen, bleiben sie von der Gesellschaft fern,
suchen keinen Kontakt mit anderen und bauen für sich und ihre Familie auf diese Art
eine „Schutzzone“ auf.
Diese Schutzzone trennt sie von der Realität ihrer Umgebung. Sie können innerhalb
dieser Zone bestehen bleiben, solange ihre Bedürfnisse innerhalb der eigenen
Gemeinschaft erfüllt werden können und niemand aus dieser Gemeinschaft sich für
eine andere Lebensform interessiert.
Die Kinder und Jugendliche aus solchen Familien leben in zwei gegensätzlichen
Welten unter zweiseitigem Druck. Sie dürfen geringfügig mit der Gesellschaft zu tun
haben, sind aber dem Willen der Familie und Gemeinschaft unterworfen. Dennoch
haben sie durch Schule, Ausbildung oder Arbeit Kontakt mit der Gesellschaft, in der
die individuelle Freiheit eine hohe Priorität hat und Ethik und Moral ganz andere
Bedeutungen aufweisen.
Die verheerenden Konsequenzen dieses Zwei-Welten-Lebens hat oft die junge
Generation zu tragen. Die jungen Menschen zeigen oft auffallende Verhaltenweisen,
die sie wiederum in der Mehrheitsgesellschaft an den Rand der Gesellschaft drängt
und damit neue Probleme entstehen. Die Zahl dieser Gruppe der Muslime in
Deutschland ist sehr gering.
2. Traditionsbewusste Muslime übernehmen die vermittelte Lebensform bewusst und
kritisch. Sie sehen in der religiösen Lebensweise keinen Widerspruch mit den
modernen Errungenschaften. Sie sind in der Gesellschaft präsent und beteiligen sich in
allen Bereichen, solange sie von anderen akzeptiert werden. Die Kinder und
Jugendliche in dieser Gruppe genießen die Freiheiten, die ihnen eine Symbiose
zwischen der eigenen religiösen Lebensweise und der hiesigen Kultur und Tradition
ermöglicht. Den islamisch verbindlichen Pflichten gehen sie nach und sind
gleichzeitig bemüht, einen eigenen Weg zu finden, der ein prägendes religiöses Leben
in dieser Gesellschaft ermöglicht.
Die Muslime aus dieser Gruppe haben weniger Probleme und sind meistens gut in die
Gesellschaft integriert. Probleme können entstehen, wenn durch Äußerlichkeiten ihre
religiöse Lebensform öffentlich gezeigt wird. Davon sind besonders Frauen betroffen,
deren Erscheinungsform immer noch nicht als eine zur Gesellschaft dazu gehörigen
Normalität angesehen wird.
Zu dieser Gruppe gehört die Mehrheit der hier lebenden Muslime, besonders die junge
Generation.
5
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3. Muslime, die in einer muslimischen Familie aufgewachsen sind, die den minimalen
Anforderungen zwar nachgehen, die äußeren Erscheinungsformen jedoch ablehnen
und sich nicht weiter mit dem Islam beschäftigen.
Die Probleme dieser Gruppe sind meistens nicht mit der Mehrheitsgesellschaft,
sondern mit der eigenen Familie und Gemeinschaft, die von ihnen mehr
Verbundenheit mit der eigenen Tradition und Religion und Teilnahme am
Gemeinschaftsleben erwarten.
4. Die Gruppe der so genannten „säkularen“ Muslime, die sich zwar durch ihre
Abstammung als Muslime verstehen, aber weder den religiösen Pflichten nachgehen,
noch besonderes Interesse für den Islam zeigen. Sie nehmen alle Werte und
Gewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft an und entfernen sich von der Tradition und
dem Selbstverständnis der Familie und Gemeinschaft.
Hier können Konflikte mit der Familie und Gemeinschaft entstehen, die einen
dauerhaften Bruch der Beziehungen als Folge haben können. Für die Minderheiten ist
die Familie und die Gemeinschaft von großer Bedeutung, und solche Brüche können
zu enormen psychischen Belastungen führen.
5. Letztendlich gibt es auch Muslime, die ihre eigene Identität und Zugehörigkeit
leugnen, damit sie bessere Akzeptanz in der Gesellschaft erlangen.
Muslimische Gemeinden und Organisationen in Deutschland
Die muslimische Moscheegemeinden und Organisationen sind bis jetzt immer noch sehr stark
von den Riten und Sprachen des Herkunftslandes beeinflusst. Die Moscheegemeinden sind
hauptsächlich nach türkischen, arabischen, persischen und bosnischen Riten und Sprachen zu
ordnen. Die kleineren Gruppen der Muslime wie afrikanische Muslime haben selten eigene
Gebetsräume, sie besuchen die anderen Gemeinden, die ihnen am Nahesten stehen. Seit
einigen Jahren versuchen manche Gemeinden, ihre Predigten beim Freitagsgebet in Deutsch
zu halten; dieser Wandel ist einerseits in der Realität eingebettet, dass die junge Generation
der Muslime die deutsche Sprache besser versteht als die Sprache der Eltern und Großeltern,
andererseits ist Deutsch die gemeinsame Sprache der Muslime, die in Deutschland leben, und
es wächst der Wunsch, sich auch in den religiösen Angelegenheiten in dieser Sprache zu
verständigen und zu artikulieren.
In Deutschland gibt es ein Staatskirchenrecht, das den christlichen Kirchen als
Religionsgemeinschaft ermächtigt, selbst ihre Glaubensgrundlagen festzulegen. Die
Priesterausbildung und Ausbildung der Religionslehrkräfte und Festlegung der
Religionsunterrichtsinhalte liegt in ihrer Verantwortung. Eine Religion kann in Deutschland
erst diese Verantwortung übernehmen, wenn sie als Religionsgemeinschaft anerkannt ist.
Dadurch, dass der Islam eine kirchenähnliche Organisation nicht kennt und nicht in dieser
Form organisiert ist, haben die Muslime rechtlich keine Möglichkeit, in diesen Bereichen
autonom für sich zu sprechen. Die Bemühungen, eine Form der Organisation zu finden, die
die Vielfalt der in Deutschland lebenden Muslime berücksichtigt und zugleich nach Außen
mit einer Stimme spricht, können bis jetzt keinen zufrieden stellenden Erfolg nachweisen.
In Deutschland gibt es neben kleinen muslimischen Organisationen einige größere
Organisationen, die z.Zt. sich um einen Zusammenschluss bzw. eine engere Kooperation und
Koordination bemühen.
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Der Islamrat ist eine Organisation, deren wesentliches Motiv bei der Gründung das Etablieren
einer Koordinierungsinstanz war, die die in Deutschland tätigen islamischen Vereine und
Verbände zur Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts verhelfen wollte, damit
die Politik einen Ansprechpartner für die Ein- und Durchführung des islamischen
Religionsunterricht hatte. Unter den Vereinen, die Mitglieder des Islamrates sind, ist auch der
Verein der Milli Gürüs, die in Deutschland unter der Beobachtung der Verfassungsschutz
steht, und aus diesem Grund ist der Islamrat kein unumstrittener Ansprechpartner für
staatliche Stellen in Deutschland. Der Islamrat ist keine extremistische Organisation, wird
aber als Vertreter der konservativen Richtung des Islam eingestuft.
Neben dem Islamrat gibt es den Zentralrat der Muslime in Deutschland, die Ziele der beiden
Organisationen sind deckungsgleich. Auch der Zentralrat ist bemüht, als Ansprechpartner in
allen islamischen Angelegenheiten anerkannt zu werden. Laut Präambel sieht der Zentralrat
seine Aufgabe darin, „den islamischen Gemeinschaften in Deutschland zu dienen, den
kulturellen und interreligiösen Dialog zu pflegen und sich für eine konstruktive Kooperation
zum Wohle der islamischen Gemeinschaft und der ganzen Gesellschaft einzusetzen.“4 Die
Grundlagen für Zentralrat sind Qur`an und Tradition des Propheten Muhammad (sunna) im
Rahmen des Grundgesetzes in Deutschland. Der Zentralrat ist ein Dachverband, die einzelne
Vereine und Verbände als Mitglieder hat. Diese Art der Mitgliedschaft erweist sich als
Hindernis, wenn es um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts geht, weil
sie aus einer Gemeinschaft natürlicher Personen bestehen müsste, die sich aufgrund
gemeinsamer religiöser Überzeugung dauerhaft zusammengeschlossen haben. Der Zentralrat
ist ein Dachverband, der etwa 1-2% aller Muslime in Deutschland und damit gut 10% der
organisierten Muslime vertritt.
Die dritte große muslimische Organisation ist DITIB, eine türkische Organisation, die seit
1984 besteht und von der türkisch-islamischen Union der Anstalt für Religion in der Türkei
Unterstützt wird. DITIB vertritt den offiziellen staatlichen Islam der Türkei.
Die Imame, die im Allgemeinen für vier Jahre nach Deutschland geschickt werden, sind
Angestellte des türkischen Staates. In den meisten Fällen reichen die Deutschkenntnisse nicht
aus, einen Dialog ohne Dolmetscher zu führen, so dass sie als Partner für einen Dialog auf
gleicher Augenhöhe schwerlich auftreten können.
Schließlich ist der Verband islamischer Kulturvereine (VIKZ) zu nennen, der einen Weg mit
mystischen Tendenzen verfolgt. Der Verein wurde im September 1973 in Köln gegründet
und versteht sich als eine Vereinigung, die ursprünglich auf die Aktivitäten von
„Gastarbeitern“ aus der Türkei zurückgeht, die sowohl ihre eigene kulturelle Identität pflegen
als auch ihre Wertmaßstäbe und ihren Glauben an die jüngere Generation weitergeben
wollten.5 Die Mitglieder sahen ihren Aufenthalt in Deutschland zuerst als zeitlich begrenzt.
Während zunächst Imame aus der Türkei, ausgebildet an privaten und staatlichen
Predigerschulen, die Leitung der jungen Gemeinden übernahmen, sind in den Gemeinden des
VIKZ heute überwiegend solche islamischen Gelehrte angestellt, die als Angehörige der so
genannten zweiten Generation nicht nur in Deutschland ihre religiöse Ausbildung absolviert,
sondern hier auch ihre Sozialisation erfahren haben und daher vor allem auch aufgrund ihrer
mühelosen Beherrschung der deutschen Sprache den Herausforderungen begegnen können,
die sich dem Islam in Deutschland stellen. Der Verein vertritt nach eigenem Bekunden weder
eine bestimmte parteipolitische Linie, noch erhält er finanzielle Zuwendungen von anderen
Organisationen, sondern finanziert sich durch monatliche Beiträge der Gemeindemitglieder
und durch Spenden.
4
Köhler, Ayyub A., Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD), in: Muslimische Gemeinschaften im
deutschen Recht, Frankfurt am Main 2003, S. 75.
5
Vgl. Selbstdarstellung des VIKZ unter http://www.vikz.de/index1.html vom 17.4.2006.
7
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Um auf der Landesebene ein Ansprechpartner für den Staat zu sein, haben sich vor einigen
Jahren in verschiedenen Bundesländern die muslimischen Vereine zu einem Landesverband
(Shura-Verband) zusammengeschlossen. Sie sind zwar rechtlich noch nicht als offizieller
Ansprechpartner anerkannt, werden aber für die Entscheidungen über die Belange der
Muslime, insbesondere für die schulpolitischen Entscheidungen als Berater befragt.
Dialog in Deutschland
Die kurze Darstellung der Anwesenheit der Muslime und ihre Organisationen in Deutschland
soll verdeutlichen, auf welcher Ebene der Dialog in Deutschland möglich ist und wie die
Muslime diesen Dialog führen können.
In Deutschland kann man auf eine lange Tradition des Dialoges zurückblicken, der sich im
Laufe der Zeit entsprechend der gesellschaftlichen Realitäten gewandelt hat. Der Dialog
zwischen den Theologen, Philosophen und Intellektuellen besteht seit langem, hat aber wenig
Wirkung auf das alltägliche gesellschaftliche Leben und die zwischenmenschlichen
Beziehungen.
Dieser Dialog ermöglichte, die spirituellen Aspekte des Islam kennen und schätzen zu lernen.
Die großen deutschen Dichter wie Goethe und Rückert hatten große Achtung vor dem Islam
und den literarischen Werken der Muslime. Ihre Meinungen und Werke hierzu sind kaum im
Bewusstsein der Menschen in Deutschland präsent. Somit blieb dieser Dialog auf einer
theoretischen Ebene, zu dem nur bestimmte Menschen Zugang hatten.
Als die ersten „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen, waren es die Kirchen, die zuerst auf
sie aufmerksam wurden und ihre Türen für sie geöffnet haben. Solange sie keine Gebetsräume
hatten, war es ihnen möglich, in den Gemeindehäusern der Kirchen ihre Festgebete zu
verrichten und ihre religiösen Feste zu feiern. So entwickelte sich eine besondere Beziehung
zwischen Muslimen und kirchlichen Einrichtungen, die bis heute besteht, vielen Wandlungen
unterlegen ist und heute in besondere Weise auf dem Prüfstand steht.
Die Muslime waren lange Zeit Gäste; sie nahmen das großzügige Angebot an, blieben aber
weitgehend unter sich. Auch mit den Gastgebern gab es keinen religiösen und theologischen
Dialog, dafür war die Mehrheit der Muslime sprachlich und fachlich nicht in der Lage. Ihr
Anliegen bestand darin, im fremden Land ihre gemeinschaftlichen religiösen Riten
nachkommen zu können. Ab Ende der siebziger Jahre ist ein Wandel im Dialog zu
vermerken, der auf die politischen Ereignisse in dieser Zeit zurück zu führen ist. Die
Revolution im Iran, der Palästina-Israel Konflikt und die Situation im gesamten Nahen Osten
gab dem Islam ein neues Gesicht, das Bedenken und Angst erweckte. Ab dieser Zeit ist die
Tendenz festzustellen, stets den Islam für die politischen Probleme zu verantworten. Die
teilweise extremistischen und fanatischen Bewegungen unter den Muslimen stärkte diese
Wahrnehmung. Dies brachte Veränderungen in Begegnungen und Gesprächen. Die
Schwerpunkte des Dialogs in den achtziger Jahren sind daher auch das Verhältnis des Islam
zur Politik und die Diskussion, inwieweit der Islam einen Anspruch erhebt, die gesamte Welt
erobern zu wollen. Die Gespräche zu diesen Themen fanden häufig ohne Beteiligung von
Muslimen statt, die mit ausreichenden Sprach- und Fachkenntnissen die islamische Lehre
authentisch hätten darstellen oder auf alle komplexen politischen Fragen dieser Zeit eine
theologische Antwort geben können. Die Diskussionen waren in Deutschland sehr angeregt,
emotional und stark begleitet von Angst vor einem extremistischen Islam, für den die hier
lebenden Muslime oft kollektiv als Handlanger betrachtet wurden.
Für diese Zeit kann man einen interreligiösen Dialog verzeichnen, der stark mit politischen
Diskussionen Hand in Hand einherging. Unter dem Einfluss der iranischen Revolution und
Etablierung einer islamischen Republik nahmen die Diskussionen neue Dimensionen an. Die
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medialen Bilder und Informationen sprachen von einem politischen Islam, der aggressiv die
Weltherrschaft anstrebte. Während die öffentlichen Diskussionen sich mit diesen Fragen
beschäftigten, lief parallel auch der Dialog weiter, in dem die Menschen versuchten, sich
gegenseitig besser kennen zu lernen und die muslimischen Migranten in der Erledigung ihrer
täglichen Belange zu unterstützen. Aus dieser Zeit stammen einzelne tiefe freundschaftliche
Beziehungen zwischen muslimischen und deutschen Familien. Hier kann man nicht von
einem direkten interreligiösen Dialog sprechen, sondern von einem Dialog des Handelns. Die
zunehmenden Ehen zwischen muslimischen Männern und deutschen Frauen ermöglichte
einen Dialog der Herzen, der Fragen bezüglich Gestaltung des Familienlebens mit
unterschiedlichen religiösen Hintergründen mit sich brachte. Man kann von gut
funktionierenden Ehen sprechen, wenn die Ehepartner vor der Ehe die Problematik der
Erziehung der Kinder geklärt haben oder wenn die Praktizierung der Religion für die Partner
keine große Rolle spielte.
In den letzten Jahren, insbesondere nach dem 11. September 2001 ist eine Spannung im
Dialog mit dem Islam zu bemerken. Es war festzustellen, dass der Islam trotz langjähriger
Dialogarbeit in Deutschland noch eine fremde Religion war, die nun auch als eine Gefahr für
die Sicherheit Deutschlands galt. Der Dialog wurde immer mehr in Frage gestellt. Als der
Ratsvorsitzende der evangelischen Kirchen in Deutschland Bischoff Huber in einem
Interview bei einem Weihnachtsfest 2004 den Begriff „Kuscheldialog“ verwendete, stieß er
bei vielen Gegnern des Dialogs und Skeptiker auf offene Ohren, die den gesamten Dialog für
gescheitert erklärten. Mit „Kuscheldialog“ war ein Dialog gemeint, der nur die
Gemeinsamkeiten herausstellt und die Unterschiede nicht beachtet. Manche Kirchenvertreter
und Politiker weisen zunehmend darauf hin, dass es zwischen Christentum und Islam
wesentliche Differenzen gibt, die nicht zu überwinden sind. Die Kirchenvertreter verweisen
auf die ihrer Meinung nach theologisch unüberwindbaren Unterschiede, während Politiker das
Thema oft für ihre wahlstrategischen und politischen Zielsetzungen polarisieren, indem sie
dadurch die Bevölkerung verunsichern und sich gleichzeitig als Beschützer anbieten.
Der Dialog in Deutschland erfährt eine Wandlung, die einerseits der veränderten
Wahrnehmung der Muslime und des Islam allgemein Rechnung trägt und andrerseits der
Lebenssituation der Muslime, ihrer Sprachfähigkeit und ihren fachlichen Kenntnissen über die
gesellschaftlichen und politischen Themen entspricht.
Günther Orth schreibt in einem Aufsatz zum Thema „Mit Krisen umgehen- Lehren aus den
Anfangsjahren des Dialogs“: „Ich habe mich durch den Dialog verändert <nicht nur ich>. Das
war kein spektakulärer Umbruch, sondern eine allmähliche, leise Veränderung. Ich denke,
dass muss so sein. Wer im Dialog der bleibt, der er vorher war, hat keinen wirklichen Dialog
erlebt. ER hat nur einen Monolog zu zweit gehalten. ER hat die Dinge nur mit seine eigenen
Augen gesehen, nicht mit den Augen des Partners.“6 Ein gelungener Dialog muss langfristig
konstruktive Änderungen beim Dialogpartner und ein gesamtgesellschaftliches Umdenken
verzeichnen können.
Die mediale Darstellung des Islam und die extremistischen Bewegungen, die sich auf den
Islam beziehen, vermitteln überwiegend weiterhin ein Bild vom Islam und von den Muslimen,
das Angst schürt. Die Berichterstattungen klären meistens nicht auf, sie verzerren die
politischen, religiösen und sozialen Realitäten in den muslimisch geprägten Ländern und
stilisieren den Islam zum Feindbild und als Ursache für die Probleme schlechthin. Die
einzelnen Informationen sind zwar nicht immer falsch, sie bilden aber nur einen kleinen Teil
der islamischen Realitäten ab, nämlich den extremistischen und gewaltbereiten. Diese Bilder,
die den Islam als Bedrohung erscheinen lassen, stellen automatisch die Muslime als einen
6
Neuser Bernd (Hsg.), Dialog im Wandel. Der christlich-islamische Dialog, Anfänge, Krisen, neue Wege,
Neukirchen-Vluyn 2005, S. 69.
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monolithischen Block dar, von dem eine Gefahr ausgeht. Das kollektive Misstrauen
gegenüber den Muslimen und die negativen Meinungen über den Islam in den öffentlichen
Diskussionen sind festzustellen, wenn man die Studien folgt, die in der letzten Zeit zu diesem
Thema vorliegen. Zunehmend fühlen sich die Muslime nicht akzeptiert, ein Gefühl, das zur
Frustration und zum Rückzug in die vertraute Umgebung sowie zur Entstehung der
„Parallelgesellschaften“ führt, in denen die Muslime unter sich bleiben und ein Kontakt nach
Außen mit Schwierigkeiten und Problemen begleitet ist.
Dennoch bedeuten die weltpolitischen Ereignisse und die Frage der Sicherheit und bestehende
Ängste vor religiösen Extremismus nicht ein Ende des Dialogs, sie ermöglichen neue Formen.
Darin stehen die Fragen der religiösen Erziehung der Kinder und Partizipation der Muslime in
der Gesellschaft im Mittelpunkt, ein langer Prozess, da der Islam in Deutschland nicht den
Status einer nach deutschem Recht anerkannten Religionsgemeinschaft hat.
Das Staatskirchenrecht in Deutschland ist ein Teilgebiet des öffentlichen Rechts, das die vom
Staat gesetzten Rechtsnormen umfasst, die sich auf die Rechtsstellung von
Religionsgemeinschaften sowie ihrem Verhältnis zum Staat bezieht. Dieses Recht betrifft
keineswegs nur die Kirchen, es ist aber auf die mitgliedschaftlich organisierten
Religionsgemeinschaften ausgerichtet. Im Bezug auf den Islam ist dieses Recht in
Deutschland nicht anwendbar, weil der Islam keine organisierte Religionsgemeinschaft ist,
die die Mitgliedschaft natürlicher Personen nachweisen kann. Die Teilnahme einer
Religionsgemeinschaft am Rechtsverkehr im Staat ist für sie erst möglich, wenn sie einen
Rechtsfähigkeit erlangt. Der Rechtstatus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts,
ermöglicht eine Religionsgemeinschaft, für ihre Mitglieder verbindliche Vorschriften zur
Regelung des innergemeinschaftlichen Lebens zu erlassen, die Glaubensgrundlagen selbst zu
definieren und in der Durchführung des Religionsunterrichts inhaltlich sowie in der
Ausbildung und Auswahl der Lehrkräfte verantwortlich zu sein.
Da der Islam bis heute nicht über diesen Rechtstatus verfügt und die bisherigen Versuche der
Etablierung einer dafür notwendigen rechtlich anerkannten Organisation seitens der Muslime
noch keine zufrieden stellende Ergebnisse vorweisen können, ist z.Zt. ein islamischer
Religionsunterricht gemäß Artikel 7, Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes für die Muslime
noch nicht durchführbar. Der Artikel 7, Absatz 3 garantiert das Mitspracherecht der
Religionsgemeinschaft für den bekenntnisorientierten Religionsunterricht, der auch gemäß
des Grundgesetzes in den öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach gilt: „Der
Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien
Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts wird der
Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften
erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu
erteilen.“ (Deutsches Grundgesetz, Artikel 7, Absatz 3) Seit ca. zwanzig Jahren bemühen sich
die Muslime in Deutschland, einen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht in
den deutschen Schulen zu erteilen. In Deutschland sind die Bundesländer in ihrer
Schulpolitik autonom, und dies ermöglicht jedes Bundesland, eigene Modelle zu entwickeln.
Die Notwendigkeit für einen islamischen Religionsunterricht unter Aufsicht des Staates und
mit Beteiligung der Muslime bei der Festlegung der Glaubensgrundlagen und eines
entsprechenden Curriculums wird von der Politik anerkannt. Somit versuchen die
Bundesländer, Modelle zu entwickeln, die den Muslimen trotz des fehlenden Rechtsstatus ein
Mitspracherecht ermöglichen. Das Beispiel im Bundesland Niedersachsen ist exemplarisch.
Im Jahre 2001 erklärte der amtierende Bundesminister in Niedersachsen die Einführung des
islamischen Religionsunterrichts als einen politischen Willen und öffnete dem
Kultusministerium eine Möglichkeit, diesen zu realisieren. Daraufhin berief das
Kultusministerium einen Runden Tisch, der aus unterschiedlichen muslimischen Vereinen
und Verbänden in Niedersachsen bestand. Der Runde Tisch ersetzte vorerst den rechtlich
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anerkannten Ansprechpartner, der mit dem Staat, in diesem Fall vertreten durch das
Kultusministerium, ins Gespräch über die Einführung des islamischen Religionsunterrichtes
eintrat. Der runde Tisch hat nicht die Möglichkeiten einer anerkannten
Religionsgemeinschaft; während ihm keine Möglichkeit für die Auswahl der Lehrkräfte
eingeräumt zustanden, war er weitgehend in der Festlegung der Rahmenrichtlinien beteiligt.
Dieser Unterricht begann im Schuljahr 2003 vorerst als ein „Modellversuch“ beschränkt auf
vier Jahre. Die Lehrkräfte sind Angestellten des deutschen Staates, die bisher als Lehrer für
türkische und arabische Muttersprache tätig waren. Sie werden in einer wissenschaftlichen
Weiterbildungsmaßnahme für den islamischen Religionsunterricht ausgebildet. Die
Unterrichtsprache ist Deutsch, die für die muslimischen Kinder in Deutschland mit
unterschiedlichen Migrationshintergründen auch als gemeinsame Sprache gilt. Die
Unterrichtstunde fällt in die reguläre Schulzeit und gilt als ein anerkanntes Schulfach, das sich
um eine religiös-ethische Erziehung bemüht, die sich sowohl der sunnitischen als auch der
schiitischen Glaubenrichtung widmet. Da im Islam eine enge Beziehung zwischen der
Glaubenslehre und der Ethik einer muslimischen Lebensform vorliegt, wird dieser Unterricht
einen bedeutsamen ethischen Anteil haben, der auf die Vorgaben der Personenrechte der
deutschen Verfassung abgestimmt ist. Ferner geht es in diesem Unterricht um eine dialogische
Ausrichtung zu den verwandten Fächern in der Schule einschließlich des Faches „Ethik und
Normen“ sowie dem Religionsunterricht anderer Religionen. Somit lernen die Kinder einen
fundierten Dialog, der in einer umfassenden Kenntnis über den eigenen Glauben eingebettet
ist. Der Unterricht in Deutsch ermöglicht den Kindern, die Gespräche über den Islam
verständlich artikulieren zu können.
Die Entwicklung eines Konzeptes für eine
Religionspädagogik für Muslime im Westen ist der nächste Schritt, für den die Universitäten
in Deutschland sich langsam öffnen.
Diese Entwicklung eröffnet den Muslimen eine neue Form des Dialoges, in dem sie nicht
mehr nur Gast sind und Fragen beantworten müssen, sondern sie beteiligen sich aktiv in den
gesellschafts-politischen Diskussionen.
Ein wichtiger Schritt war die Islam-Konferenz, zu der der deutsche Bundesinnenminister
Wolfgang Schäuble im September 2006 einlud. Erstmalig war ein Gespräch zwischen
Muslimen und dem Staat auf dieser Ebene möglich. Die Teilnehmer der Konferenz waren
Vertreter des Staates, Repräsentanten der muslimischen Dachverbände, muslimische
Einzelpersönlichkeiten und Kritiker. Der Minister drückte in einer Regierungserklärung die
Hoffnung aus, dass die Islamkonferenz praktische Lösungen für das Zusammenleben in
Deutschland in Zusammenarbeit mit den Muslimen findet. In den Arbeitsgruppen der
Islamkonferenz sollen Belange und Probleme erörtert, analysiert und Lösungsvorschläge
erarbeitet werden. Diese Arbeitsgruppen werden sich für drei Jahre mit den Themen
„Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“, „Religionsfragen im deutschen
Verfassungsverständnis“ und „Wirtschaft und Medien als Brücke“ beschäftigen. Die
Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden jährlich in einem Treffen mit dem
Bundesinnenminister vorgestellt.
Dieser Dialog motiviert die Muslime, den Prozess eines Zusammenschlusses für das Erlangen
des Status einer Religionsgemeinschaft voranzutreiben. Momentan haben sich die vier großen
Verbände Zentralrat der Muslime, Islamrat, VIKZ und DITIB zu einem Koordinierungsrat
zusammengeschlossen. Um als eine rechtliche Religionsgemeinschaft anerkennt zu werden,
liegt ihnen jedoch ein langer Weg bevor, der durch Unterschiede in den Glaubensrichtungen
innerhalb des Islam und die ethnische Herkunft ihrer Mitglieder erschwert wird.
Jenseits der öffentlichen Wahrnehmung der Muslime in der Gesellschaft und der sozialen
Probleme, empfindet die Mehrheit der Muslime Deutschland als ihre Heimat, in der sie aber
nicht immer akzeptiert sind.
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Für viele Muslime, die in Deutschland leben, ist es eindeutig, dass sie ihre Religion
unabhängig von Traditionen überdenken und neu entdecken müssen. Der Islam in Europa ist
auf dem Weg entscheidender Änderungen, die unabdingbar sind. Die kritische Betrachtung
der Traditionen, die als Islam deklariert werden, ermöglicht eine Wiederentdeckung der
islamischen Werte, die durch die regionalen und kulturellen Interpretationen verloren
gegangen sind. Für die Mehrheit der Muslime bedeutet das Leben außerhalb der traditionellen
Bindungen, sich frei mit der eigenen Religion kritisch auseinanderzusetzen. Hierfür benötigen
die Muslime an den Universitäten Lehrstühle für die islamische Theologie, die ihnen einen
wissenschaftlichen Diskurs im Glauben ermöglichen. Bildungsinstitute für die Ausbildung
der Imame und religiösen Verantwortlichen sowie Ausbildung der muslimischen Lehrkräfte
sind notwendige Gesprächsthemen sowohl für den aktuellen als auch den bevorstehenden
Dialog in Deutschland.
Fazit
Die meisten Muslime sind in Deutschland integriert oder sind auf dem Wege, sich zu
integrieren. In eine Gesellschaft, die sie zwar als Zuhause betrachten, in der sie jedoch der
Minderheit angehören. Integration kann und darf aber nicht Assimilation bedeuten und
keinesfalls zur Aufgabe der eigenen Identität führen. Wenn es um Praktizierung des
Glaubens geht, die für Muslime auch mit äußeren Merkmalen einer Bekleidungsordnung
verbunden ist, erfahren sie stets Einschränkungen und Ablehnungen, die sie daran hindern
aktiv sich in der Gesellschaft einzubringen. Deutschland bedarf der Entwicklung eines
Bewusstseins, das die Pluralität als Bereicherung und nicht als Bedrohung versteht. Die
religiöse Vielfalt als eine Chance wahrzunehmen, ist ein bedeutender Schritt für gegenseitige
Anerkennung und gegenseitige Akzeptanz. Daran haben alle Menschen zu arbeiten, die in
einem Land zusammenleben.
Literature
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politische Perspektiven. Opladen, 2001.
MEIER-BRAUN K.-H., Reinhold Weber (Hrsg.). Kulturelle Vielfalt. Baden-Württemberg als
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NEUSER, Bernd (Hrsg.). Dialog im Wandel. Der christlich-islamische Dialog. Anfänge,
Krisen, neue Wege, Koblenz, 2005.
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Staatlicher Islamunterricht in Deutschland, Berlin, 2006.
SPOHN, Cornelia (Hrsg.). Zeiheimisch- Bikulturell leben in Deutschland. Hamburg, 2006.
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