Universität Augsburg Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät – Lehrstuhl für Soziologie PS – Einführung in soziologische Theorien Dozent: Bosancic Sasa, M.A. Referentinnen: Haese Stephanie, Bárdosi Carrie SoSe 2007 14.06.2007 Systemtheorie III. FUNKTIONALE DIFFERENZIERUNG Luhmann II. I. FUNKTIONAL DIFFERENZIERTE GESELLSCHAFT NACH LUHMANN Ausgangspunkt: soziale Systeme sind selbstreferentiell-geschlossene, autopoietische Einheiten soziale Systeme erzeugen und erhalten sich selbst indem sie ihre Elemente fortlaufend produzieren. Die se Elemente sind (nicht die Menschen, sondern) die Kommunikationen. Der Prozess besteht also darin, dass auf Kommunikation Kommunikation folgt, + weitere Folgekommunikationen, usw. soziale Systeme beziehen sich auf sich selbst (nicht aus der Umwelt) sie sind operativ geschlossen soziale Systeme = Systemdifferenzierung, da sich innerhalb des Systems eine Vielzahl von Subsystemen bilden können das Gesamtsystem übernimmt die Funktion der Teilsysteme, für jedes Teilsystem in unterschiedlicher Weise jedes Subsystem hat eine eigenständige systeminterne Umwelt. II. 3 STUFEN DER PRIMÄREN DIFFERENZIERUNG DES GESELLSCHAFTSSYSTEMS 1. Segmentäre Differenzierung: Einfache, kleine, räumlich voneinander getrennte, gleiche Gesellschaftssysteme (Familien, Stämme, Dörfer, etc.) alle Mitglieder haben im Wesentlichen die gleichen sozialen Rollen geringe Arbeitsteilung kaum komplexe interne Organisation von Anschlusskommunikation (Das SOZIALE ist nicht die Summe kommunizierender Menschen, sondern das operativ geschlossene System von Anschlusskommunikation) geringe Komplexität von Handlungs-, Variations- und Selektionsmöglichkeiten keine experimentelle Interaktionen, da sonst der Strukturrahmen der gesamten Gesellschaft bedroht wird 2. Stratifikatorische Differenzierung: antike europäische, asiatische und amerikanische Hochkulturen im 15.,16. Jahrhundert Gesellschaft differenziert sich nach hierarchischen sozialen Schichten als Teilsystemen (Adel, Bürger, Bauern, Besitzlose o.ä.) ein Individuum gehört jeweils nur einem Teilsystem an zentral semantischer Code: Die Sinnhaftigkeit der Welt als Gottes Schöpfung und die Notwendigkeit, ein gottesfürchtiges Leben zu führen Generalisierung von Moral und Religion im Laufe der Frühen Neuzeit findet in Europa ein historisch einzigartiger Wandel zu funktionaler Differenzierung statt (Entfernung religiöser von politischen Handlungsmuster) 1 3. Funktionale Differenzierung: Entwicklung seit Ende des 16. Jhs, spätestens ab Mitte des 19. Jhs autonome Funktionssysteme, gesellschaftliche Funktionen (Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Wissenschaft etc.) durch lange Transformationsprozesse, die sich verselbständigen und autonome Regeln und einen je eigenen „Code“ entwickeln, so dass sie nicht mehr auf andere Funktionssysteme zurückgreifen, sondern nur auf sich selbst („Selbstreferentialität“) Übernahme von gesellschaftlichen Funktionen: Staatsräson + Souveränität, Selbstreferenz (statt Fremdreferenz) (keine Oben-Unten-Vorgaben mehr, sondern) Verselbstständigung + Autonomisierung das Individuum gehört in verschiedenen sozialen Rollen verschiedenen Funktionssystemen an („Inklusion“ Aller in alle Funktionssysteme) neue Anforderungen an die Individuen, die sich zwischen den Teilsystemen hin- und herbewegen müssen (Zeitökonomie, Selbstkontrolle etc.) Ausbildung der Erziehung und der Pädagogik durch eine erziehungseigene Semantik Ausdifferenzierung eines allein wissenschaftseigenen Codes Herausbildung einer familialen Privatsphäre und eines speziellen Liebescodes Entfernung des Rechts von der Politik Entkoppelung der Wirtschaft von Religion und Moral vollständige Monetarisierung ökonomischer Beziehungen III. BINÄRE CODES 1. Binäre Codes beobachtungsleitende, zweiwertige Grundentscheidungen, die über einen positiven und einen negativen Wert verfügen (dritte Werte ausgeschlossen) Beispiele: Politik: Macht / keine Macht Wirtschaft: zahlen / nicht zahlen Wissenschaft: Wahrheit / nicht Wahrheit Recht: Recht / Unrecht jedes Funktionssystem verfügt ausschließlich über einen Code Code gibt keine Kriterien vor, welcher Wert zu wählen ist 2. Programme Kriterien für die Anwendung des Codes (Zuordnungsregeln) Beispiele: Politik: Macht innehaben / nicht innehaben Wirtschaft: Geld, Investitionsprogramme Wissenschaft: Theorien Recht: Gesetze und Verordnungen komplementäres Verhältnis von binären Codes und Programmen IV. DAS WIRTSCHAFTSSYSTEM Wirtschaft als Gesamtheit der Operationen die über Geldzahlungen abgewickelt werden Zahlungsfähigkeit/Zahlungsunfähigkeit als binärer Code Zahlungen ~ Herstellung von Zahlungsfähigkeit beim Empfänger und Herstellung von Zahlungsunfähigkeit beim Zahlenden Geld ~ Kommunikationsmedium 2 Wirtschaftssystem als dynamisches System: Zahlungsfähigkeit/-unfähigkeit kann weitergeleitet werden Differenzierung von anderen Teilsystemen: Nicht alles kann mit Geld gekauft werden Preise als Programme (Informationen über die Zahlungen) V. DAS POLITISCHE SYSTEM Bis heute wird für die Politik eine Ausnahmestellung beansprucht, aber: Ebenso Teilsystem! Innehaben/Nichtinnehaben von politischer Macht als binärer Code Politische Macht ~ Macht, die zur Deckung kollektiv bindender Entscheidungen eingesetzt werden kann ~ Kommunikationsmedium Transformation der Macht in die Form von z.B. Ämtern (sonst bleibt Macht unsichtbar) Regierung/Opposition Machtquellen: überlegene physische Gewalt, Autorität, Einfluss Segmentäre Differenzierung des Weltsystems Politik in Nationalstaaten (Anpassung der kollektiv verbindlichen Entscheidungen an die regionalen kulturellen oder wirtschaftlichen Bedingungen) Interne Differenzierung des Nationalstaates in Organisationen (der Staat selbst, politische Parteien, Bürgerbewegungen, NGOs usw.) differenziert nach Zentrum/Peripherie VI. EXKLUSIONSFOLGE: ÖKOLOGISCHE PROBLEME ökologische Probleme werden erst dann relevant, wenn sie kommuniziert werden Sie werden nur entsprechend der jeweiligen binären Codes behandelt, z.B. Wirtschaft: es ist nach zahlen/nicht zahlen kostengünstiger, sich nicht mit ökologischen Problemen längerfristig zu befassen Exklusion von Umweltproblematiken (keiner fühlt sich zuständig) Möglichkeit: Ausdifferenzierung eines neuen gesellschaftlichen Teilsystems mit dem binären Code Nach- haltigkeit/mangelnde Nachhaltigkeit reale Chancen? Quellenangabe: Bendel, K. (1993): Funktionale Differenzierung und gesellschaftliche Rationalität. In: Zeitschrift für Soziologie 22, S. 261-278. Degele, N. (1999): Soziale Differenzierung: eine subjektorientierte Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 28., S. 345-364. Kneer, G. (1996): Rationalisierung, Disziplinierung und Differenzierung: zum Zusammenhang von Sozialtheorie und Zeitdiagnose bei Jürgen Habermas, Michel Foucault und Niklas Luhmann / Georg Kneer, Opladen, S. 362-386. Kneer, G. (1993): Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme: Eine Einführung. München, Fink, S. 122-141. Kneer/Nassehi (1997): Funktional Differenzierte Gesellschaft. In: Kneer/Nassehi/Schroer (Hrsg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe, S. 76-89. Knorr-Cetina, K. (1992): Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie. Empirische Anfragen an die Systemtheorie. In: Zeitschrift für Soziologie 21, S. 406-419. Luhmann, N. (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen Nassehi, A. (2004): Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik. In: Zeitschrift für Soziologie 2 (33), S. 98-118. Schimank, U. (Hrsg.) (2003): Beobachter der Moderne. Frankfurt/M. Schimank, U. (1996): Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. Opladen Schwinn, T. (1995): Funktionale Differenzierung – wohin? Eine aktualisierte Bestandsaufnahme. In: Berliner Journal für Soziologie 1(5), S. 25-39. 3