Muslime 6/12/04 - Katholische Notfallseelsorge im Erzbistum

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Bayerisches Staatsministerium des Innern
Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz
EINBLICK IN DIE
DENK- UND
VERHALTENSWEISEN
DER MUSLIME
DER
V E R FA S S U N G S S C H U T Z
I N F O R M I E RT
VORWORT
Jeder Mensch ist durch sein kulturelles Umfeld und seine Herkunft
geprägt. So ist - abgesehen von den sprachlichen Barrieren - eine
generelle Deckungsgleichheit der begrifflichen Welt und der gesellschaftlichen Werte nicht einmal bei Menschen benachbarter Staaten
vorzufinden, geschweige denn bei so unterschiedlichen Kulturkreisen
wie die des islamischen und des christlich-europäischen Raums.
Viele Muslime in Deutschland leben in diesen zwei Welten. Einerseits
bewegen sie sich in unserer westlichen Gesellschaft, andererseits sind
sie beeinflusst durch ihre Religion und Abstammung.
Religion und Politik, Kirche und Staat sind in den Heimatländern der
Muslime eng miteinander verwoben, so dass deren Vorgaben sehr
bestimmend sind und sie Einfluss auf das jeweilige Verhalten haben.
Der Islam versteht sich nicht als nur gottesdienstliche Handlung, sondern vor allem als Gesellschaftsordnung und Weltanschauung. Jede
Handlung des Individuums oder der Gruppe ist in dieses Wertesystem
eingebettet.
Grundsätzlich setzt jede Begegnung mit Menschen fremder Kulturen
die Bereitschaft voraus, sich mit der jeweiligen Fremdenkultur auseinander zu setzen. Denn nur dies ermöglicht uns einen - wenn auch
nicht immer wertfreien - Einblick in die Denk- und Verhaltensweisen
der Träger dieser Kultur.
Genauso müssen auch die Menschen, die dieser fremden Kultur entstammen, sich auf eine eingehende Auseinandersetzung mit der heimischen Kultur ihres Gastlandes einlassen, wollen sie sich länger in
diesem Land aufhalten.
Mit dieser Ausarbeitung wird versucht, auf die Frage näher einzugehen, inwieweit der Islam das Alltagsleben der Muslime auch in der
Bundesrepublik Deutschland beeinflusst und ob daraus verallgemeinernde Verhaltensmuster, die dem besseren Verständnis dienen sollten, abgeleitet werden können. Da allerdings die Bereiche Brauchtum
und Religion nicht scharf voneinander abgrenzbar sind, können die
2
folgenden mehr ethnologischen als religiösen Betrachtungen weder
Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Allgemeingültigkeit erheben.
Dies gilt allein schon deshalb, weil die etwa 3,2 Millionen Muslime in
Deutschland unterschiedlicher Nationalitäten sind und zudem verschiedenen Glaubensrichtungen (z. B. Sunniten, Schiiten, Aleviten) innerhalb
des Islam angehören sowie unterschiedliche Auslegungen des Korans
für sich als gültig betrachten. Es gilt immer, den einzelnen Fall in seiner
Ganzheit und mit seinen Besonderheiten zu erfassen.
Die Kenntnis bzw. Beachtung von Grundsätzen der Religion und von
Gebräuchen könnten dazu beitragen, dass ein konstruktiver Dialog
zwischen Nichtmuslimen und Muslimen zustande kommt.
Die obersten Maximen in diesem Dialog sollen stets gegenseitiger
Respekt und Höflichkeit sein.
3
INHALTSVERZEICHNIS
1.
Islam als Lebens- und Gesellschaftsordnung
5
2.
2.1
2.2
2.3
Die fünf Säulen des Islam
Schahada (Glaubensbekenntnis)
Salat (Das Gebet)
Sawm (Fastenmonat Ramadan)
5
6
6
7
2.4
2.5
Zakat (Wohlfahrts-/Armensteuer)
Hadsch (Pilgerfahrt nach Mekka)
8
9
3.
3.1
3.2
Verhaltensmuster gläubiger Muslime
Begrüßungsformen
Die Begriffe Höflichkeit und Gastfreundschaft
10
10
12
3.3
3.4
Familienleben und Geschlechterrollen
Bekleidungsvorschriften
13
16
3.5
3.6
Verbotene Speisen und Getränke
Das Reinheitsgebot
19
20
4.
4.1
4.2
Identität und Kommunikation
Namensgebung
Sprache und Schrift
21
21
23
5.
5.1
Islam und Islamismus
Ursprünge des Islamismus
25
26
5.2
Sprachliche Doppeldeutigkeit
26
6.
Zusammenfassung
28
7.
Glossar
29
Anhang
Literatur- und Quellenhinweise
4
31
1.
Islam als Lebens- und Gesellschaftsordnung
Der Islam versteht sich nicht nur als Religion, sondern auch als eine
weit umfassende Welt- und Gesellschaftsordnung, die das Leben des
Einzelnen und der Gemeinschaft bis ins letzte Detail reguliert. Die
Grundlagen für die vorgegebenen Verhaltensmuster stammen aus dem
Koran oder der Sunna (Überlieferung der Aussagen, Taten und Verhaltensweisen des Propheten Mohammed). In Situationen, in denen
Hinweise für geeignete Verhaltensmuster für Muslime weder im Koran
noch in der Sunna zu finden sind, ist der Rat der islamischen Gelehrten (Fuqaha) gefragt. In einem komplizierten Analogie-Verfahren
(z. B.: Was hätte der Prophet oder einer seiner Gefährten in dieser
Situation getan?) wird versucht, eine geeignete Lösung zu finden.
Ein kurzer Blick ins Lexikon lehrt uns Folgendes über die Ethik des islamischen Glaubens: „Die für alle Muslime geltenden Lehren über das
moralisch richtige Verhalten gebieten u. a. Gottesfurcht und -verehrung, Demut, Gutes zu tun und Böses abzuwehren, Gerechtigkeit
zu üben, Solidarität zwischen den Muslimen walten zu lassen, Bedürftigen Hilfe zu gewähren, Pietät gegenüber Eltern zu wahren und Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft nachzukommen. Sie fordern Gastfreundschaft und formulieren Grundsätze einer Sexualmoral“ (1).
2.
Die fünf Säulen des Islam
Die Erwähnung des Namens Gottes am Anfang jeder Tätigkeit (essen,
waschen, arbeiten usw.) zeigt die enge Verknüpfung zwischen dem
Sakralen und Profanen im Leben eines jeden Muslims. Die moralischen Grundsätze des Islam finden ihren Ausdruck u. a. in der täglichen Praxis der religiösen Pflichten, den so genannten fünf Säulen des
Islam, die das Verhalten und Leben der Muslime nachhaltig prägen.
Sie sind der gemeinsame Nenner, in dem sich alle Muslime trotz aller
Unterschiede wieder finden.
5
2.1
Schahada (Glaubensbekenntnis)
Um sich zum Islam zu bekennen, bedarf es keiner großen Formalitäten. Es reicht zunächst, wenn man das Glaubensbekenntnis vor zwei
muslimischen Zeugen ausspricht. Wer bezeugt „es gibt keinen Gott
außer Gott und Mohammed ist sein Gesandter“, ist de facto ein Muslim. Und wer einmal ein Muslim ist, darf nie wieder von seinem Glauben abfallen. Geschieht dies jedoch, dann gilt er als Apostat bzw. Ketzer, der laut der Scharia den Tod verdient.
Das Glaubensbekenntnis vor allem im Originallaut (Aschhadu anna la
ilaha illa Llah ua aschhadu anna Muhamadan Rrassul Llah) auszusprechen, auch wenn es nur im Spaß ist, könnte unangenehme Folgen
nach sich ziehen. Für einen Muslim ist ein scherzhafter Umgang mit
seiner Religion nicht hinnehmbar.
2.2
Salat (Das Gebet)
Das Gebet gilt im Islam als unmittelbare Verbindung zwischen dem
Menschen und Gott. Fünf Gebetszeiten pro Tag sind vorgeschrieben:
das Früh- (Fadschr), Mittags- (Dhohr), Nachmittags- (`Asr), Abend(Maghrib) und Nachtgebet (Ischa). Bevor der Gläubige zum Gebet
bzw. vor Gott tritt, vollzieht er rituelle Waschungen, die sowohl seine
physische wie spirituelle Reinheit wiederherstellen. Das Gebet selbst
besteht im Wesentlichen aus einem bestimmten Ablauf von Bewegungen (stehen, sich beugen, mit der Stirn den Boden berühren und sitzen), und aus der Rezitation einiger Suren aus dem Koran. Während
des Gebets darf der Gläubige - auch in dringenden Fällen - durch nichts
und niemanden gestört werden. Der Betende richtet sich stets gen
Mekka (Qibla), egal wo er sich auf der Welt befindet. So haben die
Gebetsräume in den Moscheen auch immer - von Deutschland aus
gesehen - eine südöstliche Ausrichtung.
Schwierig für die meisten Muslime in Deutschland ist die Einhaltung
der vorgegebenen Gebetszeiten, da diese an Werktagen unvermeidlich mit den Arbeitszeiten kollidieren. Für diesen Fall ist es erlaubt, die
Gebete, die tagsüber unterblieben sind, am Abend nachzuholen oder
sie an jedem beliebigen Ort, der einigermaßen sauber ist - hier kann
sowohl ein Teppich wie auch Zeitungspapier weiterhelfen - zu verrich6
ten. Noch schwieriger gestaltet sich das Abhalten des Freitagsgebets, das als einziges Pflichtgebet in der Moschee gilt. Dieses Gebet
soll im Gegensatz zu allen anderen Gebeten nach der Freitagspredigt
um etwa 14.00 Uhr gemeinsam mit anderen Gläubigen verrichtet werden. Dies ist jedoch nur einer Minderheit von Ladeneigentümern, Freiberuflern, Arbeitslosen, Rentnern und Studenten möglich. Die Mehrzahl der Gläubigen handelt dann wie bei den übrigen Gebetszeiten,
da sie an diesem Umstand nichts ändern können. Für besondere
Anlässe, bei denen die Präsenz in der Moschee notwendig wird, wie
zum Eid-Fest (Türkisch auch Seker Bayrami = Zuckerfest genannt),
wird dann extra frei genommen. Die Komplikationen beim Freitagsgebet sind für die meisten Muslime, die aus einem islamischen Land
stammen, jedoch nicht neu, denn der Freitag ist in den wenigsten islamischen Ländern ein gesetzlicher Feiertag. Nur in diesen Ländern
dürfen die Gläubigen ihre Arbeitsplätze für die Zeit des Gebets verlassen.
2.3
Sawm (Fastenmonat Ramadan)
Der Fastenmonat Ramadan ist eine der heiligsten Säulen des islamischen Glaubens. Das Fasten stellte ursprünglich ein Symbol des
Kampfs gegen die eigenen Gelüste und Egoismen dar. Es soll die Solidarität und das Mitgefühl für die mittellosen Mitmenschen stärken und
durch Enthaltsamkeit den wahren Glauben an Gott prüfen.
Der Ramadan ist der wichtigste Monat des islamischen Mondkalenders. Im Jahr 2004 dauerte das Fasten vom 15. Oktober bis zum
13. November. Da das Mondjahr um zehn Tage kürzer als das Sonnenjahr ist, fasten Muslime jedes Jahr zehn Tage früher als im Vorjahr.
Während dieses Monats dürfen die Gläubigen von Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang weder flüssige noch feste Nahrung zu sich nehmen.
Darüber hinaus darf weder geraucht noch geschimpft werden. Auch in
Bezug auf Geschlechtsverkehr soll äußerste Enthaltsamkeit eingehalten werden.
Diese asketische Übung dient außer der Reinheit des Körpers und
Geistes dazu, das nachzuempfinden, was arme Leute das ganze Jahr
über entbehren müssen. Fasten darf jeder der kann, das heißt, in der
Regel auch Kinder ab 14 Jahren. Ausnahmen gelten für Kranke und
7
Reisende, Schwangere oder jene Frauen, die ihre Menstruation (Reinheitsgebot) haben. Diese Personen sollen aber ihre Pflicht nachholen,
sobald es die Umstände erlauben.
In der Realität werden die guten Vorsätze nicht selten ins Gegenteil
verkehrt. In allen islamischen Gesellschaften ist das Konsumverhalten
während des Ramadan um ein Vielfaches höher als zur übrigen Zeit
des Jahres. Bei Sonnenuntergang wird das Fasten unterbrochen;
dann darf wieder nach Herzenslust getrunken, gegessen und geraucht
werden bis zum nächsten Sonnenaufgang. Dadurch wandelt sich die
Nacht nicht selten zum Tag. Diese Nachtaktivitäten wirken sich freilich
negativ auf die Berufswelt aus. Abgesehen davon, dass das tägliche
Arbeitspensum und die zu erwartende Leistung stark abnehmen, passieren gerade in dieser Zeit nicht selten Arbeitsunfälle (2). Viele Menschen
reagieren gereizter als sonst, obwohl sie eigentlich um ein korrektes
und konfliktfreies Verhalten bemüht sind.
Die Bedeutung des Fastenmonats ist für Muslime nicht zu unterschätzen. Auch diejenigen, die ansonsten ihren Glauben nicht praktizieren,
zeigen sich in dieser Zeit von ihrer religiösesten Seite, was die Einhaltung der Fastenvorschriften anbelangt.
Eine Taktlosigkeit wird beispielsweise darin gesehen, aus Unwissen
dem Fastenden in den für das Fasten in Frage kommenden Zeiträumen etwas zum Trinken oder Essen anzubieten oder gar Speisen und
Getränke selber vor ihm einzunehmen. Schlimmer noch wäre es, sich
vor einem fastenden starken Raucher eine Zigarette anzuzünden.
Selbst in solchen Fällen reagiert ein gläubiger Muslim indes mit Gelassenheit, weil er „die Versuchung“ als Prüfung der Festigkeit seines Glaubens auffasst. Angesichts der besonderen Belastung für den Fastenden wird mehr Verständnis für etwaige Nachlässigkeiten als sonst
erwartet.
2.4
Zakat (Wohlfahrts-/Armensteuer)
Zur so genannten Wohlfahrts- oder Armensteuer ist jeder Muslim verpflichtet, der über mehr als das Mindestmaß zur Existenzsicherung
8
verfügt. Die Abgabe, die auf ungefähr 2,5 % des erwirtschafteten Jahreseinkommens beziffert wird, soll bedürftigen Menschen, die unter
dem Existenzminimum leben, zugute kommen. Diese solidarische
Ausgleichshandlung zwischen Wohlhabenden und Bedürftigen wird
unterschiedlich gehandhabt. Da es im Islam keine vergleichbare
Institution wie die Kirche gibt, wird diese Steuer in manchen Ländern
direkt vom Staat erhoben und zweckgebunden umverteilt. Meistens
werden jedoch die Gläubigen am ersten Feiertag nach dem Ramadan
(Eid-ul-Fitr = kleines Eid-Fest, Türkisch: Ramazan Bayrami) oder während des Ramadan selbst aufgerufen, ihrer Pflicht nachzukommen.
Neben dieser Pflichtabgabe gibt es das Almosen (Sadaqa), das freiwillig, zu jeder Zeit und je nach den materiellen Möglichkeiten in beliebiger
Höhe oder als Sachspende entrichtet werden kann. Auch Menschen,
die auf Grund besonderer Umstände in wirtschaftliche Schwierigkeiten
geraten sind, kann auf diese Art geholfen werden. Allerdings ist in diesen Fällen Rücksicht auf das Ansehen und die Empfindlichkeit des Bedachten zu nehmen (3). Die Hilfe soll möglichst anonym übermittelt werden, das heißt, ohne die in Not geratene Person oder Familie in der
Öffentlichkeit bloßzustellen. Weit taktvoller ist die Tarnung der Hilfe als
Rückzahlung einer alten Schuld, da ja jeder in eine solche Situation
geraten könnte und selber dann auf die Unterstützung anderer angewiesen sein könnte.
Zakat hat auch die Funktion einer Wohlfahrtssteuer, die für karitative
und soziale Zwecke erhoben wird. In der Regel werden die Gelder in
den Moscheen gesammelt und sollen zweckgebunden entsprechenden sozialen Einrichtungen (Kindergärten, Schulen, Kliniken u.ä.) zugute
kommen. Da es allerdings oft an Kontrollorganen mangelt, könnten
die auf diese Weise gesammelten Spenden zweckentfremdet an so
genannte leidende Glaubensbrüder in Kriegsgebieten (z. B. Palästina,
Tschetschenien) weiterfließen.
2.5
Hadsch (Pilgerfahrt nach Mekka)
Eine weitere Glaubenspflicht der Muslime ist die Pilgerfahrt nach Mekka.
Jeder Muslim, der physisch und finanziell in der Lage ist, sollte (mindestens) einmal im Leben die heiligen Stätten des Islam in Mekka mit
der würfelförmigen Kaaba aufsuchen.
9
Diese gottesdienstliche Handlung, die zu einer vorgeschriebenen Wallfahrtszeit (im 12. islamischen Monat Dhul-Hiddscha bzw. zwei Monate
nach dem Ramadan) stattfindet, ist als Zeichen einer völligen Hingabe
an Gott zu verstehen. Der Ehrentitel Hadschi/Hadscha, den der Pilger
nach der Absolvierung des anstrengenden und umfangreichen
Hadsch-Rituals trägt, verleiht ihm im Kreise seiner Angehörigen und in
seinem Heimatort hohes Ansehen und großen Respekt. Veränderungen zeigen sich sowohl in der Bekleidung (weißes langes Hemd, weiße
Kopfbedeckung/weißer Schleier) als auch im Verhalten (die Vorschriften der Religion werden mehr denn je befolgt). Dies lässt sich dadurch
erklären, dass die Pilgerfahrt nach Mekka als eine große Waschung
von allen vorherigen Sünden empfunden wird. Für den restlichen
Lebensabschnitt wird versucht, nur noch nach den Vorschriften Allahs
zu leben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass trotz der physischen
Belastungen sich viele Muslime diese Glaubenspflicht für das hohe
Alter als gewissermaßen letzten Wunsch aufheben.
3.
Verhaltensmuster gläubiger Muslime
Die genannten islamischen Glaubenspflichten tragen neben anderen
kulturellen Gegebenheiten dazu bei, das Leben eines jeden Muslims
mittelbar oder unmittelbar zu bestimmen. Ob bewusst oder unbewusst treten Verhaltensschemata zutage, für deren Verständnis ein
Grundstock an Hintergrundwissen erforderlich ist.
Im Folgenden werden einige Aspekte des alltäglichen Lebens aufgezeigt, die einen Einblick in die Wechselwirkung zwischen dem Islam
als Religion und der Gestaltung des Lebens wie auch der Gesellschaft
im arabisch-islamischen Raum als einem relativ zusammenhängenden
kulturellen und gesellschaftlichen Gebilde gewähren.
3.1
Begrüßungsformen
Menschen aus der islamischen Welt legen außerordentlich Wert auf
einen förmlichen und höflichen Umgang miteinander.
10
Das Gebot des Korans, wonach alle Menschen gleich sind und sich
nur im Glauben bzw. in ihrer Frömmigkeit unterscheiden, führt dazu,
dass im täglichen Umgang miteinander der soziale Status einer Person keine Rolle spielt. Ein herablassendes Benehmen gegenüber einer
weniger gut situierten Person gilt daher nicht nur als Verletzung der
allgemein akzeptierten Verhaltensregeln, sondern auch als Verstoß
gegen die göttliche Ordnung.
Die wohl am meisten verbreitete und dank Karl May auch in Deutschland bekannteste Begrüßungsart (4) ist die arabische Formel „ As-Salam
´Alaykum“, was so viel heißt wie: Friede sei mit euch. Indem die Satzteile in umgekehrter Reihenfolge ausgesprochen werden, nämlich
„(Wa) ´Alaykum As-Salam“, wird die Begrüßung erwidert. Diese Formel
kann auch variiert und erweitert werden. Sie reicht von der Kurzform
„Salam“ bei jungen Leuten bis zu längeren formelhaften Sätzen, die
außer der Begrüßung des Adressaten die Gnade Gottes erbitten und
die Preisung des Propheten enthalten.
Neben den religiösen Begrüßungsformeln, die für alle Muslime verbindlich sind, existiert eine Reihe von Begrüßungsarten, die je nach
Land, Tageszeit und Anlass gebraucht werden. Beispielhaft nur einige
Begrüßungsformeln aus dem Türkischen und Persischen: Bei der
Begrüßung sagen die Türken Nasılsınız („Wie geht es Ihnen?“) oder
Merhaba („Hallo“). Eine verbreitete Antwort auf Nasılsınız ist Iyiyim,
teşekkür ederim („Danke, gut“). Wenn jemand einen Raum betritt, sagt
er Günaydın („Guten Morgen“) oder Iyi günler („Einen schönen Tag“).
Zum Abschied wünscht man sich Allahs Segen (Allahaısmarladık),
was mit den Worten Güle güle („Geh mit einem Lächeln“) beantwortet
wird.
Eine typische Begrüßungsformel im Persischen ist Dorood („Grüße“);
eine angemessene Antwort darauf wäre: Dorood-bar-to („Grüße an
dich“). Ein gebräuchliches Abschiedswort ist: Khoda hafiz („Möge Allah
dich schützen“).
Die übliche nonverbale Begrüßungsform in fast allen islamischen Ländern ist das Händeschütteln. Wer zu einer Gruppe hinzukommt, begrüßt jede Person einzeln. In manchen Ländern (z. B. im Iran) und bei
streng religiösen Muslimen ist es Frauen untersagt, in der Öffentlichkeit
11
einem Mann die Hand zu schütteln. Deshalb empfiehlt es sich, beim
Treffen auf eine Muslime, die vom Äußeren her (durch das Tragen des
Schleiers) als eher religiös einzuschätzen ist, das Händeschütteln zu
vermeiden, da sie dies in Verlegenheit bringen könnte. Sollte die Frau
jedoch von sich aus die Hand ausstrecken, so spricht nichts gegen
eine Begrüßung per Handschlag.
Wer einer älteren Person seinen Respekt zeigen möchte, küsst ihre
Hände und berührt sie mit der Stirn. Als Begrüßung und Zeichen
besonderer familiärer oder freundschaftlicher Verbundenheit küssen
sich Muslime oftmals auch auf die Wangen.
Nach der eigentlichen Begrüßung wird im Allgemeinen nach dem eigenen Gesundheitszustand und nach dem der Familie gefragt.
Formelle Anreden sind wichtig. Titel wie z. B. Professor, Doktor, aber
auch Bezeichnungen wie Onkel, Tante, Bruder usw. werden als Respektsbezeugung verwendet. In der Türkei sprechen sich gleichaltrige
Frauen mit Hanım und Männer mit Bey an. Diese „Titel“ werden nach
dem Vornamen eingefügt, so dass die Anrede z. B. Leyla Hanım oder
Ismail Bey lautet. Ältere Frauen spricht man mit Abla (Fatma Abla),
ältere Männer mit Ağabey (Ahmet Ağabey) an. Bei einem großen Altersunterschied verwenden die Menschen wiederum nach dem Namen die
Anrede Teyze (Tante) für Frauen und Amca (Onkel) für Männer.
Erst nach einer langen Phase von stark formalisiertem Small Talk kann
zum eigentlichen Gesprächsthema übergegangen werden. Eine abrupte
Unterbrechung - aus Zeitmangel oder aus „Effizienz“ - kann vom muslimischen Gesprächspartner als unhöfliches Verhalten ausgelegt werden.
3.2
Die Begriffe Höflichkeit und Gastfreundschaft
Muslime gelten in der Regel als sehr gastfreundlich. Die Gastfreundschaft hat eine lange Tradition im Islam. Wie der Gast geehrt wird, so
wird auch Gott geehrt. Freunde, Verwandte und Nachbarn besuchen
einander oft. Jeder Gast wird hereingebeten und steht im Mittelpunkt;
ihm werden alle verfügbaren Annehmlichkeiten geboten. Als Gast sollte man die Einladung zum Essen und Trinken zunächst einmal aus Höf12
lichkeit ablehnen. Erst bei nochmaliger Aufforderung können Kleinigkeiten (eine Tasse Tee/Kaffee, ein Stück Gebäck) angenommen werden.
Eine Einladung ganz auszuschlagen, gilt allgemein als unhöflich.
Komplimente werden vom Gastgeber gerne angenommen und auch
erwidert. Ein Gast sollte es jedoch vermeiden, bestimmte Gegenstände aus dem familiären oder persönlichen Besitz des Gastgebers
eindringlicher zu bewundern. Der Gastgeber könnte sich dadurch verpflichtet fühlen, dem Gast diese Objekte zum Geschenk zu machen.
Wenn Gastgeber ihre Straßenschuhe ausziehen, sollten Gäste ihrem
Beispiel folgen (Reinheitsgebot). Die Füße sollten auf niemanden weisen. Das Ausstrecken der Beine in einer Gruppe wird als grobe Unhöflichkeit betrachtet.
Besucher stellen ihren Gastgebern keine persönlichen Fragen. Ein
Besuch sollte immer ein harmonisches und fröhliches Ereignis sein;
deshalb sollte z. B. für die Übermittlung schlechter Nachrichten oder das
Besprechen von Problemen besser ein anderer Anlass gewählt werden.
Beim ersten Besuch sollte ein kleines Geschenk mitgebracht werden,
wenn es auch nicht unbedingt erwartet wird. Allerdings sollte darauf
geachtet werden, dass nichts Falsches geschenkt wird. Vermieden
werden sollten alkoholhaltige Getränke oder Pralinen, Fleischspeisen,
Bilder oder Statuen von Menschen oder Tieren. Geeignete Geschenke
sind dagegen Backwaren oder Gebrauchsgegenstände. Hierbei ist
zwischen Städtern und Menschen, die ursprünglich vom Land stammen, zu unterscheiden. Schnittblumen oder Zimmerpflanzen sind bei
den Städtern oft willkommen, während sie einem ehemaligen Landbewohner eher als ungewohntes Geschenk erscheinen könnten.
3.3
Familienleben und Geschlechterrollen
Die Familie stellt die wichtigste soziale Einheit der islamischen Gesellschaft dar. Der Ehestand wird nicht nur als die normale und vollkommene Lebensweise, sondern auch als religiöse Pflicht angesehen.
Zölibat oder auch ein gewolltes Single-Dasein entbehren jeglicher
göttlichen Zustimmung. Ein Muslim kann sich kaum vorstellen, welche
13
Gründe ihn dazu bringen könnten, sich freiwillig für ein Leben ohne
Ehe bzw. Kinder zu entscheiden, zumal außereheliche Beziehungen
verboten sind.
Innerhalb wie auch außerhalb der Ehe wird in weiten Kreisen der islamischen Gesellschaft eine Gleichberechtigung der Geschlechter nach
westlichem Modell nicht angestrebt, auch wenn emanzipatorische
Ansätze in einigen Ländern existieren. Nach Meinung mancher Muslime
unterhöhlt die westliche oder westlich-orientierte Gesellschaft durch ihre
Zügellosigkeit bzw. sexuelle „Freiheit“ (5) die Familie als kleinste Zelle der
Gesellschaft und richtet damit einen großen moralischen Schaden an.
Dagegen sieht die islamische Lehre für Männer und Frauen verschiedene Aufgaben vor, die sich ergänzen sollen. Der Ehemann hat für
den Unterhalt seiner Ehefrau und Kinder, gegebenenfalls auch anderer
weiblicher Familienangehöriger zu sorgen und ist für diese moralisch
und zum Teil auch rechtlich verantwortlich. Während er in der Regel für
die außerhalb des Hauses anfallenden Tätigkeiten zuständig ist, obliegt
der Ehefrau die Erziehung und Pflege der Kinder sowie die Hausarbeit,
selbst wenn sie aus wirtschaftlichen Gründen auf eine Tätigkeit außerhalb des Hauses angewiesen ist. Außer den genannten Aufgaben
gehört auch zu den Pflichten der muslimischen Frau, ihrem Ehemann
gefügig zu sein und ihm als Unterstützung zur Seite zu stehen .
„Die Männer sind die Verantwortlichen über die Frauen, weil
Allah die einen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil
sie von ihrem Vermögen hingeben.“ (Koran 4:34)
Einige islamistische Kreise fordern den bedingungslosen Gehorsam
der Frau gegenüber ihrem Mann. Ein Beispiel dafür ist folgender Auszug
aus dem Verhaltenskatalog der verbotenen Organisation Kalifatsstaat:
„Die Frau sollte ohne die Erlaubnis ihres Mannes niemals aus
dem Haus gehen. Insbesondere ist es ihr verboten, aufgetakelt und nach Auftragung von Wohlgerüchen auszugehen.
Denn dieser Zustand reizt die fremden Männer. Sie soll ihren
Mann in dem Ehebett niemals allein lassen und solche Leute,
die ihr Ehemann nicht mag, niemals in die Wohnung hereinlassen. (...) Sie soll für ihren Mann und ihre Kinder immer Schönes kochen, den Tisch decken, ihre Wäsche waschen ...“ (6)
14
Auf Grund dieser Aufgabenverteilung ergeben sich für die Privatsphäre
und den öffentlichen Bereich unterschiedliche Spielregeln und Verhaltensweisen. Herrschen im privaten Raum große Diskrepanzen in Bezug
auf Kleiderordnung, Verhaltensweisen u.ä., je nachdem, ob die Familie
religiös, traditionell, weltoffen, modern oder einer bestimmten sozialen
Schicht zugehörig ist, so übt der öffentliche Raum eine erhebliche
soziale Kontrolle aus, die das Verhalten der Individuen anpasst. So
dürfen z. B. Gefühle füreinander in der Öffentlichkeit - auch unter Verheirateten - nicht gezeigt werden. Das Tabuisieren der Privatsphäre dient
in erster Linie dem Respekt gegenüber dem Anderen sowie der
Wahrung des notwendigen Abstands zwischen den Geschlechtern.
Gerade bei traditionellen Familien wird der direkte Kontakt zwischen
Männern und Frauen, die nicht näher miteinander verwandt sind, nicht
selten vermieden. So kommt es vor, dass der Mann gefragt wird, ob
seine Frau etwas trinken oder essen möchte, obwohl diese neben ihm
sitzt. Dieser befremdliche Umstand, der von einem Westeuropäer als
Missachtung der Frau verstanden werden kann, lässt sich nur dadurch
erklären, dass der traditionsbewusste Muslim respektvoll mit seinem
(männlichen) Gegenüber umgeht, indem er dessen Ehefrau nicht direkt
anspricht und sein Verhalten nicht als Missachtung der Frau wahrnimmt. Genauso verhält es sich auch mit dem Blickkontakt. Während
eines Gesprächs kommt es selten zu Blickkontakten zwischen den
Geschlechtern und wenn doch, dann nur flüchtig. Ein längerer fragender Blick eines Mannes wird als Schamlosigkeit und der einer Frau als
Willigkeitsbekundung empfunden. Deshalb wird auch nach koranischer Vorschrift der nach unten auf den Boden gerichtete Blick meistens als angemessen betrachtet:
„Sprich zu den gläubigen Männern, dass sie ihre Blicke zu
Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren sollen. Das ist
reiner für sie. Wahrlich, Allah ist recht wohl kundig dessen,
was sie tun.“ (Koran 24:31)
Im Gegensatz dazu wird über Emotionen, Freundschaft und Zuneigung und alles, was intim ist, in geschlechterspezifischen Gruppen
ziemlich offen geredet. Auch in der Gestik gibt es im Vergleich zu
westeuropäischen Gepflogenheiten weit weniger Berührungsängste.
Die Tatsache, dass zwei Männer oder zwei Frauen Hand in Hand oder
15
Arm in Arm spazieren gehen, deutet keinesfalls auf eine homosexuelle
Beziehung hin, sondern kann als Zeichen einer tiefen Vertrautheit und
Freundschaft gedeutet werden.
Auch das Alter spielt eine große Rolle in den zwischenmenschlichen
Beziehungen. So gebührt den Eltern besonders respektvolles Verhalten
und Verehrung seitens der Kinder. Diese dürfen ihren Eltern weder
widersprechen noch in ihrer Gegenwart vorlaut sein. Ein Verstoß gegen
diese Regel führt nicht selten zum Zerfall des Familienzusammenhalts.
Im Allgemeinen lässt sich dieses Verhaltensmuster auch auf die Beziehungen zwischen den Generationen übertragen und funktioniert nach
dem Motto: Respekt vor dem Alter. Das heißt insbesondere, dass von
jungen Leuten Respekt im Umgang mit älteren Leuten erwartet wird.
Eine vor ihren Kindern ausgesprochene Beleidigung der Eltern gilt als
äußerst verletzendes und beschämendes Verhalten, das noch mehr als
die Eltern die Kinder in ihrer Ehre trifft. In solchen Fällen ist mit einer sehr
heftigen Reaktion vor allem von Seiten der Kinder zu rechnen. Der
Ehrbegriff nimmt eine zentrale Position im Familien- und Gesellschaftsgefüge ein. Der Ruf und das Ansehen stehen und fallen mit der Ehre.
Dieses Phänomen ist nicht spezifisch für islamische Gesellschaften;
auch manche europäisch-mediterrane Gesellschaften kennen es.
Besonders die Frau wird durch ihr Verhalten oder durch ihre Einstufung als „leichtes Opfer einer Vergewaltigung“ beispielsweise als
Gefahrenquelle für die Ehre der Familie angesehen. Um dem zuvorzukommen, wird auf die Sittsamkeit und die vermeintlich schützende
Funktion islamischer Kleidungsvorschriften zurückgegriffen.
3.4
Bekleidungsvorschriften
Die Zugehörigkeit zu einer Volks-, Religions- oder Berufsgruppe, der
wirtschaftliche oder soziale Status, eine politische Haltung oder auch
die Lebenseinstellung können über die Art und Weise der Bekleidung
zum Ausdruck gebracht werden. Das vielleicht sichtbarste Symbol des
Islam ist bei Frauen der so genannte Schleier in seinen verschiedensten regionalen Varianten wie Schador, Burka, Hidjab oder Tobe. Als
ein Teil des Schleiers ist das Kopftuch anzusehen.
16
Manche Muslime sehen im Schleier „ein Mittel, um größere Nähe zu
Allah zu erlangen“, was gleichzusetzen ist mit dem Verrichten freiwilliger Gebete oder dem Fasten an nicht vorgeschriebenen Tagen. Der
Schleier ist ein bewusster Akt der Unterwerfung und des Gehorsams“ (7) gegenüber Gott. Durch das Tragen des Schleiers in der
Öffentlichkeit wird ein offenes, selbstbewusstes Bekenntnis zum Glauben signalisiert.
Die Anweisungen hierfür finden sich auch im Koran:
„Und sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke zu
Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren sollen, und
dass sie ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen, bis auf das,
was sichtbar sein muss, und dass sie ihre Tücher über ihren
Busen ziehen sollen und ihre Reize vor niemandem enthüllen
als vor ihren Gatten, oder ihren Vätern, oder den Vätern ihrer
Gatten, oder ihren Brüdern, oder den Söhnen ihrer Brüder,
oder den Söhnen ihrer Schwestern, oder ihren Frauen, oder
denen, die ihre Rechte besitzen, oder solchen von ihren
männlichen Dienern, die keinen Geschlechtstrieb haben, und
den Kindern, die von der Blöße der Frauen nichts wissen.
Und sie sollen ihre Füße nicht zusammenschlagen, so dass
bekannt wird, was sie von ihrem Zierat verbergen. Und bekehrt euch zu Allah insgesamt, o ihr Gläubigen, auf dass ihr
erfolgreich seid.“ (Koran 24:32)
Neben dem Gedanken der Keuschheit besitzt der Schleier auch andere
Funktionen, wie beispielsweise die Schutzfunktion, die in einem anderen Koranvers zum Ausdruck kommt:
„O Prophet! Sprich zu deinen Frauen und deinen Töchtern
und zu den Frauen der Gläubigen, sie sollen ihre Tücher tief
über sich ziehen. Das ist besser, damit sie erkannt und nicht
belästigt werden. Und Allah ist allverzeihend, barmherzig.“
(Koran 33:60)
Vom traditionellen Schleier der muslimischen Frauen, der sich von
Land zu Land und von Region zu Region unterschied, setzte im Laufe
der letzten zwei Jahrzehnte, insbesondere nach der islamischen Revo17
lution im Iran, eine regelrechte Entwicklung zu einem mehr oder minder einheitlichen Aussehen ein.
Vom ursprünglichen Sinn der Keuschheitsbewahrung und der Schutzfunktion entwickelte sich der Schleier allmählich zum Politikum, das
sowohl in den islamischen Ländern als auch in der westlichen Gesellschaft die Gemüter bewegt. In jüngster Zeit hat die Frage, ob muslimische
Frauen Kopftücher am Arbeitsplatz tragen dürfen, die obersten Verwaltungs- und Arbeitsgerichte in Frankreich, in der Schweiz und in Deutschland beschäftigt und wird die Gerichte vermutlich auch weiterhin beschäftigen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
24. September 2003 kann durch Landesrecht das Tragen eines Kopftuchs in der Schule und im Unterricht für Lehrkräfte verboten werden,
weil das Kopftuch als politisches Symbol verstanden werden kann.
Unter welchen Umständen sich Frauen für die islamische Tracht entscheiden, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Der wohl wichtigste
Einflussbereich ist der der Familie. Je religiöser und traditioneller die
Familie ist, desto früher fangen die Mädchen mit dem Tragen des
Schleiers an. Dies geschieht oft auch auf Druck der Familie. Es kommt
vor, dass eine Frau sich aus Überzeugung dafür entscheidet und im
Nachhinein versucht, die Mutter zu überzeugen, die zuvor keinen
Schleier getragen hat. Die zweite Einflusssphäre ist die der Schule
oder Universität, wo manche junge Frauen unter Zugzwang bezüglich
ihrer Mitschülerinnen bzw. Kommilitoninnen stehen. Wie viel Überzeugung oder bloße Nachahmung - als Mode-Erscheinung gewissermaßen - dahinter steckt, ist nicht auszumachen. Die dritte Einflusssphäre
sind islamische Organisationen, die das Tragen des Kopftuchs auch
als Ausdruck des Willens zur politischen Veränderung im Sinn des
Korans und der Scharia verstehen.
Durch die Entscheidung, islamische Kleidung zu tragen oder nicht zu
tragen, kann die muslimische Frau unter Druck geraten. Kleidet sie sich
europäisch, nimmt sie in Kauf, sich in bestimmten Kreisen ihrer eigenen Gemeinde dem Vorwurf einer lockeren moralischen und un-islamischen Haltung auszusetzen. Entscheidet sie sich aber bewusst für die
islamische Tracht, setzt sie sich dem Vorwurf der Unterdrückung bzw.
Unterwerfung und der Integrationsunfähigkeit durch die westliche
Mehrheitsgesellschaft aus.
18
Auswirkungen hat das Kleidungsstück für Mädchen im Schulalter ab
etwa der dritten Klasse. Da die Geschlechtertrennung in der Schule
nicht gewährleistet ist, versuchen Eltern verschleierter Schülerinnen,
eine Befreiung vom Sport- oder Schwimmunterricht zu erreichen, weil
dort die Mädchen angehalten würden, den Kopf bzw. den Körper
durch das Tragen von Sportkleidung, Badeanzug oder Bikini zu entblößen. Hier sind die jungen Mädchen einer doppelten Belastung seitens der Familie und der Schule ausgesetzt, die bis zur Ausgrenzung
führen kann.
3.5
Verbotene Speisen und Getränke
Der Verzehr von Schweinefleisch ist für Muslime nicht erlaubt. Darauf
haben sich firmen- und schuleigene Kantinen eingestellt. Sie bieten
auch Gerichte an, die kein Schweinefleisch (8) enthalten.
„Sprich: Ich finde in dem, was mir offenbart ward, nichts, das
einem Essenden, der es essen möchte, verboten wäre, es sei
denn von selbst Verendetes oder vergossenes Blut oder
Schweinefleisch - denn das ist unrein - oder Verbotenes,
über das ein anderer Name angerufen ward als Allahs. Wer
aber durch Not getrieben wird - nicht ungehorsam und das
Maß überschreitend -, dann ist dein Herr allverzeihend, barmherzig.“ (Koran 6:145)
Weniger bekannt ist die Tatsache, dass der Verzehr von Fleisch eines
nicht nach islamischem Ritus geschlachteten Tieres (Schächten) für
einen gläubigen Muslim nicht erlaubt ist, auch wenn es sich um Rind-,
Lamm-, Hammel- oder Geflügelfleisch handelt. „Halal“ bedeutet im religiösen Sinn „erlaubt“ und ist nur das Fleisch eines nach islamischer Vorschrift geschächteten Tieres. Die Bemühungen islamischer Organisationen, eine Sondererlaubnis zum Schächten in Deutschland zu bekommen, scheiterten lange Zeit am Widerstand von Tierschutzorganisationen, die darin Tierquälerei sehen. Das führte dazu, dass Fleischwaren
mit dem Label „Halal“ aus dem benachbarten Ausland (z. B. Frankreich, Holland), wo Ausnahmegenehmigungen existieren, importiert wurden und dass die Muslime in Deutschland ihre Fleischwaren oft nur über
ausgewählte türkische Läden bezogen, die diese „Halal-Waren“ vertrie19
ben haben. Diese Situation änderte sich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2002, nach dem muslimische Metzger
eine Ausnahmegenehmigung für das Schächten erhalten können.(9)
Auch alkoholhaltige Getränke und Speisen sind generell verboten:
„O die ihr glaubt! Wein und Glückspiel und Götzenbilder und
Lospfeile sind ein Greuel, ein Werk Satans. So meidet sie allesamt, auf dass ihr Erfolg habt.“ (Koran 5:90)
Ein Hadith des Propheten erweitert den Begriff Wein auf alle Getränke,
die berauschen bzw. den Verstand trüben. Bei strenger Auslegung
darf ein gläubiger Muslim nicht einmal mit Personen zusammen an
einem Tisch sitzen, die gerade Alkohol trinken. Der Kauf, Transport
oder Verkauf von alkoholischen Getränken ist verboten.
3.6
Das Reinheitsgebot
Das Gebet verlangt, alle Unreinheiten durch Waschungen zu beseitigen.
Zu den unreinen Dingen gehören verbotene Speisen und Getränke,
tierische und menschliche Ausscheidungen sowie das Berühren
bestimmter Tiere, wie beispielsweise Schweine und Hunde. In einem
Hadith habe der Prophet gesagt:
„Die Engel gehen in kein Haus, in dem ein Hund ist oder in
dem sich Bilder befinden.“ (10)
Wegen dieser Verunreinigungen bedarf es der so genannten kleinen
Waschung (Wudhu´ = mit Wasser - oder auf Reisen, wenn kein Wasser
vorhanden ist, mit einem Stein - den Intimbereich, die Hände bis zu den
Unterarmen, das Gesicht, die Ohren, die Haare und die Füße abreiben).
Ist auch die Kleidung verschmutzt, muss sie gleichfalls gereinigt werden. Größere Verunreinigungen bedürfen einer Ganzkörperwaschung,
wie sie auch traditionell vor dem Freitagsgebet vorgenommen wird.
Zu diesen rituellen Waschungen - wie auch bei der Waschung nach
der Notdurft - wird die linke Hand benutzt. Deshalb werden beispielsweise Speisen auch nur mit der rechten Hand weitergereicht. In einem
20
weiteren Hadith sagte der Prophet Mohammed zu einem Jungen, der
unter seiner Vormundschaft stand:
„O mein Junge! Sag zuerst: ,Im Namen Gottes‘, nimm dann
beim Essen nur die rechte Hand und greif nur in die Schüssel, die dir am nächsten ist.“ (11)
Vor dem Betreten eines Hauses, das mit Teppichen ausgelegt ist, zieht
der Besucher gewöhnlich die Schuhe aus. In größeren Städten ist
diese Sitte allerdings schon fast verloren gegangen. Besteht Unsicherheit, ob die Schuhe ausgezogen werden sollen, orientiert man sich am
besten am Gastgeber.
4.
Identität und Kommunikation
4.1
Namensgebung
Die Vorschriften zur Namensgebung in der islamischen - insbesondere
in der arabischen - Welt unterscheiden sich in erheblichem Maße von
den in Europa gültigen Regelungen. Abgesehen von der Schwierigkeit,
arabische Namen in lateinische Schrift zu übertragen, existieren auch
in den einzelnen Ländern verschiedene Traditionen der Namensgebung.
Der arabische Name besteht aus mehreren stammbaumähnlichen Teilen, die auf die jeweilige Person, deren Vater oder Mutter, Großvater,
Urgroßvater hinweisen. Er enthält aber auch manchmal Bezeichnungen für die Familie, den Stamm, die Herkunft, eine Berufsbezeichnung
oder eine bestimmte Eigenschaft, wie aus der Tabelle auf Seite 22
dieser Ausarbeitung ersichtlich wird.
Die Zusammensetzung und die Reihenfolge der verschiedenen
Namensteile ändern sich je nach der Situation, in der sich die jeweilige
Person befindet. Im privaten wie im öffentlichen Bereich werden oft
nur die Teile aus den Spalten A (Name) und B (Vatername) oder auch
aus A und E der Tabelle gebraucht. Die Namen zur Person sowie des
Vaters und Großvaters werden aneinander gereiht. Im Personalausweis
oder Reisepass sollen sämtliche Namen eingetragen sein. Das Verwandtschaftswort Ibn (Sohn von) ist heute kaum noch gebräuchlich.
21
C
A
Abu =
Vater von
B
Ibn/Ben =
Sohn von
Vorname
Umm =
Mutter von
Großvater
Bint =
Tochter von
Mohammed Ibn Ahmed
Abu Osman
D
Nasr
Ibrahim
Ahmed
Abdallah
Iman
Bint Ali
E
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
Urgroßvater
Familie
Stamm
Herkunft
Berufsbezeichnung
bes. Eigenschaft
Ibn Zaid
Ibn Omar (1)
= Sohn von Omar
Sayyed
Shalabi (2) = Eigenname
al-Kureishi (3)
= vom Stamm Qureisch
Rida
al-Mekki (4)
= der Mekkaner
Abu Amar
Hamza
Haddad (5)
= Schmied
Umm
Mostafa
Fatima
al-Adib (6)
= der Höfliche
Namen mit den Bezeichnungen Abu oder Umm werden im Zusammenhang mit dem Namen des Erstgeborenen gebraucht und haben
daher keinen offiziellen Status. Allerdings ist es üblich, in bestimmten
künstlerischen, politischen oder islamistischen Kreisen sich einen so
genannten Künstlernamen oder „Kriegsnamen“ zuzulegen. So nennt
sich beispielsweise eine der berühmtesten ägyptischen Sängerinnen
Umm Kalthum [Umm Kalsum]. Jassir Arafat heißt unter Arabern Abu
Amar und der radikale Imam der Baker-Street-Moschee in London
Omar Abu Omar kurz Abu Qatada. Die Voranstellung des Abu- oder
Umm-Zusatzes ist in einigen Ländern (z. B. in Ägypten) weit verbreitet;
deshalb wurde die Spalte C in der Tabelle vorangestellt.
Im europäischen Umfeld wird ein längerer Name oft angepasst und
auf die im privaten Bereich gebräuchliche Form reduziert. So könnte
22
beispielsweise ein fiktiver Name Abdulaziz Yahia Ahmed Samed kurz
Aziz Samed heissen.
Die Reformanstrengungen in einigen Ländern des Nahen Ostens seit
den fünfziger Jahren haben zwar eine Annäherung an die europäische
standesamtliche Praxis mit sich gebracht, aber lassen noch keine
Standardisierung erkennen. Anders verhält es sich mit Namen von Angehörigen der nordafrikanischen Staaten Tunesien, Algerien, Marokko
und Mauretanien. Schon während der Kolonialzeit wurde eine europäisierte standesamtliche Praxis eingeführt. Nach französischem Modell
war jede Familie gehalten, sich einen Familiennamen auszusuchen und
wurde mit diesem ins Standesregister eingetragen. Die französischen
standesamtlichen Vorschriften wurden auch nach der Unabhängigkeit
dieser Staaten nicht geändert, so dass heute eine relativ einheitliche
Namensstruktur bestehend aus Familiennamen, Vornamen und selten
noch einem zweiten Vornamen existiert.
4.2
Sprache und Schrift
In der lateinischen Schreibweise bestehen auf Grund der Kolonialgeschichte erhebliche Unterschiede zwischen nordafrikanischen
Namen und denjenigen aus dem Mittleren Osten. So werden nordafrikanische Namen französisch und Namen aus den übrigen arabischen
Ländern eher Englisch geschrieben. Die folgende Tabelle zeigt die
wichtigsten Unterschiede auf:
Arabisch
Deutsch
Französich
Englisch
i
i
ee/i
u
ou
u/oo
sch
ch
sh
dsch
dj
j
Al-
El-
Al-
d/z
dh
z
23
Die Vielfalt zeigt sich auch bei den Sprachen und Dialekten. Zu den
großen Sprachgruppen gehören Bahasa Indonesia, Dari, Urdu, Farsi
(Persisch), Türkisch und Arabisch. Auch wenn mittlerweile die heiligen
Schriften der Muslime in viele Sprachen übersetzt worden sind, bleibt
das Arabische nach wie vor die sakrale Sprache, in der liturgische
Texte gelesen bzw. rezitiert werden.
Selbst in der arabischen Welt sind große Unterschiede zwischen der
gesprochenen und der geschriebenen Sprache zu finden, die sogar
die Kommunikation unter Arabern zum Teil erschweren. Zu den überregionalen Sprachräumen kann man die Arabische Halbinsel, den Irak,
die Levante, Ägypten und Nordafrika zählen. Die Verständigung zwischen den einzelnen Sprachräumen wird schwieriger, je weiter sie voneinander entfernt sind. Ein Syrer versteht einen Marokkaner genauso
wenig wie beispielsweise ein Ostfriese einen Schweizer-Deutschen.
Dem ägyptischen Dialekt kommt dank zahlreicher Fernsehserien, die
fast in allen arabischen Ländern gesehen werden, eine überregionale
Bedeutung zu.
Oft ist ein Rückgriff auf die arabische Hoch- und die Schriftsprache
notwendig. Die arabische Schriftsprache geht auf sprachliche Festlegungen aus dem siebten Jahrhundert (Entstehung des Islam) zurück.
Sie hat im Gegensatz zu arabischen Dialekten bis auf wenige Ausnahmen (Ableitungen, Fremdwortentlehnungen seit dem 19. Jahrhundert)
keine natürliche Entwicklung im sprachwissenschaftlichen Sinn erfahren. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass Gefahr besteht, die Botschaft des Korans zu entfremden. Der Koran ist Gotteswort und darf
deshalb auch sprachlich nicht reformiert werden. Diese sprachliche
Zweiteilung führt oft dazu, dass ein Araber ein eher negatives Verhältnis zu seiner Muttersprache hat. Diese wird als falsch und regellos
wahrgenommen und nur für den Alltag tauglich angesehen. Zur Hochsprache hingegen hat er ein positives Verhältnis, da er in ihr eine Zivilisations- und Gelehrtensprache sieht.
Über die Symbolkraft des Hocharabischen als Einheitssprache aller
arabischen Länder hinaus gewinnt es im Zug der Internationalisierung
des islamistischen Phänomens zunehmend die Bedeutung einer „Lingua
franca“ (= Verkehrssprache) aller Muslime.
24
5.
Islam und Islamismus
Islamisten stellen zahlenmäßig einen kleinen Bruchteil der muslimischen
Bevölkerung dar. Zu ihren Strategien gehört u. a. die Tatsache, dass sie
durch politische Agitation und dank der Medien allgegenwärtig zu sein
scheinen und somit in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte rücken.
Für die meisten Muslime bedeutet der Islam vor allem Religion. Selbst
wenn dieser Glaube normative Ansprüche für alle Lebensbereiche beinhaltet, bleibt er für viele noch eine Privatsache. Rechenschaft wird
nur gegenüber Gott abgelegt.
Im Gegensatz dazu verstehen Islamisten unter dem Begriff Islam eine
politische Ideologie, die beansprucht, die Probleme der muslimischen
Welt lösen zu können. Ihr Lösungskonzept ist denkbar einfach:
Die geringere Entwicklung der islamischen Welt wird mit der Distanz
zur Buchstabentreue gegenüber den religiösen Vorschriften erklärt.
Die Rückkehr zu einer möglichst wörtlichen Auslegung ist der Grundstein zur Wiedererrichtung eines islamischen Staates oder des Kalifats
nach dem zur Utopie verklärten Modell der ersten islamischen Urgemeinde unter der Führung des Propheten.
Durch die Ausdehnung der religiösen Vorschriften (Scharia) auf alle
gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen wird der Islam von
der privaten in die öffentliche Sphäre verlagert.
Ein Kernpunkt der islamistischen Ideologie ist der Begriff „Umma“,
was soviel wie islamische Nation oder Gemeinschaft aller Muslime heißt.
Entscheidend ist, dass die Umma keine nationalstaatliche Bedeutung
hat, sondern eine transnationale Verbindung aller Muslime zu einer Art
Solidargemeinschaft erzeugt. Sie ist somit die Familie aller Muslime und
die Muslime sind untereinander Brüder. Deshalb haben beispielsweise
die ägyptischen Islamisten die Bezeichnung „Muslimbrüder“ gewählt.
Die Islamisten erheben mit ihrem Leitspruch „Al-Islam hua el-Hell“
(= der Islam ist die Lösung) den Anspruch, allein im Besitz der Wahrheit und des Lösungsschlüssels für die Probleme der Muslime und
25
der Welt zu sein. Zur Verwirklichung dieses Vorhabens verpflichten sie
alle Muslime zur Solidarität, auch zur finanziellen Unterstützung, zur
„Verbreitung des guten Worts“ genannt Da’wa bzw. Mission oder
zum Djihad, der durch manchen Islamisten in seiner militärischen
Bedeutung kurzerhand zum zweitwichtigsten Element des Islam erklärt wird.
5.1
Ursprünge des Islamismus
Zweifellos zählt die so genannte Verschwörungstheorie (Arabisch =
Mu’amara), nach der sich der Westen und die Juden gegen den Islam
und die Muslime verschworen haben, um deren Länder zu annektieren, ihre Reichtümer zu plündern und den Islam zu zerstören, zu den
wichtigsten Entstehungsgründen des Islamismus. Diese Theorie, die in
weiten Teilen der islamischen Welt nach wie vor als Erklärungsversuch
der eigenen Unterlegenheit herangezogen wird, bezieht sich auf sämtliche Niederlagen der arabisch-islamischen Welt, angefangen bei den
Kreuzzügen (12), über die Kolonialherrschaft, bis hin zu den arabisch-israelischen Kriegen, aber auch auf den Golfkrieg gegen den Irak und
die Intervention in Afghanistan.
Der Einfluss des Westens auf die islamischen Länder wird als Kulturinvasion dekadenter Art wahrgenommen und abgelehnt. Zu den Merkmalen dieses moralischen Verfalls zählen u. a. Materialismus, Individualismus, sexuelle Zügellosigkeit, Alkoholismus und Arroganz, die als
Ergebnis der Demokratisierung der westlichen Gesellschaften interpretiert wird. Folglich wird die Unvereinbarkeit der westlichen Werte (einschließlich der Demokratie) mit dem Islam immer wieder betont.
5.2
Sprachliche Doppeldeutigkeit
Bei vielen Islamisten, die in westlichen Gesellschaften leben, zeigt sich
bei der Verwendung des Begriffs Demokratie eine Doppeldeutigkeit.
Ein Islamist, der diesen Begriff benutzt, denkt nicht unbedingt an die
Volkssouveränität oder an Mehrheitsentscheidungen. Die Basis für die
Demokratie sieht er im islamischen Begriff Schura; die Souveränität
dagegen ist allein die Sache Gottes, als dem obersten Gesetzgeber.
26
Die Grundsätze unseres politischen Systems werden von Islamisten
nur bedingt durch ihren Minderheitenstatus in einer westlichen Gesellschaft akzeptiert. Aus ihrer Perspektive lautet die Frage nicht, ob die
Grundsätze des Islam mit dem Grundgesetz oder den Menschenrechten vereinbar sind, sondern ob eine Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen System aus islamischer Sicht zulässig ist. Die Kollision
verschiedener Wertesysteme ist hier unvermeidlich und führt oft dazu,
dass auch Ansätze gut gemeinter Anpassungs- und Integrationsversuche (13) unglaubwürdig wirken, wie es selbst aus anderen islamistischen
Kreisen anhand folgender im Internet (14) verbreiteten Reaktion ersichtlich ist:
„So wie wir uns von der Parole ,Wir sind Teil der Gesellschaft!’ distanzieren, nehmen wir auch Abstand von der als
Muss dargestellten Integration einer Minderheit in die Gesellschaft. (...) Muslime lehnen die Demokratie und die mit ihr
eng verbundenen Begriffe Pluralismus und Menschenrechte
ab, nicht weil es sich hier um Fachbegriffe nicht-arabischen
Ursprungs handelt. Viel mehr basiert die Ablehnung darauf,
dass ihre Bedeutung, samt ihrer Konzepte, dem Islam widerspricht.“
Diese kompromisslose Grundhaltung spiegelt auch die Grundsatzdebatte wider, die innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zwischen
Gemäßigten und Radikalen geführt wird.
Wesentlich für die Erörterung von Begriffen im islamistischen Sinn ist
der Einsatz einer gezielt verdeckten Sprache insbesondere in westlichen Gesellschaften. Die Lüge ist zwar eine Sünde im Islam und somit
verboten; allerdings sehen es manche Muslime als erlaubt an zu lügen, wenn damit die Interessen des Islam gewahrt werden. Ursprünglich benutzten nur die Schiiten die als Takiyya bekannte Verschleierungstaktik zum Selbstschutz. Wenn sie sich in einer schiiten-feindlichen Umgebung befanden, durften sie zur Tarnung und zum Selbstschutz ihre eigene Identität verleugnen. Die Ausweitung der Takiyya
auf andere islamistische Gruppen geht einher mit der Verbreitung des
Islamismus in den letzten Jahrzehnten und beruht auf dem Bestreben
der Mitglieder islamischer Organisation insbesondere in westlichen
Gesellschaften, nicht des Extremismus verdächtigt zu werden.
27
6.
Zusammenfassung
Die in dieser Ausarbeitung beschriebenen Verhaltensweisen geben nur
einen kurzen Auszug aus den religionsimmanenten Regeln wieder, die
das Leben gläubiger Muslime bestimmen. Eine Reihe anderer regionaler Kulturelemente, auf die auf Grund ihrer Vielfältigkeit im Rahmen
dieser Abhandlung nicht näher eingegangen werden konnte, ist im
Einzelfall genauso entscheidend.
Kulturelle Missverständnisse sind nicht selten der Grund für Fehleinschätzungen und Zuspitzungen in Situationen, die auf den ersten Blick
zunächst als harmlos erscheinen. So sind sich die beteiligen Akteure
auf beiden Seiten (Muslime und Nichtmuslime) oft keiner Schuld bewusst, wenn es beispielsweise zum Scheitern eines Gesprächs oder
zu einer unerwarteten Eskalation kommt.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass Hintergrundwissen über
Religion, Kultur und typische Verhaltensmuster der Muslime allein
nicht ausreicht. In der konkreten Situation ist ein gewisses Maß an
Menschenkenntnis und Fingerspitzengefühl unerlässlich.
28
7.
Glossar
Ahl al-Kitab
„Leute des Buchs“ (Glaubensgemeinschaften der Christen
und Juden, die im Besitz einer heiligen Schrift sind)
Da’wa
Aufruf (wörtlich: Einladung zum Islam, d.h. Mission)
Din wa Daula
Prinzip der Einheit von Religion und Staat
Dar al-Harb
Haus des Kriegs, d.h. Land der Feinde, das nicht islamisch
regiert ist
Dar al-Islam
Haus des Islam, d.h. Herrschaftsgebiet der Muslime
Emir
Führer (religiös-militärischer Befehlshaber, in einigen Ländern
Herrschaftstitel)
Emirat
orientalisches Fürstentum
Fatwa
Rechtsgutachten im Islam
Hadith
Überlieferung über Taten und Aussprüche des Propheten
Hadsch
Pilgerfahrt nach Mekka
Hakimiyat Allah
Souveränität Gottes (Gottesherrschaft)
Halal/Haram
Erlaubtes/Verbotenes als Richtlinie für das Handeln der
Muslime
Imam/Hoca (türk.)
Vorbeter, Leiter der Gemeinde
Islam
monotheistische Religion (wörtlich: Hingabe an Gott, Unterwerfung unter seinen Willen)
Islamismus
Aktivierung des Islam und die damit verknüpfte Rückbesinnung auf die Religion als Maßstab individuellen Verhaltens,
gesellschaftlicher Ordnung und politischer Orientierung
Djahiliya
Heidentum, Epoche der „Unwissenheit“ vor der Entstehung
des Islam; für Islamisten „neues“ Heidentum durch „un-islamische“ Herrschaft
Djihad
Glaubensanstrengung, Bemühung, Kampf, Heiliger Krieg
Kalif/Khalif
Nachfolger (des Propheten)
Koran
heiliges Buch der Muslime (wörtlich: Lesung, Vortrag,
Verkündung)
Kufr/Kafir
Unglauben im Gegensatz zum Glauben an den Islam/Ungläubiger
Mohammed
Religionsstifter des Islam, nach islamischer Tradition letzter
den Menschen von Gott gesandter Prophet (570-632)
29
Moschee
Gebetsraum oder -platz der Muslime
Mufti
oberster Rechtsgelehrter mit der Autorität, Rechtsgutachten
(Fatwas) abzugeben
Mudjahidin
eigentlich: Mudjahidun (Glaubenskrieger, militante islamische
Aktivisten/Kämpfer)
Nizam al-Islam
„System des Islam“ (neoislamische Programmformel für
das politisch-gesellschaftliche Konzept des Islamismus)
Ramadan
Fastenmonat der Muslime
Salafiya
anfänglich Richtung des Reformislam nach dem Modell der
ursprünglichen Ordnung des Islam; heute Bezeichnung für
einen radikalen und international ausgerichteten Islamismus
Salat
das Gebet
Sawn
Fastenmonat Ramadan
Schahada
Glaubensbekenntnis
Schahid
Märtyrer
Scharia
islamische Rechtsordnung
Schia/Schiiten
Partei Alis, zweite große Glaubensrichtung im Islam;
beruft sich auf den rechtgeleiteten Kalifen Ali (Schiiten:
Anhänger Alis)
Schura
„Ratsversammlung“ (frühes islamisches Beratungs- und
Entscheidungsgremium des Kalifen)
Sunna/Sunniten
Sammlung der Überlieferungen des Propheten; dient als
Richtschnur des persönlichen, gesellschaftlichen und
staatlichen Handeln der Sunniten (Sunniten: größte Glaubensrichtung im Islam)
Sure
Abschnitt, Kapitel im Koran, der 114 Suren enthält; diese
bestehen aus Versen (Ayat)
Takiyya
Verschleierungstaktik der Schiiten zum Selbstschutz
Tawhid [Tauhid]
Bekenntnis der Einheit Gottes
Ulama
Religionsgelehrte im Islam
Umma
Urform der islamischen Gemeinde (heute: weltweite
Gemeinschaft aller Muslime)
Zakat
Armensteuer, Pflichtabgabe für Bedürftige; eine der
Glaubenspflichten im Islam
30
Anhang
Literaturhinweise
Elger, Ralf (Hrsg.):
Kleines Islam-Lexikon: Geschichte, Alltag, Kultur. Beck, München 2001
Heine, Peter:
Kulturknigge für Nichtmuslime - Ein Ratgeber für den Alltag. Verlag Herder, Freiburg i.B. 2001
Quellenhinweise, Erläuterungen
(1)
Kleines Islam-Lexikon, S.89
(2)
Heine, Peter; S. 33
(3)
Heine, Peter; S. 39
(4)
Heine, Peter; S. 56
(5)
vgl. Khan, Sir Muhammad Zafrullah: Grundsätze der islamischen Kultur, Verlag Der Islam,
Frankfurt a.M. 1995, S. 24
(6)
Cemaleddin Hocaoglu (Kaplan): Stellung der Frau im Islam und ihre besonderen Zustände.
Eine Veröffentlichung des Kalifatsstaats. Köln 1996, S. 114
(7)
Yalniz, Rabia: Über den Schleier, Verlag Der Islam, Frankfurt a.M. 1997, S. 9
(8)
Zu Schweinefleischprodukten zählen gleichfalls Wurstwaren (auch Schinken und Salami), Speck
und Schmalz.
(9)
BVerfG, Urteil vom 15.01.2002, Az. 1BvR 1783/99
(10)
Sahih al-Buhari: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad.
Reclam, Stuttgart 1991, S. 422
(11)
ebenda, S. 376
(12)
Im Sprachgebrauch der Islamisten, insbesondere der al-Qaida, wird der Westen als „Kreuzfahrer“
oder „Kreuzzügler“ in Anlehnung an die Kreuzzüge bezeichnet.
(13)
vgl. die vom Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD) am 20.02.2002 veröffentlichte
„Islamische Charta“; im Internet unter www.islam.de/index.php?site=sonstiges/events/charta
bzw. unter www.islam.de
(14)
vgl. die „Stellungnahme zur Islamischen Charta“ und den „Appell an alle Muslime und
wahrheitssuchenden Menschen“ einer „Gruppe von Muslimen“ vom 10.06.2002 unter
www.al-iman.de/Artikel/Aktuell/Aktuell-Dateien/Stellungnahme_zur_islamischen_Charta.htm
Anmerkung
Die in dieser Ausarbeitung verwendeten Koran-Zitate sind der Übersetzung des Korans durch Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland
entnommen (Verlag Der Islam, Frankfurt a. M. 2001).
31
Herausgeber:
Bayerisches Staatsministerium des Innern
in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz
Odeonsplatz 3, 80539 München
Stand: Dezember 2004
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