Bayerisches Staatsministerium des Innern Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz EINBLICK IN DIE DENK- UND VERHALTENSWEISEN DER MUSLIME DER V E R FA S S U N G S S C H U T Z I N F O R M I E RT VORWORT Jeder Mensch ist durch sein kulturelles Umfeld und seine Herkunft geprägt. So ist - abgesehen von den sprachlichen Barrieren - eine generelle Deckungsgleichheit der begrifflichen Welt und der gesellschaftlichen Werte nicht einmal bei Menschen benachbarter Staaten vorzufinden, geschweige denn bei so unterschiedlichen Kulturkreisen wie die des islamischen und des christlich-europäischen Raums. Viele Muslime in Deutschland leben in diesen zwei Welten. Einerseits bewegen sie sich in unserer westlichen Gesellschaft, andererseits sind sie beeinflusst durch ihre Religion und Abstammung. Religion und Politik, Kirche und Staat sind in den Heimatländern der Muslime eng miteinander verwoben, so dass deren Vorgaben sehr bestimmend sind und sie Einfluss auf das jeweilige Verhalten haben. Der Islam versteht sich nicht als nur gottesdienstliche Handlung, sondern vor allem als Gesellschaftsordnung und Weltanschauung. Jede Handlung des Individuums oder der Gruppe ist in dieses Wertesystem eingebettet. Grundsätzlich setzt jede Begegnung mit Menschen fremder Kulturen die Bereitschaft voraus, sich mit der jeweiligen Fremdenkultur auseinander zu setzen. Denn nur dies ermöglicht uns einen - wenn auch nicht immer wertfreien - Einblick in die Denk- und Verhaltensweisen der Träger dieser Kultur. Genauso müssen auch die Menschen, die dieser fremden Kultur entstammen, sich auf eine eingehende Auseinandersetzung mit der heimischen Kultur ihres Gastlandes einlassen, wollen sie sich länger in diesem Land aufhalten. Mit dieser Ausarbeitung wird versucht, auf die Frage näher einzugehen, inwieweit der Islam das Alltagsleben der Muslime auch in der Bundesrepublik Deutschland beeinflusst und ob daraus verallgemeinernde Verhaltensmuster, die dem besseren Verständnis dienen sollten, abgeleitet werden können. Da allerdings die Bereiche Brauchtum und Religion nicht scharf voneinander abgrenzbar sind, können die 2 folgenden mehr ethnologischen als religiösen Betrachtungen weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Allgemeingültigkeit erheben. Dies gilt allein schon deshalb, weil die etwa 3,2 Millionen Muslime in Deutschland unterschiedlicher Nationalitäten sind und zudem verschiedenen Glaubensrichtungen (z. B. Sunniten, Schiiten, Aleviten) innerhalb des Islam angehören sowie unterschiedliche Auslegungen des Korans für sich als gültig betrachten. Es gilt immer, den einzelnen Fall in seiner Ganzheit und mit seinen Besonderheiten zu erfassen. Die Kenntnis bzw. Beachtung von Grundsätzen der Religion und von Gebräuchen könnten dazu beitragen, dass ein konstruktiver Dialog zwischen Nichtmuslimen und Muslimen zustande kommt. Die obersten Maximen in diesem Dialog sollen stets gegenseitiger Respekt und Höflichkeit sein. 3 INHALTSVERZEICHNIS 1. Islam als Lebens- und Gesellschaftsordnung 5 2. 2.1 2.2 2.3 Die fünf Säulen des Islam Schahada (Glaubensbekenntnis) Salat (Das Gebet) Sawm (Fastenmonat Ramadan) 5 6 6 7 2.4 2.5 Zakat (Wohlfahrts-/Armensteuer) Hadsch (Pilgerfahrt nach Mekka) 8 9 3. 3.1 3.2 Verhaltensmuster gläubiger Muslime Begrüßungsformen Die Begriffe Höflichkeit und Gastfreundschaft 10 10 12 3.3 3.4 Familienleben und Geschlechterrollen Bekleidungsvorschriften 13 16 3.5 3.6 Verbotene Speisen und Getränke Das Reinheitsgebot 19 20 4. 4.1 4.2 Identität und Kommunikation Namensgebung Sprache und Schrift 21 21 23 5. 5.1 Islam und Islamismus Ursprünge des Islamismus 25 26 5.2 Sprachliche Doppeldeutigkeit 26 6. Zusammenfassung 28 7. Glossar 29 Anhang Literatur- und Quellenhinweise 4 31 1. Islam als Lebens- und Gesellschaftsordnung Der Islam versteht sich nicht nur als Religion, sondern auch als eine weit umfassende Welt- und Gesellschaftsordnung, die das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft bis ins letzte Detail reguliert. Die Grundlagen für die vorgegebenen Verhaltensmuster stammen aus dem Koran oder der Sunna (Überlieferung der Aussagen, Taten und Verhaltensweisen des Propheten Mohammed). In Situationen, in denen Hinweise für geeignete Verhaltensmuster für Muslime weder im Koran noch in der Sunna zu finden sind, ist der Rat der islamischen Gelehrten (Fuqaha) gefragt. In einem komplizierten Analogie-Verfahren (z. B.: Was hätte der Prophet oder einer seiner Gefährten in dieser Situation getan?) wird versucht, eine geeignete Lösung zu finden. Ein kurzer Blick ins Lexikon lehrt uns Folgendes über die Ethik des islamischen Glaubens: „Die für alle Muslime geltenden Lehren über das moralisch richtige Verhalten gebieten u. a. Gottesfurcht und -verehrung, Demut, Gutes zu tun und Böses abzuwehren, Gerechtigkeit zu üben, Solidarität zwischen den Muslimen walten zu lassen, Bedürftigen Hilfe zu gewähren, Pietät gegenüber Eltern zu wahren und Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft nachzukommen. Sie fordern Gastfreundschaft und formulieren Grundsätze einer Sexualmoral“ (1). 2. Die fünf Säulen des Islam Die Erwähnung des Namens Gottes am Anfang jeder Tätigkeit (essen, waschen, arbeiten usw.) zeigt die enge Verknüpfung zwischen dem Sakralen und Profanen im Leben eines jeden Muslims. Die moralischen Grundsätze des Islam finden ihren Ausdruck u. a. in der täglichen Praxis der religiösen Pflichten, den so genannten fünf Säulen des Islam, die das Verhalten und Leben der Muslime nachhaltig prägen. Sie sind der gemeinsame Nenner, in dem sich alle Muslime trotz aller Unterschiede wieder finden. 5 2.1 Schahada (Glaubensbekenntnis) Um sich zum Islam zu bekennen, bedarf es keiner großen Formalitäten. Es reicht zunächst, wenn man das Glaubensbekenntnis vor zwei muslimischen Zeugen ausspricht. Wer bezeugt „es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Gesandter“, ist de facto ein Muslim. Und wer einmal ein Muslim ist, darf nie wieder von seinem Glauben abfallen. Geschieht dies jedoch, dann gilt er als Apostat bzw. Ketzer, der laut der Scharia den Tod verdient. Das Glaubensbekenntnis vor allem im Originallaut (Aschhadu anna la ilaha illa Llah ua aschhadu anna Muhamadan Rrassul Llah) auszusprechen, auch wenn es nur im Spaß ist, könnte unangenehme Folgen nach sich ziehen. Für einen Muslim ist ein scherzhafter Umgang mit seiner Religion nicht hinnehmbar. 2.2 Salat (Das Gebet) Das Gebet gilt im Islam als unmittelbare Verbindung zwischen dem Menschen und Gott. Fünf Gebetszeiten pro Tag sind vorgeschrieben: das Früh- (Fadschr), Mittags- (Dhohr), Nachmittags- (`Asr), Abend(Maghrib) und Nachtgebet (Ischa). Bevor der Gläubige zum Gebet bzw. vor Gott tritt, vollzieht er rituelle Waschungen, die sowohl seine physische wie spirituelle Reinheit wiederherstellen. Das Gebet selbst besteht im Wesentlichen aus einem bestimmten Ablauf von Bewegungen (stehen, sich beugen, mit der Stirn den Boden berühren und sitzen), und aus der Rezitation einiger Suren aus dem Koran. Während des Gebets darf der Gläubige - auch in dringenden Fällen - durch nichts und niemanden gestört werden. Der Betende richtet sich stets gen Mekka (Qibla), egal wo er sich auf der Welt befindet. So haben die Gebetsräume in den Moscheen auch immer - von Deutschland aus gesehen - eine südöstliche Ausrichtung. Schwierig für die meisten Muslime in Deutschland ist die Einhaltung der vorgegebenen Gebetszeiten, da diese an Werktagen unvermeidlich mit den Arbeitszeiten kollidieren. Für diesen Fall ist es erlaubt, die Gebete, die tagsüber unterblieben sind, am Abend nachzuholen oder sie an jedem beliebigen Ort, der einigermaßen sauber ist - hier kann sowohl ein Teppich wie auch Zeitungspapier weiterhelfen - zu verrich6 ten. Noch schwieriger gestaltet sich das Abhalten des Freitagsgebets, das als einziges Pflichtgebet in der Moschee gilt. Dieses Gebet soll im Gegensatz zu allen anderen Gebeten nach der Freitagspredigt um etwa 14.00 Uhr gemeinsam mit anderen Gläubigen verrichtet werden. Dies ist jedoch nur einer Minderheit von Ladeneigentümern, Freiberuflern, Arbeitslosen, Rentnern und Studenten möglich. Die Mehrzahl der Gläubigen handelt dann wie bei den übrigen Gebetszeiten, da sie an diesem Umstand nichts ändern können. Für besondere Anlässe, bei denen die Präsenz in der Moschee notwendig wird, wie zum Eid-Fest (Türkisch auch Seker Bayrami = Zuckerfest genannt), wird dann extra frei genommen. Die Komplikationen beim Freitagsgebet sind für die meisten Muslime, die aus einem islamischen Land stammen, jedoch nicht neu, denn der Freitag ist in den wenigsten islamischen Ländern ein gesetzlicher Feiertag. Nur in diesen Ländern dürfen die Gläubigen ihre Arbeitsplätze für die Zeit des Gebets verlassen. 2.3 Sawm (Fastenmonat Ramadan) Der Fastenmonat Ramadan ist eine der heiligsten Säulen des islamischen Glaubens. Das Fasten stellte ursprünglich ein Symbol des Kampfs gegen die eigenen Gelüste und Egoismen dar. Es soll die Solidarität und das Mitgefühl für die mittellosen Mitmenschen stärken und durch Enthaltsamkeit den wahren Glauben an Gott prüfen. Der Ramadan ist der wichtigste Monat des islamischen Mondkalenders. Im Jahr 2004 dauerte das Fasten vom 15. Oktober bis zum 13. November. Da das Mondjahr um zehn Tage kürzer als das Sonnenjahr ist, fasten Muslime jedes Jahr zehn Tage früher als im Vorjahr. Während dieses Monats dürfen die Gläubigen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weder flüssige noch feste Nahrung zu sich nehmen. Darüber hinaus darf weder geraucht noch geschimpft werden. Auch in Bezug auf Geschlechtsverkehr soll äußerste Enthaltsamkeit eingehalten werden. Diese asketische Übung dient außer der Reinheit des Körpers und Geistes dazu, das nachzuempfinden, was arme Leute das ganze Jahr über entbehren müssen. Fasten darf jeder der kann, das heißt, in der Regel auch Kinder ab 14 Jahren. Ausnahmen gelten für Kranke und 7 Reisende, Schwangere oder jene Frauen, die ihre Menstruation (Reinheitsgebot) haben. Diese Personen sollen aber ihre Pflicht nachholen, sobald es die Umstände erlauben. In der Realität werden die guten Vorsätze nicht selten ins Gegenteil verkehrt. In allen islamischen Gesellschaften ist das Konsumverhalten während des Ramadan um ein Vielfaches höher als zur übrigen Zeit des Jahres. Bei Sonnenuntergang wird das Fasten unterbrochen; dann darf wieder nach Herzenslust getrunken, gegessen und geraucht werden bis zum nächsten Sonnenaufgang. Dadurch wandelt sich die Nacht nicht selten zum Tag. Diese Nachtaktivitäten wirken sich freilich negativ auf die Berufswelt aus. Abgesehen davon, dass das tägliche Arbeitspensum und die zu erwartende Leistung stark abnehmen, passieren gerade in dieser Zeit nicht selten Arbeitsunfälle (2). Viele Menschen reagieren gereizter als sonst, obwohl sie eigentlich um ein korrektes und konfliktfreies Verhalten bemüht sind. Die Bedeutung des Fastenmonats ist für Muslime nicht zu unterschätzen. Auch diejenigen, die ansonsten ihren Glauben nicht praktizieren, zeigen sich in dieser Zeit von ihrer religiösesten Seite, was die Einhaltung der Fastenvorschriften anbelangt. Eine Taktlosigkeit wird beispielsweise darin gesehen, aus Unwissen dem Fastenden in den für das Fasten in Frage kommenden Zeiträumen etwas zum Trinken oder Essen anzubieten oder gar Speisen und Getränke selber vor ihm einzunehmen. Schlimmer noch wäre es, sich vor einem fastenden starken Raucher eine Zigarette anzuzünden. Selbst in solchen Fällen reagiert ein gläubiger Muslim indes mit Gelassenheit, weil er „die Versuchung“ als Prüfung der Festigkeit seines Glaubens auffasst. Angesichts der besonderen Belastung für den Fastenden wird mehr Verständnis für etwaige Nachlässigkeiten als sonst erwartet. 2.4 Zakat (Wohlfahrts-/Armensteuer) Zur so genannten Wohlfahrts- oder Armensteuer ist jeder Muslim verpflichtet, der über mehr als das Mindestmaß zur Existenzsicherung 8 verfügt. Die Abgabe, die auf ungefähr 2,5 % des erwirtschafteten Jahreseinkommens beziffert wird, soll bedürftigen Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, zugute kommen. Diese solidarische Ausgleichshandlung zwischen Wohlhabenden und Bedürftigen wird unterschiedlich gehandhabt. Da es im Islam keine vergleichbare Institution wie die Kirche gibt, wird diese Steuer in manchen Ländern direkt vom Staat erhoben und zweckgebunden umverteilt. Meistens werden jedoch die Gläubigen am ersten Feiertag nach dem Ramadan (Eid-ul-Fitr = kleines Eid-Fest, Türkisch: Ramazan Bayrami) oder während des Ramadan selbst aufgerufen, ihrer Pflicht nachzukommen. Neben dieser Pflichtabgabe gibt es das Almosen (Sadaqa), das freiwillig, zu jeder Zeit und je nach den materiellen Möglichkeiten in beliebiger Höhe oder als Sachspende entrichtet werden kann. Auch Menschen, die auf Grund besonderer Umstände in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind, kann auf diese Art geholfen werden. Allerdings ist in diesen Fällen Rücksicht auf das Ansehen und die Empfindlichkeit des Bedachten zu nehmen (3). Die Hilfe soll möglichst anonym übermittelt werden, das heißt, ohne die in Not geratene Person oder Familie in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Weit taktvoller ist die Tarnung der Hilfe als Rückzahlung einer alten Schuld, da ja jeder in eine solche Situation geraten könnte und selber dann auf die Unterstützung anderer angewiesen sein könnte. Zakat hat auch die Funktion einer Wohlfahrtssteuer, die für karitative und soziale Zwecke erhoben wird. In der Regel werden die Gelder in den Moscheen gesammelt und sollen zweckgebunden entsprechenden sozialen Einrichtungen (Kindergärten, Schulen, Kliniken u.ä.) zugute kommen. Da es allerdings oft an Kontrollorganen mangelt, könnten die auf diese Weise gesammelten Spenden zweckentfremdet an so genannte leidende Glaubensbrüder in Kriegsgebieten (z. B. Palästina, Tschetschenien) weiterfließen. 2.5 Hadsch (Pilgerfahrt nach Mekka) Eine weitere Glaubenspflicht der Muslime ist die Pilgerfahrt nach Mekka. Jeder Muslim, der physisch und finanziell in der Lage ist, sollte (mindestens) einmal im Leben die heiligen Stätten des Islam in Mekka mit der würfelförmigen Kaaba aufsuchen. 9 Diese gottesdienstliche Handlung, die zu einer vorgeschriebenen Wallfahrtszeit (im 12. islamischen Monat Dhul-Hiddscha bzw. zwei Monate nach dem Ramadan) stattfindet, ist als Zeichen einer völligen Hingabe an Gott zu verstehen. Der Ehrentitel Hadschi/Hadscha, den der Pilger nach der Absolvierung des anstrengenden und umfangreichen Hadsch-Rituals trägt, verleiht ihm im Kreise seiner Angehörigen und in seinem Heimatort hohes Ansehen und großen Respekt. Veränderungen zeigen sich sowohl in der Bekleidung (weißes langes Hemd, weiße Kopfbedeckung/weißer Schleier) als auch im Verhalten (die Vorschriften der Religion werden mehr denn je befolgt). Dies lässt sich dadurch erklären, dass die Pilgerfahrt nach Mekka als eine große Waschung von allen vorherigen Sünden empfunden wird. Für den restlichen Lebensabschnitt wird versucht, nur noch nach den Vorschriften Allahs zu leben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass trotz der physischen Belastungen sich viele Muslime diese Glaubenspflicht für das hohe Alter als gewissermaßen letzten Wunsch aufheben. 3. Verhaltensmuster gläubiger Muslime Die genannten islamischen Glaubenspflichten tragen neben anderen kulturellen Gegebenheiten dazu bei, das Leben eines jeden Muslims mittelbar oder unmittelbar zu bestimmen. Ob bewusst oder unbewusst treten Verhaltensschemata zutage, für deren Verständnis ein Grundstock an Hintergrundwissen erforderlich ist. Im Folgenden werden einige Aspekte des alltäglichen Lebens aufgezeigt, die einen Einblick in die Wechselwirkung zwischen dem Islam als Religion und der Gestaltung des Lebens wie auch der Gesellschaft im arabisch-islamischen Raum als einem relativ zusammenhängenden kulturellen und gesellschaftlichen Gebilde gewähren. 3.1 Begrüßungsformen Menschen aus der islamischen Welt legen außerordentlich Wert auf einen förmlichen und höflichen Umgang miteinander. 10 Das Gebot des Korans, wonach alle Menschen gleich sind und sich nur im Glauben bzw. in ihrer Frömmigkeit unterscheiden, führt dazu, dass im täglichen Umgang miteinander der soziale Status einer Person keine Rolle spielt. Ein herablassendes Benehmen gegenüber einer weniger gut situierten Person gilt daher nicht nur als Verletzung der allgemein akzeptierten Verhaltensregeln, sondern auch als Verstoß gegen die göttliche Ordnung. Die wohl am meisten verbreitete und dank Karl May auch in Deutschland bekannteste Begrüßungsart (4) ist die arabische Formel „ As-Salam ´Alaykum“, was so viel heißt wie: Friede sei mit euch. Indem die Satzteile in umgekehrter Reihenfolge ausgesprochen werden, nämlich „(Wa) ´Alaykum As-Salam“, wird die Begrüßung erwidert. Diese Formel kann auch variiert und erweitert werden. Sie reicht von der Kurzform „Salam“ bei jungen Leuten bis zu längeren formelhaften Sätzen, die außer der Begrüßung des Adressaten die Gnade Gottes erbitten und die Preisung des Propheten enthalten. Neben den religiösen Begrüßungsformeln, die für alle Muslime verbindlich sind, existiert eine Reihe von Begrüßungsarten, die je nach Land, Tageszeit und Anlass gebraucht werden. Beispielhaft nur einige Begrüßungsformeln aus dem Türkischen und Persischen: Bei der Begrüßung sagen die Türken Nasılsınız („Wie geht es Ihnen?“) oder Merhaba („Hallo“). Eine verbreitete Antwort auf Nasılsınız ist Iyiyim, teşekkür ederim („Danke, gut“). Wenn jemand einen Raum betritt, sagt er Günaydın („Guten Morgen“) oder Iyi günler („Einen schönen Tag“). Zum Abschied wünscht man sich Allahs Segen (Allahaısmarladık), was mit den Worten Güle güle („Geh mit einem Lächeln“) beantwortet wird. Eine typische Begrüßungsformel im Persischen ist Dorood („Grüße“); eine angemessene Antwort darauf wäre: Dorood-bar-to („Grüße an dich“). Ein gebräuchliches Abschiedswort ist: Khoda hafiz („Möge Allah dich schützen“). Die übliche nonverbale Begrüßungsform in fast allen islamischen Ländern ist das Händeschütteln. Wer zu einer Gruppe hinzukommt, begrüßt jede Person einzeln. In manchen Ländern (z. B. im Iran) und bei streng religiösen Muslimen ist es Frauen untersagt, in der Öffentlichkeit 11 einem Mann die Hand zu schütteln. Deshalb empfiehlt es sich, beim Treffen auf eine Muslime, die vom Äußeren her (durch das Tragen des Schleiers) als eher religiös einzuschätzen ist, das Händeschütteln zu vermeiden, da sie dies in Verlegenheit bringen könnte. Sollte die Frau jedoch von sich aus die Hand ausstrecken, so spricht nichts gegen eine Begrüßung per Handschlag. Wer einer älteren Person seinen Respekt zeigen möchte, küsst ihre Hände und berührt sie mit der Stirn. Als Begrüßung und Zeichen besonderer familiärer oder freundschaftlicher Verbundenheit küssen sich Muslime oftmals auch auf die Wangen. Nach der eigentlichen Begrüßung wird im Allgemeinen nach dem eigenen Gesundheitszustand und nach dem der Familie gefragt. Formelle Anreden sind wichtig. Titel wie z. B. Professor, Doktor, aber auch Bezeichnungen wie Onkel, Tante, Bruder usw. werden als Respektsbezeugung verwendet. In der Türkei sprechen sich gleichaltrige Frauen mit Hanım und Männer mit Bey an. Diese „Titel“ werden nach dem Vornamen eingefügt, so dass die Anrede z. B. Leyla Hanım oder Ismail Bey lautet. Ältere Frauen spricht man mit Abla (Fatma Abla), ältere Männer mit Ağabey (Ahmet Ağabey) an. Bei einem großen Altersunterschied verwenden die Menschen wiederum nach dem Namen die Anrede Teyze (Tante) für Frauen und Amca (Onkel) für Männer. Erst nach einer langen Phase von stark formalisiertem Small Talk kann zum eigentlichen Gesprächsthema übergegangen werden. Eine abrupte Unterbrechung - aus Zeitmangel oder aus „Effizienz“ - kann vom muslimischen Gesprächspartner als unhöfliches Verhalten ausgelegt werden. 3.2 Die Begriffe Höflichkeit und Gastfreundschaft Muslime gelten in der Regel als sehr gastfreundlich. Die Gastfreundschaft hat eine lange Tradition im Islam. Wie der Gast geehrt wird, so wird auch Gott geehrt. Freunde, Verwandte und Nachbarn besuchen einander oft. Jeder Gast wird hereingebeten und steht im Mittelpunkt; ihm werden alle verfügbaren Annehmlichkeiten geboten. Als Gast sollte man die Einladung zum Essen und Trinken zunächst einmal aus Höf12 lichkeit ablehnen. Erst bei nochmaliger Aufforderung können Kleinigkeiten (eine Tasse Tee/Kaffee, ein Stück Gebäck) angenommen werden. Eine Einladung ganz auszuschlagen, gilt allgemein als unhöflich. Komplimente werden vom Gastgeber gerne angenommen und auch erwidert. Ein Gast sollte es jedoch vermeiden, bestimmte Gegenstände aus dem familiären oder persönlichen Besitz des Gastgebers eindringlicher zu bewundern. Der Gastgeber könnte sich dadurch verpflichtet fühlen, dem Gast diese Objekte zum Geschenk zu machen. Wenn Gastgeber ihre Straßenschuhe ausziehen, sollten Gäste ihrem Beispiel folgen (Reinheitsgebot). Die Füße sollten auf niemanden weisen. Das Ausstrecken der Beine in einer Gruppe wird als grobe Unhöflichkeit betrachtet. Besucher stellen ihren Gastgebern keine persönlichen Fragen. Ein Besuch sollte immer ein harmonisches und fröhliches Ereignis sein; deshalb sollte z. B. für die Übermittlung schlechter Nachrichten oder das Besprechen von Problemen besser ein anderer Anlass gewählt werden. Beim ersten Besuch sollte ein kleines Geschenk mitgebracht werden, wenn es auch nicht unbedingt erwartet wird. Allerdings sollte darauf geachtet werden, dass nichts Falsches geschenkt wird. Vermieden werden sollten alkoholhaltige Getränke oder Pralinen, Fleischspeisen, Bilder oder Statuen von Menschen oder Tieren. Geeignete Geschenke sind dagegen Backwaren oder Gebrauchsgegenstände. Hierbei ist zwischen Städtern und Menschen, die ursprünglich vom Land stammen, zu unterscheiden. Schnittblumen oder Zimmerpflanzen sind bei den Städtern oft willkommen, während sie einem ehemaligen Landbewohner eher als ungewohntes Geschenk erscheinen könnten. 3.3 Familienleben und Geschlechterrollen Die Familie stellt die wichtigste soziale Einheit der islamischen Gesellschaft dar. Der Ehestand wird nicht nur als die normale und vollkommene Lebensweise, sondern auch als religiöse Pflicht angesehen. Zölibat oder auch ein gewolltes Single-Dasein entbehren jeglicher göttlichen Zustimmung. Ein Muslim kann sich kaum vorstellen, welche 13 Gründe ihn dazu bringen könnten, sich freiwillig für ein Leben ohne Ehe bzw. Kinder zu entscheiden, zumal außereheliche Beziehungen verboten sind. Innerhalb wie auch außerhalb der Ehe wird in weiten Kreisen der islamischen Gesellschaft eine Gleichberechtigung der Geschlechter nach westlichem Modell nicht angestrebt, auch wenn emanzipatorische Ansätze in einigen Ländern existieren. Nach Meinung mancher Muslime unterhöhlt die westliche oder westlich-orientierte Gesellschaft durch ihre Zügellosigkeit bzw. sexuelle „Freiheit“ (5) die Familie als kleinste Zelle der Gesellschaft und richtet damit einen großen moralischen Schaden an. Dagegen sieht die islamische Lehre für Männer und Frauen verschiedene Aufgaben vor, die sich ergänzen sollen. Der Ehemann hat für den Unterhalt seiner Ehefrau und Kinder, gegebenenfalls auch anderer weiblicher Familienangehöriger zu sorgen und ist für diese moralisch und zum Teil auch rechtlich verantwortlich. Während er in der Regel für die außerhalb des Hauses anfallenden Tätigkeiten zuständig ist, obliegt der Ehefrau die Erziehung und Pflege der Kinder sowie die Hausarbeit, selbst wenn sie aus wirtschaftlichen Gründen auf eine Tätigkeit außerhalb des Hauses angewiesen ist. Außer den genannten Aufgaben gehört auch zu den Pflichten der muslimischen Frau, ihrem Ehemann gefügig zu sein und ihm als Unterstützung zur Seite zu stehen . „Die Männer sind die Verantwortlichen über die Frauen, weil Allah die einen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Vermögen hingeben.“ (Koran 4:34) Einige islamistische Kreise fordern den bedingungslosen Gehorsam der Frau gegenüber ihrem Mann. Ein Beispiel dafür ist folgender Auszug aus dem Verhaltenskatalog der verbotenen Organisation Kalifatsstaat: „Die Frau sollte ohne die Erlaubnis ihres Mannes niemals aus dem Haus gehen. Insbesondere ist es ihr verboten, aufgetakelt und nach Auftragung von Wohlgerüchen auszugehen. Denn dieser Zustand reizt die fremden Männer. Sie soll ihren Mann in dem Ehebett niemals allein lassen und solche Leute, die ihr Ehemann nicht mag, niemals in die Wohnung hereinlassen. (...) Sie soll für ihren Mann und ihre Kinder immer Schönes kochen, den Tisch decken, ihre Wäsche waschen ...“ (6) 14 Auf Grund dieser Aufgabenverteilung ergeben sich für die Privatsphäre und den öffentlichen Bereich unterschiedliche Spielregeln und Verhaltensweisen. Herrschen im privaten Raum große Diskrepanzen in Bezug auf Kleiderordnung, Verhaltensweisen u.ä., je nachdem, ob die Familie religiös, traditionell, weltoffen, modern oder einer bestimmten sozialen Schicht zugehörig ist, so übt der öffentliche Raum eine erhebliche soziale Kontrolle aus, die das Verhalten der Individuen anpasst. So dürfen z. B. Gefühle füreinander in der Öffentlichkeit - auch unter Verheirateten - nicht gezeigt werden. Das Tabuisieren der Privatsphäre dient in erster Linie dem Respekt gegenüber dem Anderen sowie der Wahrung des notwendigen Abstands zwischen den Geschlechtern. Gerade bei traditionellen Familien wird der direkte Kontakt zwischen Männern und Frauen, die nicht näher miteinander verwandt sind, nicht selten vermieden. So kommt es vor, dass der Mann gefragt wird, ob seine Frau etwas trinken oder essen möchte, obwohl diese neben ihm sitzt. Dieser befremdliche Umstand, der von einem Westeuropäer als Missachtung der Frau verstanden werden kann, lässt sich nur dadurch erklären, dass der traditionsbewusste Muslim respektvoll mit seinem (männlichen) Gegenüber umgeht, indem er dessen Ehefrau nicht direkt anspricht und sein Verhalten nicht als Missachtung der Frau wahrnimmt. Genauso verhält es sich auch mit dem Blickkontakt. Während eines Gesprächs kommt es selten zu Blickkontakten zwischen den Geschlechtern und wenn doch, dann nur flüchtig. Ein längerer fragender Blick eines Mannes wird als Schamlosigkeit und der einer Frau als Willigkeitsbekundung empfunden. Deshalb wird auch nach koranischer Vorschrift der nach unten auf den Boden gerichtete Blick meistens als angemessen betrachtet: „Sprich zu den gläubigen Männern, dass sie ihre Blicke zu Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren sollen. Das ist reiner für sie. Wahrlich, Allah ist recht wohl kundig dessen, was sie tun.“ (Koran 24:31) Im Gegensatz dazu wird über Emotionen, Freundschaft und Zuneigung und alles, was intim ist, in geschlechterspezifischen Gruppen ziemlich offen geredet. Auch in der Gestik gibt es im Vergleich zu westeuropäischen Gepflogenheiten weit weniger Berührungsängste. Die Tatsache, dass zwei Männer oder zwei Frauen Hand in Hand oder 15 Arm in Arm spazieren gehen, deutet keinesfalls auf eine homosexuelle Beziehung hin, sondern kann als Zeichen einer tiefen Vertrautheit und Freundschaft gedeutet werden. Auch das Alter spielt eine große Rolle in den zwischenmenschlichen Beziehungen. So gebührt den Eltern besonders respektvolles Verhalten und Verehrung seitens der Kinder. Diese dürfen ihren Eltern weder widersprechen noch in ihrer Gegenwart vorlaut sein. Ein Verstoß gegen diese Regel führt nicht selten zum Zerfall des Familienzusammenhalts. Im Allgemeinen lässt sich dieses Verhaltensmuster auch auf die Beziehungen zwischen den Generationen übertragen und funktioniert nach dem Motto: Respekt vor dem Alter. Das heißt insbesondere, dass von jungen Leuten Respekt im Umgang mit älteren Leuten erwartet wird. Eine vor ihren Kindern ausgesprochene Beleidigung der Eltern gilt als äußerst verletzendes und beschämendes Verhalten, das noch mehr als die Eltern die Kinder in ihrer Ehre trifft. In solchen Fällen ist mit einer sehr heftigen Reaktion vor allem von Seiten der Kinder zu rechnen. Der Ehrbegriff nimmt eine zentrale Position im Familien- und Gesellschaftsgefüge ein. Der Ruf und das Ansehen stehen und fallen mit der Ehre. Dieses Phänomen ist nicht spezifisch für islamische Gesellschaften; auch manche europäisch-mediterrane Gesellschaften kennen es. Besonders die Frau wird durch ihr Verhalten oder durch ihre Einstufung als „leichtes Opfer einer Vergewaltigung“ beispielsweise als Gefahrenquelle für die Ehre der Familie angesehen. Um dem zuvorzukommen, wird auf die Sittsamkeit und die vermeintlich schützende Funktion islamischer Kleidungsvorschriften zurückgegriffen. 3.4 Bekleidungsvorschriften Die Zugehörigkeit zu einer Volks-, Religions- oder Berufsgruppe, der wirtschaftliche oder soziale Status, eine politische Haltung oder auch die Lebenseinstellung können über die Art und Weise der Bekleidung zum Ausdruck gebracht werden. Das vielleicht sichtbarste Symbol des Islam ist bei Frauen der so genannte Schleier in seinen verschiedensten regionalen Varianten wie Schador, Burka, Hidjab oder Tobe. Als ein Teil des Schleiers ist das Kopftuch anzusehen. 16 Manche Muslime sehen im Schleier „ein Mittel, um größere Nähe zu Allah zu erlangen“, was gleichzusetzen ist mit dem Verrichten freiwilliger Gebete oder dem Fasten an nicht vorgeschriebenen Tagen. Der Schleier ist ein bewusster Akt der Unterwerfung und des Gehorsams“ (7) gegenüber Gott. Durch das Tragen des Schleiers in der Öffentlichkeit wird ein offenes, selbstbewusstes Bekenntnis zum Glauben signalisiert. Die Anweisungen hierfür finden sich auch im Koran: „Und sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke zu Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren sollen, und dass sie ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen, bis auf das, was sichtbar sein muss, und dass sie ihre Tücher über ihren Busen ziehen sollen und ihre Reize vor niemandem enthüllen als vor ihren Gatten, oder ihren Vätern, oder den Vätern ihrer Gatten, oder ihren Brüdern, oder den Söhnen ihrer Brüder, oder den Söhnen ihrer Schwestern, oder ihren Frauen, oder denen, die ihre Rechte besitzen, oder solchen von ihren männlichen Dienern, die keinen Geschlechtstrieb haben, und den Kindern, die von der Blöße der Frauen nichts wissen. Und sie sollen ihre Füße nicht zusammenschlagen, so dass bekannt wird, was sie von ihrem Zierat verbergen. Und bekehrt euch zu Allah insgesamt, o ihr Gläubigen, auf dass ihr erfolgreich seid.“ (Koran 24:32) Neben dem Gedanken der Keuschheit besitzt der Schleier auch andere Funktionen, wie beispielsweise die Schutzfunktion, die in einem anderen Koranvers zum Ausdruck kommt: „O Prophet! Sprich zu deinen Frauen und deinen Töchtern und zu den Frauen der Gläubigen, sie sollen ihre Tücher tief über sich ziehen. Das ist besser, damit sie erkannt und nicht belästigt werden. Und Allah ist allverzeihend, barmherzig.“ (Koran 33:60) Vom traditionellen Schleier der muslimischen Frauen, der sich von Land zu Land und von Region zu Region unterschied, setzte im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte, insbesondere nach der islamischen Revo17 lution im Iran, eine regelrechte Entwicklung zu einem mehr oder minder einheitlichen Aussehen ein. Vom ursprünglichen Sinn der Keuschheitsbewahrung und der Schutzfunktion entwickelte sich der Schleier allmählich zum Politikum, das sowohl in den islamischen Ländern als auch in der westlichen Gesellschaft die Gemüter bewegt. In jüngster Zeit hat die Frage, ob muslimische Frauen Kopftücher am Arbeitsplatz tragen dürfen, die obersten Verwaltungs- und Arbeitsgerichte in Frankreich, in der Schweiz und in Deutschland beschäftigt und wird die Gerichte vermutlich auch weiterhin beschäftigen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 kann durch Landesrecht das Tragen eines Kopftuchs in der Schule und im Unterricht für Lehrkräfte verboten werden, weil das Kopftuch als politisches Symbol verstanden werden kann. Unter welchen Umständen sich Frauen für die islamische Tracht entscheiden, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Der wohl wichtigste Einflussbereich ist der der Familie. Je religiöser und traditioneller die Familie ist, desto früher fangen die Mädchen mit dem Tragen des Schleiers an. Dies geschieht oft auch auf Druck der Familie. Es kommt vor, dass eine Frau sich aus Überzeugung dafür entscheidet und im Nachhinein versucht, die Mutter zu überzeugen, die zuvor keinen Schleier getragen hat. Die zweite Einflusssphäre ist die der Schule oder Universität, wo manche junge Frauen unter Zugzwang bezüglich ihrer Mitschülerinnen bzw. Kommilitoninnen stehen. Wie viel Überzeugung oder bloße Nachahmung - als Mode-Erscheinung gewissermaßen - dahinter steckt, ist nicht auszumachen. Die dritte Einflusssphäre sind islamische Organisationen, die das Tragen des Kopftuchs auch als Ausdruck des Willens zur politischen Veränderung im Sinn des Korans und der Scharia verstehen. Durch die Entscheidung, islamische Kleidung zu tragen oder nicht zu tragen, kann die muslimische Frau unter Druck geraten. Kleidet sie sich europäisch, nimmt sie in Kauf, sich in bestimmten Kreisen ihrer eigenen Gemeinde dem Vorwurf einer lockeren moralischen und un-islamischen Haltung auszusetzen. Entscheidet sie sich aber bewusst für die islamische Tracht, setzt sie sich dem Vorwurf der Unterdrückung bzw. Unterwerfung und der Integrationsunfähigkeit durch die westliche Mehrheitsgesellschaft aus. 18 Auswirkungen hat das Kleidungsstück für Mädchen im Schulalter ab etwa der dritten Klasse. Da die Geschlechtertrennung in der Schule nicht gewährleistet ist, versuchen Eltern verschleierter Schülerinnen, eine Befreiung vom Sport- oder Schwimmunterricht zu erreichen, weil dort die Mädchen angehalten würden, den Kopf bzw. den Körper durch das Tragen von Sportkleidung, Badeanzug oder Bikini zu entblößen. Hier sind die jungen Mädchen einer doppelten Belastung seitens der Familie und der Schule ausgesetzt, die bis zur Ausgrenzung führen kann. 3.5 Verbotene Speisen und Getränke Der Verzehr von Schweinefleisch ist für Muslime nicht erlaubt. Darauf haben sich firmen- und schuleigene Kantinen eingestellt. Sie bieten auch Gerichte an, die kein Schweinefleisch (8) enthalten. „Sprich: Ich finde in dem, was mir offenbart ward, nichts, das einem Essenden, der es essen möchte, verboten wäre, es sei denn von selbst Verendetes oder vergossenes Blut oder Schweinefleisch - denn das ist unrein - oder Verbotenes, über das ein anderer Name angerufen ward als Allahs. Wer aber durch Not getrieben wird - nicht ungehorsam und das Maß überschreitend -, dann ist dein Herr allverzeihend, barmherzig.“ (Koran 6:145) Weniger bekannt ist die Tatsache, dass der Verzehr von Fleisch eines nicht nach islamischem Ritus geschlachteten Tieres (Schächten) für einen gläubigen Muslim nicht erlaubt ist, auch wenn es sich um Rind-, Lamm-, Hammel- oder Geflügelfleisch handelt. „Halal“ bedeutet im religiösen Sinn „erlaubt“ und ist nur das Fleisch eines nach islamischer Vorschrift geschächteten Tieres. Die Bemühungen islamischer Organisationen, eine Sondererlaubnis zum Schächten in Deutschland zu bekommen, scheiterten lange Zeit am Widerstand von Tierschutzorganisationen, die darin Tierquälerei sehen. Das führte dazu, dass Fleischwaren mit dem Label „Halal“ aus dem benachbarten Ausland (z. B. Frankreich, Holland), wo Ausnahmegenehmigungen existieren, importiert wurden und dass die Muslime in Deutschland ihre Fleischwaren oft nur über ausgewählte türkische Läden bezogen, die diese „Halal-Waren“ vertrie19 ben haben. Diese Situation änderte sich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2002, nach dem muslimische Metzger eine Ausnahmegenehmigung für das Schächten erhalten können.(9) Auch alkoholhaltige Getränke und Speisen sind generell verboten: „O die ihr glaubt! Wein und Glückspiel und Götzenbilder und Lospfeile sind ein Greuel, ein Werk Satans. So meidet sie allesamt, auf dass ihr Erfolg habt.“ (Koran 5:90) Ein Hadith des Propheten erweitert den Begriff Wein auf alle Getränke, die berauschen bzw. den Verstand trüben. Bei strenger Auslegung darf ein gläubiger Muslim nicht einmal mit Personen zusammen an einem Tisch sitzen, die gerade Alkohol trinken. Der Kauf, Transport oder Verkauf von alkoholischen Getränken ist verboten. 3.6 Das Reinheitsgebot Das Gebet verlangt, alle Unreinheiten durch Waschungen zu beseitigen. Zu den unreinen Dingen gehören verbotene Speisen und Getränke, tierische und menschliche Ausscheidungen sowie das Berühren bestimmter Tiere, wie beispielsweise Schweine und Hunde. In einem Hadith habe der Prophet gesagt: „Die Engel gehen in kein Haus, in dem ein Hund ist oder in dem sich Bilder befinden.“ (10) Wegen dieser Verunreinigungen bedarf es der so genannten kleinen Waschung (Wudhu´ = mit Wasser - oder auf Reisen, wenn kein Wasser vorhanden ist, mit einem Stein - den Intimbereich, die Hände bis zu den Unterarmen, das Gesicht, die Ohren, die Haare und die Füße abreiben). Ist auch die Kleidung verschmutzt, muss sie gleichfalls gereinigt werden. Größere Verunreinigungen bedürfen einer Ganzkörperwaschung, wie sie auch traditionell vor dem Freitagsgebet vorgenommen wird. Zu diesen rituellen Waschungen - wie auch bei der Waschung nach der Notdurft - wird die linke Hand benutzt. Deshalb werden beispielsweise Speisen auch nur mit der rechten Hand weitergereicht. In einem 20 weiteren Hadith sagte der Prophet Mohammed zu einem Jungen, der unter seiner Vormundschaft stand: „O mein Junge! Sag zuerst: ,Im Namen Gottes‘, nimm dann beim Essen nur die rechte Hand und greif nur in die Schüssel, die dir am nächsten ist.“ (11) Vor dem Betreten eines Hauses, das mit Teppichen ausgelegt ist, zieht der Besucher gewöhnlich die Schuhe aus. In größeren Städten ist diese Sitte allerdings schon fast verloren gegangen. Besteht Unsicherheit, ob die Schuhe ausgezogen werden sollen, orientiert man sich am besten am Gastgeber. 4. Identität und Kommunikation 4.1 Namensgebung Die Vorschriften zur Namensgebung in der islamischen - insbesondere in der arabischen - Welt unterscheiden sich in erheblichem Maße von den in Europa gültigen Regelungen. Abgesehen von der Schwierigkeit, arabische Namen in lateinische Schrift zu übertragen, existieren auch in den einzelnen Ländern verschiedene Traditionen der Namensgebung. Der arabische Name besteht aus mehreren stammbaumähnlichen Teilen, die auf die jeweilige Person, deren Vater oder Mutter, Großvater, Urgroßvater hinweisen. Er enthält aber auch manchmal Bezeichnungen für die Familie, den Stamm, die Herkunft, eine Berufsbezeichnung oder eine bestimmte Eigenschaft, wie aus der Tabelle auf Seite 22 dieser Ausarbeitung ersichtlich wird. Die Zusammensetzung und die Reihenfolge der verschiedenen Namensteile ändern sich je nach der Situation, in der sich die jeweilige Person befindet. Im privaten wie im öffentlichen Bereich werden oft nur die Teile aus den Spalten A (Name) und B (Vatername) oder auch aus A und E der Tabelle gebraucht. Die Namen zur Person sowie des Vaters und Großvaters werden aneinander gereiht. Im Personalausweis oder Reisepass sollen sämtliche Namen eingetragen sein. Das Verwandtschaftswort Ibn (Sohn von) ist heute kaum noch gebräuchlich. 21 C A Abu = Vater von B Ibn/Ben = Sohn von Vorname Umm = Mutter von Großvater Bint = Tochter von Mohammed Ibn Ahmed Abu Osman D Nasr Ibrahim Ahmed Abdallah Iman Bint Ali E (1) (2) (3) (4) (5) (6) Urgroßvater Familie Stamm Herkunft Berufsbezeichnung bes. Eigenschaft Ibn Zaid Ibn Omar (1) = Sohn von Omar Sayyed Shalabi (2) = Eigenname al-Kureishi (3) = vom Stamm Qureisch Rida al-Mekki (4) = der Mekkaner Abu Amar Hamza Haddad (5) = Schmied Umm Mostafa Fatima al-Adib (6) = der Höfliche Namen mit den Bezeichnungen Abu oder Umm werden im Zusammenhang mit dem Namen des Erstgeborenen gebraucht und haben daher keinen offiziellen Status. Allerdings ist es üblich, in bestimmten künstlerischen, politischen oder islamistischen Kreisen sich einen so genannten Künstlernamen oder „Kriegsnamen“ zuzulegen. So nennt sich beispielsweise eine der berühmtesten ägyptischen Sängerinnen Umm Kalthum [Umm Kalsum]. Jassir Arafat heißt unter Arabern Abu Amar und der radikale Imam der Baker-Street-Moschee in London Omar Abu Omar kurz Abu Qatada. Die Voranstellung des Abu- oder Umm-Zusatzes ist in einigen Ländern (z. B. in Ägypten) weit verbreitet; deshalb wurde die Spalte C in der Tabelle vorangestellt. Im europäischen Umfeld wird ein längerer Name oft angepasst und auf die im privaten Bereich gebräuchliche Form reduziert. So könnte 22 beispielsweise ein fiktiver Name Abdulaziz Yahia Ahmed Samed kurz Aziz Samed heissen. Die Reformanstrengungen in einigen Ländern des Nahen Ostens seit den fünfziger Jahren haben zwar eine Annäherung an die europäische standesamtliche Praxis mit sich gebracht, aber lassen noch keine Standardisierung erkennen. Anders verhält es sich mit Namen von Angehörigen der nordafrikanischen Staaten Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien. Schon während der Kolonialzeit wurde eine europäisierte standesamtliche Praxis eingeführt. Nach französischem Modell war jede Familie gehalten, sich einen Familiennamen auszusuchen und wurde mit diesem ins Standesregister eingetragen. Die französischen standesamtlichen Vorschriften wurden auch nach der Unabhängigkeit dieser Staaten nicht geändert, so dass heute eine relativ einheitliche Namensstruktur bestehend aus Familiennamen, Vornamen und selten noch einem zweiten Vornamen existiert. 4.2 Sprache und Schrift In der lateinischen Schreibweise bestehen auf Grund der Kolonialgeschichte erhebliche Unterschiede zwischen nordafrikanischen Namen und denjenigen aus dem Mittleren Osten. So werden nordafrikanische Namen französisch und Namen aus den übrigen arabischen Ländern eher Englisch geschrieben. Die folgende Tabelle zeigt die wichtigsten Unterschiede auf: Arabisch Deutsch Französich Englisch i i ee/i u ou u/oo sch ch sh dsch dj j Al- El- Al- d/z dh z 23 Die Vielfalt zeigt sich auch bei den Sprachen und Dialekten. Zu den großen Sprachgruppen gehören Bahasa Indonesia, Dari, Urdu, Farsi (Persisch), Türkisch und Arabisch. Auch wenn mittlerweile die heiligen Schriften der Muslime in viele Sprachen übersetzt worden sind, bleibt das Arabische nach wie vor die sakrale Sprache, in der liturgische Texte gelesen bzw. rezitiert werden. Selbst in der arabischen Welt sind große Unterschiede zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache zu finden, die sogar die Kommunikation unter Arabern zum Teil erschweren. Zu den überregionalen Sprachräumen kann man die Arabische Halbinsel, den Irak, die Levante, Ägypten und Nordafrika zählen. Die Verständigung zwischen den einzelnen Sprachräumen wird schwieriger, je weiter sie voneinander entfernt sind. Ein Syrer versteht einen Marokkaner genauso wenig wie beispielsweise ein Ostfriese einen Schweizer-Deutschen. Dem ägyptischen Dialekt kommt dank zahlreicher Fernsehserien, die fast in allen arabischen Ländern gesehen werden, eine überregionale Bedeutung zu. Oft ist ein Rückgriff auf die arabische Hoch- und die Schriftsprache notwendig. Die arabische Schriftsprache geht auf sprachliche Festlegungen aus dem siebten Jahrhundert (Entstehung des Islam) zurück. Sie hat im Gegensatz zu arabischen Dialekten bis auf wenige Ausnahmen (Ableitungen, Fremdwortentlehnungen seit dem 19. Jahrhundert) keine natürliche Entwicklung im sprachwissenschaftlichen Sinn erfahren. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass Gefahr besteht, die Botschaft des Korans zu entfremden. Der Koran ist Gotteswort und darf deshalb auch sprachlich nicht reformiert werden. Diese sprachliche Zweiteilung führt oft dazu, dass ein Araber ein eher negatives Verhältnis zu seiner Muttersprache hat. Diese wird als falsch und regellos wahrgenommen und nur für den Alltag tauglich angesehen. Zur Hochsprache hingegen hat er ein positives Verhältnis, da er in ihr eine Zivilisations- und Gelehrtensprache sieht. Über die Symbolkraft des Hocharabischen als Einheitssprache aller arabischen Länder hinaus gewinnt es im Zug der Internationalisierung des islamistischen Phänomens zunehmend die Bedeutung einer „Lingua franca“ (= Verkehrssprache) aller Muslime. 24 5. Islam und Islamismus Islamisten stellen zahlenmäßig einen kleinen Bruchteil der muslimischen Bevölkerung dar. Zu ihren Strategien gehört u. a. die Tatsache, dass sie durch politische Agitation und dank der Medien allgegenwärtig zu sein scheinen und somit in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte rücken. Für die meisten Muslime bedeutet der Islam vor allem Religion. Selbst wenn dieser Glaube normative Ansprüche für alle Lebensbereiche beinhaltet, bleibt er für viele noch eine Privatsache. Rechenschaft wird nur gegenüber Gott abgelegt. Im Gegensatz dazu verstehen Islamisten unter dem Begriff Islam eine politische Ideologie, die beansprucht, die Probleme der muslimischen Welt lösen zu können. Ihr Lösungskonzept ist denkbar einfach: Die geringere Entwicklung der islamischen Welt wird mit der Distanz zur Buchstabentreue gegenüber den religiösen Vorschriften erklärt. Die Rückkehr zu einer möglichst wörtlichen Auslegung ist der Grundstein zur Wiedererrichtung eines islamischen Staates oder des Kalifats nach dem zur Utopie verklärten Modell der ersten islamischen Urgemeinde unter der Führung des Propheten. Durch die Ausdehnung der religiösen Vorschriften (Scharia) auf alle gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen wird der Islam von der privaten in die öffentliche Sphäre verlagert. Ein Kernpunkt der islamistischen Ideologie ist der Begriff „Umma“, was soviel wie islamische Nation oder Gemeinschaft aller Muslime heißt. Entscheidend ist, dass die Umma keine nationalstaatliche Bedeutung hat, sondern eine transnationale Verbindung aller Muslime zu einer Art Solidargemeinschaft erzeugt. Sie ist somit die Familie aller Muslime und die Muslime sind untereinander Brüder. Deshalb haben beispielsweise die ägyptischen Islamisten die Bezeichnung „Muslimbrüder“ gewählt. Die Islamisten erheben mit ihrem Leitspruch „Al-Islam hua el-Hell“ (= der Islam ist die Lösung) den Anspruch, allein im Besitz der Wahrheit und des Lösungsschlüssels für die Probleme der Muslime und 25 der Welt zu sein. Zur Verwirklichung dieses Vorhabens verpflichten sie alle Muslime zur Solidarität, auch zur finanziellen Unterstützung, zur „Verbreitung des guten Worts“ genannt Da’wa bzw. Mission oder zum Djihad, der durch manchen Islamisten in seiner militärischen Bedeutung kurzerhand zum zweitwichtigsten Element des Islam erklärt wird. 5.1 Ursprünge des Islamismus Zweifellos zählt die so genannte Verschwörungstheorie (Arabisch = Mu’amara), nach der sich der Westen und die Juden gegen den Islam und die Muslime verschworen haben, um deren Länder zu annektieren, ihre Reichtümer zu plündern und den Islam zu zerstören, zu den wichtigsten Entstehungsgründen des Islamismus. Diese Theorie, die in weiten Teilen der islamischen Welt nach wie vor als Erklärungsversuch der eigenen Unterlegenheit herangezogen wird, bezieht sich auf sämtliche Niederlagen der arabisch-islamischen Welt, angefangen bei den Kreuzzügen (12), über die Kolonialherrschaft, bis hin zu den arabisch-israelischen Kriegen, aber auch auf den Golfkrieg gegen den Irak und die Intervention in Afghanistan. Der Einfluss des Westens auf die islamischen Länder wird als Kulturinvasion dekadenter Art wahrgenommen und abgelehnt. Zu den Merkmalen dieses moralischen Verfalls zählen u. a. Materialismus, Individualismus, sexuelle Zügellosigkeit, Alkoholismus und Arroganz, die als Ergebnis der Demokratisierung der westlichen Gesellschaften interpretiert wird. Folglich wird die Unvereinbarkeit der westlichen Werte (einschließlich der Demokratie) mit dem Islam immer wieder betont. 5.2 Sprachliche Doppeldeutigkeit Bei vielen Islamisten, die in westlichen Gesellschaften leben, zeigt sich bei der Verwendung des Begriffs Demokratie eine Doppeldeutigkeit. Ein Islamist, der diesen Begriff benutzt, denkt nicht unbedingt an die Volkssouveränität oder an Mehrheitsentscheidungen. Die Basis für die Demokratie sieht er im islamischen Begriff Schura; die Souveränität dagegen ist allein die Sache Gottes, als dem obersten Gesetzgeber. 26 Die Grundsätze unseres politischen Systems werden von Islamisten nur bedingt durch ihren Minderheitenstatus in einer westlichen Gesellschaft akzeptiert. Aus ihrer Perspektive lautet die Frage nicht, ob die Grundsätze des Islam mit dem Grundgesetz oder den Menschenrechten vereinbar sind, sondern ob eine Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen System aus islamischer Sicht zulässig ist. Die Kollision verschiedener Wertesysteme ist hier unvermeidlich und führt oft dazu, dass auch Ansätze gut gemeinter Anpassungs- und Integrationsversuche (13) unglaubwürdig wirken, wie es selbst aus anderen islamistischen Kreisen anhand folgender im Internet (14) verbreiteten Reaktion ersichtlich ist: „So wie wir uns von der Parole ,Wir sind Teil der Gesellschaft!’ distanzieren, nehmen wir auch Abstand von der als Muss dargestellten Integration einer Minderheit in die Gesellschaft. (...) Muslime lehnen die Demokratie und die mit ihr eng verbundenen Begriffe Pluralismus und Menschenrechte ab, nicht weil es sich hier um Fachbegriffe nicht-arabischen Ursprungs handelt. Viel mehr basiert die Ablehnung darauf, dass ihre Bedeutung, samt ihrer Konzepte, dem Islam widerspricht.“ Diese kompromisslose Grundhaltung spiegelt auch die Grundsatzdebatte wider, die innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zwischen Gemäßigten und Radikalen geführt wird. Wesentlich für die Erörterung von Begriffen im islamistischen Sinn ist der Einsatz einer gezielt verdeckten Sprache insbesondere in westlichen Gesellschaften. Die Lüge ist zwar eine Sünde im Islam und somit verboten; allerdings sehen es manche Muslime als erlaubt an zu lügen, wenn damit die Interessen des Islam gewahrt werden. Ursprünglich benutzten nur die Schiiten die als Takiyya bekannte Verschleierungstaktik zum Selbstschutz. Wenn sie sich in einer schiiten-feindlichen Umgebung befanden, durften sie zur Tarnung und zum Selbstschutz ihre eigene Identität verleugnen. Die Ausweitung der Takiyya auf andere islamistische Gruppen geht einher mit der Verbreitung des Islamismus in den letzten Jahrzehnten und beruht auf dem Bestreben der Mitglieder islamischer Organisation insbesondere in westlichen Gesellschaften, nicht des Extremismus verdächtigt zu werden. 27 6. Zusammenfassung Die in dieser Ausarbeitung beschriebenen Verhaltensweisen geben nur einen kurzen Auszug aus den religionsimmanenten Regeln wieder, die das Leben gläubiger Muslime bestimmen. Eine Reihe anderer regionaler Kulturelemente, auf die auf Grund ihrer Vielfältigkeit im Rahmen dieser Abhandlung nicht näher eingegangen werden konnte, ist im Einzelfall genauso entscheidend. Kulturelle Missverständnisse sind nicht selten der Grund für Fehleinschätzungen und Zuspitzungen in Situationen, die auf den ersten Blick zunächst als harmlos erscheinen. So sind sich die beteiligen Akteure auf beiden Seiten (Muslime und Nichtmuslime) oft keiner Schuld bewusst, wenn es beispielsweise zum Scheitern eines Gesprächs oder zu einer unerwarteten Eskalation kommt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass Hintergrundwissen über Religion, Kultur und typische Verhaltensmuster der Muslime allein nicht ausreicht. In der konkreten Situation ist ein gewisses Maß an Menschenkenntnis und Fingerspitzengefühl unerlässlich. 28 7. Glossar Ahl al-Kitab „Leute des Buchs“ (Glaubensgemeinschaften der Christen und Juden, die im Besitz einer heiligen Schrift sind) Da’wa Aufruf (wörtlich: Einladung zum Islam, d.h. Mission) Din wa Daula Prinzip der Einheit von Religion und Staat Dar al-Harb Haus des Kriegs, d.h. Land der Feinde, das nicht islamisch regiert ist Dar al-Islam Haus des Islam, d.h. Herrschaftsgebiet der Muslime Emir Führer (religiös-militärischer Befehlshaber, in einigen Ländern Herrschaftstitel) Emirat orientalisches Fürstentum Fatwa Rechtsgutachten im Islam Hadith Überlieferung über Taten und Aussprüche des Propheten Hadsch Pilgerfahrt nach Mekka Hakimiyat Allah Souveränität Gottes (Gottesherrschaft) Halal/Haram Erlaubtes/Verbotenes als Richtlinie für das Handeln der Muslime Imam/Hoca (türk.) Vorbeter, Leiter der Gemeinde Islam monotheistische Religion (wörtlich: Hingabe an Gott, Unterwerfung unter seinen Willen) Islamismus Aktivierung des Islam und die damit verknüpfte Rückbesinnung auf die Religion als Maßstab individuellen Verhaltens, gesellschaftlicher Ordnung und politischer Orientierung Djahiliya Heidentum, Epoche der „Unwissenheit“ vor der Entstehung des Islam; für Islamisten „neues“ Heidentum durch „un-islamische“ Herrschaft Djihad Glaubensanstrengung, Bemühung, Kampf, Heiliger Krieg Kalif/Khalif Nachfolger (des Propheten) Koran heiliges Buch der Muslime (wörtlich: Lesung, Vortrag, Verkündung) Kufr/Kafir Unglauben im Gegensatz zum Glauben an den Islam/Ungläubiger Mohammed Religionsstifter des Islam, nach islamischer Tradition letzter den Menschen von Gott gesandter Prophet (570-632) 29 Moschee Gebetsraum oder -platz der Muslime Mufti oberster Rechtsgelehrter mit der Autorität, Rechtsgutachten (Fatwas) abzugeben Mudjahidin eigentlich: Mudjahidun (Glaubenskrieger, militante islamische Aktivisten/Kämpfer) Nizam al-Islam „System des Islam“ (neoislamische Programmformel für das politisch-gesellschaftliche Konzept des Islamismus) Ramadan Fastenmonat der Muslime Salafiya anfänglich Richtung des Reformislam nach dem Modell der ursprünglichen Ordnung des Islam; heute Bezeichnung für einen radikalen und international ausgerichteten Islamismus Salat das Gebet Sawn Fastenmonat Ramadan Schahada Glaubensbekenntnis Schahid Märtyrer Scharia islamische Rechtsordnung Schia/Schiiten Partei Alis, zweite große Glaubensrichtung im Islam; beruft sich auf den rechtgeleiteten Kalifen Ali (Schiiten: Anhänger Alis) Schura „Ratsversammlung“ (frühes islamisches Beratungs- und Entscheidungsgremium des Kalifen) Sunna/Sunniten Sammlung der Überlieferungen des Propheten; dient als Richtschnur des persönlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Handeln der Sunniten (Sunniten: größte Glaubensrichtung im Islam) Sure Abschnitt, Kapitel im Koran, der 114 Suren enthält; diese bestehen aus Versen (Ayat) Takiyya Verschleierungstaktik der Schiiten zum Selbstschutz Tawhid [Tauhid] Bekenntnis der Einheit Gottes Ulama Religionsgelehrte im Islam Umma Urform der islamischen Gemeinde (heute: weltweite Gemeinschaft aller Muslime) Zakat Armensteuer, Pflichtabgabe für Bedürftige; eine der Glaubenspflichten im Islam 30 Anhang Literaturhinweise Elger, Ralf (Hrsg.): Kleines Islam-Lexikon: Geschichte, Alltag, Kultur. Beck, München 2001 Heine, Peter: Kulturknigge für Nichtmuslime - Ein Ratgeber für den Alltag. Verlag Herder, Freiburg i.B. 2001 Quellenhinweise, Erläuterungen (1) Kleines Islam-Lexikon, S.89 (2) Heine, Peter; S. 33 (3) Heine, Peter; S. 39 (4) Heine, Peter; S. 56 (5) vgl. Khan, Sir Muhammad Zafrullah: Grundsätze der islamischen Kultur, Verlag Der Islam, Frankfurt a.M. 1995, S. 24 (6) Cemaleddin Hocaoglu (Kaplan): Stellung der Frau im Islam und ihre besonderen Zustände. Eine Veröffentlichung des Kalifatsstaats. Köln 1996, S. 114 (7) Yalniz, Rabia: Über den Schleier, Verlag Der Islam, Frankfurt a.M. 1997, S. 9 (8) Zu Schweinefleischprodukten zählen gleichfalls Wurstwaren (auch Schinken und Salami), Speck und Schmalz. (9) BVerfG, Urteil vom 15.01.2002, Az. 1BvR 1783/99 (10) Sahih al-Buhari: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad. Reclam, Stuttgart 1991, S. 422 (11) ebenda, S. 376 (12) Im Sprachgebrauch der Islamisten, insbesondere der al-Qaida, wird der Westen als „Kreuzfahrer“ oder „Kreuzzügler“ in Anlehnung an die Kreuzzüge bezeichnet. (13) vgl. die vom Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD) am 20.02.2002 veröffentlichte „Islamische Charta“; im Internet unter www.islam.de/index.php?site=sonstiges/events/charta bzw. unter www.islam.de (14) vgl. die „Stellungnahme zur Islamischen Charta“ und den „Appell an alle Muslime und wahrheitssuchenden Menschen“ einer „Gruppe von Muslimen“ vom 10.06.2002 unter www.al-iman.de/Artikel/Aktuell/Aktuell-Dateien/Stellungnahme_zur_islamischen_Charta.htm Anmerkung Die in dieser Ausarbeitung verwendeten Koran-Zitate sind der Übersetzung des Korans durch Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland entnommen (Verlag Der Islam, Frankfurt a. M. 2001). 31 Herausgeber: Bayerisches Staatsministerium des Innern in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz Odeonsplatz 3, 80539 München Stand: Dezember 2004